Le Lys rouge
Die rote Lilie im Stadtwappen von Florenz wird in Anatole France’ Roman zum Sinnbild der geheimen Liebe der Gräfin Thérèse Martin-Bellème zu dem Bildhauer Jacques Dechartre. Das zentrale Werk des französischen Nobelpreisträgers, das autobiographische und gesellschaftskritische Züge vereint, ist mit dieser Neuübersetzung endlich wieder auf Deutsch zugänglich.
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Die Rote Lilie. Anatole France
1
Sie ließ ihren Blick noch einmal prüfend durch den Salon schweifen. Die Lehnstühle waren vor dem Kamin zu einer Gruppe arrangiert, und der gedeckte Teetisch leuchtete aus der Dämmerung hervor. Die chinesischen Vasen waren mit mächti-gen, mattgetönten Schneeballbüschen gefüllt. Sie senkte ihre Hand in die blühenden Zweige, so daß die silberglänzenden Blütenbälle sich leise berührten.
Dann betrachtete sie sich ernst und nachdenklich im Spiegel und blickte seitwärts gewandt über die Schulter weg, um die fei-nen Linien ihrer Gestalt zu verfolgen, wie sie sich unter dem eng anliegenden schwarzen Atlaskleid abzeichneten, in dessen leich-tem, lose flatterndem Überwurf dunkelleuchtende Perlen zitter-ten. Nun trat sie noch dichter heran – es interessierte sie lebhaft, wie ihr Gesicht heute aussah. Der Spiegel warf ihr ihren eigenen ruhigen Blick zurück, ganz so, als ob jene sympathische junge Frau, deren Züge sie da mit Wohlgefallen studierte, ihr Leben ohne heiße Freude und ohne tiefen Schmerz dahinlebte.
Leer und schweigsam lag der große Salon da. Die Gobelins mit ihren gedämpften Farben und den schattenhaften Gestalten, die sich mit müder Anmut in den Spielen von ehedem bewegten, die Terrakotta-Statuen auf kleinen, säulenförmigen Sockeln, die Nippfiguren aus altem Meißner Porzellan und die Malereien aus Sèvres, die die Glasschränke füllten – alles das schien von längst entschwundenen Zeiten zu reden. Auf einem reich in Bronze gearbeiteten Postament stand die Marmorbüste irgendeiner Prinzessin des königlichen Hauses, die als Diana dargestellt war. Das Gesicht war welk und unschön, während die Brust sich kühn aus den gekünstelten Draperien hervorhob. Das Deckenge-mälde zeigte die Göttin der Nacht, gepudert wie eine Marquise, Amoretten umschwebten sie, Blüten entsanken ihren Händen. Das Ganze sah so gelangweilt und schläfrig aus; man hörte nur das Feuer im Kamin knistern und das leise Rascheln der Perlen in der leichten Gaze.
Sie trat jetzt vom Spiegel weg, schob die Gardine etwas zurück und blickte zum Fenster hinaus. Es war ein trüber Tag; hinter den schwarzen Bäumen des Quai sah man die Seine ihre gelbli-chen Fluten dahinwälzen. Der müde Schein des Himmels und des Wassers spiegelte sich in ihren zartgrauen Augen.
Jetzt kam unter dem Bogen des Pont de l'Alma ein Dampfboot hervor und fuhr vorüber, ärmlich gekleidete Passagiere nach Grenelle und Villancourt an Bord. Sie folgte ihm eine Zeitlang mit dem Blicke, während es in dem trüben Strome dahinglitt, dann ließ sie den Vorhang wieder fallen, setzte sich auf ihren Lieblingsplatz in der Sofaecke, gerade unter den Blumenbü-schen, und nahm ein Buch zur Hand, das auf dem Tisch lag. Auf dem strohgelben Einband stand in goldenen Lettern der Titel: »Die blonde Isolde« von Vivian Bell. Es waren französische Gedichte, von einer Engländerin verfaßt und in London gedruckt. Sie schlug das Buch auf und stieß zufällig auf die Verse:
»Und wenn die Glocke wie der Beter auf dem Knie
zum offenen Himmel ruft: ich grüße dich, Mariel,
dann geht Madonna durch die Apfelbäume
und sieht des Herren Boten durch die Räume
ihr eine rote Lilie reichen, so von Duft,
daß, wer sie atmet, nach dem Tode ruft.
Im abendmilden Garten die Maria spürt,
wie sich die Seele schaudernd auf den Lippen rührt,
und meint, sie sieht ihr Leben wie ein Bächlein rinnen
in lichtem Strahl aus ihrer weißen Brust tief innen.«
Während sie zerstreut und gleichgültig diese Worte las und dabei auf ihre Gäste wartete, beschäftigten ihre Gedanken sich weniger mit dem Gedicht als mit der Dichterin. Diese Miß Bell war vielleicht ihre beste Freundin, und doch sahen sie sich fast nie. Sie dachte daran, wie Miß Bell sie jedesmal, wenn sie sich getroffen, »Darling« genannt, in die Arme geschlossen und ungestüm auf die Wangen geküßt hatte, wobei sie in einem fort plauderte. Trotz ihrer Häßlichkeit wirkte sie anziehend; obwohl sie sich mitunter beinahe lächerlich machte, war sie von erlese-ner Kultur. Während sie in England als große Dichterin gefeiert wurde, lebte sie ruhig in Fiesole und ging ganz in Ästhetik und Philosophie auf. Wie Vernon Lee und Mary Robinson hatte sie sich für toskanisches Leben und toskanische Kunst begeistert und ließ sogar ihren Tristan, der Burne Jones zu einigen träume-rischen Aquarellen angeregt hatte, unvollendet liegen, um italie-nische Ideen in französischen und provenzalischen Versen zu besingen. Sie hatte ihrem »Darling« »Die blonde Isolde« geschickt und sie gleichzeitig eingeladen, ein paar Wochen bei ihr in Fiesole zuzubringen. »Kommen Sie, Sie werden die schönsten Dinge der Welt sehen, und durch Sie werden sie noch schöner sein«, hieß es in dem Brief.
Und »Darling« war sich ganz klar darüber, daß sie nicht hinge-hen würde; sie konnte sich eben in Paris nicht frei machen. Aber der Gedanke, Miß Bell und Italien wiederzusehen, reizte sie den-noch. Während sie weiter in dem Buche blätterte, stieß sie auf die Worte: »Liebe und Anmut des Herzens sind eins«, und etwas ironisch, aber ohne alle Bosheit, dachte sie, ob wohl Miß Bell selbst geliebt hatte und wie die Helden ihrer Liebesgeschichten sein mochten. Die Dichterin hatte dort in Fiesole eine Art Cicis-beo, einen Fürsten Albertinelli.
Er war ein schöner Mann, aber eigentlich doch zu alltäglich und zuwenig geistreich, um der Auserwählte dieser schöngeisti-gen Frau zu sein, die in dem irdischen Verlangen nach Liebe das Geheimnis einer überirdischen Verkündigung sah.
»Guten Tag, Thérèse, ach, ich bin halbtot.« Es war die Prinzessin Seniavine, eine schlanke, geschmeidige Erscheinung, deren dunkle Hautfarbe gut zu ihrem Pelzwerk stimmte. Mit einer ungestümen Bewegung nahm sie Platz. Ihre Stimme klang rauh, aber zugleich lag etwas Kosendes darin, wie eine Männerstimme mit einem Anflug von Vogelgezwitscher.
»Heute vormittag bin ich mit dem General Larivière zu Fuß durch das ganze Bois gegangen. Ich traf ihn in der Allée des Potins und habe ihn bis zur Brücke von Argenteuil mitge-schleppt. Er bestand darauf, mir dort beim Parkwächter eine dressierte Elster zu kaufen, die mit einem kleinen Gewehr Kunststücke macht. Ich bin wie gerädert.«
»Warum haben Sie ihn denn so weit mitgeschleppt?« »Weil er Gicht in der großen Zehe hat.« Thérèse zuckte lächelnd die Achseln: »Sie gehen zu leichtfertig mit ihrer Bosheit um. Sie sind eine Verschwenderin.« »Ja, was wollen Sie denn? Soll ich etwa mit meiner Bosheit oder mit meiner Liebenswürdigkeit sparen, wenn ich sie so lohnend anlegen kann?« Dabei trank sie ein Glas Tokaier.
Draußen ließ sich ein mächtiges Schnaufen vernehmen, und schweren Schrittes trat der General Larivière in den Salon, küßte beiden Damen die Hand und nahm dann zwischen ihnen Platz. Ein eigensinniger, selbstzufriedener Ausdruck lag auf seinem Gesicht. Er lachte und zwinkerte mit den Augenlidern, wobei die Schläfen sich in lauter kleine Falten legten.
»Wie geht es Monsieur Martin-Bellème? Immer beschäftigt?« Thérèse glaubte, ihr Mann sei in einer Kammersitzung und hielte Reden. Die Prinzessin Seniavine aß Kaviarbrötchen und fragte, warum sie gestern nicht bei Madame Meillan gewesen sei. Man hatte Theater gespielt.
»Ja, ich weiß, ein skandinavisches Stück. Taugte es was?« »O ja – ich weiß eigentlich nicht. Ich saß in dem kleinen grünen Salon, gerade unter dem Bild des Herzogs von Orléans. Dann kam Monsieur Le Ménil und erwies mir einen jener kleinen reundschaftsdienste, die man nie wieder vergißt. Er rettete mich nämlich vor Monsieur Garain.«
Bei diesem Namen spitzte der General die Ohren. Er wußte die Ranglisten auswendig und pflegte alle irgend nützlichen Winke in seinem dicken Kopf aufzuspeichern.
»Garain«, fragte er, »ist das nicht der Minister, der das Kabinett mit gebildet hat, als die Orléans vertrieben waren?«
»Derselbe. Er schien außerordentliches Wohlgefallen an mir zu finden. Er sprach von seinem Liebesbedürfnis und warf mir erschreckend zärtliche Blicke zu. Dann und wann sah er mit einem tiefen Seufzer das Bild des Herzogs von Orléans an. ›Monsieur Garain‹, sagte ich schließlich, ›ich bin keine Orleanis-tin, Sie verwechseln mich mit meiner Schwägerin.‹ – In diesem Moment erschien Monsier Le Ménil, um mich zum Buffet zu führen. Er machte mir gewaltige Komplimente, und zwar – über meine Pferde. Dann sprach er davon, wie schön der Wald im Winter sei, und erzählte mir von Wölfen und kleinen Wölfchen. Es war wirklich ganz erfrischend.«
Der General, der keine jungen Leute ausstehen konnte, erzählte, daß er Le Ménil gestern abend im Bois auf Leben und Tod habe reiten sehen, und erklärte, die älteren Herren seien die einzigen, die noch die guten Traditionen aufrechterhielten. Die jungen Leute von heutzutage ritten ja wie Jockeis. Beim Fechten sei es ebenso, setzte er hinzu, »zu meiner Zeit –«
Die Prinzessin Seniavine fiel ihm plötzlich ins Wort. »General, sehen Sie doch nur, wie hübsch Madame Martin aussieht. Sie ist ja immer reizend, aber gerade in diesem Moment ist sie reizen-der denn je. Sie langweilt sich nämlich, und nichts auf der Welt kleidet sie besser als Langeweile. Wir beide haben sie vom ersten Augenblick an schrecklich gelangweilt. Sehen Sie sie nur an, wie sie mit umwölkter Stirn und schmerzhaft verzogenem Mund ins Leere starrt. Das reine Opferlamm!«
Sie sprang auf, schloß Thérèse ungestüm in die Arme und stürzte davon. Der General war ganz verblüfft.
Madame Martin-Bellème bat ihn, nicht auf das tolle Zeug zu hören, was sie da geschwatzt hatte.
Er erholte sich wieder und fragte dann: »Und was machen ihre Dichter, Madame?«
Er konnte es Madame Martin eigentlich nicht verzeihen, daß sie mit Leuten verkehrte, die nichts weiter taten als schreiben und die nicht einmal zur Gesellschaft gehörten.
»Nun ja, Ihre Dichter. Was ist aus jenem Monsieur Choulette geworden, der Ihnen mit einem roten Schal um den Hals seinen Besuch machte?«
»Ach, meine Dichter haben mich vergessen und sind mir untreu geworden. Man kann wirklich auf keinen Menschen rechnen – weder auf Menschen noch auf sonst etwas, es hält alles nicht stand. Das Leben ist eine fortlaufende Kette von Treu-losigkeiten. Die arme Miß Bell ist noch die einzige, die mich nicht vergißt. Sie hat mir von Florenz aus geschrieben und mir ihr Buch geschickt.«
»Miß Bell? War das nicht die junge Dame mit den krausen, blonden Haaren, die beinah aussieht wie ein kleiner Pinscher?«
Er rechnete nach und kam zu dem Schluß, daß sie jetzt unge-fähr dreißig sein müsse.
Jetzt trat eine alte Dame ein, die ihre Krone von weißem Haar mit bescheidener Würde zu tragen wußte, und gleich darauf ein lebhafter kleiner Herr mit klugen Augen – es waren Madame Marmet und Monsieur Paul Vence. Dann erschien Monsieur Daniel Salomon, die ausschlaggebende Autorität in allem, was Eleganz betraf. Er sah sehr feierlich aus und trug ein Monokel im Auge. Der General machte sich schleunigst aus dem Staube.
Man sprach von dem neuesten Roman, der diese Woche erschienen war. Madame Marmet hatte den Autor verschiedent-lich bei Diners getroffen. Es sollte ein liebenswürdiger junger Mensch sein. Paul Vence fand das Buch langweilig.
»Oh«, seufzte Madame Martin, »Bücher sind immer langweilig. Aber die Menschen sind noch langweiliger und dabei viel anspruchsvoller.«
Madame Marmet erzählte, ihr Mann, der sich sehr für Literatur interessierte, habe bis zu seinem Ende den Naturalismus verab-scheut. Er war Mitglied der Académie des Inscriptions gewesen, und sie spielte in den Salons mit Vorliebe die Witwe des berühmten Mannes. Aber die alte Dame mit ihrem schwarzen Kleid und mit ihren schönen weißen Haaren war trotzdem immer liebenswürdig und bescheiden.
Madame Martin wandte sich jetzt an Salomon und sagte, sie möchte ihn wegen einer Porzellangruppe um Rat fragen. »Es ist ein Saint-Cloud, Sie sollen mir sagen, ob es Ihnen gefällt. Vence, Sie müssen mir ebenfalls mit Ihrem Rat beistehen, vorausgesetzt, daß Sie nicht über solche Kleinigkeiten erhaben sind.«
Daniel Salomon blickte Paul Vence durch sein Monokel gereizt und hochmütig an.
Dieser sah sich im Salon um: »Sie haben sehr schöne Sachen, Madame – das will noch nicht viel sagen. Aber Sie haben
Sie konnte nicht verbergen, daß es ihr Freude machte, ihn so sprechen zu hören. Von allen, die bei ihr verkehrten, war Paul Vence ihrer Ansicht nach der einzige wirklich intelligente Mensch. Sie hatte schon immer viel auf ihn gehalten, noch ehe er durch seine Bücher berühmt geworden war. Vence ging nicht viel in Gesellschaft, denn er war kränklich und melancholisch und arbeitete unausgesetzt. Er war ein kleiner, galliger Mensch und nicht gerade liebenswürdig. Trotzdem hatte sie ihn in ihren Kreis gezogen. Die tiefe Ironie und der wilde Stolz, der ihm eigen war, machten ihn ihr sympathisch, und sie dachte sehr hoch von seinem in der Einsamkeit herangereiften Talent. Sie hatte übrigens auch allen Grund, ihn als ausgezeichneten Schrift-steller zu bewundern, als den Verfasser wertvoller Abhandlun-gen über Kunst und Sittengeschichte.
Der Salon füllte sich immer mehr. In der glänzenden Versamm-lung, die da im Kreise vor dem Kamin Platz genommen hatte, saß jetzt auch Madame de Vresson, von der man sich die haar-sträubendsten Geschichten erzählte. Sie hatte sich immer noch ihre Kinderaugen und ihr jungfräuliches Gesicht bewahrt, obwohl sie zwanzig Jahre lang ein Leben voll schlecht vertusch-ter Skandale geführt hatte. Dann war da die alte Madame de Morlaine. Mit durchdringender Stimme und lebhaften Gebärden sagte sie die geistreichsten Sachen; in ihren überquellenden For-men sah sie aus wie eine Schwimmerin mit Schwimmblasen. Ferner Madame Raymond, deren Mann der Akademie ange-hörte, Madame Garain, die Frau des ehemaligen Ministers, und noch drei andere Damen. Vor dem Kamin stand Monsieur Bert-hier d'Eyzelles, Redakteur des »Journal des Débats« und außer-dem Deputierter. Er streichelte seinen weißen Backenbart und blähte sich förmlich auf, als Madame de Morlaine ihm zurief: »Ihr Artikel heute über Bimetallismus ist ein Kleinod, eine Perle. Besonders der Schluß – einfach berauschend.«
Im Hintergrund des Salons standen die jungen Herren vom Club und tuschelten mit wichtiger Miene untereinander.
»Was hat er eigentlich angestellt, um zur Jagd beim Prinzen eingeladen zu werden?«
»Er? Nichts! Seine Frau alles.«
Sie hatten ihre eigene Ansicht vom Leben. Einer von ihnen hielt nichts von Versprechungen:
»Das sind auch solche Kerle, die mir zuwider sind: die das Herz auf der Zunge tragen. Da heißt es: ›Sie wollen in den Club aufgenommen werden? Aber selbstverständlich! Ich verspreche Ihnen eine weiße Kugel…‹ Und ob sie weiß sein wird! Wie Ala-baster! Wie ein Schneeball! Man stimmt ab: bums! Schwarz wie eine Trüffel! Das Leben ist eine dreckige Sache, wenn ich so daran denke.«
»Dann denke nicht dran«, sagte ein dritter. Daniel Salomon trat zu ihnen und flüsterte ihnen mit seiner
keuschen Stimme intime Skandalgeschichten ins Ohr. Und bei jeder sensationellen Enthüllung über Madame Raymond, über Madame Berthier d'Eyzelles oder die Prinzessin Seniavine fügte er nachlässig hinzu: »Aber das ist allgemein bekannt.«
Allmählich verlief der Schwarm der Gäste sich wieder. Nur Madame Marmet und Paul Vence blieben noch. Er näherte sich der Gräfin Martin und fragte: »Wann soll ich Ihnen meinen Freund Dechartre vorstellen?«
Es war schon das zweitemal, daß er davon sprach. Sie war nicht sehr dafür, neue Gesichter um sich zu sehen. Aber sie ant-wortete ziemlich gleichgültig: »Ihren Bildhauer? Wann Sie wol-len. Ich habe in der Ausstellung auf dem Champ-de-Mars sehr gute Medaillons von ihm gesehen. Aber er produziert wenig. Er ist ein Dilletant, nicht wahr?«
»Er ist sehr gewissenhaft. Er braucht nicht für seinen Unterhalt zu arbeiten und gestaltet seine Figuren mit einer Art verliebter Langsamkeit. Aber Sie dürfen das nicht verkehrt auffassen, Madame – er ist sehr gebildet und hat viel Empfindung. Er wäre ein Meister, wenn er nicht so einsam lebte. – Ich kenne ihn von Kindheit an. Die Leute halten ihn für melancholisch und unlie-benswürdig, aber in Wirklichkeit ist er ein leidenschaftlicher und dabei sehr schüchterner Mensch. Das, was ihm fehlt und was ihn immer hindern wird, das höchste in seiner Kunst zu leisten, ist die Klarheit über sich selbst. Er zergrübelt und zerquält sich; daran gehen seine besten Ideen zugrunde. Nach meinem Gefühl ist er weniger zum Bildhauer geschaffen als zum Dichter und Philosophen. Er hat ein umfassendes Wissen, und Sie werden sich über den Reichtum seines inneren Lebens wundern.«
Madame Marmet stimmte ihm wohlwollend bei. Die alte Dame war sehr beliebt in der Gesellschaft, weil sie sich überall wohl zu fühlen schien. Sie sprach wenig und hörte gern zu. Immer bereit, anderen einen Dienst zu leisten, wußte sie ihrer Gefälligkeit einen noch höheren Wert zu verleihen, indem sie etwas zögernd gewährte. Es wäre schwer zu sagen gewesen, ob sie wirklich eine besondere Vorliebe für Madame Martin hatte oder ob sie in jedem Hause, wo sie verkehrte, so tat, als ob sie sich gerade hier am wohlsten fühle – so zufrieden und behaglich, wie eine alte Großmutter, wärmte sie sich an dem Kamin, dessen rei-ner Louis-Seize-Stil vorzüglich zu der Erscheinung der stillen alten Dame paßte.
Ihr fehlte jetzt nur noch ihr Bologneserhündchen. »Wie geht es denn Toby?« fragte Madame Martin. »Kennen Sie
Toby, Monsieur Vence? Er hat so langes seidenweiches Haar und ein entzückendes schwarzes Schnäuzchen.«
Madame Marmet schwelgte förmlich in den Komplimenten, die ihr über Toby gemacht wurden, als wieder jemand eintrat. Es war ein kurzbeiniger älterer Herr mit rosigem Gesicht und locki-gem, blondem Haar. Er war sehr kurzsichtig, fast blind hinter seiner goldenen Brille, stieß gegen alle Möbel an, verbeugte sich vor leeren Stühlen und rannte fast in den Spiegel hinein. Madame Marmet blickte ihn ganz entrüstet an, als er mit seiner krummen Nase auf sie zu kam.
Es war Monsieur Schmoll, ein Mitglied des Archäologischen Instituts. Er lächelte geziert, schnitt Grimassen und sagte der Gräfin Martin mit seiner rauhen, fetten Stimme die schwung-vollsten Komplimente. Dabei sprach er langsam und schlep-pend; der große Philologe, Mitglied des Institut de France, konnte alle Sprachen, nur nicht die französische. Und Madame Martin amüsierte sich über seine schwerfälligen Galanterien, die alt und verrostet waren wie Eisenkram beim Trödler und unter die sich hin und wieder ein welkes Blümchen Poesie verirrte. Monsieur Schmoll war ein großer Feinschmecker in bezug auf Frauen und Dichter, und er hatte Geist.
Madame Marmet tat, als ob sie ihn nicht kenne, und verab-schiedete sich, ohne seinen Gruß zu erwidern.
Als Monsieur Schmoll mit seiner Begrüßungsrede zu Ende war, setzte er eine klägliche Miene auf und erging sich in bitte-ren Klagen über sein Schicksal: Man hatte ihn nicht genug aus-gezeichnet, sein Amt brachte so wenig ein. Der Staat tat nichts
für ihn, und er hatte doch für seine Frau und seine fünf Töchter zu sorgen. Er beklagte sich mit einer gewissen Größe, es lag etwas von alttestamentarischem Geiste darin.
Er ließ seine goldbebrillten kurzsichtigen Augen dicht über die Tischplatte wandern und entdeckte zum Unglück die Gedichte von Vivian Bell.
»Ah, die blonde Isolde«, rief er in bitterem Ton, »das Buch lesen Sie, Madame? Nun, ich will Ihnen etwas sagen: Miß Vivian Bell hat mir eine Inschrift gestohlen, und nicht nur das, sie hat sie auch noch verändert und in Verse gebracht. Sie finden sie auf Seite hundertneun:
›Weine nicht, die meine Geliebte war.
Was nicht mehr ist, war niemals wahr.
Laß rinnen die Schmerzen, die meinen.
Schatten darf Schatten beweinen.‹
Verstehen Sie, Madame: ›Schatten darf Schatten beweinen‹. Diese Zeile ist wörtlich aus einer Grabinschrift genommen, die zuerst von mir übersetzt und erklärt worden ist. Voriges Jahr bei einem Diner in Ihrem Hause saß ich neben Miß Bell. Bei dieser Gelegenheit habe ich ihr den Satz zitiert, und er gefiel ihr. Auf ihre Bitte habe ich am folgenden Tage die ganze Inschrift ins Französische übersetzt und ihr zugeschickt. Und nun finde ich sie verstümmelt und entstellt in dieser Gedichtsammlung wieder unter dem Titel: ›Die heilige Straße‹. – Die heilige Straße, das bin ich in diesem Fall.«
Und in seiner komischen Verdrießlichkeit wiederholte er noch einmal: »Die heilige Straße, ja, das bin ich.«
Es ärgerte ihn, daß die Verfasserin ihn bei der Bearbeitung der Inschrift nicht erwähnt hatte. Sein Name hätte in der Überschrift und womöglich auch noch in den Versen stehen sollen. Schmoll wollte seinen Namen überall sehen. Er hatte eine ganze Tasche voll von Zeitungen, in denen er beständig suchte, ob etwas von ihm drin stände. –
Aber er hatte deshalb doch keinen Groll auf Miß Bell, er trug es ihr nicht nach. Er gab sogar gern zu, daß sie eine hervorragende Persönlichkeit sei, die Dichterin, die England heute die meiste Ehre mache.
Als er fort war, wandte Madame Martin sich ganz unbefangen an Paul Vence und fragte, ob er wüßte, warum die gute Madame Marmet, die sonst so menschenfreundlich war, Monsieur Schmoll so stumm und wütend angeblickt habe. Er war über-rascht, daß sie das nicht wußte.
»Mein Gott, solche Sachen weiß ich nie.« »Aber der berühmte Streit zwischen Joseph Schmoll und Louis
Marmet hat doch eine Zeitlang die ganze Akademie in Aufruhr versetzt. Ganz erloschen ist er erst mit dem Tode Marmets; aber sein unversöhnlicher Kollege hat ihn bis zum Père-Lachaise ver-folgt. Als man den armen Marmet zu Grabe trug, schneite es in großen nassen Flocken. Wir waren alle bis auf die Knochen durchweicht und durchfroren. Und in dem stürmischen, nebli-gen und schmutzigen Wetter stand Schmoll am Rande des Gra-bes und verlas unter seinem Regenschirm eine Rede voll jovialer Grausamkeit und herablassendem Triumph. Nachher fuhr er gleich in seinem Trauerwagen los, um sie an die Zeitungen zu bringen. Irgendein ungeschickter Freund des Hauses brachte sie der guten Madame Marmet. Sie fiel in Ohnmacht, nachdem sie sie gelesen hatte. Haben Sie niemals von diesem blutigen Gelehr-tenstreit gehört?
Es drehte sich um die etruskische Sprache, die Marmet zu sei-nem Hauptstudium gemacht hatte. Man nannte ihn deshalb sogar ›Marmet, den Etrusker‹. Weder er noch sonst jemand hat auch nur ein einziges Wort von dieser alten, spurlos verlorenge-
gangenen Sprache gekannt. Und Schmoll pflegte ihm immer wieder zu sagen: ›Sie wissen selbst, mein lieber Kollege, daß Sie nicht etruskisch verstehen, und in dieser Erkenntnis liegt Ihr Wert als aufrichtiger Gelehrter und gescheiter Kopf.‹
Diese grausame Anerkennung verletzte Marmet aufs tiefste, und er kaprizierte sich nun erst recht darauf, etruskisch zu ver-stehen. Er las seinen Kollegen einen Aufsatz vor über die Rolle der Flexionen in der alttoskanischen Sprache.«
Madame Martin fragte, was das sei: Flexionen. »O Madame, wenn ich Ihnen das erst erklären soll, verwickeln
wir uns vollständig – beschränken wir uns also lieber auf die Tatsachen. Marmet hatte in seinem Aufsatz eine Menge lateini-scher Texte angeführt und dabei beständig falsch zitiert. Nun ist aber Schmoll ein Lateiner ersten Ranges und nächst Mommsen der beste Inschriftenkenner der Welt. Er hielt seinem jungen Kol-legen – Marmet war noch nicht fünfzig – vor, daß er die etruski-sche Sprache zu gut, die lateinische aber nicht genug verstände. Und von da an hatte Marmet keine ruhige Stunde mehr. Bei jeder Sitzung verspottete Schmoll ihn mit wahrhaft satanischer Freude und machte ihn in einer Weise lächerlich, daß er bei all seiner Sanftmut doch schließlich böse wurde.
Aber Schmoll ist im Grunde nicht gehässig; es ist das eine spe-zifische Eigenschaft seiner Rasse. Er ist imstande, jemand zu ver-folgen, ohne ihm darum übelzuwollen. Als er eines Tages mit Renan und d'Oppert die Treppe des Instituts hinaufstieg, begeg-nete er Marmet und streckte ihm die Hand entgegen. Marmet wollte sie nicht nehmen und sagte: ›Ich kenne Sie nicht.‹ – ›Hal-ten Sie mich vielleicht für eine lateinische Inschrift?‹ entgegnete Schmoll.
Dieser Ausspruch hat mit dazu beigetragen, den armen Mar-met ins Grab zu bringen.
Nach alledem können Sie sich denken, daß seine Witwe, die das Andenken des Verstorbenen so heilighält, seinen Feind mit Schrecken und Abscheu betrachtet.«
»Gott, und ich habe sie zusammen zum Diner eingeladen und sie sogar nebeneinander bei Tisch sitzen lassen.«
»Das ist nicht gerade unmoralisch, Madame, aber grausam.« »Lieber Vence, ich fürchte, Sie werden schockiert sein, aber
wenn ich mich für eins von beiden entscheiden sollte, so will ich lieber eine unmoralische Handlung begehen als eine Grausam-keit –«
In diesem Augenblick trat ein hochgewachsener junger Mann mit gebräuntem Gesicht und langem Schnurrbart in den Salon. Es lag etwas Ungestümes und zugleich Geschmeidiges in der Art, wie er sich verbeugte.
»Ich glaube, die Herren kennen sich schon.« Ja, sie kannten sich. Sie hatten sich schon ein paarmal bei
Madame Martin getroffen und sahen sich dann und wann auf dem Fechtboden, wo Le Ménil ein häufiger Gast war. Gestern noch waren sie zusammen bei Madame Meillan gewesen.
»Bei Madame Meillan ist es gewöhnlich sehr langweilig«, meinte Vence.
»Und doch verkehrt die ganze Akademie bei ihr«, erwiderte Le Ménil. »Ich will damit nicht sagen, daß ich den Wert dieser Her-ren überschätze, aber immerhin ist es doch eine Art Elite.«
Madame Martin lächelte.
»Oh, wir haben schon gehört, daß Sie sich bei Madame Meillan weniger mit den Herren der Akademie als mit den Damen beschäftigen. Sie haben die Prinzessin Seniavine zum Büffet geführt und ihr von Wölfen erzählt.«
»Was, von Wölfen?«
»Von Wölfen, Wölfinnen und kleinen Wölfchen. Und dann haben Sie auch davon gesprochen, wie schön der Forst im Win-ter ist mit seinen schwarzen Bäumen. Wir fanden eigentlich, daß das ein ziemlich wildes Thema ist, wenn man sich mit einer schönen Frau unterhält.«
Paul Vence erhob sich: »Also, wenn Sie gestatten, Madame, werde ich Ihnen meinen Freund Dechartre vorstellen. Er möchte Sie so gern kennenlernen, und ich glaube, er wird Ihnen sympa-thisch sein. Er ist wirklich ein kraftvoll lebendiger Geist und vol-ler Gedanken.«
»Oh, so viel verlange ich gar nicht«, fiel Madame Martin ihm ins Wort. »Ungekünstelte Menschen, die sich so geben, wie sie sind, haben mich noch nie gelangweilt, im Gegenteil.«
Vence verabschiedete sich, und Le Ménil wartete, bis seine Schritte im Vorzimmer verhallt und die Türen wieder zugefallen waren. Dann näherte er sich Madame Martin: »Morgen um drei Uhr bei uns, ja?«
»Du liebst mich also immer noch?«
Er bat sie, doch schnell zu antworten, da sie jetzt gerade allein seien, aber sie meinte neckend, es sei schon spät, jetzt würde kein Besuch mehr kommen, höchstens ihr Mann.
Er bat noch einmal, und nun ließ sie ihn auch nicht länger war-ten, sondern sagte: »Ich habe morgen den ganzen Tag zur Verfü-gung. Erwarte mich Rue Spontini um drei Uhr, und nachher können wir etwas spazierengehen.«
Er dankte ihr mit einem Blick, dann nahm er seinen gewohnten Platz ihr gegenüber am Kamin ein und fragte, wer denn dieser Dechartre sei, den sie bei sich einführen lassen wollte.
»Ich lasse ihn nicht bei mir einführen. Vence besteht darauf, ihn herzubringen. Es ist ein Bildhauer.«
Le Ménil war unzufrieden, daß sie immer nach neuen Bekannt-schaften verlangte. »Und ein Bildhauer. Diese Art Leute sind fast immer roh und ungebildet.«
»Oh, dieser arbeitet nicht viel. – Aber wenn es dir unlieb ist, werde ich ihn nicht empfangen.«
»Mir wäre es nur unlieb, wenn andre Leute die Zeit in Anspruch nähmen, die mir sonst gehört.«
»Nun, mein Lieber, du kannst dich eigentlich nicht darüber beklagen, daß ich zu viel Menschen sehe. Gestern bin ich nicht einmal zu Madame Meillan gegangen.«
»Es ist auch wirklich besser, wenn du dich dort nicht zu oft bli-cken läßt, es ist kein Verkehr für dich.«
Dann setzte er ihr näher auseinander, wie er das meinte: Alle Damen, die dort verkehrten, hatten ihre Abenteuer gehabt, die jedermann kannte und von denen allgemein gesprochen wurde. Und Madame Meillan begünstigte derartige Geschichten. Er wußte verschiedene Beispiele dafür anzuführen.
Sie saß in einer anmutig ruhenden Pose in ihrem Sessel, wäh-rend er so sprach; beide Hände auf die Lehnen gelegt und den Kopf leicht zur Seite geneigt, blickte sie auf das verlöschende Feuer im Kamin. Ihre Gedanken waren weit fort; nichts lebte in dem beinahe schwermütigen Antlitz und dem wie ermattet ruhenden Körper, und in dieser Weltverlorenheit war sie begeh-
renswerter denn je. Eine Zeitlang blieb sie völlig regungslos wie eine Statue; zu dem sinnlichen Reiz des atmenden Lebens kam der Zauber des Kunstwerks. Dann fragte er, woran sie dächte. Sie versuchte sich der melancholischen Verzauberung zu entrei-ßen, die sie beim Anblick der verglimmenden Kohlen gefangen-hielt, und sagte:
»Laß uns morgen wieder einmal die entlegenen Viertel von Paris aufsuchen, diese eigentümliche Gegend, wo man das Leben der armen Leute beobachten kann. Willst du? Ich habe diese alten Straßen der Armut so gern.«
Er versprach ihren Wunsch zu erfüllen, ließ jedoch durchbli-cken, daß er ihn töricht fand. Diese Streifzüge, zu denen sie ihn manchmal verleitete, langweilten ihn, und er hielt sie für gefähr-lich. Wie leicht konnte man gesehen werden.
»Und gerade, weil es uns bis jetzt gelungen ist, das Gerede zu vermeiden.« Sie schüttelte den Kopf.
»Glaubst du denn wirklich, daß man nicht über uns redet? Die Leute reden ja immer, ob sie etwas wissen oder nicht. Man weiß nicht alles, aber man redet über alles.«
Dann sank sie wieder in ihre Träumereien zurück; er glaubte, sie sei unzufrieden, verstimmt über irgend etwas, was sie nicht eingestehen wollte, und blickte tief in ihre schönen Augen, die mit vagem Blick ins Leere starrten und den Schein des Kamin-feuers widerspiegelten. Aber sie beruhigte ihn wieder: »Ich habe keine Ahnung, ob über mich geredet wird. Und außerdem läßt es mich kalt. Um ein bloßes Nichts mache ich mir keine Sorgen.«
Dann nahm er Abschied. Er wollte im Club speisen. Sein Freund Caumont war auf der Durchreise in Paris und erwartete ihn. Sie blickte ihm nach, und ein Ausdruck von ruhiger Sympa-thie lag in ihren Augen. Und nun starrte sie wieder in die ver-glimmende Asche. –
Sie dachte an ihre Kindheit zurück – sie sah das alte Schloß wieder vor sich, in dem sie so lange melancholische Sommertage verlebt hatte, die verschnittenen Sträucher, den finstern, feuch-ten Park, den regungslosen Teich mit seinem grünlichen Wasser und die marmornen Nymphen unter den großen Kastanienbäu-men. Wie manches Mal hatte sie dort auf einer Gartenbank gesessen und geweint und sich gesehnt, sterben zu können. Sie war sich heute noch nicht klar darüber, warum sie in ihrer Jugend so verzweifelt gewesen war, damals, als das geheimnis-volle Herannahen der Reife und das jähe Erwachen ihrer Phan-tasie sie in eine Wirrnis von Wünschen und Ängsten warf. Als Kind hatte sie Verlangen nach dem Leben und zugleich etwas wie Furcht davor empfunden. Und jetzt wußte sie, daß das Leben nichts Ungewöhnliches mit sich bringt, daß es gar nicht der Mühe wert war, so viel zu hoffen und zu fürchten. Es konnte ja gar nicht anders sein. Sie hätte es sich im voraus sagen kön-nen. – ›Ich sah, was für ein Leben meine Mutter führte‹, dachte sie weiter. ›Sie war eine gute, einfache Frau, aber glücklich war sie nicht. Ich träumte mir ein ganz anderes Schicksal als das ihre. Und warum? Das Leben, das mich umgab, kam mir so leer und so inhaltlos vor, und die Zukunft, die ich mir ersehnte, schien mir so voller Duft und Reiz. Und wie kam das? Was habe ich damals gewollt und vom Leben erwartet? Hatte ich nicht damals schon genug davon gesehen, um zu wissen, wie trostlos das alles ist?‹
Sie war im Reichtum geboren, in dem übertriebenen Luxus der Parvenus. Ihr Vater war jener Montessuy, der in Paris als kleiner Bankbeamter angefangen hatte und später zwei große Bankhäu-ser gründete und leitete, der sie mit unerschöpflich reichem Geist, mit unbeugsamem Willen und einer einzigartigen Verbin-dung von Schlauheit und Redlichkeit, ungefährdet auch durch schwierige Zeiten brachte und als gleichberechtigte Macht mit der Regierung unterhandelte. Er hatte das alte historische Schloß Joinville gekauft, es restaurieren lassen und mit verschwenderi-scher Pracht eingerichtet, so daß es im Laufe von sechs Jahren mit seinem Park und den Wasserkünsten ein zweites Vaux-le-Vicomte geworden war. Dort war sie aufgewachsen.
Montessuy war ein Mann, der dem Leben alles abzugewinnen suchte, was es überhaupt bieten kann. Von Natur unbedingter Atheist, begehrte er nur nach dem, was die Erde an Gütern und Genüssen zu geben vermag. Er füllte die Galerien und Salons von Joinville mit berühmten Bildern und kostbaren Statuen an. Als er schon über fünfzig Jahre alt war, hatte er noch Verhält-nisse mit den schönsten Schauspielerinnen und Damen aus der Gesellschaft, die er mit erlesenem Luxus umgab. Er wußte alles, was in seinen Bereich kam, mit der ganzen Brutalität seines Tem-peraments und dem ganzen Raffinement seines Empfindens zu genießen.
Unterdessen siechte seine Frau, die sparsame, ewig besorgte Madame Montessuy, in Joinville dahin. Mit kränklicher, küm-merlicher Miene lag sie in ihrem Prunkschlafzimmer mit den goldenen Balustraden und blickte auf die zwölf riesigen Karyati-den, die Decke trugen, auf die Lebrun den Titanensturz gemalt hatte. Und dort, in ihrer eisernen Bettstelle, die zu Füßen des Paradebettes aufgeschlagen war, starb sie eines Abends vor Kummer und Müdigkeit. Sie hatte auf der Welt nichts geliebt als ihren Mann und den kleinen Salon mit den roten Damastmöbeln in der Rue Maubeuge.
Zwischen ihr und der Tochter war es niemals zu einem innigen Verhältnis gekommen. Sie fühlte instinktiv, daß Thérèse ihr innerlich zu fernstand. Sie war zu selbständigen Geistes, zu küh-nen Herzens. Bei aller Sanftmut und Güte ihres Wesens hatte sie die starke Natur des Vaters geerbt, dieses Feuer der Seele und der Sinne, unter dem ihre Mutter so viel gelitten hatte, und das diese ihrem Manne eher verzeihen konnte als ihrer Tochter.
Montessuy selbst dagegen liebte sein Kind, gerade weil er sein eigenes Wesen in ihm wiederfand. Wie alle stark sinnlichen Menschen, so hatte auch er Stunden, wo er hinreißend liebens-würdig sein konnte. Obgleich er meist außer dem Hause war, wußte er es doch so einzurichten, daß er fast täglich mit seiner Tochter zusammen frühstückte, und ging öfters mit ihr spazie-ren. Er hatte sehr viel Sinn für modischen Schick und Charme, so entdeckte er auf den ersten Blick jeden Mißgriff in der Kleidung seiner Tochter, an dem gewöhnlich die Mutter mit ihrem trüben, unkultivierten Geschmack schuld war, und wußte ihn geschickt zu korrigieren. Er unterrichtete Thérèse und bildete ihren Cha-rakter. Sein Geschmack und sein gewalttätiges Wesen fesselten und unterhielten sie. Ihre Gegenwart beflügelte seinen Trieb, seine Lust, zu erobern; er, der immer gewinnen wollte, wußte auch das Herz seiner Tochter zu gewinnen. Er machte sie der Mutter abwendig, und sie bewunderte und vergötterte ihn.
In ihrer Träumerei sah sie ihn wieder wie in vergangenen Tagen: die einzige Freude ihrer Kinderzeit, und sie war heute noch überzeugt, daß es auf der ganzen Welt keinen liebenswer-teren Mann geben könne als ihren Vater.
Als sie ins Leben trat, hielt sie es von vornherein für ausge-schlossen, bei irgendeinem Manne diesen Reichtum an natürli-chen Gaben, diese Fülle von Arbeits- und Denkkraft wiederzu-finden. Dieses Gefühl hatte sie bei der Wahl ihres Gatten und vielleicht auch später bei einer anderen, geheimen und freieren Wahl beeinflußt.
Eigentlich hatte sie sich ihren Mann überhaupt nicht selbst aus-gesucht. Unwissend hatte sie sich von ihrem Vater verheiraten lassen. Damals, als er Witwer geworden war, beunruhigte ihn der Gedanke, daß er sich bei seinem tätigen, vielfach in Anspruch genommenen Leben nicht genug um seine Tochter würde kümmern können, und er hatte die Angelegenheit, wie es seine Gewohnheit war, rasch und gut erledigen wollen. Er sah dabei vor allem auf die äußeren Vorteile, auf das, was die gesell-
schaftlichen Rücksichten verlangten, und wußte zu schätzen, was Graf Martin in die Ehe einbrachte: achtzig Jahre Adel aus der Zeit des Kaiserreiches und den ererbten Glanz einer Familie, die für die Juliregierung von 1830 und das liberale Kabinett Napoleons III. Minister gestellt hatte. Der Gedanke war ihm nicht gekommen, daß seine Tochter in der Ehe die Liebe finden könne. Er schmeichelte sich damit, daß sie an der Seite dieses Mannes Befriedigung finden würde für das Verlangen nach Prunk und Glanz, von dem er sie erfüllt glaubte: die Lust, etwas zu sein und eine Rolle zu spielen, die starke Wonne der Gewöhnlichkeit, das platte Selbstgefühl, die sichtbare Macht – alles das, was für ihn den ganzen Wert des Lebens ausmachte. Worin das Glück für eine anständige Frau in dieser Welt bestand, davon hatte er im übrigen keine sehr klaren Vorstellun-gen; aber er zweifelte keinen Augenblick daran, daß seine Toch-ter eine anständige Frau bleiben würde. Das war etwas, woran er niemals gerührt hatte, eine absolute Gewißheit.
Sie lächelte mit melancholischer Ironie, wenn sie an seine kind-liche Vertrauensseligkeit in diesem Punkte dachte, die eigentlich so wenig mit seiner eigenen Auffassung und mit seinen Erfah-rungen, was Frauen anbetraf, übereinstimmte. Aber sie bewun-derte ihren Vater nur um so mehr, weil er zu klug war, um sich mit seiner Klugheit lästig zu sein.
Und eigentlich war die Partie, die er für sie ausgesucht hatte, auch gar nicht so übel, wenn man in Betracht zog, was die Ehe für Menschen bedeutet, die in jeder Beziehung unabhängig sind. Ihr Mann war ebensoviel wert wie jeder andere. Er war sogar mit der Zeit ganz erträglich geworden. Wie sie so dasaß, bei dem verschleierten Lampenlicht in die Asche blickte und an die Ver-gangenheit dachte, fühlte sie, daß die Erinnerungen an ihr Zusammenleben in der Ehe weit hinter allem anderen zurücktra-ten. Es waren nur einzelne, unzusammenhängende Ereignisse, deren sie sich mit fast peinlicher Deutlichkeit zu entsinnen ver-mochte, einige lächerliche Szenen und ein allgemeines, unbe-stimmtes Gefühl von Langerweile. Nein, es war wirklich nichts von jener kurzen Zeit in ihr zurückgeblieben. Sie konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wie sie es vor jetzt ungefähr sechs Jahren angefangen hatte, ihre Freiheit wiederzuerringen, so leicht und schnell war der Sieg über diesen höflichen, aber kal-ten und selbstsüchtigen, stets kränkelnden Gatten gewesen. Er war ein trockener Geschäftsmann und Politiker, sehr mittelmä-ßig begabt, aber strebsam und ehrgeizig. An Frauen dachte er nur, wenn seine Eitelkeit dabei mit im Spiel war, und seine eigene Frau hatte er niemals geliebt. Nach einer offenen Aus-sprache hatten sie sich dann innerlich ganz voneinander getrennt. Seitdem waren sie sich völlig fremd geworden, und jedes war dem andern im stillen für seine Befreiung dankbar. Sie hätte sogar eine Art Freundschaft für ihn empfinden können, wenn er sie nicht mehrmals in unschön listiger Weise dazu bewogen hätte, ihre Unterschrift herzugeben, wenn er gerade Geld für irgendeine Unternehmung brauchte, die er übrigens weniger aus Gewinnsucht betrieb, als um damit zu renommie-ren. Und so war es gekommen, daß dieser Mann, mit dem sie ihre Mahlzeiten gemeinsam einnahm, mit dem sie plauderte, Reisen machte und das tägliche Leben teilte, ihr nichts mehr war, nichts mehr bedeutete.
Sie ließ diese leeren Jahre an sich vorüberziehen; die Wange in die Hand gestützt, saß sie in sich versunken vor dem erlosche-nen Feuer, als ob sie eine Sybille befragte. Da sah sie den Mar-quis de Ré wieder, und dieses Gesicht stand so deutlich und
unverwischt vor ihrem Blick, daß sie fast erschrak. Ihr Vater hatte ihr den Marquis gerühmt, ihn bei ihr eingeführt; dreißig Jahre intimer Triumphe und gesellschaftlicher Erfolge gaben ihm in ihren Augen Glanz und Bedeutung. Seiner galanten Aben-teuer war Legion. Er hatte drei Generationen Frauen verführt und im Herzen aller, die er geliebt hatte, unvergängliche Erinne-rung hinterlassen. Seine männliche Anmut, seine weltmännisch vornehme Zurückhaltung und die Gewohnheit zu gefallen, hat-ten ihn weit über die Zeit hinaus jung erhalten. Er zeichnete die junge Gräfin Martin ganz besonders aus, und die Huldigungen dieses Kenners schmeichelten ihr; noch jetzt erinnerte sie sich ihrer mit Vergnügen. Er wußte wundervoll zu plaudern. Sie war gefesselt, sie ließ es ihn merken, und von da an nahm er sich in seiner verwegen leichtfertigen Begehrlichkeit vor, seine glückli-che Laufbahn zu krönen mit der Eroberung dieser jungen Frau, die ihm mehr galt als alle andern und die offensichtlich eine Nei-gung für ihn hatte. Um sie zu gewinnen, ließ er alle Künste des erfahrenen Don Juan spielen, aber mühelos entzog sie sich ihm.
Zwei Jahre später erhörte sie Robert Le Ménil, der sie mit der ganzen Glut seiner Jugend, der ganzen Geradheit seines Herzens begehrte. Sie sagte sich selbst: ›Ich habe mich ihm hingegeben, weil er mich liebte.‹ Und das war die Wahrheit. Gewiß, sie folgte auch einem dunkelmächtigen Triebe, den geheimen Kräften ihres Seins. Aber das war nicht ihr eigentliches Wesen. Woran sie im Innersten geglaubt hatte, was sie ersehnte, womit sie eins wurde – das war ein wahres Gefühl. So war sie sein geworden, als sie sah, daß er sie liebte und daß er unter dieser Liebe litt, und dann hatte sie auch nicht länger mehr gezögert, ihm anzu-gehören. Er glaubte, daß es sie keine Überwindung gekostet habe, aber darin irrte er sich. Es war ihr nicht leicht geworden, den unwiderruflichen Schritt zu tun, sie empfand ein drücken-des, beschämendes Gefühl darüber, daß plötzlich etwas in ihr Leben getreten war, was sie vor aller Augen verbergen mußte. Sie hatte ja oft genug gehört, wie man über die Frauen sprach, die einen Liebhaber hatten, und wenn sie jetzt daran dachte, stieg ihr das Blut siedendheiß in die Wangen. Aber sie war zu stolz und zu zartfühlend, als daß sie sich hätte anmerken lassen, was es sie gekostet hatte, und wollte nichts sagen, was ihren Freund in höherem Grade hätte verpflichten können, als seine Gefühle es taten. Er ahnte nichts von diesem moralischen Unbe-hagen, das übrigens nur wenige Tage anhielt und dann einer vollkommenen inneren Ruhe wich. Jetzt, nachdem drei Jahre verflossen waren, war sie sich bewußt, vollkommen natürlich gehandelt zu haben, und sprach sich von jeder Schuld frei. Sie hatte niemand Unrecht zugefügt – warum sollte sie also bereuen, was sie getan. Sie war ganz zufrieden. Diese Liaison war noch das Beste in ihrem ganzen Leben. Sie liebte und wurde geliebt. Den Rausch, von dem sie geträumt, hatte sie allerdings nicht dabei empfunden, aber empfindet man den überhaupt jemals? Ihr Freund war ein guter, gerader Mensch, er war in Gesellschaft und bei den Frauen sehr beliebt. Er galt für hochmütig und eigensinnig, aber ihr gegenüber bewies er echtes Gefühl. Die Genüsse, die sie ihm durch ihre Liebe gewährte, und die Freude, für ihn schön zu sein, fesselten sie an ihn. Er machte ihr das Leben nicht zum Paradiese, aber leicht zu ertragen und mitunter sogar angenehm.
Das, worüber sie sich in ihrer Einsamkeit nicht klargeworden war – obwohl sie manchmal ein unbestimmtes Mißbehagen, eine grundlose Traurigkeit empfand –, ihr innerstes Wesen, ihr Tem-perament und ihre eigentliche Bestimmung im Leben – alles das war ihr erst durch ihn offenbar geworden. Indem sie ihn erkannte, lernte sie sich selber erkennen, und sie empfand es mit glückseligem Staunen. –
Ihre gegenseitige Sympathie war keine Sache des Geistes oder der Seele; sie fühlte eine einfache, aber ausgesprochene Neigung für ihn, die sich immer gleichgeblieben war.
So freute sie sich auch jetzt in dem Gedanken, ihn morgen in der Rue Spontini wiederzusehen, wo sie seit drei Jahren ihre Zusammenkünfte hatten. Mit einer eigensinnigen Kopfbewe-gung und einem fast brutalen Achselzucken, das man dieser kul-tivierten Frau, die da so einsam vor ihrem Kamin saß, niemals zugetraut hätte, sagte sie vor sich hin: »Nun ja, ich brauche Liebe.«
2
Es war schon beinah dunkel, als sie das kleine Entresol in der Rue Spontini verließen. Robert Le Ménil winkte einen der gerade vorüberfahrenden Fiaker herbei und musterte den Kutscher und seinen Gaul mit einem etwas unruhigen Blick. Dann stieg er mit Thérèse ein. Dicht aneinandergeschmiegt rollten sie dahin. Es war, als ob sie durch eine Gespensterstadt fuhren, zwischen deren schwankenden Schatten hier und da ein jäher Lichtschein aufflammt.
Die Gefühle, die beider Herzen bewegten, waren milde und verlöschend wie das Licht, das sich in den feuchten Fensterschei-ben spiegelte. Die Außenwelt erschien ihnen verworren und flüchtig, im Herzen fühlten sie eine angenehme Leere. Der Wagen fuhr am Pont-Neuf vorüber zum Quai des Augustins. Hier stiegen sie aus. Ein scharfer Frost belebte den finsteren Januarabend. Thérèse atmete unter ihrem Schleier mit Genuß die frische Luft ein, vom Fluß her kamen einzelne Windstöße, die über den hartgefrorenen Boden hinfegten und einen scharfen, weißen, salzartigen Staub aufwirbelten. Es machte ihr Freude, so frei durch die unbekannten Straßen zu wandern, diese steinerne Landschaft zu sehen, die die durchsichtige und tiefe Klarheit der Luft einhüllte. Mit raschen festen Schritten ging sie den Quai entlang, das schwarze Gewirr der Baumäste hob sich von dem rauchgeröteten Himmel ab, der über der Stadt hing. Über die Brüstung gelehnt, schaute sie auf den schmalen Arm der Seine, sah ihre Wasser schwermütig vorüberziehen und spürte die Trauer des unbelebten Flusses, dessen Ufer weder Buchen noch Weiden säumten. Droben am Himmel zitterten schon die ersten Sterne.
»Man könnte meinen«, sagte sie, »daß der Wind sie wieder auslöscht.«
Ihm fiel es auch auf, daß sie so unruhig flimmerten, aber er meinte, es sei nicht, wie die Bauern behaupteten, ein Anzeichen, daß Regen käme; im Gegenteil, er habe mehr als einmal beob-achtet, daß es schönes Wetter gäbe, wenn die Sterne so funkel-ten.
Als sie an den Petit Pont gekommen waren, entdeckte Therese auf der rechten Seite der Straße Läden mit allem möglichen Eisenkram, die von qualmenden Lampen beleuchtet wurden. Sie stürzte darauf zu und durchstöberte mit den Augen die staubi-gen verrosteten Gegenstände in der Auslage. Und nun, da ihr Jagdeifer einmal erwacht war, bog sie um die Straßenecke und wagte sich bis zu einer Bretterbude vor, unter deren feuchten Deckenbalken trübselige Lumpen hingen. Hinter den schmutzi-gen Fensterscheiben brannte ein Talglicht und beleuchtete aller-hand Kasserollen, Porzellanvasen, eine Klarinette und einen Brautkranz.
Er konnte nicht begreifen, daß ihr das Spaß machte. »Aber du wirst dir womöglich noch Ungeziefer holen. Was interessiert dich denn an dem alten Kram?« »Alles. Ich denke an die arme Braut, deren Kranz dort unter der Glasglocke steht. Die Hochzeit hat gewiß an der Porte Mail-lot stattgefunden. Und im Brautzug war ein Schutzmann, wie bei allen Hochzeiten dort, die man samstags im Bois sieht. Rüh-ren sie dich nicht, mein Freund, all diese armen Geschöpfe, die lächerlich und elend sind und doch dereinst eingehen in die Größe der Vergangenheit?«
Zwischen geblümten, halbzerbrochenen, nicht zueinander pas-senden Tassen entdeckte sie ein kleines Messer mit geschnitztem Elfenbeinstiel, der eine lange, glatte Frauengestalt mit einer Haartracht à la Maintenon darstellte. Sie erstand es für einige Sous und war ganz selig darüber, weil sie eine ebensolche Gabel schon besaß. Le Ménil gab zu, daß er von solchen Sachen nichts verstände. Aber seine Tante Lannoix wäre eine große Kennerin. In Caen sei sie berühmt unter den Antiquitätenhändlern. Sie hätte ihr Schloß höchst stilvoll restaurieren und einrichten lassen. Es war das ehemalige Landgut von Jean Le Ménil, der 1779 Königlicher Rat am Obersten Gerichtshof in Rouen war. Aber es bestand schon vor ihm: In einer Urkunde aus dem Jahre 1690 wurde es unter dem Namen Maison de Bouteille erwähnt. In einem Zimmer im Erdgeschoß befand sich noch heute, hinter einem Gitter, in weißen Schränken die Büchersammlung von Jean Le Ménil. Seine Tante Lannoix hatte sie in Ordnung bringen wollen; dabei waren ihr einige leichtfertige Bücher in die Hände gefallen, mit so gewagten Illustrationen, daß sie sofort ver-brannt hatte.
»Ist deine Tante denn so dumm?« fragte Thérèse. Die Geschichten von Madame Lannoix langweilten sie schon lange. Ihr Freund hatte in der Provinz eine Mutter, Schwestern und Tanten, eine zahlreiche Familie. Sie kannte niemanden davon, und es brachte sie auf, wenn er immer wieder mit Bewunderung von ihnen sprach. Sie konnte ganz ärgerlich dar-über werden. Es machte sie nervös, daß er diese Familie häufig besuchte, und wenn er zurückkehrte, hatte sie jedesmal das Gefühl, als ob ein dumpfer Geruch an ihm hängengeblieben wäre, alle möglichen beschränkten Ideen und Empfindungen, die sie unangenehm berührten. Und er in seiner Naivität konnte das nicht begreifen und litt unter ihrer Antipathie gegen seine Verwandten.
So ließ er ihre Bemerkung unbeantwortet. Beim Anblick eines kleinen Restaurants, dessen Fenster hinter den Gitterstäben hell erleuchtet waren, fiel ihm plötzlich der Dichter Choulette wieder ein, der ja für einen Trunkenbold galt. Er fragte deshalb etwas verstimmt, ob dieser Mensch, der im Lodenmantel und mit einem roten Halstuch um die Ohren Besu-che machte, noch bei ihr verkehre.
Sie ärgerte sich, daß er genauso sprach wie der General Lari-vière, und erzählte ihm deshalb nicht, daß sie Choulette seit dem Herbst nicht mehr gesehen hatte und daß er sie vernachlässigte mit der ganzen Nonchalance eines vielbeschäftigten, launenhaf-
ten Menschen, der nicht zur Gesellschaft gehört. »Er ist geistreich«, sagte sie, »er hat sehr viel Phantasie und ist originell. Mir gefällt er nun einmal.«
Auf seinen Vorwurf, daß sie einen sonderbaren Geschmack habe, erwiderte sie heftig: »Ich habe überhaupt keinen bestimm-ten Geschmack. Ich finde an allem möglichen Gefallen. Ich hoffe, du mißbilligst nicht alles, was mir gefällt.«
O nein, er mißbilligte durchaus nicht alles, er fürchtete nur, es sei nicht richtig von ihr, einen Bohemien von fünfzig Jahren in ihrem Hause zu empfangen, der eigentlich nicht in anständige Gesellschaft gehörte.
»Choulette nicht in anständige Gesellschaft?« rief sie ganz empört. »Weißt du denn nicht, daß er jedes Jahr einen Monat in der Vendée bei der Marquise de Rieu zubringt – ja, bei der streng katholischen, royalistisch gesinnten Marquise de Rieu, der alten Anhängerin der Chouans, wie sie sich selber nennt. Aber da du dich für Choulette interessierst, muß ich dir doch sein neuestes Abenteuer erzählen. Ich habe die Geschichte von Paul Vence, und in dieser Straße, wo man Unterjacken und Blu-menstöcke in den Fenstern sieht, kann ich sie besser verstehen:
An einem regnerischen Abend im letzten Winter traf Choulette in einer Schnapsschenke, in einer Straße, deren Namen ich ver-gessen habe, die aber ebenso trostlos sein muß wie diese hier, ein unglückliches Mädchen, das selbst die Kellner in der Wirtschaft nicht angerührt hätten, und er verliebte sich in sie, weil sie gar so elend war. Sie nannte sich Maria, aber es war nicht einmal ihr eigener Name. Sie hatte sich nach einer Visitenkarte so genannt, die sie an der Tür ihrer Wohnung ganz oben unterm Dach in irgendeinem hôtel garni angenagelt gefunden hatte. Choulette war gerührt über diesen äußersten Grad von Armut und Schande; er nannte sie seine Schwester und küßte ihr die Hände. Er hat sie seitdem nicht wieder von sich gelassen. So wie sie ist, ohne Hut, nur mit einem Umschlagtuch, nimmt er sie mit in die Cafés des Quartier latin, wo die Studenten ihre Zeitung lesen. Er spricht milde und gut mit ihr, und dann weinen sie beide. Sie kneipen zusammen, und wenn sie betrunken sind, prügeln sie sich. Aber er liebt sie. Er nennt sie die Keusche – sein Kreuz und sein Heil. Anfangs ging sie barfuß; dann hat er ihr Stricknadeln und ein Gebinde grobe Wolle gekauft, damit sie sich Strümpfe stricken könne, und er beschlägt eigenhändig die Schuhe dieser Unglücklichen mit großen Nägeln. Und dann lehrt er sie Verse, die leicht zu verstehen sind. Bei alledem fürchtet er ihre innere Schönheit zu zerstören, wenn er sie ihrer Schande entreißen würde, in der sie mit so himmlischer Einfalt und bewunderns-werter Bedürfnislosigkeit lebt.«
Le Ménil zuckte die Achseln.
»Aber dieser Choulette ist verrückt, und Paul Vence erzählt dir schöne Geschichten! Ich bin gewiß nicht prüde, aber es gibt einen Grad von Unmoral, der mich anekelt.«
Sie gingen aufs Geratewohl weiter. Thérèse war nachdenklich geworden: »Ja, ja, die Moral, ich weiß schon – die Pflicht! Aber der Teufel weiß, wie man ausfindig machen soll, wo die Pflicht eigentlich steckt. Ich versichere dich, ich weiß es fast nie. Es ist wie mit dem Igel unserer Miß in Joinville. Wir verbrachten den ganzen Abend damit, ihn unter allen Schränken zu suchen, und als wir ihn schließlich gefunden hatten, gingen wir zu Bett.«
Er fand, daß viel Wahrheit in dem steckte, was sie da sagte, mehr sogar, als sie selbst vermutete. Als er wieder allein war, dachte er noch lange darüber nach.
»Siehst du, deshalb tut es mir eigentlich leid, daß ich nicht beim Militär geblieben bin. Oh, ich weiß schon, was du mir dar-auf antworten wirst. Man wird stumpfsinnig bei diesem Metier. Ich gebe das zu, aber man weiß doch wenigstens immer, was man zu tun hat, und das ist viel wert im Leben. Ich finde zum Beispiel, daß mein Onkel, der General La Briche, ein sehr schö-nes Leben führt. Es ist ein angenehmes und ehrenvolles Dasein. Aber heutzutage, wo alles sich zum Militär drängt, gibt es eigentlich weder Offiziere noch Soldaten. Es ist wie am Sonntag auf dem Bahnhof, wenn die Schaffner die wie von Sinnen durch-einanderstürzenden Reisenden in die Abteile schieben. Mein Onkel La Briche hat sämtliche Offiziere und Soldaten seiner Bri-gade persönlich gekannt. In seinem Speisezimmer hängt noch ein großes Bild, wo alle ihre Namen draufstehen, und er liest sie von Zeit zu Zeit wieder durch, um sich zu zerstreuen. Aber wie soll heutzutage ein Offizier seine Leute kennen?«
Sie hörte schon längst nicht mehr zu. An der Ecke der Rue Galande hatte sie eine Frau entdeckt, die gebratene Kartoffeln verkaufte. Sie saß in einer Art Bude mit Glasscheiben. Der Schein des Kohlenfeuers fiel auf ihr Gesicht, das hell aus der Dunkelheit hervorleuchtete, während sie ihren Löffel in die brutzelnde Masse tauchte und die goldigen Scheiben in eine gelbe Papier-tüte schüttete, in der Strohhälmchen glänzten. Daneben stand ein rothaariges kleines Mädchen, das ein Zweisousstück in der blaugefrorenen Hand hielt und aufmerksam ihren Bewegungen folgte.
Thérèse beneidete das Kind, als es mit seiner Tüte abzog, und fühlte plötzlich Hunger. Sie wollte durchaus auch diese gebrate-nen Kartoffeln probieren.
Er widersprach anfangs: »Gott weiß, womit sie gemacht wer-den«, aber schließlich mußte er doch hingehen und eine Tüte für zwei Sous verlangen und auch aufpassen, daß sie gehörig gesalzen wurden.
Während sie ihren Schleier zurückschlug und in die goldig glänzenden Scheiben biß, zog er sie weiter, in verödete kleine Gassen, fort vom Licht der Gaslaternen. Schließlich kamen sie wieder auf den Quai zurück und sahen jenseits des Stromes die dunkle Masse der Kathedrale emporwachsen. Der Mond hing über dem scharfzackigen First des Hochschiffs und goß sein sil-bernes Licht über das Kirchendach.
»Notre-Dame!« sagte Thérèse. – »Sieh doch, sie liegt so massig da wie ein Elefant und doch so feingegliedert wie ein Insekt. Und der Mond klettert auf ihr herum und betrachtet sie wie ein boshafter Affe. Der Mond ist in Paris ganz anders als bei uns zu Hause. In Joinville habe ich einen kleinen Lieblingsweg, es ist ein ganz gewöhnlicher kleiner Weg, aber man geht gerade auf den Mond zu. Natürlich ist er nicht immer da, aber er kommt doch treulich wieder mit seinem vollen, roten, wohlbekannten Gesicht – wie eine Nachbarin vom Lande, eine gute Frau aus der Umge-gend. Und dann gehe ich ihm ganz ernsthaft entgegen und sage ihm höflich und freundschaftlich guten Tag; aber den Pariser Mond möchte ich nicht allzuoft besuchen. Er gehört nicht zur guten Gesellschaft. Was mag er alles gesehen haben, während er so über die Dächer hinstreicht.«
Le Ménil lächelte zärtlich: »Ja, dein kleiner Weg, den du immer allein gingst. Du behauptetest, du hättest ihn so lieb, weil man den Himmel so dicht vor sich hätte. Ich sehe ihn vor mir, als ob ich dort wäre.«
Es war in Joinville, gewesen, wo er, von ihrem Vater zur Jagd eingeladen, sie zum erstenmal gesehen hatte, und er hatte sich gleich in sie verliebt und sich nach ihrem Besitz gesehnt. Und dort am Rande des kleinen Gehölzes hatte er ihr eines Abends gesagt, daß er sie liebte, und sie hatte ihn schweigend angehört – mit schmerzhaft verzogenem Mund und vagem Blick.
Er wurde ganz gerührt, als er an diesen kleinen Weg dachte, den sie an den Herbstabenden so oft allein gegangen war. Er dachte an die seligen Stunden, da das erste Verlangen und die erste furchtsame Hoffnung in ihm erwacht war, und eine tiefe Erregung kam über ihn. Er suchte ihre Hand, die sie in den Muff gesteckt hatte, und drückte das zarte Handgelenk unter dem Pelzwerk.
Ein kleines Mädchen, das in einem von Tannenzweigen geflochtenen Korb Veilchen zum Verkauf anbot, ahnte, daß sie ein Liebespaar vor sich hatte, und kam mit ihren Blumen heran. Le Ménil kaufte ihr ein Sträußchen für zwei Sous ab und reichte es Thérèse.
Dann gingen sie auf die Kathedrale zu, und sie dachte im stil-len: ›Wie ein riesenhaftes Tier sieht sie aus – wie ein Ungeheuer aus der Apokalypse.‹
Am anderen Ende der Brücke tauchte wieder eine Blumen-händlerin auf. Diesmal war es eine alte, schmutzige Frau mit welken, bärtigen Zügen, die mit einem Korb voll Mimosen und Rosen aus Nizza hinter ihnen her lief. Thérèse war gerade damit beschäftigt, sich den Veilchenstrauß an die Brust zu stecken, und antwortete heiter: »Dank' schön, ich habe alles, was ich brauche.«
Die Alte entfernte sich wieder und rief ihr unverschämt nach: »Man sieht, daß Sie noch jung sind.«
Thérèse begriff erst einen Augenblick später, was sie meinte, und konnte nicht umhin zu lächeln. Sie kamen jetzt an dem schattendunklen Portal mit den steinernen Statuen vorüber, die in den Nischen standen und Krone und Zepter trugen.
»Komm, laß uns hineingehen«, sagte sie. Er hatte keine Lust dazu. Es war ihm peinlich, ja, er fürchtete sich beinahe, mit ihr in eine Kirche zu gehen, und behauptete, es sei schon geschlossen. Er glaubte es, er wollte es. Aber sie stieß die Seitentür auf und trat leise in den ungeheuren Innenraum, dessen Pfeiler wie erstorbene Riesenbäume in die Dunkelheit hinaufwuchsen. Im Hintergrund bewegten sich Kerzen vor den gespensterhaften Gestalten der Priester, und die Orgel ließ noch ein paar klagende Töne hören, ehe sie ganz verstummte.
Sie schauderte zusammen in dieser Totenstille und sagte dann: »Dies melancholische Dunkel der Kirchen erschüttert mich; hier fühle ich die Erhabenheit des Nichts.«
»Wir müssen doch schließlich an irgend etwas glauben«, ant-wortete er, »wenn es keinen Gott gäbe, keine Unsterblichkeit, das wäre doch zu trostlos.«
Sie blieb eine Zeitlang regungslos in den tiefen Schatten, die von den Gewölben hingen, dann sagte sie: »Mein lieber Freund, wir wissen nicht einmal, was wir mit diesem kurzen Leben anfangen sollen, und du willst noch ein zweites, das niemals endet!«
Sie stiegen wieder in einen Wagen, um nach Hause zu fahren, und Le Ménil sagte, daß er einen angenehmen Tag verbracht habe. Er drückte sie zärtlich an sich und war sehr zufrieden mit ihr und mit sich selbst. Aber sie vermochte seine gute Laune nicht zu teilen. Das war oft so, wenn sie zusammen waren. Die letzten Augenblicke, die sie miteinander zubrachten, wurden ihr oft durch die Ahnung verdorben, daß er beim Abschied nicht das Wort finden würde, nach dem sie sich sehnte. Gewöhnlich verließ er sie schnell; es war, als ob das, was sie gemeinsam emp-funden, nicht mehr in ihm nachklänge. Und jedesmal, wenn sie sich trennten, hatte sie das unbestimmte Gefühl, als ob alles zwi-schen ihnen aus sei. Das quälte sie schon im voraus, und sie wurde ganz nervös. Unter den Bäumen des Cours-la-Reine faßte er ihre Hand und küßte sie zu wiederholten Malen.
»Nicht wahr, Thérèse, es kommt selten vor, daß zwei Men-schen sich so lieben wie wir beide?«
»Selten? Das weiß ich nicht, aber ich glaube, du liebst mich wirklich.«
»Und du?«
»Ich liebe dich auch.«
»Wirst du mich immer liebhaben?«
»Immer? Wer kann das wissen?«
Und dann, als sie sah, daß sein Gesicht sich verdüsterte: »Wür-dest du dich glücklicher fühlen mit einer Frau, die dir ewige Liebe schwört?«
Er war unruhig geworden und sah ganz unglücklich aus. Sie wollte ihn nicht quälen und suchte ihn völlig zu beruhigen.
»Du weißt doch, Lieber, daß ich nicht leichtsinnig bin. Ich bin nicht frivol wie die Prinzessin Seniavine.«
Am Ende der Straße, unter den Bäumen, sagten sie sich Lebe-wohl. Er blieb im Wagen sitzen, da er noch nach der Rue Royale fahren wollte, um im Club zu speisen und dann ins Theater zu gehen. Er hatte keine Zeit zu verlieren.
Thérèse ging zu Fuß nach Hause. Am Trocadéro, dessen Lich-ter sprühten wie diamantenes Geschmeide, fielen ihr die Worte der Blumenfrau vom Petit-Pont wieder ein, diese Worte im dunklen Wind: »Man sieht, daß Sie noch jung sind.« Und sie erschienen ihr jetzt nicht mehr keck und spöttisch wie vorhin, sondern stimmten sie unruhig und traurig. »Man sieht, daß Sie jung sind.« Ja, sie war jung, sie wurde geliebt, und doch fühlte sie – es war leer in ihr.
3
In der Tafelmitte stand ein Korb, der mit seinem breiten Goldbronzereif ein wahres Blumenmassiv umschloß. Adler breiteten ihre Schwingen über die schweren Füllhörnergriffe inmitten einer Unzahl von Sternen und Bienen. An den Seiten trugen geflügelte Siegesgöttinnen die Flammenarme der Kandelaber. Der Tafelaufsatz im Empirestil war 1812 dem Grafen Martin de l'Aisne, dem Großvater des jetzigen Grafen Martin-Bellème, von Napoleon als Geschenk überreicht worden. Martin de l'Aisne, der 1809 Deputierter der Gesetzgebenden Körperschaft war, wurde im Jahre darauf Mitglied der Finanzkommission, deren stille und unermüdliche Arbeit dem fleißigen, scheuen Manne sehr zusagte. Obwohl nach Familie und Neigung liberal, gefiel er dem Kaiser doch wegen seiner Pflichttreue und seiner strengen, wenn auch niemals lästigen Redlichkeit. Zwei Jahre lang regnete es Gnadenbezeigungen auf ihn nieder. 1813 gehörte er zu jener Majorität der Gemäßigten, die den Bericht Lainés unterstützten, in dem dem bereits schwankenden Kaisertum einige verspätete Lehren erteilt und der Staat ebenso wie die Niederlage der Kritik unterzogen wurden. Am 1. Januar 1814 mußte er mit seinen Kollegen in die Tuillerien. Der Kaiser bereitete ihnen einen furchtbaren Empfang. Gewalttätig und düster im Bewußtsein seiner damaligen Machtstellung und in der Angst des bevorstehenden Sturzes lud er seinen ganzen Zorn und seine Verachtung auf sie ab.
Er schritt die Reihen der erschrockenen Deputierten auf und nieder, packte den Grafen Martin bei den Schultern, schüttelte ihn, schleifte ihn und schrie: »Ihr meint, ein Thron seien vier mit Samt überzogene Stücke Holz? Nein! Ein Thron ist ein Mann, und dieser Mann bin ich. Ihr habt mich mit Schmutz bewerfen wollen. Ist es etwa an der Zeit, mir Vorwürfe zu machen, wenn zweihunderttausend Kosaken die Grenze überschreiten? Euer Lainé ist ein böses Subjekt. Man wäscht seine schmutzige Wäsche zu Hause.« Und während seine Wut, bald trivial, bald erhaben, sich über sie ergoß, zerknüllte er noch immer den goldgestickten Kragen des Deputierten de l'Aisne. »Das Volk kennt mich. Euch kennt es nicht. Ich bin der Erwählte der Nation. Ihr seid obskure Delegierte irgendeines Departements.« Er prophezeite ihnen das Schicksal der Girondisten. Das Klirren seiner Sporen begleitete seine lauten Ausbrüche. Graf Martin aber blieb von da an für sein ganzes Leben schwerzüngig und voll Furcht. Und in dieser Furcht rief er auch nach dem Sturz des Kaisers aus dem Versteck seines Hauses zu Laon die Bourbonen herbei. Vergebens übersäten die Regierungen der beiden Restaurationen, der Julitage und des zweiten Kaiserreiches seine stets beengte Brust mit Orden und Ehrenzeichen. Zu den höchsten Würden erhoben, von drei Königen und einem Kaiser mit Ehren beladen, spürte er doch unablässig auf seiner Schulter die Hand des Korsen. Er starb als Senator unter Napoleon III. und ließ einen mit Furcht erblich belasteten Sohn zurück.
Dieser Sohn nun hatte sich mit Mademoiselle Bellème, der Tochter des Gerichtspräsidenten von Bourges, und dank ihr auch mit dem politischen Ruhm einer Familie ehelich verbunden, die dem gemäßigten Königtum drei Minister schenkte. Die Bellèmes, die unter Ludwig XV. Herren von der Robe waren, brachten die dem Ursprung nach jakobinischen Martins zu neuen Ehren. Der zweite Graf Martin gehörte bis zu seinem 1881 erfolgten Tode jedem Parlamente an. Sein Sohn, Charles Martin-Bellème, nahm ohne viel Mühe seinen Sitz in der Kammer ein. Nachdem er Thérèse Montessuy geheiratet hatte, deren Mitgift seine politische Karriere stützen sollte, trat er diskret unter den vier oder fünf Bourgeois von Stand und Vermögen hervor, die sich der Demokratie und der Republik anschlossen und von den hochgekommenen Republikanern mit um so geringerem Mißtrauen aufgenommen wurden, als ihnen aristokratische Namen schmeichelten und geistige Mittelmäßigkeit sie beruhigte.
In dem Speisesaal, über dessen Türen sich hier und da im Schatten das gefleckte Fell der Hunde von Oudry erraten ließ, machte Graf Martin-Bellème vor dem mit goldenen Sternen und Bienen besetzten Tafelaufsatz zwischen den beiden kerzentragenden Siegesgöttinnen die Honneurs mit der etwas müden Grazie und melancholischen Höflichkeit, die noch vor kurzem im Elysée auserlesen worden war, bei einer Großmacht des Nordens das isolierte und wiedererstandene Frankreich zu repräsentieren. Er richtete von Zeit zu Zeit ein paar blasse Worte nach rechts, an Madame Garain, die Gattin des ehemaligen Siegelbewahrers, und zur Linken an die brillantenbeladene Prinzessin Seniavine, die sich zum Sterben langweilte. Ihm gegenüber saßen auf der anderen Seite des Korbes die Gräfin Martin und neben ihr General Larivière und Monsieur Schmoll von der Académie des Inscriptions. Sie fächelte liebkosend ihre weißen und zarten Schultern. An den beiden Hufeisenbogen der Tafel waren placiert: Monsieur Montessuy, eine kräftige Erscheinung mit blauen Augen und gesunder Gesichtsfarbe, Madame Bellème de Saint-Nom, eine junge Cousine des Hauses, die ihre langen, mageren Arme verlegen machten, der Maler Duvicquet, Monsieur Daniel Salomon, Paul Vence, der Deputierte Garain, Monsieur Bellème de Saint-Nom, ein unbekannter Senator und Dechartre, der zum ersten Male hier eingeladen war. Die anfänglich spärliche und matte Unterhaltung kam allmählich in Fluß und pflanzte sich in einem undeutlichen Stimmengewirr fort, aus dem sich die Stimme Garains abhob.
»Jede falsche Idee ist gefährlich. Wer da meint, Träumer könnten kein Unheil anrichten, irrt sich. Sie richten sehr viel an. Die scheinbar harmlosesten Utopien üben in Wahrheit eine schädliche Wirkung aus. Sie führen dazu, Widerwillen gegen die Wirklichkeit zu erregen.«
»Vielleicht«, sagte Paul Vence, »liegt es daran, daß die Wirklichkeit nicht schön ist.«
Der ehemalige Siegelbewahrer erklärte, er sei für alle nur möglichen Verbesserungen. Er vergaß, daß er unter dem Kaiserreich für die Abschaffung der stehenden Heere und 1880 für die Trennung von Kirche und Staat eingetreten war, und behauptete, er bleibe getreu seinem Programm ein ergebener Diener der Demokratie. Seine Devise, sagte er, laute Ordnung und Fortschritt. Er glaube wirklich die rechte gefunden zu haben.
Montessuy entgegnete mit derber Bonhomie: »Nun seien Sie einmal aufrichtig, Monsieur Garain. Gestehen Sie doch, daß es mit Ausnahme der Änderung der Briefmarkenfarben eigentlich überhaupt keine Reformen gibt. Ob gut oder schlecht, die Dinge sind nun mal so, wie sie sein müssen. Ja«, fügte er hinzu, »die Dinge sind, wie sie sein müssen. Aber sie ändern sich fortwährend. Seit achtzehnhundertsiebzig hat die industrielle und finanzielle Lage des Landes vier oder fünf Revolutionen durchgemacht, die die Wirtschaftspolitiker nicht vorausgesehen hatten und die sie heute noch nicht verstehen. In der Gesellschaft wie in der Natur kommen die Wandlungen von innen heraus.«
Was die Frage der Regierungsform anbeträfe, so halte er sich an das Nächstliegende, an klare, bestimmte Anschauungen. Er hänge mit allen Kräften an der Gegenwart und kümmere sich wenig um die Zukunft. Die Sozialisten machten ihm weiter keine Sorge. Es sei ihm gleichgültig, ob Kapital oder Sonnenlicht eines Tages ihren Glanz verlieren würden, einstweilen genieße er sie noch. Wenn es nach ihm ginge, dann ließe man die Dinge laufen, wie sie wollten. Nur Narren und Wahnsinnige stemmten sich gegen den Strom oder suchten ihm vorauszueilen.
Graf Martin, der von Natur Melancholiker war, hatte düstere Ahnungen. Mit verschleierten Worten verkündigte er eine Katastrophe.
Seine furchtsamen Worte über den Blumenkorb hinweg erregten Monsieur Schmoll, der zu seufzen und zu prophezeien anfing. Er setzte auseinander, daß die christlichen Nationen unfähig wären, von allein völlig aus der Barbarei herauszukommen, und daß Europa ohne die Juden und Mauren noch heute wie zur Zeit der Kreuzzüge in Unwissenheit, Elend und Grausamkeit leben würde.
»Das Mittelalter«, erklärte er, »hat nur in den Geschichtsbüchern ein Ende, die man den Schuljungen zur Verfälschung ihres Geistes in die Hand gibt. In Wirklichkeit bleiben Barbaren immer Barbaren. Es ist die Mission Israels, die Völker zu lehren. Israel hat im Mittelalter Europa die Weisheit Asiens gebracht. Der Sozialismus jagt Ihnen Furcht ein? Er ist genauso eine christliche Krankheit wie das Mönchtum. Und der Anarchismus, erkennen Sie nicht in ihm die alte Lepra des Albigenser- und Waldensertums wieder? Die Juden allein, die Europa Wissen und Gesittung gebracht haben, könnten es auch heute von diesem verzehrenden christlichen Übel retten. Aber sie haben ihre Pflicht versäumt. Sie sind Christen unter Christen geworden. Und Gott straft sie. Er läßt zu, daß man sie ins Exil schickt und ausraubt. Der Antisemitismus macht überall erschreckende Fortschritte. In Rußland werden meine Glaubensgenossen gejagt wie die wilden Tiere. In Frankreich ist ihnen die Zivil- wie die Militärlaufbahn verschlossen. In aristokratischen Kreisen haben sie keinen Zutritt mehr. Mein Neffe, der junge Isaak Coblentz, hat die diplomatische Karriere nach dem glänzendsten Zulassungsexamen aufgeben müssen. Die Frauen einiger meiner Kollegen legen mit Absicht antisemitische Schriften aus, wenn meine Frau sie besucht. Und sollte man es für möglich halten, daß der Unterrichtsminister mir das Kommandeurkreuz der Ehrenlegion verweigert hat, als ich ihn darum ersuchte? Da haben Sie den Undank der Welt! Welche Verwirrung! Der Antisemitismus ist der Tod, jawohl, der Tod der europäischen Zivilisation.«
Der kleine Mann hatte ein Temperament, das sich über alle Konventionen hinwegsetzte. Grotesk und dabei schonungslos aufrichtig, brachte er die ganze Tafelrunde in Verlegenheit. Madame Martin machte ihm amüsiert ein Kompliment.
»Monsieur Schmoll, Sie verteidigen doch wenigstens Ihre Glaubensgenossen. Sie sind nicht so wie eine sehr schöne jüdische Bekannte von mir, die überall herumläuft und erzählt, daß man sie beleidigt habe, weil sie in der Zeitung gelesen hat, bei ihr verkehre die Elite der jüdischen Gesellschaft.«
»Ich bin überzeugt, gnädige Frau, daß Sie nicht ahnen, wie schön und allen andern überlegen die jüdische Ethik ist. Kennen Sie das Gleichnis von den drei Ringen?«
Seine Frage verlor sich im Gesumm der Gespräche, in denen sich auswärtige Politik, Bilderausstellungen, Klatschgeschichten aus der Gesellschaft und wissenschaftliche Diskussionen kreuzten. Man sprach von dem neuesten Roman und dem nächsten Theaterstück. Es war eine Komödie mit Napoleon in einer Nebenrolle.
Die Unterhaltung verweilte nun bei Napoleon, wie er mehrmals auf der Bühne und neuerdings in vielgelesenen Büchern dargestellt worden war: Napoleon als Gegenstand der Sensationslust, als moderne Romanfigur. Das war nicht mehr der Volksheld, der gestiefelte Halbgott des Vaterlandes wie in den Tagen, als Norvins und Béranger, Charlet und Raffet seine Legende schufen, sondern eine interessante Persönlichkeit, amüsant durch menschliche, allzu menschliche Züge; eine Figur, deren Eigenart den Künstlern gefiel, deren bewegtes Leben das breite Publikum fesselte.
Garain, der seine politische Karriere auf dem Haß gegen das Kaisertum aufgebaut hatte, meinte allen Ernstes, daß diese Wiederbelebung des Geschmacks am Nationalen nur eine lächerliche Geschmacksverirrung sei. Er sah darin keine Gefahr und fürchtete auch weiter nichts davon. Furcht kam bei ihm jäh und wild zum Ausbruch. Für den Augenblick war er ganz ruhig. Er sprach weder davon, die Aufführungen zu verbieten oder die Bücher zu beschlagnahmen, noch davon, die Autoren ins Gefängnis zu bringen oder sonst irgend etwas zu unterdrücken. In seiner nüchternen Strenge sah er in Napoleon nur den Condottiere Taines, der Volney einen Tritt in den Leib versetzt hatte.
Jeder wollte den wahren Napoleon definieren. Graf Martin sprach angesichts des kaiserlichen Tafelaufsatzes und der geflügelten Siegesgöttinnen mit Achtung von Napoleon als Organisator und Administrator und stellte ihn besonders als Präsidenten des Staatsrates, wo seine Worte auch in die dunkelsten Fragen Licht gebracht hätten, sehr hoch.
Garain behauptete, Napoleon habe in diesen nur allzu berühmten Sitzungen unter dem Vorwande, eine Prise nehmen zu wollen, den Staatsräten ihre mit Miniaturen und Edelsteinen geschmückten goldenen Schnupftabakdosen abgenommen, die man dann niemals wiedergesehen hätte. Schließlich habe man in den Staatsrat nur noch »Rattenschwänze« mitgenommen: Dosen aus Birkenrinde mit einem Riemchen am Deckel. Der jüngere Mounier hatte ihm diese Anekdote selbst erzählt.
Montessuy schätzte Napoleons Ordnungssinn.
»Er hatte«, meinte er, »ordentlich gemachte Arbeiten gern. Und das ist eine Vorliebe, die man heutzutage kaum noch findet.«
Der Maler Duvicquet, der alles nur vom Standpunkt des bildenden Künstlers aus ansah, hatte seine Zweifel. Er vermöchte in der von St. Helena stammenden Totenmaske durchaus nicht die Züge des schönen, machtvollen Gesichtes wiederzuerkennen, das Medaillen und Büsten verewigten. Davon könne man sich jetzt überzeugen, wo die nach der wiederaufgefundenen Maske gemachte Bronze in jedem Trödlerladen unter vergoldeten Holzadlern und Sphinxen zu finden wäre. Seiner Meinung nach könne die Seele Napoleons nicht napoleonisch sein, da ja nicht einmal sein äußeres Gesicht wirklich napoleonisch gewesen sei. Vielleicht eine gute Bürgerseele. Man behaupte es, und er neige dazu, es zu glauben. Übrigens wüßte er, Duvicquet, der stolz darauf sei, die Porträts seiner Zeit gemalt zu haben, daß berühmte Männer nur höchst selten der Vorstellung glichen, die man sich von ihnen mache.
Daniel Salomon machte darauf aufmerksam, daß die erwähnte Maske, die von dem entseelten Kaiser gemacht und von seinem Arzt Antommarchi nach Europa gebracht worden sei, zum ersten Male unter Louis-Philippe 1833 in Bronze gegossen und nur an Subskribenten abgegeben worden wäre. Schon damals habe sie Erstaunen und Mißtrauen geweckt. Man habe diesen Italiener, einen schwatzhaften und halbverhungerten Scharlatan, verdächtigt, der Welt ein Schnippchen geschlagen zu haben. Auch die Anhänger Doktor Galls, dessen wissenschaftliches System damals in Mode war, hätten die Maske angezweifelt. Sie hätten bei ihr die Schädelhöcker des Genies vermißt, und die nach der Theorie dieses Meisters untersuchte Stirnbildung habe gleichfalls nichts Bemerkenswertes gezeigt.
»Natürlich«, meinte die Prinzessin Seniavine, »Napoleon war ja auch nur darum bemerkenswert, weil er Volney einen Fußtritt in den Leib gegeben und diamantenbesetzte Tabatieren gestohlen hat, wie Sie eben von Monsieur Garain gehört haben.«
»Und dabei weiß man nicht einmal genau«, warf Madame Martin ein, »ob er ihm den Fußtritt wirklich gegeben hat.«
»So kommt schließlich alles an den Tag«, erklärte die Prinzessin belustigt. »Napoleon hat eben nichts geleistet. Er hat nicht einmal Volney einen Fußtritt gegeben und hatte den Schädel eines Kretins.«
General Larivière, der seinerseits den Augenblick für eine Attacke gekommen hielt, ließ die Phrase steigen: »Napoleons Kampagne von achtzehnhundertdreizehn ist auch höchst anfechtbar.«
Der General hatte nur den einen Gedanken, Garain zu gefallen. Andere Gedanken hatte er nicht. Aber es gelang ihm doch mit einiger Anstrengung, ein Gesamturteil zu formulieren: »Napoleon hat Fehler gemacht. In seiner Stellung durfte er das nicht.« Und er schwieg mit hochrotem Kopf.
Madame Martin fragte: »Monsieur Vence, was halten Sie eigentlich von Napoleon?«
»Ich für meinen Teil, gnädige Frau, finde wenig Gefallen an Haudegen, und Eroberer erscheinen mir ganz einfach als gefährliche Irre. Aber die Gestalt des Kaisers interessiert mich trotzdem genauso wie das Publikum. Ich finde, er hat Charakter und Lebenskraft. Dem ›Mémorial‹ Le Mémorial de Sainte-Hélène, die Aufzeichnungen des Grafen Las Cases über seine Gespräche mit Napoleon auf Sankt Helena. kommt kein Epos und kein Abenteurerroman gleich, so lächerlich schlecht es auch geschrieben ist. Da Sie es nun einmal wissen wollen: Ich meine, daß sich der Kaiser, zur Größe geboren, hier in der ganzen blendenden Einfalt eines Heros der Sage zeigt. Ein Heros muß Mensch sein, und Napoleon war Mensch.«
»Hört, hört«, warf man ein.
Aber Paul Vence fuhr unbeirrt fort: »Er war gewalttätig und leichtlebig, und gerade darum so tief menschlich; ich möchte sagen, er glich dem Mann auf der Straße. Er wollte mit einzigartiger Willenskraft alles das, was der Durchschnitt schätzt und begehrt. Er gab seine eigenen Illusionen dem Volke. Das war seine Stärke, seine Schwäche und das Schöne an ihm. Er glaubte an den Ruhm. Vom Leben und von der Welt hatte er etwa die gleiche Meinung wie seine Grenadiere. Er bewahrte sich immer den kindlichen Ernst, der sich im Spielen mit Säbel und Trommel gefällt, und jene Einfalt, die den guten Soldaten macht. Er war ganz aufrichtig in seiner Hochschätzung der Gewalt. Er war der Mensch der Menschen, war Fleisch von ihrem Fleische. Er hatte keinen Gedanken, der nicht Tat war, und jede seiner Taten war groß und volkstümlich. Dieses erhabene Mittelmaß macht den Helden aus. Und Napoleon war ein vollkommener Held. Sein Hirn war niemals größer als seine Hand, diese kleine, schöne Hand, die eine Welt zermalmte. Er machte sich nicht einen Augenblick Sorge um das, was für ihn unerreichbar war.«
»Sie sind also auch der Ansicht, daß er kein intellektuelles Genie war«, sagte Garain. »Ich bin ganz Ihrer Meinung.«
»Ganz sicher hatte er das Genie, das man braucht, um in der bürgerlichen und militärischen Arena der Welt zu glänzen«, erwiderte Paul Vence. »Aber er war kein spekulatives Genie. Das ist ein anderes Paar Ärmel, wie Buffon sagt. Wir kennen seine gesammelten Reden und Schriften. Sein Stil hat Bewegung und Bildkraft. Aber in der ganzen Fülle der Gedanken findet sich kein Streben nach Erkenntnis, keinerlei Bemühen um das Unerforschliche, nicht das geringste Bangen vor dem Geheimnis, das das Schicksal verhüllt. Er kommt einem wie ein Schuljunge von vierzehn Jahren vor, wenn er in Sankt Helena von Gott und Seele redet. Er war in die Welt hineingeworfen, sein Geist war auf die Welt zugeschnitten und umfaßte sie ganz. Kein Teilchen seines Ich verlor sich ins Unendliche. Er war Poet, aber er kannte nur die Poesie der Tat. Sein gewaltiger Lebenstraum war von der Erde begrenzt. In seiner furchtbaren und rührenden Knabenhaftigkeit glaubte er daran, daß ein Mensch groß sein kann. Und diese Kindlichkeit verließ ihn nicht; nicht mit den Jahren, nicht einmal im Unglück. Seine Jugend, oder vielmehr seine göttliche Jünglingszeit, dauerte bis an sein Ende, denn seine Tage reihten sich nicht aneinander, um schließlich eine bewußte Reife zu erzeugen. Das ist das unerhörte Dasein von Menschen der Tat. Sie stehen ganz in dem Augenblick, den sie erleben, und ihr Genie sammelt sich auf einen einzigen Punkt. Sie erneuern sich unaufhörlich, aber sie wachsen nicht. Die Stunden ihres Daseins sind nicht verknüpft durch eine Kette ernster und selbstloser Gedanken. Ihr Leben hat keine innere Kontinuität, sondern ist eine Aufeinanderfolge von Handlungen. Deshalb haben sie auch kein Innenleben. Und dieser Mangel ist am deutlichsten bei Napoleon fühlbar, der niemals in sich selbst gelebt hat. Daher die Leichtigkeit seines Charakters, die ihn unbeschwert seine ungeheure Last von Schuld und Fehl tragen ließ. Sein immer neuer Geist gebar sich täglich wieder. Er besaß stärker als jeder andere die Fähigkeit zum Genießen. An dem ersten Morgen auf dem Trauerfelsen von Sankt Helena sprang er, als die Sonne aufging, eine Romanze pfeifend aus dem Bett. Das war der Friede einer dem Geschick überlegenen Seele und vor allem die Leichtigkeit eines Geistes, der stets zur Wiedergeburt bereit ist. Er lebte von außen her.«
Garain mißfiel diese gedanklich und sprachlich geistvolle Wendung, und er drängte also auf ein Ende. »Mit einem Wort«, erklärte er, »in diesem Menschen steckte also ein Ungeheuer.«
»Ungeheuer gibt es nicht«, erwiderte Paul Vence. »Und wenn Menschen für Ungeheuer gelten, flößen sie Grauen ein. Napoleon aber wurde von einem ganzen Volke geliebt. Seine Stärke war, daß er hinter seinen Schritten Liebe ließ. Seine Soldaten freuten sich, für ihn sterben zu können.«
Gräfin Martin wollte auch Dechartre seine Ansicht sagen hören. Aber er wehrte sich gleichsam erschreckt dagegen.
»Kennen Sie die Geschichte von den drei Ringen?« fragte Schmoll. »Diesen göttlichen Einfall eines portugiesischen Juden?«
Garain beglückwünschte Paul Vence zu seinen glänzenden Paradoxen und bedauerte dabei, daß sich Geist immer nur auf Kosten von Moral und Gerechtigkeit auswirke.
»Es gibt nur ein Prinzip«, sagte er, »und das heißt: Richtet den Mann nach seinen Taten.«
»Und die Frauen?« warf die Prinzessin Seniavine rasch ein. »Wollen Sie auch die Frauen nach ihren Taten beurteilen? Woher wissen Sie denn, was sie tun?«
Der Klang ihrer Stimme mischte sich in das helle Klingen der silbernen Bestecke. Heiße Luft, geschwängert von Düften, badete den Raum. Die Rosen neigten sich schwer und verstreuten ihre Blütenblätter auf das Tischtuch. Die Gedanken stiegen erhitzter auf.
General Larivière baute Luftschlösser. »Wenn man mir den Abschied gibt«, sagte er zu seiner Nachbarin, »gehe ich nach Tours und züchte Blumen.« Und er prahlte mit seinem Gärtnertalent. Man hatte eine Rosensorte nach ihm benannt, und er war sehr stolz darauf.
Schmoll fragte immer noch, ob denn niemand das Gleichnis von den drei Ringen kenne.
Die Prinzessin neckte den Deputierten weiter. »Wissen Sie nicht, daß man die gleichen Dinge aus den verschiedensten Motiven heraus tun kann, Monsieur Garain?«
Montessuy pflichtete ihr bei.
»Sie haben recht, gnädige Frau, Taten beweisen gar nichts. Das beweist schlagend eine Episode aus dem Leben Don Juans, die weder Mozart noch Molière gekannt haben. Sie stammt aus einer englischen Legende, die ich durch meinen Freund James Lovell in London kenne. Es heißt da, daß sich der große Verführer vergeblich um drei Frauen bemühte. Die eine war eine Bürgersfrau, die ihren Mann wahrhaft liebte; die zweite war eine Nonne, die ihr Gelübde nicht brechen wollte; und die dritte, die lange Zeit ein wüstes Leben geführt hatte, war häßlich und diente in einer Spelunke. Nach allem, was sie erlebt hatte, bedeutete die Liebe nichts mehr für sie. Sehen Sie, diese drei Frauen taten dasselbe aus drei doch ganz verschiedenen Beweggründen. Eine Tat beweist gar nichts. Es ist die Masse der Taten, ihr Gewicht, ihre Summe, die den Wert eines Menschenwesens ausmacht.«
»Einzelne Taten«, erklärte Madame Martin, »tragen unser Wesen, unser Gesicht, sind unsere Kinder, andere wieder ähneln uns nicht im geringsten.«
Sie stand auf und nahm den Arm des Generals. Die Prinzessin, die am Arm Garains in den Salon trat, sagte: »Thérèse hat ganz recht. Andere wieder ähneln uns nicht im geringsten. Kleine Negerkinder, die man im Schlaf empfangen hat.«
Die Nymphen auf den Wandbehängen schauten in ihrer verblichenen Jugend mit leerem Lächeln auf die Gäste, die ihrer nicht achteten.
Zusammen mit ihrer jungen Cousine, Madame Bellème de Saint-Nom, servierte Gräfin Martin den Kaffee. Sie machte Paul Vence Komplimente über seine Worte bei Tisch.
»Sie haben von Napoleon mit einer Vorurteilslosigkeit gesprochen, die in Gesprächen, wie ich sie sonst höre, recht selten ist. Es ist mir schon oft aufgefallen, daß kleine Kinder, wenn sie sehr schön sind und schmollen, aussehen wie Napoleon am Abend von Waterloo. Sie haben mir die tieferen Gründe für diese Ähnlichkeit gezeigt.«
Sie wandte sich an Dechartre: »Und Sie? Lieben Sie Napoleon?«
»Gnädige Frau, ich liebe die Revolution nicht, und Napoleon ist die Revolution in Reitstiefeln.«
»Warum haben Sie das nicht bei Tisch gesagt? Aber ich sehe schon, sie geruhen nur in einer Plauderecke Esprit zu haben.«
Graf Martin-Bellème führte die Herren ins Rauchzimmer. Nur Paul Vence blieb bei den Damen. Prinzessin Seniavine fragte, ob er seinen Roman schon beendet habe und wovon er handle. Es wäre eine Studie, in der er durch Aneinanderfügen einer logischen Folge von Wahrscheinlichkeiten die wirkliche Wahrheit zu packen sich bemüht hätte.
»Auf diese Weise gewinnt der Roman eine sittliche Kraft, die die Historie in ihrer plumpen Leichtfertigkeit nie zu erreichen vermag«, erklärte er.
Sie wollte wissen, ob es ein Buch für Frauen sei. Er verneinte.
»Es ist unrecht von Ihnen, Monsieur Vence, daß Sie nicht für Frauen schreiben. Das ist das einzige, was ein Mann von Bedeutung für uns tun kann.«
Da er wissen wollte, wie sie auf diesen Gedanken käme, erklärte sie: »Ich sehe doch, daß alle gescheiten Frauen Idioten heiraten.«
»Die sie langweilen.«
»Selbstverständlich. Aber bedeutende Männer würden sie noch mehr langweilen. Sie haben mehr Mittel dazu ... Aber nennen Sie mir doch das Sujet Ihres Romans.«
»Ihnen liegt daran?«
»Mir liegt an gar nichts.«
»Also: es ist eine Sittenstudie aus dem Leben des Volkes, die Geschichte eines jungen Arbeiters, der keusch und nüchtern, schön wie ein Mädchen ist und auch die unerschlossene Seele einer Jungfrau hat. Er ist Graveur und ein fleißiger Arbeiter. Abends liest und studiert er zu Hause bei seiner Mutter, die er liebt. In seinen einfachen und noch unbeschriebenen Geist schlagen die Gedanken ein wie Kugeln in eine Mauer. Er hat keine Bedürfnisse, kennt weder die Leidenschaften noch die Laster, die uns ans Leben fesseln. Einsam ist er und rein; seine Tugend macht ihn hochmütig. Er lebt unter rohen Elendsgeschöpfen. Er sieht leiden. Er ist hingebungsvoll, aber ohne Menschenliebe; er hat die kalte Barmherzigkeit, die sich Altruismus nennt. Er ist kein wirklicher Mensch, denn er hat keine Sinne.«
»Ah, man muß sinnlich sein, um Mensch zu sein?«
»Ganz sicher, gnädige Frau. Das Mitgefühl wohnt in den Eingeweiden wie das Gefühl auf der Haut. – Er ist nicht intelligent genug, um zu zweifeln. Er ist gläubig, er glaubt, was er liest. Er hat gelesen, daß man, um das Glück der Menschheit zu begründen, nur die Gesellschaft zu zerstören braucht. Durst nach Märtyrertum verzehrt ihn. Und eines Morgens küßt er seine Mutter zum Abschied und geht. Er lauert dem sozialistischen Abgeordneten seines Bezirks auf, sieht ihn, wirft sich auf ihn, rennt ihm den Grabstichel in den Leib und schreit: ›Es lebe die Anarchie!‹ Er wird verhaftet, gemessen, photographiert, verhört, schuldig befunden, zum Tode verurteilt und enthauptet. Da haben Sie meinen Roman.«
»Er ist alles andere als amüsant«, meinte die Prinzessin, »aber das ist ja nicht Ihre Schuld. Ihre Anarchisten sind ebenso feige und gemäßigt wie alle anderen Franzosen. Die Russen haben mehr Kühnheit und mehr Phantasie, wenn sie sich darauf werfen.«
Die Gräfin Martin kam und fragte Paul Vence, ob er den sanften Herrn kenne, der kein Wort sprach und mit den Augen eines verlorenen Hundes um sich blickte. Ihr Mann hätte ihn eingeladen, sie wüßte aber weder seinen Namen noch sonst etwas von ihm.
Paul Vence wußte nur, daß es ein Senator war. Er hätte ihn neulich zufällig im Luxembourg im Bibliothekssaal gesehen.
»Ich hatte mir gerade die Deckenmalerei angesehen mit Delacroix' antiken Heroen und Philosophen in dem blauschimmernden Myrtenhain. Er sah genauso kläglich und bemitleidenswert drein wie heute. Er wollte sich wärmen und roch nach feuchten Kleidern. Er unterhielt sich mit ein paar Kollegen und meinte, seine frierenden Hände reibend: ›Für mich ist der Beweis, daß die Republik die beste aller Regierungsformen ist, damit gegeben, daß sie achtzehnhunderteinundsiebzig binnen einer Woche imstande war, sechzigtausend Aufständische zu erschießen, ohne sich unpopulär zu machen. Durch eine solche Unterdrückung hätte sich jedes andere Regime unmöglich gemacht.‹«
»Das muß ja ein schrecklicher Mensch sein«, sagte Madame Martin, »und ich hatte so viel Mitleid mit seiner Schüchternheit und Unbeholfenheit.«
Madame Garain schlummerte, das Kinn weich auf den Busen gesenkt, den friedlichen Schlummer ihrer Hausfrauenseele und träumte von ihrem Gemüsegarten am Ufer der Loire, wo Gesangvereine ihr Ständchen brachten.
Joseph Schmoll und General Larivière kamen aus dem Rauchzimmer zurück, in den Augen noch das Lachen über die saftigen Geschichten, die sie untereinander ausgetauscht hatten. Der General setzte sich zwischen die Prinzessin und Madame Martin.
»Ich habe heute morgen im Bois die Baronin Warburg getroffen. Sie ritt ein prachtvolles Tier. ›Wie fangen Sie es nur an, General, daß Sie immer so herrliche Pferde haben‹, sagte sie zu mir, und ich gab ihr zur Antwort: ›Gnädige Frau, wer schöne Pferde haben will, muß entweder sehr schlau oder sehr reich sein.‹«
Er war so zufrieden mit seiner guten Antwort, daß er sie zweimal wiederholte und mit den Augen zwinkerte.
Paul Vence ging auf die Gräfin zu: »Jetzt weiß ich den Namen des Senators. Er heißt Loyer, ist Vizepräsident einer Fraktion und Verfasser einer Propagandaschrift: Das Verbrechen des zweiten Dezember.«
Der General fuhr fort: »Es war ein Hundewetter. Ich mußte mich unterstellen und stieß auf Le Ménil. Schlechter Laune war ich. Und er machte sich innerlich über mich lustig, ich habe es wohl bemerkt. Er denkt, weil ich General bin, müsse ich Wind, Hagel und Schnee gern haben. Das ist doch einfach lächerlich! Er sagte, ihm mache das schlechte Wetter nichts aus, und er ginge nächste Woche mit Freunden auf die Fuchsjagd.«
Es gab eine Pause. Der General sprach weiter: »Na, ich wünsche ihm viel Vergnügen, aber beneiden tue ich ihn nicht. Eine Fuchsjagd ist keine sonderliche Annehmlichkeit.«
»Aber nützlich«, meinte Montessuy.
Der General zuckte die Achseln.
»Füchse sind nur im Frühjahr schädlich für den Hühnerstall, wenn sie ihre Jungen großfüttern.«
»Der Fuchs«, erwiderte Montessuy, »zieht den Kaninchenbau dem Hühnerhof vor. Er ist ein tüchtiger Wilderer und macht dem Jäger mehr zu schaffen als dem Bauer. Ich kann davon ein Lied singen.«
Thérèse war zerstreut und hörte nicht auf das, was die Prinzessin ihr sagte. Sie dachte: ›Er hat mir nicht einmal etwas davon gesagt, daß er wegfahren würde.‹
»Woran denken Sie, Liebste?«
»An nichts Besonderes.«
4
Es war schon fast dunkel in dem verschwiegenen, kleinen Zimmer. Die Einrichtung machte mit all den Vorhängen, Portieren, Kissen, Bärenfellen und orientalischen Teppichen einen etwas überladenen Eindruck. An der Wand hingen Degen, die im Schein des aufflackernden Feuers blitzten, zwischen Schießblättern und den verblaßten Kotillonorden von drei verflossenen Wintern. Auf einem Sekretär von Rosenholz sah man einen silbernen Becher – es war irgendein Sportpreis –, und auf dem kleinen Tischchen mit buntbemalter Porzellanplatte dufteten weiße Fliederzweige in einer Kristallvase, um die sich Winden aus vergoldetem Kupfer schlangen. Überall zitterten Lichtreflexe in dem tiefen warmen Schatten auf.
Thérèse und Robert waren an dieses Halbdunkel gewöhnt und fanden sich leicht in der wohlbekannten Umgebung zurecht. Während sie, mit dem Rücken zum Kamin, vor dem Spiegel stand, der ihr Bild nur undeutlich zurückwarf, und ihre Haare ordnete, rauchte er eine Zigarette. Sie litt es nicht, daß er die Lampe oder ein Licht anzündete. Ihre Haarnadeln nahm sie aus einer kleinen Schale von böhmischem Glas, die neben ihr auf dem Tisch stand. So war sie es nun schon seit drei Jahren gewohnt. Robert sah ihr zu; ihre Hände, die so rasch durch die mattgoldene Haarflut glitten, waren hell beleuchtet, während das Gesicht in dem tiefen Schatten wie eine Bronzemaske aussah und einen geheimnisvollen, fast beunruhigenden Ausdruck annahm. Sie sagte kein Wort.
»Bist du immer noch unzufrieden mit mir, mein Schatz?« fragte er.
»Was soll ich dir darauf antworten?« erwiderte sie endlich, als er in sie drang, ihrem hartnäckigen Schweigen ein Ende zu machen. »Ich kann dir nur wiederholen, was ich schon vorhin gesagt habe. Es berührt mich etwas sonderbar, wenn ich deine Pläne erst durch den General Larivière erfahre.«
Er fühlte es wohl, daß sie immer noch ungehalten war. Sie war heute so steif und gezwungen mit ihm gewesen nichts von jener reizenden Hingebung, die ihn sonst so an ihr entzückte. Aber er tat, als ob er es nur für eine vorübergehende Verstimmung hielte, die bald wieder verfliegen würde.
»Ich habe es dir doch schon erklärt, Liebste. Ich habe dir vorhin gesagt und wiederhole es jetzt: Als ich Larivière traf, hatte ich eben einen Brief von Caumont erhalten, der mich an mein Versprechen mahnte, ihm die Füchse aus seinem Forst wegzuschießen. Mit der nächsten Post hatte ich seinen Brief beantwortet und wollte es dir heute selbst sagen. Es tut mir leid, daß der General Larivière mir zuvorgekommen ist. Aber die Sache ist doch so unwesentlich.«
Sie hatte die Arme über den Kopf verschränkt und warf ihm einen ruhigen Blick zu, dessen Bedeutung er aber nicht verstand: »Du gehst also wirklich fort?«
»Ja, nächsten Dienstag oder Mittwoch. Ich bleibe höchstens zehn Tage fort.«
Sie setzte ihr Pelzbarett auf, das mit einem Mistelzweig geschmückt war, und fragte: »Kann es nicht aufgeschoben werden?«
»O nein, in einem Monat sind die Fuchsfelle nichts mehr wert. Außerdem hat Caumont einige gute Bekannte eingeladen, die es sehr übelnehmen würden, wenn ich nicht käme.«
Während sie ihr Barett mit einer langen Hutnadel feststeckte, runzelte sie die Stirn: »So eine Fuchsjagd ist wohl sehr interessant?«
»Sehr interessant! Die Füchse sind nämlich schlau, und es ist sehr schwer, sie zu überlisten. Die Intelligenz dieser Bestien ist wirklich großartig. Ich habe einmal, in der Nacht ein paar Füchse beobachtet, die ein Kaninchen verfolgten. Sie hatten eine regelrechte Treibjagd inszeniert, mit Treibern. Ich versichere dir, es gibt nichts Schwierigeres, als einen Fuchs aus seinem Bau herauszulocken. Bei diesen Jagdpartien geht es sehr fidel zu. Außerdem hat Caumont einen ausgezeichneten Weinkeller. Ich persönlich lege zwar keinen besonderen Wert darauf, aber er ist allgemein berühmt. Denke dir, neulich hat einer von seinen Pächtern ihm erzählt, er habe von einem Zauberer Sprüche gelernt, mit denen man die Füchse behexen könne. Dieses Mittel gedenke ich zwar nicht anzuwenden, aber ich verpflichte mich, dir ein halbes Dutzend der schönsten Felle mitzubringen.«
»Was soll ich denn damit anfangen?«
»Man kann sehr hübsche Fußdecken daraus machen.«
»Ah! ... Und wirst du die ganze Woche auf der Jagd bleiben?«
»O nein! Es ist ganz in der Nähe von Sémanville, und da werde ich auf zwei Tage zu meiner Tante Lannoix gehen. Sie rechnet darauf, daß ich sie besuche. Voriges Jahr um diese Zeit war dort eine sehr nette Gesellschaft beisammen, ihre beiden Töchter und drei Nichten, alle mit ihren Männern – lauter hübsche, lustige, hochanständige junge Frauen. Zweifellos werde ich sie Anfang nächsten Monats wieder dort treffen, da sie zum Geburtstag meiner Tante kommen wollen, und dann bleibe ich wohl ein paar Tage dort.«
»Natürlich, mein Lieber, bleib nur, so lange dir's Spaß macht. Ich wäre untröstlich, wenn du meinetwegen einen so angenehmen Aufenthalt abkürzen wolltest.«
»Aber du, Thérèse?«
»Oh, ich werde mich schon damit abzufinden wissen.« Das Feuer war beinahe ganz ausgegangen, und die Schatten zwischen ihnen wurden dichter. In einem halb träumerischen, halb erwartungsvollen Ton sagte sie: »Es ist doch wahr – man soll eine Frau niemals allein lassen.«
Er trat auf sie zu und suchte im Dunkel ihren Blick. Dann faßte er ihre Hand: »Hast du mich lieb?«
»O gewiß, ich liebe keinen anderen. Aber –«
»Was wolltest du sagen?«
»Nichts weiter; ich dachte nur, den ganzen Sommer sind wir voneinander getrennt – im Winter bist du die halbe Zeit durch deine Familie oder deine Freunde in Anspruch genommen –, und da dachte ich eben, wenn man sich so wenig sieht, ist es eigentlich nicht der Mühe wert, sich überhaupt zu sehen.«
Le Ménil zündete die Kerzen an, hart und offen standen seine Züge im Licht. Er blickte sie an mit einem Vertrauen, das nicht so sehr aus der Eitelkeit kam, wie sie allen Männern gemein ist, wenn sie lieben, sondern aus einem inneren Bedürfnis nach Ordnung und Würde. Er glaubte an sie aus den Vorurteilen seiner Erziehung und seines arglosen Geistes heraus.
»Thérèse, ich habe dich lieb, und ich weiß, du liebst mich auch. Warum willst du mich so quälen? Du hast manchmal etwas so Kaltes und Hartes in deinem Wesen, das mich wirklich peinlich berührt.«
Heftig schüttelte sie ihren kleinen, zierlichen Kopf: »Was willst du: Ich bin eigensinnig und herb, aber das liegt mir im Blut, ich habe es von meinem Vater. Du kennst Joinville, du hast das Schloß gesehen, mit den Plafonds von Lebrun, mit den alten Gobelins, die noch von Fouquet herstammen, du kennst unseren Garten, der nach einem Plan von Le Nôtre angelegt ist. Du kennst den Park und die Jagd – du sagtest, es gäbe keine schönere in ganz Frankreich –; aber etwas hast du nicht gesehen, nämlich das Arbeitskabinett meines Vaters, seinen einfachen weißen Holztisch und das Büchergestell von Mahagoni. – Das, mein Lieber, ist der Punkt, von dem alles andere ausgegangen ist. An diesem Tisch, vor diesem Bücherbrett hat mein Vater vierzig Jahre lang gesessen und gerechnet, zuerst in einem kleinen Zimmer an der Place de la Bastille und später in der Wohnung Rue de Maubeuge, wo ich geboren bin. Wir waren damals noch nicht reich. Ich erinnere mich noch sehr gut an den kleinen Salon mit den roten Damastmöbeln, mit dem mein Vater seinen Hausstand gründete und den meine Mutter so liebte.
Ich bin die Tochter eines Emporkömmlings, oder sagen wir eines Eroberers, es kommt auf eins heraus. Wir sind gierige, eigensüchtige Leute. Mein Vater wollte Geld verdienen, wollte besitzen, was käuflich ist, das heißt: alles. Und ich will auch etwas erringen und festhalten – was, das weiß ich nicht –, vielleicht das Glück, das ich besitze oder auch nicht besitze. Ich bin gierig auf meine Art, begierig nach Träumen und Illusionen. Oh, ich weiß wohl, daß alles das die Mühe nicht lohnt, die man sich darum gibt. Aber gerade in dieser Mühe liegt der Wert; denn diese Mühe, das bin ich, das ist mein Leben. Ich bin gierig, das zu genießen, was ich liebe oder was ich zu lieben geglaubt habe. Ich will nicht verlieren. Ich bin wie mein Vater: Ich fordere, was man mir schuldig ist. Und dann –«, hier senkte sie die Stimme, »ich habe Sinne. Das ist es, mein Lieber! Ich quäle dich; aber was ist da zu machen? Du hättest mich nicht nehmen sollen.«
Er war es gewohnt, sie manchmal so leidenschaftlich reden zu hören; aber es verdarb ihm das Vergnügen. Übrigens beunruhigte er sich nicht weiter darüber; er war sehr empfindlich für alles, was sie tat, aber kaum für das, was sie sagte. Es kam ihm nicht in den Sinn, bloßen Worten, besonders wenn sie von einer Frau herrührten, große Bedeutung beizulegen. Er selbst sprach sehr wenig, und er war himmelweit davon entfernt zu denken, daß Worte auch Taten sind.
Obgleich er sie liebte – vielleicht gerade, weil er sie so sehr liebte und ihr so fest vertraute –, glaubte er, ihren Launen, die er albern fand, entgegentreten zu müssen. Es gelang ihm wohl, den Herrn zu spielen – wenn er sie nicht ärgerte, und in seiner Einfalt tat er es immer.
»Du weißt doch, Thérèse, daß ich mich immer bemüht habe, dir in allem gefällig zu sein; ich bitte dich also, verschone mich mit Launen.«
»Aber warum denn? Damals, als ich mich von dir hinreißen ließ oder mich dir freiwillig gab, geschah es doch auch nicht aus Vernunft oder aus Pflicht, sondern einfach aus Laune.«
Er blickte sie überrascht und bekümmert an.
»Das Wort Laune scheint dich zu verletzen, mein Freund. Sagen wir also aus Liebe. Ich habe es wirklich von Herzen gern getan, und weil ich sah, daß du mich liebtest. Aber die Liebe soll eine Freude sein, und ich habe darin bis jetzt nicht die Befriedigung gefunden, die ich suchte. Du nennst das Laune, was mein innerstes Verlangen, der Inhalt meines Lebens ist: mein Bedürfnis nach Liebe. Wenn ich die nicht finde, will ich lieber ganz allein sein. Du bist sonderbar. Meine Launen! ...
Gibt es denn anderes im Leben? Ist deine Fuchsjagd etwa keine Laune?«
»Ich schwöre dir, Thérèse«, sagte er, »wenn ich es nicht versprochen hätte, würde ich dir dieses kleine Vergnügen mit tausend Freuden opfern.«
Er meinte es aufrichtig, und sie fühlte, daß er die Wahrheit sagte. Sie wußte, daß er auch in den geringfügigsten Kleinigkeiten sein Wort zu halten pflegte. Gerade durch diese Gewissenhaftigkeit war er unaufhörlich an gesellschaftliche Verpflichtungen gebunden, denen er mit der peinlichsten Genauigkeit nachkam.
Wenn sie noch weiter in ihn gedrungen wäre, hätte sie es leicht erreichen können, daß er blieb, das sah sie wohl. Aber jetzt war es zu spät. Es lag ihr nicht mehr daran, das Spiel zu gewinnen. Sie fand jetzt sogar eine Art von schmerzlichem Reiz darin, es zu verlieren. So tat sie, als ob sie diesen Grund, den sie lächerlich fand, ernst nähme. Sie gab nach und machte sich im Grunde über ihn lustig.
»Allerdings, wenn du es versprochen hast.«
Er war anfangs etwas überrascht, dann beglückwünschte er sich im stillen, daß er sie dazu gebracht hatte, Vernunft anzunehmen, und war ihr dankbar dafür, daß sie ihren Eigensinn fahrenließ. So faßte er sie um die Taille, küßte sie zur Belohnung wie ein guter Ehemann auf Nacken und Augen und zeigte den besten Willen, seine letzten Tage in Paris ausschließlich ihr zu widmen.
»Ehe ich abreise, Liebling, können wir uns noch drei- oder viermal wiedersehen, sogar noch öfter, wenn du willst. Ich werde dich, sooft du magst, hier erwarten. Willst du morgen kommen?«
Es gewährte ihr jetzt eine stille Genugtuung, ihm zu sagen, daß sie weder morgen noch an einem der folgenden Tage kommen könne. Im freundlichsten Tone von der Welt gab sie ihm ihre Gründe an, es waren auf den ersten Blick nur kleine Hindernisse: Sie hatte Besuche zu machen, ein Kleid anzuprobieren, und dann mußte sie zu einem Wohltätigkeitsbasar, Ausstellungen besichtigen, Stickereien ansehen, die sie vielleicht kaufen wollte. Aber bei näherer Betrachtung wuchsen die Schwierigkeiten: Die Besuche konnten nicht aufgeschoben werden, es war nicht ein Basar, sondern mehrere, und sie mußte unbedingt hingehen; die Ausstellungen wurden nächstens geschlossen, und die Stickereien sollten nach Amerika geschickt werden. Kurz, es war ganz unmöglich, daß sie ihn vor seiner Abreise noch einmal sah.
Da es in seinem Charakter lag, derartige Gründe für bindend zu halten, so fiel es ihm gar nicht auf, daß es ganz gegen ihre sonstige Art war, sich durch so etwas hindern zu lassen. Verstrickt in diesem leichten Gewebe gesellschaftlicher Verpflichtungen, erhob er keine Einwände, sondern schwieg und machte ein unglückliches Gesicht.
Mit dem hocherhobenen linken Arm schob sie die Portiere zurück, legte die Rechte auf den Türgriff und stand so, eingerahmt von den saphirblauen und rubinroten Bahnen des türkischen Stoffes. Dann wandte sie den Kopf nach dem Freund, den sie verließ, und sagte, leicht spöttisch, aber mit einem tragischen Unterton: »Leb wohl, Robert, und amüsier dich gut. Meine Besuche, meine Besorgungen, deine kleinen Reisen – das hat alles nichts zu bedeuten. Aber diese Nichtigkeiten machen das Schicksal. Adieu.«
Damit ging sie. Er hätte sie gern begleitet, aber er hielt es nicht für richtig, sich mit ihr auf der Straße sehen zu lassen, wenn sie es nicht absolut verlangte.
Als Thérèse draußen war, fühlte sie sich plötzlich einsam, ganz allein auf der Welt, ohne Freude und ohne Schmerz. Sie ging wie gewöhnlich zu Fuß nach Hause. Es war schon ganz dunkel, die Luft war kalt, klar und ruhig.
Aber die Straßen, die sie entlangging im lichterbesäten Dunkel, umhüllten sie mit dem lauten Atem der Städte, der den Städtern so angenehm ist und den sie selbst in der Kälte des Winters spüren. Zu beiden Seiten standen verwahrloste baufällige Häuser, hölzerne Landhäuschen, Schuppen: Überbleibsel aus Zeiten, als Auteuil noch ein Dorf war, dazwischen erhoben sich vereinzelte Mietskasernen und zeigten ihre langweiligen Giebelmauern. Die kleinen Krämerläden, die eintönigen Fensterreihen, sie sagten ihr nichts. Dennoch fühlte sie geheimnisvoll die Freundschaft der Dinge; die Steine, die Haustüren, die Lichter oben hinter den Fenstern schienen ihr gewogen. Aber sie war allein, und sie wollte allein sein.
Der Weg zwischen den beiden Wohnungen, in denen sie fast gleichermaßen zu Hause war, dieser Weg, den sie so oft gegangen war, schien ihr heute ein Weg ohne Wiederkehr. Warum? Was hatte dieser Tag gebracht? Eine kleine Meinungsverschiedenheit, nicht einmal ein Streit zu nennen. Und doch hatte dieser Tag einen sonderbaren, zwar schwachen, aber nachwirkenden Geschmack, einen nie gekannten Reiz, der nicht mehr vergehen würde. Was war geschehen? Nichts. Und dieses Nichts löschte alles aus. Mit dunkler Gewißheit fühlte sie, daß sie jenes Zimmer nie wieder betreten würde, das vor kurzem noch das Geheimste und Teuerste ihres Lebens umschloß.
Es war kein oberflächliches Verhältnis gewesen. Sie war seine Geliebte geworden, weil sie ein tiefes Verlangen nach Glück empfand. Aber bei all ihrer Fähigkeit, sich liebend hinzugeben, war sie doch immer klarsehend geblieben. Sie hatte niemals die Überlegung und das Gefühl ihrer eigenen Sicherheit verloren, das bei ihr sehr stark ausgebildet war.
Ausgewählt hatte sie sich ihren Geliebten eigentlich nicht. Aber wählt man denn überhaupt? Sie hatte sich ihm auch nicht aus bloßem Zufall hingegeben, oder weil er sie überrascht hatte. Sie hatte getan, was sie wollte, soweit man in solchen Dingen tut, was man will. Und sie brauchte nicht zu bereuen, was sie getan. Er war für sie gewesen, was er ihr hatte sein sollen, das mußte sie ihm lassen – diesem Mann, der in der Gesellschaft beliebt war und alle Frauen haben konnte, nach denen er verlangte.
Trotz alledem fühlte sie, daß es zu Ende war, ganz einfach zu Ende, und sie dachte kalt und düster: ›Drei Jahre! Er ist ein guter Mensch; er liebt mich, und ich habe ihn geliebt. Ja, ich habe ihn geliebt, sonst hätte ich ihm nicht angehört. Ich bin nicht leichtfertig.‹
Aber sie konnte sich nicht mehr in die Empfindungen jener vergangenen Zeiten zurückdenken, in diesen geistigen und körperlichen Aufruhr, als sie sich ihm gab. Dabei erinnerte sie sich noch an die kleinsten und geringfügigsten Umstände. Es war in einem Hotelzimmer gewesen. Sie sah es noch vor sich mit den künstlichen Blumen und den geschmacklosen Bildern. Sie besann sich noch auf die beinahe rührenden und ein bißchen komischen Worte, die er damals gesagt hatte. Aber es kam ihr vor, als ob es eine ganz andere Frau gewesen sei, die dieses Abenteuer erlebt hatte, eine Fremde, die ihr nicht besonders sympathisch war und die sie kaum noch verstand.
Und was heute geschehen war, die Spuren seiner Küsse auf ihrem Körper, das lag alles schon so fern. Das Bett, der weiße Flieder in der Kristallvase, die kleine Schale aus böhmischem Glas, aus der sie ihre Haarnadeln genommen hatte – alles das sah sie vor sich wie durch ein Fenster, in das man im Vorübergehen blickt. Sie fühlte keine Bitterkeit, ja sie war nicht einmal traurig.
Sie hatte nichts zu verzeihen – leider nicht. Daß er auf eine Woche fortgehen wollte, das war ja kein Verrat an ihr, es war kein Unrecht gegen sie, es war nichts – und alles. Es war das Ende, das wußte sie ganz genau. Sie wollte ein Ende machen. Sie wollte es, wie der fallende Stein fallen will. Es war ein Ja zu allen verborgenen Kräften ihres Wesens und der Natur. »Ich habe keinen Grund, ihn weniger zu lieben als sonst«, sagte sie sich. »Liebe ich ihn wirklich nicht mehr – und habe ich ihn überhaupt jemals geliebt?«
Sie konnte sich nicht klar darüber werden, und eigentlich war es ihr auch gleichgültig.
Drei Jahre lang hatte sie ihm angehört – zweimal die Woche, manchmal auch viermal. Es hatte sogar Zeiten gegeben, wo sie sich jeden Tag sahen. Hatte das denn gar nichts für sie zu bedeuten? Aber das ganze Leben hat ja nicht viel zu bedeuten, und was man selbst hineinlegt, ist so bitterwenig. Nein, sie hatte gar keinen Grund, sich zu beklagen, aber es war besser, wenn die Sache einmal ein Ende nahm.
Alle ihre Reflexionen gipfelten in diesem einen Punkt. Es war kein Entschluß – Entschlüsse kann man ändern –, es war viel mehr als das, es war eine körperliche und geistige Umwandlung, die in ihr vor sich gegangen war.
Als sie an den Platz kam, mit seinem Brunnenbecken und der Kirche im Rustikastil, in deren offener Turmarkade man die Glocke hängen sieht, dachte sie wieder an das Veilchensträußchen für zwei Sous, das er ihr eines Abends auf dem Petit-Pont, dicht bei Notre-Dame, gekauft hatte. An jenem Tage war etwas anderes in ihrer Liebe gewesen als gewöhnlich, mehr Hingabe und etwas Phantastisches. Es wurde ihr weich ums Herz, als sie daran dachte. Sie suchte sich wieder zurückzurufen, was es eigentlich gewesen war, aber sie konnte es nicht. Der arme, verwelkte kleine Veilchenstrauß war alles, was ihr im Gedächtnis geblieben war.
Während sie so nachdenklich dahinging, redeten verschiedene Vorübergehende sie an, die durch ihre einfache Toilette irregeführt wurden. Einer schlug ihr vor, mit ihm in einem Séparée zu dinieren und ins Theater zu gehen. Sie amüsierte sich darüber, und es zerstreute sie. Innerlich war sie ganz ruhig, es war keine seelische Krise. ›Wie machen es denn andere Frauen?‹ dachte sie. ›Und ich war so stolz darauf, mein Leben nicht zu verpfuschen! Ach, es ist nicht viel wert, das ganze Leben!‹
Jetzt erblickte sie die klassizistische Kuppellaterne des Musée des Religions. Die Straße war hier wegen unterirdischer Arbeiten aufgerissen. Zu beiden Seiten der Grube war schwarze Erde aufgeworfen, lagen Haufen von Pflastersteinen und Berge von Fliesen. Als sie das schmale schwankende Brett betrat, das als Übergang diente, sah sie am anderen Ende einen Herrn stehen, der auf sie zu warten schien. Er hatte sie erkannt und grüßte. Es war Dechartre. Als sie an ihm vorüberging, glaubte sie zu bemerken, daß er sich über diese Begegnung freute. Lächelnd erwiderte sie seinen Gruß, und er fragte, ob er sie ein Stückchen begleiten dürfe. So gingen sie zusammen über den weiten Platz, über den ein frischer Luftzug hinstrich.
Er sagte, er habe sie schon von weitem an dem ihr eigenen Rhythmus der Linien und des Ganges erkannt, und fügte hinzu: »Schöne Bewegungen sind Musik für das Auge.«
Sie erwiderte, daß sie mit Vorliebe zu Fuß ginge, es machte ihr Freude und hielte sie gesund.
Ihm ging es ebenso, er machte gern weite Wanderungen in einer schönen Gegend oder durch belebte Straßen. Es lag ein geheimnisvoller Reiz darin. Auch reiste er gern; obwohl es heutzutage so bequem und trivial geworden war, hatte das Reisen für ihn seinen mächtigen Zauber behalten. Er hatte goldene Tage und schimmernde Nächte gesehen, er kannte Griechenland, Ägypten und den Bosporus. Aber am meisten zog es ihn immer wieder nach Italien, es war ihm, als ob dort seine geistige Heimat läge.
»Ich reise nächste Woche wieder dorthin«, sagte er, »ich möchte Ravenna wiedersehen, wie es an dem öden Gestade unter schwarzen Pinien schlummert. Kennen Sie Ravenna, Madame? Es ist ein verzaubertes Grab, in dem leuchtende Gespenster erscheinen; dort wohnt der dunkle Zauber des Todes. Die Mosaiken von San Vitale, von Sant' Apollinare Nuovo und Sant' Apollinare in Classe, mit ihren barbarischen Engeln und den Kaiserinnen im Heiligenschein, lassen die ungeheuerlichen Wonnen des Orients ahnen. Das Grabmal der Galla Placidia in der dunkel leuchtenden Krypta macht einen unheimlichen Eindruck, besonders heute, da man es seines Silberüberzuges beraubt hat. Wenn man durch eine Spalte des Sarkophags blickt, glaubt man die Tochter des Theodosius noch auf ihrem goldenen Sessel zu sehen, wie sie steif und unbeweglich dasitzt mit ihrem edelsteinübersäten, mit Szenen aus dem Alten Testament bestickten Gewand; mit dem schönen, grausamen Gesicht, das durch Einbalsamieren schwarz und hart geworden ist, während die ebenholzfarbenen Hände auf den Knien ruhen. Dreizehn Jahrhunderte hindurch hat sie sich in dieser düsteren Pracht erhalten, bis eines Tages ein Kind mit einer Kerze an die Öffnung des Grabes kam und den Leichnam samt seinem Prunkgewand verbrannte.«
Madame Martin fragte, was diese stolze Tote für ein Leben geführt habe.
»Sie war zweimal Sklavin«, sagte Dechartre, »und wurde zweimal wieder Kaiserin.«
»Dann war sie gewiß sehr schön«, meinte Madame Martin. »Aber Sie haben mich zu tief in ihr Grab hineinschauen lassen, und mir graut vor ihr. Gehen Sie nicht auch nach Venedig, Monsieur Dechartre, oder sind die Gondeln, die mit Palästen umsäumten Kanäle und die Tauben am Markusplatz Ihnen langweilig geworden? Ich muß gestehen, daß ich Venedig immer noch liebe, obgleich ich schon dreimal dort war.«
Er stimmte ihr bei, denn er hing ebenfalls sehr an Venedig. Jedesmal, wenn er dort war, wurde er vom Bildhauer zum Maler und machte Studien. Es waren Luft und Himmel, die er dort malen wollte.
»Anderswo, selbst in Florenz«, sagte er, »scheint der Himmel so weit entfernt, so hoch über uns zu sein. Aber in Venedig ist er überall; er liebkost die Erde und das Wasser, umhüllt zärtlich die Bleikuppeln und Marmorfassaden und wirft auf die schimmernde Fläche den Glanz von Perlen und Kristall.
Die Schönheit Venedigs liegt in seinem Himmel und in seinen Frauen. Was für entzückende Geschöpfe sind diese Venezianerinnen mit ihrem kühnen, reinen Wuchs und dem geschmeidigen Körper, der sich so voll unter dem schwarzen Brusttuch abzeichnet! Wenn von diesen Frauen nur ein Knöchelchen übrigbliebe, würde man darin die Anmut ihres erlesenen Gliederbaues wiederfinden. Sonntags stehen sie in der Kirche in bewegten, lachenden Gruppen zusammen, ein Durcheinander von schön geschwungenen Hüften, zierlichen Nacken, von blühendem Lächeln und feurigen Blicken. Und mit der geschmeidigen Anmut von jungen Tieren beugt alles das Knie, wenn ein Priester vorüberkommt, mit einem Kopf wie Vitellius und das Kinn auf sein Meßgewand gesenkt, der, begleitet von zwei Chorknaben, den Kelch in der Hand trägt.«
Er ging in etwas ungleichem Tempo, bald schnell, bald langsam, wie sein Gedankengang es gerade mit sich brachte. Sie machte regelmäßigere Schritte und war immer etwas voraus. Er blickte sie von der Seite an und bewunderte ihren kräftigen und doch graziösen Gang.
Wenn sie eigenwillig den Kopf bewegte, sah er, wie der Mistelzweig an ihrem Barett für Augenblicke leise zitterte.
Ohne sich selbst darüber klar zu sein, erlag er dem Zauber dieses unerwarteten Zusammentreffens mit einer jungen Frau, die er fast gar nicht kannte.
Sie waren zu der Stelle gekommen, wo die breite Allee ihre vier Reihen Platanen entfaltet, und gingen nun an der von einer Buchsbaumhecke überragten steinernen Brüstungsmauer entlang, die zum Glück die häßlichen militärischen Gebäude verdeckt, die sich unten am Quai hinziehen. Weiter drüben ließ die milchige Luft, die an nebelfreien Tagen über dem Wasser liegt, den Fluß erraten. Der Himmel war klar. Die Lichter der Stadt vermischten sich mit den Lichtern des Himmels; im Süden funkelten die drei goldenen Sterne vom Gürtel des Orion.
»Voriges Jahr in Venedig«, fuhr Dechartre fort, »sah ich jeden Morgen, wenn ich aus dem Hause trat, ein entzückendes Mädchen vor seiner Tür, drei Stufen über dem Wasser des Kanals. Ein zierliches Köpfchen, der Hals rund und kräftig, von kecker Anmut die Hüfte – so stand sie da, in der Sonne und im Schmutz, makellos wie eine Amphora, berauschend wie eine Blume, und lächelte. Welch ein Mund! Das köstlichste Juwel im schönsten Licht. Beizeiten merkte ich, daß dieses Lächeln einem Metzgerburschen galt, der mit seinem Korb auf dem Kopf sich hinter mir aufgepflanzt hatte.«
An der Ecke der kleinen Straße, die zwischen Gärtchen zum Quai hinabführte, verlangsamte Madame Martin den Schritt.
»Ja, es ist wahr«, sagte sie, »die Venezianerinnen sind sehr schön.«
»Sie sind fast alle schön – das heißt, ich spreche nur von den Mädchen aus dem Volk, den Zigarrenmacherinnen, den kleinen Arbeiterinnen aus den Glasbläsereien. Die anderen sind wie die Frauen überall.« »Die anderen? Meinen Sie damit die Damen der Gesellschaft – und lieben Sie die nicht?«
»Die Damen der Gesellschaft? O ja, es gibt reizende Geschöpfe darunter. Aber sie lieben, das ist nicht so einfach!«
»Meinen Sie?«
Damit reichte sie ihm die Hand und bog dann schnell um die Straßenecke.
5
Abends beim Diner war sie mit ihrem Mann allein. Auf der Tafel standen heute weder der Blumenkorb mit den goldenen Adlern noch die geflügelten Siegesgöttinnen; die Wandleuchter warfen kein Licht auf Oudrys Hunde über den Türen. Während er von den Ereignissen des Tages sprach, versank sie in düstere Träumereien. Es kam ihr vor, als ob sie ganz allein und fern von der Welt durch einen dichten Nebel ginge. Sie litt, aber es lag ein friedliches, beinah süßes Gefühl darin. Und durch den Nebelschleier sah sie, wie das kleine Zimmer in der Rue Spontini von schwarzen Engeln auf den Himalajagipfel getragen wurde. Es war eine Art Weltuntergang, und mitten in dem Chaos war Robert plötzlich verschwunden, während er dastand und seine Handschuhe anzog.
Sie fühlte sich den Puls, um zu sehen, ob sie vielleicht Fieber habe. Aber der Klang des Silberzeugs auf der Anrichte brachte sie plötzlich wieder zu sich. Sie hörte die Stimme ihres Mannes, der gerade sagte:
»Gavaut hat heute in der Kammer eine brillante Rede über die Frage der Pensionskassen gehalten. Es ist erstaunlich, was für gesunde Ideen er in neuerer Zeit entwickelt und wie er jetzt den Nagel auf den Kopf zu treffen weiß. Er hat wirklich sehr gewonnen.« Sie konnte nicht umhin zu lächeln: »Aber, mein Lieber, Gavaut ist ein armer Teufel, der nie etwas anderes gewollt hat, als aus dem Haufen der Hungerleider herauszukommen und sich selbst vorwärtszubringen. Ideen hat er nur in den Ellbogen. Nimmt man diesen Menschen in der politischen Welt wirklich ernst? Glaube mir, bei einer Frau hat er noch nie Illusionen erweckt, nicht einmal bei seiner eigenen. Und dazu gehört doch gewiß nicht viel.«
Dann fügte sie ganz unvermittelt hinzu:
»Du weißt, Miß Bell hat mich eingeladen, auf einen Monat zu ihr nach Fiesole zu kommen. Ich habe die Einladung angenommen und reise.«
Er war nicht gerade überrascht, aber unangenehm berührt und fragte, mit wem sie denn reisen wolle.
Ihr fiel gleich jemand ein, und sie sagte: »Mit Madame Marmet.«
Er wußte nichts dagegen zu sagen. Madame Marmet war eine äußerst ehrwürdige Dame und als Reisebegleiterin für Italien ganz besonders geeignet, wo ihr Gatte, »Marmet der Etrusker«, Ausgrabungen in den Totenstädten gemacht hatte. So fragte er nur:
»Hast du sie schon benachrichtigt? Und wann gedenkst du abzureisen?«
»Nächste Woche.«
Er war klug genug, um ihr für den Augenblick nicht zu widersprechen, denn er glaubte, daß seine Opposition sie in einer, vielleicht vorübergehenden Laune nur bestärken würde, und war ängstlich darauf bedacht, dieser verrückten Idee keine Nahrung zu geben. Er ging darüber hinweg.
»Das Reisen ist wirklich eine sehr angenehme Zerstreuung. Ich habe gedacht, wir könnten im Frühjahr einmal in den Kaukasus und nach Turkestan gehen. Es ist eine interessante und noch wenig bereiste Gegend. Der General Annenkoff würde uns dort auf der Eisenbahn, die er gebaut hat, besondere Waggons oder gar Extrazüge zur Verfügung stellen. Er ist ein guter Freund von mir, und du hast ihm sehr gefallen. Am Ende gibt er uns sogar eine Eskorte von Kosaken mit. Denk dir nur, wie gut sich das ausnehmen würde.«
Er hoffte damit auf ihre Eitelkeit einzuwirken, und es kam ihm gar nicht in den Sinn, daß sie auf solche Dinge keinen Wert legte und nicht vom Ehrgeiz getrieben wurde wie er.
Gleichgültig erwiderte sie, daß es gewiß eine hübsche Reise sein würde.
Nun begann er die kaukasischen Berge, die alten Städte, die Basare, die Nationaltrachten, die Waffen zu preisen und fügte schließlich noch hinzu:
»Wir könnten ein paar Bekannte mitnehmen, die Prinzessin Seniavine und den General Larivière, vielleicht auch Vence oder Le Ménil.«
Mit einem trocknen, kurzen Auflachen antwortete sie, es sei noch Zeit genug bis dahin, um zu bestimmen, wen man einladen wolle.
Nun fing er an, den aufmerksamen und zuvorkommenden Gatten zu spielen: »Aber du ißt ja gar nichts, du mußt mehr an deine Gesundheit denken.«
Obwohl er nicht glaubte, daß sie wirklich so bald reisen wollte, fing es an, ihn zu beunruhigen. Sie hatten sich ja beide ihre Freiheit wiedergenommen, aber er war nicht gern allein. Er fühlte sich ohne seine Frau und ohne geselliges Leben nicht wohl in seinem Hause. Noch dazu hatte er beschlossen, während der jetzigen Sitzungsperiode zwei oder drei große politische Diners zu geben. Die Partei, zu der er gehörte, wuchs immer mehr an, und es war gerade der geeignete Moment, sich in seiner Position zu festigen und glänzend hervorzutreten. So sagte er in geheimnisvollem Ton: »Es können über kurz oder lang Verhältnisse eintreten, wo wir die Beihilfe unserer sämtlichen Freunde brauchen könnten. Hast du den Gang der politischen Ereignisse in letzter Zeit nicht verfolgt, Thérèse?«
»Nein, mein Freund.«
»Das tut mir leid. Du hast eine gute Auffassungsgabe und ein richtiges Urteil. Wenn du den Gang der Ereignisse verfolgt hättest, hättest du mit Staunen bemerkt, wie die Bevölkerung wieder gemäßigteren Ansichten zuneigt. Man ist der ewigen Übertreibungen müde und will von Leuten nichts mehr wissen, die sich durch ihre radikale Politik und die Kämpfe mit der Kirche bloßgestellt haben. Es wird eines Tages dahin kommen, daß man ein zweites Ministerium Casimir-Périer mit neuen Kräften bilden wird, und dann –«
Er hielt inne, denn sie hörte wirklich nicht zu.
Traurig und ernüchtert hing sie ihren Gedanken nach. Sie sah wieder die schöne Frau in den warmen Schatten des kleinen Zimmers, wie sie mit bloßen Füßen auf dem dichten, braunen Bärenfell stand und vor dem Spiegel ihr Haar zu einem Knoten wand, während ihr Freund sie auf den Nacken küßte. Aber es kam ihr vor, als ob es eine andere sei, die sie nicht einmal näher kannte und auch lieber gar nicht kennen wollte, deren Angelegenheiten sie nicht weiter interessierten. Eine Haarnadel, die sie schlecht befestigt hatte – es war eine von den Haarnadeln aus der kleinen Glasschale –, glitt ihr in den Nacken, und es schauderte sie.
»Auf jeden Fall«, sagte Monsieur Martin-Bellème, »müssen wir unseren politischen Freunden drei oder vier Diners geben. Man könnte die einstigen Radikalen mit Leuten aus unserer Gesellschaft zusammenbringen. Und es wäre sehr gut, einige hübsche Frauen dazu zu bitten. Wenn wir zum Beispiel Madame Bérard de la Malle einlüden; seit zwei Jahren hat man ihr nichts Schlimmes mehr nachgesagt. Was meinst du dazu?«
»Aber, mein Lieber, da ich nächste Woche abreise ...«
Er war ganz starr.
Mißgestimmt und schweigend gingen sie zusammen in den kleinen Salon, wo Paul Vence sie erwartete. Er verkehrte ganz zwanglos bei ihnen und kam öfters so des Abends.
Sie reichte ihm die Hand: »Es freut mich wirklich, daß Sie gekommen sind. Ich will Ihnen nämlich Lebewohl sagen – allerdings nur für kurze Zeit. Paris ist jetzt so kalt und düster. Diese Jahreszeit macht mich müde und melancholisch, und ich will auf sechs Wochen nach Florenz zu Miß Bell.«
Monsieur Martin-Bellème hob die Augen zum Himmel, und Vence fragte, ob sie nicht schon öfter in Italien gewesen sei.
»Dreimal. Aber ich habe nichts gesehen. Diesmal will ich sehen, mich hineinstürzen, eintauchen in die Dinge. Von Florenz aus will ich Ausflüge nach der Toskana und Umbrien machen, und zum Schluß gehe ich nach Venedig.«
»Da tun Sie recht daran. Venedig ist die Sonntagsruhe nach der großen Schöpfungswoche des göttlichen Italiens.«
»Ihr Freund Dechartre hat mir so schön von Venedig erzählt und von dem Himmel Venedigs, der Perlen verstreut.«
»Ja, in Venedig ist der Himmel ein Künstler der Farbe. In Florenz hat er etwas Durchgeistigtes. Irgendein alter Schriftsteller hat gesagt: Der leichte, klare Himmel von Florenz nährt in den Menschen schöne Gedanken. Ich habe in Toskana herrliche Tage verlebt und möchte sie gern wieder erleben.«
»Nun, so kommen Sie doch auch nach Florenz.«
Er seufzte: »Aber die Zeitungen, die Zeitschriften, die tägliche Arbeit!«
Monsieur Martin-Bellème meinte, diese Gründe müsse man anerkennen, es sei ein zu großes Vergnügen, die Artikel und die Bücher von Paul Vence zu lesen, als daß man ihn von seiner Arbeit abhalten dürfe.
»Ach, meine Bücher! ... In einem Buch kann man niemals das sagen, was man sagen möchte. Es ist einfach unmöglich! ... Nun ja, ich weiß schließlich ebensogut mit der Feder umzugehen wie mancher andere. Aber all dieses Reden und Schreiben ist so armselig. Wenn man darüber nachdenkt: diese kleinen Zeichen, aus denen man die Silben, die Worte, die Sätze macht, sind ein rechter Jammer. Was wird aus den Ideen, aus all den schönen Gedanken, die von diesen erbärmlichen, trivialen und dabei doch wunderlichen Hieroglyphen abhängig sind? Was macht der Leser aus meiner geschriebenen Seite? Eine Folge von Scheinsinn, Widersinn und Unsinn. Lesen und Hören ist dasselbe wie Übersetzen. Es mag ja schöne Übersetzungen geben, aber niemals getreue. Was hilft es mir, wenn die Leute meine Bücher bewundern, sie bewundern ja doch nur, was sie selbst hineinlegen. Jeder Leser schiebt uns seine eigenen Gedanken unter, unsere Bücher sind nur dazu da, um seine Phantasie zu kitzeln. Und es ist schrecklich, für so etwas Stoff zu liefern. Es ist ein niederträchtiges Handwerk.«
»Sie scherzen«, sagte Monsieur Martin.
»Das glaube ich nicht«, nahm Thérèse das Wort. »Er fühlt nur, daß kein Mensch jemals ganz in die Seele des anderen einzudringen vermag, und darunter leidet er. Er fühlt sich allein, wenn er denkt, allein, wenn er schreibt. Ja, man mag tun, was man will, man ist doch im Grunde immer allein. Das war es, was Vence sagen wollte. Und er hat recht. Man versucht immer wieder, sich auszudrücken, aber verstanden wird man niemals.«
»Vielleicht noch am ehesten durch Gesten«, meinte Vence.
»O nein, Monsieur Vence, das ist nur eine andere Art von Hieroglyphen. – Erzählen Sie mir doch etwas von Choulette. Ich sehe ihn gar nicht mehr.«
Vence sagte, Choulette sei augenblicklich damit beschäftigt, die Laienbruderschaft des Franziskanerordens zu reformieren.
»Der Gedanke zu diesem Werk«, erklärte er, »ist ihm auf ganz seltsame Weise gekommen, als er eines Tages zu seiner heiligen Marie ging, die hinter dem großen Hospital in einer immer dumpfigen Gasse mit schiefen Häusern wohnt. Sie wissen, Marie ist die Heilige und Märtyrerin, die des Volkes Sünde trägt. Er zog an dem Rehfuß der Klingelschnur, der durch die Besucher von zwei Jahrhunderten schon ganz fettig geworden ist. Ob nun die Märtyrerin gerade beim Weinwirt war, wo sie sich häuslich niederzulassen pflegt, oder in ihrem Zimmer anderweitig beschäftigt war, jedenfalls machte sie ihm nicht auf. Choulette klingelte anhaltend und so stark, daß ihm der Rehfuß samt Klingelschnur in der Hand blieb. Bei seinem Talent, Zeichen zu deuten und den verborgenen Sinn der Dinge zu durchschauen, war ihm sofort klar, daß sich die Klingelschnur nicht ohne den ausdrücklichen Willen überirdischer Mächte losgelöst haben könnte. Er dachte darüber nach. Die Hanfschnur war mit klebrig schwarzem Schmutz überzogen. Er band sie sich als Gürtel um und erkannte, daß er ausersehen war, den Franziskanerorden zu seiner ursprünglichen Reinheit zurückzuführen. Er verzichtete also auf Frauenschönheit, Dichterglück und Lorbeer und wandte sich dem Studium der Lehre und des Lebens des Heiligen von Assisi zu. Trotzdem hat er seinem Verleger ein Buch mit dem Titel ›Les Blandices‹ verkauft, das, wie er sagt, alle Arten zu lieben beschreibt. Er schmeichelt sich sogar, sich in diesem Werk nicht ohne Eleganz als großer Sünder gezeigt zu haben. Aber das Buch hat, ohne sein schwärmerisches Vorhaben zu kreuzen, es im Gegenteil noch gefördert. Er will sich durch ein späteres Werk läutern und sehr ehrbar und musterhaft werden. Außerdem aber wird ihm das Geld oder, wie er sagt, ›die Gelder‹, die er dafür bekommen hat und die für ein keuscheres Buch nie gegeben worden wären, zu einer Pilgerfahrt nach Assisi verhelfen.«
Madame Martin fragte höchst belustigt, was denn nun eigentlich wahr sei an dieser Geschichte. Vence erwiderte, daß man danach nicht forschen dürfe.
Halb und halb gestand er ein, daß er der idealisierende Historiker des Dichters sei und man seine Erzählungen von dessen Abenteuern nicht streng wörtlich nehmen dürfte. Er bestätigte aber, daß Choulette die »Blandices« jetzt veröffentliche und im Begriff stände, Grab und Zelle des heiligen Franziskus aufzusuchen.
»Aber dann nehme ich ihn mit nach Italien«, rief Madame Martin. »Vence, suchen Sie ihn auf und bringen Sie ihn mir. Ich reise nächste Woche.«
Monsieur Martin entschuldigte sich, daß er jetzt gehen müsse. Er hatte noch einen Bericht fertigzumachen, der morgen überreicht werden sollte.
Madame Martin sagte, es gäbe keinen Menschen, für den sie sich mehr interessiere als für Choulette. Vence hielt ihn ebenfalls für einen ganz seltenen Menschen.
»Er hat wirklich viel Ähnlichkeit mit den Heiligen, deren wunderbare Lebensgeschichte wir kennen. Er ist ohne Falsch wie sie, er besitzt dieselbe außerordentliche Zartheit der Empfindung und dieselbe furchtbare Heftigkeit des Herzens. Daß er durch seine Handlungsweise so oft Anstoß erregt, liegt daran, daß er schwächer und haltloser ist als sie, vielleicht auch nur daran, daß man ihn mehr von der Nähe beobachtet. Schließlich gibt es ja auch unvollkommene Heilige, ebensogut wie es gefallene Engel gegeben hat. Choulette ist solch ein unvollkommener Heiliger, voilà tout. Aber seine Gedichte sind wahrhaft religiöse Dichtungen und weit schöner als alles, was die höfischen Bischöfe und Theaterdichter des siebzehnten Jahrhunderts in dieser Art geschaffen haben.«
Hier unterbrach sie ihn. »Da ich gerade daran denke – ich mache Ihnen mein Kompliment über Ihren Freund Dechartre. Er ist ein feiner Geist, nur etwas zu sehr in sich abgeschlossen.«
Vence erinnerte sie daran, daß er ihr schon vorher gesagt habe, Dechartre würde ihr gefallen.
»Ich kenne ihn ja durch und durch. Er ist ein Jugendfreund von mir.«
»Kennen Sie seine Familie auch?«
»Freilich – er ist der einzige Sohn von Philippe Dechartre.«
»Von dem Architekten?«
»Demselben, der unter Napoleon dem Dritten so viele Schlösser und Kirchen in der Touraine und im Orléanais restauriert hat. Er hatte Kenntnisse und Geschmack. Obwohl er eine einsame und weiche Natur war, hatte er doch die Unvorsichtigkeit begangen, den damals allmächtigen Viollet-le-Duc anzugreifen. Sein Vorwurf bestand darin, daß er erklärte, Viollet wolle die Bauten nach ihrem ursprünglichen Plan, so wie sie waren oder hätten sein sollen, wiederherstellen. Philippe Dechartre dagegen wollte, daß man respektiere, was die Jahrhunderte einer Kirche, einer Abtei oder einem Schlosse nach und nach hinzugefügt hatten. Für ihn war das Beseitigen von Anachronismen und die Restauration von Gebäuden zu ihrer ursprünglichen Einheitlichkeit eine wissenschaftliche Barbarei, ebenso fürchterlich wie die Unwissenheit. Unaufhörlich wiederholte er: ›Die von Geist und Hand unserer Ahnen dem Stein aufgeprägten Spuren auslöschen wollen, ist ein Verbrechen. Neue, in einem alten Stil behauene Steine sind falsche Zeugen.‹ Er wollte die Aufgabe des restaurierenden Architekten darauf beschränkt wissen, die Mauern zu stützen und zu befestigen. Er hatte zwar recht, aber man gab ihm unrecht. Dann schadete er sich vollends dadurch, daß er jung starb, während sein Rivale triumphieren konnte. Aber trotz alledem hinterließ er seiner Frau und seinem Sohn ein beträchtliches Vermögen. Jacques wurde von seiner Mutter erzogen, und sie vergötterte ihn – ich habe selten eine so fanatische Mutterliebe gesehen. Jacques ist ein reizender Mensch, aber ein verzogenes Kind.«
»Aber er macht doch einen so gleichgültigen Eindruck, als ob er das Leben sehr leicht nehme und sich um die ganze Welt nicht kümmerte.«
»Lassen Sie sich dadurch nicht täuschen. Er lebt in Einbildungen, mit denen er sich und andere quält.«
»Liebt er die Frauen?«
»Warum fragen Sie danach?«
»Oh, ich habe nicht die Absicht, ihn zu verheiraten.«
»Nun ja, er liebt sie sehr. Ich habe Ihnen schon gesagt, er ist ein Egoist, und das sind die einzigen, die ein Weib wirklich zu lieben vermögen. Nach dem Tode seiner Mutter hatte er eine sehr lange Liaison mit Jeanne Tancrède, einer bekannten Schauspielerin.«
Madame Martin glaubte, sich an Jeanne Tancrède zu erinnern. Sie war nicht hübsch, aber tadellos gewachsen und hatte etwas von nachlässiger Grazie in ihren Liebhaberinnenrollen.
»Ja, das stimmt«, antwortete Vence. »Sie lebten fast ganz zusammen, in einem kleinen Hause im Jasminviertel in Auteuil. Ich habe sie dort oft besucht. Wenn ich hinkam, fand ich ihn meistens in Gedanken versunken, ganz allein mit sich selbst. Er hatte vollständig vergessen, an seiner Figur zu arbeiten, und ließ sie unter ihren Tüchern eintrocknen, um irgendeiner Idee nachzuhängen, völlig unfähig, jemand zuzuhören. Währenddessen büffelte sie ihre Rollen. Ich sehe sie noch vor mir, ihr Teint war durch die Schminke ganz ruiniert, aber sie hatte sanfte, zärtliche Augen und war schön durch Geist und Leben. Manches Mal beklagte sie sich bei mir, daß es so schwer sei, mit ihm auszukommen, er war meist zerstreut und schlechter Laune. Aber sie liebte ihn und betrog ihn nur, wenn es sich darum handelte, eine Rolle zu bekommen. Und wenn sie es einmal tat, hatte sie es gleich nachher wieder vergessen und dachte nicht mehr daran. Wirklich, sie war ein gescheites, ernsthaftes Mädchen; aber schließlich liierte sie sich in aller Öffentlichkeit mit Joseph Springer, weil sie durch ihn an die Comédie-Française zu kommen hoffte. Dechartre wurde böse und brach mit ihr. Jetzt findet sie es zweckmäßiger, mit ihrem jeweiligen Direktor zu leben, und er zieht es vor, Reisen zu machen.«
»Trauert er ihr nach?«
»Wie soll man wissen, was in diesem unruhigen, beweglichen Geist vorgeht. Er ist ein Egoist, aber dabei ein leidenschaftlicher Mensch. Er möchte jemand haben, dem er sich ganz hingeben kann, aber er zieht sich ebenso schnell wieder zurück. In allem Schönen, was ihm auf der Welt begegnet, liebt er eigentlich immer nur sich selbst, aber in großherziger Weise.«
Sie brach das Thema plötzlich ab.
»Und was macht Ihr Roman?«
»Ich bin gerade beim letzten Kapitel, Madame. Mein kleiner Graveur ist bereits enthauptet. Er starb mit der Gleichmut der Jungfrauen, die ohne Begehren sind, weil sie nie auf ihren Lippen den heißen Kuß des Lebens gespürt haben. Zeitungen und Publikum billigen, wie es sich gehört, diesen Akt der Gerechtigkeit. Aber in einer Mansarde schwört ein anderer Arbeiter, ein nüchterner, trauriger Mensch, den Mord mit Mord zu sühnen.«
Dann stand er auf und verabschiedete sich. Aber sie rief ihn noch einmal zurück.
»Monsieur Vence, Sie wissen, daß es mein Ernst ist. Suchen Sie Choulette und bringen Sie ihn mir her.«
Als sie auf ihr Zimmer gehen wollte, stand ihr Mann oben auf der Treppe und wartete auf sie. Er sah sehr feierlich aus in seinem Schlafrock aus goldkäferfarbenem Plüsch und einer Art Dogenmütze, die sein bleiches, hageres Gesicht umrahmte. Die Tür zu seinem Arbeitskabinett hatte er hinter sich offengelassen, und man sah im Schein der Lampe einen ganzen Haufen von Aktenstößen und Dokumenten in blauen Mappen auf dem Tisch liegen, die aufgeschlagenen Quartbände der Staatshaushaltpläne. Ehe sie noch die Tür des Zimmers erreicht hatte, machte er ihr ein Zeichen, daß er ihr etwas zu sagen habe.
»Meine Liebe, ich begreife dich nicht. Du kannst dir mit deiner Unüberlegtheit außerordentlich schaden. Ohne irgendwelchen Grund, ja selbst ohne einen greifbaren Vorwand, willst du dein Haus auf einmal verlassen, um durch halb Europa zu reisen, und mit wem – mit irgendeinem Bohemien, mit diesem Trunkenbold von Choulette.«
Sie erwiderte, daß sie mit Madame Marmet reisen wolle und daß kein Mensch sich daran stoßen könne.
»Aber du hast deinen Plan schon allen möglichen Leuten angekündigt und weißt noch nicht einmal, ob Madame Marmet dich wirklich begleiten kann.«
»Oh, die gute Madame Marmet braucht nur ihre Koffer zu packen. Sie hat nichts, was sie in Paris zurückhält, außer ihrem Hund. Und den kann sie dir solange in Pflege geben.«
»Und weiß dein Vater von deinen Plänen?«
Es war immer seine letzte Zuflucht, sich auf die Autorität ihres Vaters zu berufen, wenn sie die seine nicht anerkennen wollte. Er wußte, sie fürchtete nichts mehr, als ihren Vater zu verstimmen oder schlecht von ihm beurteilt zu werden.
»Dein Vater ist so taktvoll und vernünftig«, fuhr er fort. »Ich habe es bei verschiedenen Gelegenheiten mit Freuden gesehen, daß er ganz meiner Meinung war, wenn ich mir erlaubt hatte, dir einen Rat zu geben. Er stimmte zum Beispiel völlig mit mir überein, daß Madame Meillan kein geeigneter Verkehr für eine Frau wie dich sei. Die Gesellschaft, die dort verkehrt, ist sehr gemischt, und sie protegiert alle möglichen Liebeleien. Du rechnest zuwenig mit der öffentlichen Meinung, und das ist sehr unrecht von dir – ich muß es dir einmal offen sagen. Und ich müßte mich sehr täuschen, wenn dein Vater es nicht zum mindesten – merkwürdig finden wird, daß du dich mit diesem Leichtsinn auf einmal auf und davon machen willst. Deine Abwesenheit wird um so mehr auffallen, meine Liebe, da ich – erlaube mir, dich daran zu erinnern – im Laufe dieser Legislaturperiode durch die politische Lage ins Licht der Öffentlichkeit gerückt worden bin. Ich bin weit entfernt davon, mir das als persönliches Verdienst auszulegen. Aber, wenn du geruht hättest, mir vorhin bei Tisch etwas mehr Aufmerksamkeit zu schenken, so hätte ich dir auseinandergesetzt, daß die Partei, zu der ich gehöre, demnächst ans Ruder kommen wird. Es ist also sehr unangebracht, daß du gerade in diesem Moment deine Pflichten als Herrin des Hauses so links liegenläßt. Du wirst das selbst einsehen.«
Sie antwortete nur: »Du langweilst mich«, dann wandte sie ihm den Rücken und schloß sich in ihr Zimmer ein.
Als sie im Bett lag, nahm sie, wie gewöhnlich, einen Roman zur Hand, um vor dem Einschlafen noch etwas zu lesen. Zerstreut wandte sie die Blätter um, bis sie auf folgende Stelle stieß:
»Es ist mit der Liebe wie mit der Frömmigkeit. Sie kommt meist erst in späteren Jahren. Eine Frau ist mit zwanzig Jahren weder fromm noch einer leidenschaftlichen Liebe fähig, außer wenn sie besonders sinnlich veranlagt oder schon von Natur eine Heilige ist. Und selbst die Auserwählten wehren sich gewöhnlich lange gegen diese Gnade der Liebe, die noch furchtbarer ist als der Blitz, der Paulus auf dem Wege nach Damaskus erleuchtete. In den häufigsten Fällen unterliegt sie der Leidenschaft erst in dem Alter, wo sie die Einsamkeit nicht mehr fürchtet; denn die Leidenschaft ist wirklich eine Wüste, eine glühende Einöde. Sie ist Askese, ebenso streng wie die Askese der Frommen.
Man sieht auch immer wieder, daß die großen Liebenden ebenso selten sind wie die großen Büßerinnen. Wer das Leben und die Frauen kennt, weiß, daß sie nicht gern das Kreuz, das eine große Leidenschaft mit sich bringt, auf ihre zarten Schultern nehmen. Er weiß, daß nichts weniger alltäglich ist als ein großes Opfer. Und man bedenke nur, was eine Frau auf der Gesellschaft alles opfern muß, wenn sie liebt. Sie verliert alles dabei, ihre Freiheit, ihre Ruhe, all die anmutigen Spiele eines freien Herzens, Koketterie, Vergnügen und Freuden.
Flirten darf sie. Der Flirt verträgt sich mit den Anforderungen des Weltlebens. Aber die Liebe nicht. Die Liebe ist die Leidenschaft, die am wenigsten von der Gesellschaft geduldet wird – es ist die wildeste, die barbarischste Leidenschaft, die am meisten wider die soziale Ordnung verstößt.
Und die Welt verurteilt die Liebe strenger als die kleinen Liebeleien und die leichten Sitten. In einer Beziehung hat sie ja auch recht. Eine Pariserin, die wirklich liebt, verleugnet ihre Natur und verstößt gegen ihre Bestimmung: allen zu gehören, wie ein Kunstwerk. Denn sie ist eins, das wunderbarste, das Menschenfleiß je geschaffen hat; etwas Zauberhaftes, an dem alle Künste der Hand und des Geistes wetteifernd mitgewirkt haben; gemeinsames Werk und gemeinsames Gut. Ihre Pflicht ist, für alle dazusein.«
Thérèse schloß das Buch und dachte bei sich: ›Das sind Hirngespinste eines Schriftstellers, der das Leben nicht kennt.‹ Sie wußte nur zu gut, daß es in der Wirklichkeit weder das heilige Land der Leidenschaft noch das Kreuz der Liebe, noch diese schöne und schreckliche Berufung gibt, der die Auserwählte vergeblich zu widerstehen sucht. Die Liebe, das war nur ein kurzer, flüchtiger Rausch, von dem man mit etwas traurigem Herzen Abschied nahm ... Wenn sie aber doch nicht alles kannte? Wenn es doch eine Liebe gab, in der man vor Seligkeit alles andere vergessen konnte?
Sie löschte die Lampe aus, und aus den Tiefen des Vergangenen kamen die Träume ihrer ersten Jugendjahre wieder über sie.
6
Es regnete. Madame Martin-Bellème sah durch die berieselten Fenster ihres Wagens undeutlich die Unmenge von Regenschirmen wie schwarze Schildkröten unter den Wassern des Himmels dahinwandeln. Sie war in Nachdenken versunken. Ihre Gedanken waren grau und verschwommen wie die Straßen und Plätze, die der Regen verwischte.
Sie wußte nicht, wie sie eigentlich auf den Gedanken verfallen war, einen ganzen Monat bei Miß Bell verbringen zu wollen. Genau hatte sie es nie gewußt. Das war wie eine Quelle, die, zuerst unter ein paar Büschelchen Wegerich versteckt, nun zu einem raschen und tiefen Gewässer geworden war. Sie konnte sich noch deutlich entsinnen, daß sie am Dienstag beim Abendessen plötzlich erklärt hatte, verreisen zu wollen. Aber den ersten Faden ihres Wunsches konnte sie nicht mehr wiederfinden. Es war sicher nicht das Verlangen, ihrerseits mit Robert Le Ménil so umzuspringen wie er mit ihr. Sie fand es allerdings ausgezeichnet, in den Cascinen spazierenzufahren, während er auf seiner Fuchsjagd war. Es erschien ihr als angenehme Symmetrie. Robert, der immer sehr froh war, wenn er sie nach einer Reise wiedersah, würde sie eben diesmal nicht wiedersehen. Sie hielt es für durchaus gerecht, ihm diesen Streich zu spielen. Aber ursprünglich war das nicht ihr Grund gewesen, und auch später hatte sie eigentlich nicht daran gedacht. Wirklich, sie reiste nicht, um ihn zum Vergnügen zu ärgern und sich mutwillig zu rächen. Sie dachte nicht so sehr daran, ihn zu verletzen; aber ihr Gefühl gegen ihn war abgestumpft und verhärtet. Vor allem wollte sie ihn nicht so bald wiedersehen. Nicht daß ihre Liaison in die Brüche gegangen wäre, aber er war ihr plötzlich fremd geworden. Er erschien ihr als ein Mann wie alle anderen, besser vielleicht als die meisten; er sah sehr gut aus, hatte tadellose Manieren und einen schätzenswerten Charakter. Er gefiel ihr ja auch recht gut. Aber er beschäftigte sie nicht mehr so stark. Ganz plötzlich war er aus ihrem Leben getreten, und sie dachte nicht mehr gern daran, wie tief er damit verbunden gewesen war. Der Gedanke, daß sie ihm gehörte, beleidigte sie und schien ihr unpassend. Die Aussicht, sich in der kleinen Wohnung in der Rue Spontini wieder mit ihm treffen zu sollen, war ihr so unangenehm, daß sie den Gedanken sofort zurückwies. Sie wollte lieber an irgendein unvorhergesehenes, unbedingt nötiges Ereignis glauben, das ihre Wiedervereinigung verhindern würde: an den Weltuntergang zum Beispiel. Monsieur Lagrange von der Akademie der Wissenschaften hatte ihr am Abend vorher bei Madame de Morlaine von einem Kometen erzählt, der, eines Tages aus den Abgründen des Himmels kommend, der Erde begegnen, sie mit einem Feuerschweif umhüllen, mit seinem Atem versengen, Tieren wie Pflanzen unbekannte Gifte einhauchen und die ganze Menschheit mit dem Lachen des Wahnsinns oder in stumpfer Trauer sterben lassen würde. So etwas oder doch etwas Ähnliches brauchte sie im kommenden Monat. Es war also nicht ganz unerklärlich, daß sie hatte fortreisen wollen. Aber daß in ihren Wunsch zu entfliehen sich eine unbestimmte Freude mischte, daß sie schon im voraus unter dem Zauber des Kommenden stand, dafür wußte sie keinen Grund.
Der Wagen brachte sie bis zur Ecke der kleinen Rue de La Chaise. Dort wohnte seit dem Tode ihres Gatten in einem vielstöckigen Haus unter dem Dach, hinter fünf von der Morgensonne bestrahlten Fenstern, in einer engen, wenn auch höchst sauberen Wohnung Madame Marmet.
Gräfin Martin ging heute zu ihr, weil sie Jour hatte. In dem blitzblanken bescheidenen Salon traf sie Monsieur Lagrange. Er schlummerte in einem Fauteuil, und ihm gegenüber saß die gute alte Dame, still und sanft unter ihrer Krone von weißem Haar.
Der alte weltmännische Gelehrte war ihr treu geblieben. Er war es gewesen, der am Tage nach der Beisetzung Marmets der unglücklichen Witwe die giftgeschwollene Grabrede Schmolls gebracht hatte. Er hatte sie zu trösten vermeint und mußte sie statt dessen vor Zorn und Schmerz fast ersticken sehen. Sie wurde in seinen Armen ohnmächtig. Madame Marmet fand, daß es ihm an Verstand fehle. Er war ihr bester Freund. Häufig aßen sie zusammen in reichen Häusern.
Madame Martin trat ein, zart und fest in ihrer Zobeljacke, die halb offenstand und eine Spitzenflut sehen ließ, und weckte mit dem reizenden Glanz ihrer grauen Augen den alten Herrn, der noch immer für weibliche Anmut sehr empfänglich war. Er hatte ihr tags zuvor bei Madame de Morlaine vom kommenden Weltuntergang gesprochen und fragte sie nun, ob sie nachts im Gedanken an die flammenverzehrte oder frosterstarrte und mondweiße Erde keine Angst gehabt hätte. Während er mit seiner gekünstelten Galanterie zu ihr sprach, betrachtete sie den Mahagonibücherschrank, der die ganze Wand den Fenstern gegenüber einnahm. Es stand kaum noch ein Buch darin, aber im untersten Fach lag ausgestreckt ein Skelett in Waffen. Wie sonderbar, bei der guten alten Dame diesen etruskischen Kriegsmann zu finden mit einem grünen Bronzehelm auf dem Schädel und den zerfressenen Platten seines Panzers auf der eingesunkenen Brust. Da schlief er nun, grimmig und halbzerfallen, mitten unter Bonbonschachteln, vergoldeten Porzellanvasen, Stuckmadonnen und kleinen Holzschnitzereien, Andenken aus Luzern und vom Rigi. Madame Marmet hatte in der Bedrängnis ihres Witwentums die Handbibliothek ihres Mannes verkaufen müssen. Von seiner großen Sammlung von Altertümern hatte sie nur den Etrusker zurückbehalten. Wohl hatte man ihr geraten, ihn zu verkaufen. Die alten Kollegen Marmets hatten eine Möglichkeit gefunden, ihn unterzubringen; Paul Vence hatte bei der Museumsverwaltung seinen Ankauf für den Louvre bereits durchgesetzt. Aber die gute alte Witwe hatte sich nicht von ihm trennen können. Ihr war es, als verlöre sie mit dem Krieger im grünen Bronzehelm und dem Goldblätterkranz auch den Namen, den sie mit so viel Würde trug, und wäre dann nicht mehr die Witwe Louis Marmets von der Académie des Inscriptions.
»Seien Sie ganz ruhig, gnädige Frau; so bald wird kein Komet mit unserer Erde zusammenstoßen. Solche Begegnungen sind höchst unwahrscheinlich.«
Madame Martin entgegnete, daß sie nichts Ernstliches dagegen einzuwenden hätte, wenn Erde und Menschheit plötzlich vernichtet würden.
Der alte Lagrange wandte sich in tiefster Aufrichtigkeit heftig dagegen. Es war ihm sehr viel daran gelegen, daß der Weltuntergang sich verzögere.
Sie sah ihn an. Sein Schädel trug nur ein paar schwarzgefärbte Haare. Seine Lider hingen wie Lappen schwer über die noch immer lächelnden Augen. Die Haut hing schlaff über das gelbe Gesicht, und unter dem Anzug ahnte man einen vertrockneten Körper.
›Er hängt am Leben‹, dachte sie.
Auch Madame Marmet wollte das Weltende nicht so nahe haben.
»Monsieur Lagrange«, sagte Madame Martin, »Sie wohnen doch in dem hübschen kleinen Häuschen, das glyzinienumrankt auf den Zoologischen Garten hinaussieht. Es muß eine Lust sein, in diesem Garten zu leben, der mich an die Arche Noah meiner Kinderjahre und an das Paradies der Bibel erinnert.«
Aber er war gar nicht begeistert. Das Haus sei klein, schlecht eingerichtet und voller Ratten.
Sie gab zu, daß man sich nirgends recht wohl fühlte und daß es überall wirkliche oder symbolische Ratten, tausend kleine Wesen gäbe, die uns quälen. Aber trotzdem liebe sie den Zoologischen Garten; sie wolle immer hingehen und käme doch nie dazu. Dort wäre ja auch das Museum, das sie noch nie gesehen hätte und auf das sie so neugierig wäre.
Glücklich lächelnd bot er ihr an, sie zu führen. Es wäre sein Haus. Er würde ihr die Meteoriten zeigen. Man hätte dort prachtvolle Stücke.
Sie hatte keine Ahnung, was Meteoriten sind. Sie erinnerte sich nur daran, daß man ihr erzählt hatte, es gäbe in dem Museum Renntierknochen, die von den Urmenschen bearbeitet worden wären, elfenbeinerne Plättchen, auf denen Bilder von Tieren eingeritzt wären, deren Rasse seit Ewigkeiten ausgestorben sei. Sie fragte ihn, ob das wahr sei. Lagrange lächelte nicht mehr. Mit mürrischer Gleichgültigkeit antwortete er, daß diese Dinge einen seiner Kollegen angingen.
»Ach so«, sagte Madame Martin, »das ist nicht Ihr Schrank.« Sie wurde inne, daß Gelehrte durchaus nicht neugierig sind und daß es indiskret ist, sie nach Dingen zu fragen, die nicht in ihrem Schrank stehen. Lagrange hatte seine wissenschaftliche Karriere aus vom Himmel gefallenen Steinen aufgebaut. So war er dazu gekommen, die Kometen zu studieren. Aber er war ein Weiser geworden. Seit zwanzig Jahren tat er kaum mehr, als an Diners in der Stadt teilzunehmen.
Als er gegangen war, sagte Gräfin Martin, warum sie zu Madame Marmet gekommen war. »Ich reise nächste Woche nach Fiesole zu Miß Bell und möchte, daß sie mit mir kommen.«
Die gute Madame Marmet sah mit Augen, die unter glatter Stirn hervorspähten, einen Augenblick stumm vor sich hin, weigerte sich sanft, ließ sich bitten und willigte ein.
7
Der Schnellzug nach Marseille stand zur Abfahrt bereit. Alles war voller Rauch und Getöse, die Gepäckträger liefen eifrig hin und her, und dazwischen rollten Gepäckkarren. Durch die Glasscheiben der Bahnhofshalle fiel fahles Licht. Vor den geöffneten Coupétüren gingen Reisende in langen Mänteln auf und ab. Am äußersten Ende der Halle, die von Ruß und Staub blind geworden war, erschien, wie durch ein Fernrohr gesehen, ein Stückchen Himmel – winzig klein, und doch bedeutete es die unendliche Ferne der Reise. Die Gräfin Martin saß schon mit Madame Marmet in ihrem Abteil. Ihre Reisetaschen waren in dem Gepäcknetz untergebracht, die mitgenommenen Zeitungen lagen neben ihnen auf den Kissen.
Choulette kam immer noch nicht, und Madame Martin erwartete ihn auch nicht mehr, obwohl er versprochen hatte, sich auf dem Bahnhof einzufinden. Er hatte all seine Vorbereitungen für die Reise getroffen und sich von seinem Verleger das Honorar für die »Blandices« auszahlen lassen. Paul Vence hatte ihn eines Abends mit zu Madame Martin in das Haus am Quai Debilly gebracht. Er war so höflich, so liebenswürdig und geistvoll heiter gewesen und hatte eine so naive Freude an den Tag gelegt, daß Madame Martin sich wirklich darauf gefreut hatte, mit diesem originellen und genialen Menschen zu reisen. Seine Verrücktheiten waren so amüsant, und selbst in seiner Häßlichkeit lag etwas Künstlerisches. Choulette war ein großes verwahrlostes Kind, ein sonderbares Gemisch von Unschuld und offenherziger Verderbtheit.
Jetzt wurden die Coupétüren geschlossen, und sie gab es auf, ihn noch länger zu erwarten. Wie hatte sie sich auch auf diesen impulsiven, unsteten Geist verlassen können.
Aber in dem Augenblick, als die Lokomotive anfing, ihren keuchenden Atem auszustoßen, sagte Madame Marmet, die zum Fenster hinausgeblickt hatte, in aller Ruhe:
»Ich glaube, da kommt Monsieur Choulette.«
Mit einem alten, gestickten Reisesack in der Hand kam er den Bahnsteig entlang. Er hinkte auf einem Bein, sein Hut saß ganz hinten auf dem gewölbten Schädel, und der Bart hing ungepflegt und struppig herab. Er bot einen beinahe furchterregenden Anblick; dabei sah er trotz seiner fünfzig Jahre noch beinahe wie ein Jüngling aus. Die blauen Augen waren so klar und leuchtend, und auf seinem gelben, durchfurchten Gesicht lag ein Zug von unschuldig naiver Kühnheit. Die ganze Erscheinung dieses abgelebten, alten Mannes strahlte etwas von der ewigen Jugend des Dichters und Künstlers aus.
Als Thérèse ihn herankommen sah, bereute sie es, sich einen so sonderbar aussehenden Reisegefährten ausgesucht zu haben.
Choulette ging den Zug entlang und sah in alle Waggons hinein. Sein Blick wurde dabei immer böser und mißtrauischer. Schließlich erreichte er das Coupé, wo die beiden Damen saßen, erkannte Madame Martin, und jetzt flog ein so schönes Lächeln über sein Gesicht, und es lag ein so gewinnender Ton in seiner Stimme, als er ihr guten Tag sagte, daß von der wüsten Vagabundengestalt, die eben noch über den Bahnsteig gestrichen war, nichts zurückblieb, nichts als die alte gestickte Reisetasche, die er an den halbzerrissenen Henkeln hinter sich her schleppte.
Mit peinlicher Sorgfalt brachte er sie oben in dem Netz unter. Sie war aus blutrotem Stoff, mit gelben Blumen übersät und sah zwischen den tadellosen, mit grauem Segeltuch überzogenen Gepäckstücken der Damen wie ein schmutziger, schreiender Farbenfleck aus.
Choulette schien sich sehr wohl zu fühlen und machte Madame Martin Komplimente über die weiten Schulterkragen ihres hellbraunen Reisemantels. »Ich bitte die Damen sehr um Entschuldigung«, sagte er, »ich fürchtete schon zu spät zu kommen. Aber ich war heute früh in meiner Pfarrkirche Saint-Séverin zur Sechs-Uhr-Messe, in der kleinen Kapelle der Heiligen Jungfrau mit ihren absurd gewundenen und doch hübschen Säulen, die auf Umwegen zum Himmel aufsteigen – wie wir armen Sünder.«
»Aha«, sagte Madame Martin, »Sie haben heute Ihren frommen Tag.« Und sie fragte ihn, ob er den Strick des Ordens trüge, den er neu begründete.
Er schaute ernst und zerknirscht drein.
»Ich fürchte, gnädige Frau, daß Paul Vence Ihnen darüber eine Menge lächerlicher Unwahrheiten erzählt hat. Es ist mir zu Ohren gekommen, daß er in den Salons ausstreut, mein Strick sei die Schnur einer Klingel. Und was für einer Klingel! Ich wäre untröstlich, wenn man ihm diese elenden Märchen glauben würde. Mein Strick, gnädige Frau, ist ein symbolischer Strick. Er wird versinnbildlicht durch einen simplen Faden, den man unter dem Rock trägt, nachdem ein Armer ihn berührt hat. Ein Zeichen, daß die Armut heilig ist und die Welt retten wird. Außer ihr ist nichts gut. Seit ich das Geld für meine ›Blandices‹ bekommen habe, fühle ich mich ungerecht und böse. Es tut mir wohl, zu wissen, daß ich in meinem Reisesack einige solche mystische Schnüre mitgenommen habe.«
Und er deutete mit der Hand auf seine schreckliche bestickte Handtasche in der Farbe eingetrockneten Blutes und sagte:
»Ich trage auch eine Hostie bei mir, die mir ein böser Priester geschenkt hat; außerdem die Werke de Maistres, ein paar Hemden und noch verschiedenes andere.«
Madame Martin sah etwas erschreckt auf, aber die gute Madame Marmet ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
Während der Zug durch die häßlichen Vorstädte fuhr, die schwarz und freudlos die Stadt umsäumen, zog Choulette ein altes Portefeuille aus der Tasche und fing an, darin herumzuwühlen. Jetzt kam der Schriftsteller in ihm zum Vorschein, der sich für gewöhnlich hinter der Maske des Landstreichers verbarg. Choulette gehörte, obgleich er es nicht zugeben wollte, zu denen, die jeden Fetzen Papier aufheben. So vergewisserte er sich jetzt, daß er nichts verloren habe, weder die Zettel, auf denen er sich im Café Ideen für seine Gedichte zu notieren pflegte, noch das Dutzend schmeichelhafter, schmutzig, fleckig und brüchig gewordener Briefe, die er beständig bei sich trug. Wenn er irgendwelche seiner Bekannten traf, war er jederzeit bereit, ihnen dieselben beim Scheine einer Straßenlaterne vorzulesen. Als er sich überzeugt hatte, daß nichts fehlte, nahm er einen Brief heraus, der zusammengefaltet im Umschlag steckte. Erst schwenkte er ihn eine Zeitlang mit geheimnisvoller, beinahe lüsterner Miene in der Luft, dann hielt er ihn der Gräfin Martin hin. Es war ein Empfehlungsschreiben, das ihm die Marquise de Rieu an eine Prinzessin des königlichen Hauses mitgegeben hatte, an eine nahe Verwandte des Grafen von Chambord, eine alte Witwe, die zurückgezogen in der Nähe von Florenz lebte. Choulette sonnte sich in dem Effekt, den er durch diesen Brief hervorzubringen hoffte, und sagte dann, vielleicht würde er die alte Prinzessin aufsuchen, sie sei eine gute Frau und so fromm.
»Ja, sie ist eine wahrhaft vornehme Frau«, setzte er hinzu, »aber sie trägt ihre Vornehmheit nicht in Kleidern und Hüten zur Schau. Ihre Hemden trägt sie sechs Wochen und manchmal noch länger. Die Herren ihres Gefolges haben gesehen, daß sie schmutzige weiße Strümpfe trug, die ihr bis auf die Schuhe heruntergerutscht waren. Die Tugenden der großen spanischen Königinnen sind in ihr wieder aufgelebt. Oh, diese schmutzigen Strümpfe – welch echter Ruhm liegt darin!«
Damit nahm er den Brief wieder an sich und steckte ihn in sein Portefeuille. Dann zog er ein Messer mit Horngriff aus der Tasche und fing an, die Krücke seines Stockes damit zu bearbeiten, an der ein menschliches Gesicht in groben Umrissen angedeutet war. Während er daran arbeitete, hielt er Lobreden auf sich selbst: »Oh, in den Künsten der Landstreicher und Bettler bin ich sehr bewandert. Ich kann jedes Schloß mit einem alten Nagel aufmachen und verstehe mit einem alten Küchenmesser zu schnitzen.«
Der Kopf fing jetzt an, deutlich hervorzutreten – es war ein verhärmtes weinendes Frauengesicht.
Choulette wollte damit das menschliche Elend darstellen; aber nicht einfach und rührend, wie die Menschen es ehemals hatten fühlen können in einer Welt, die aus Härte und Güte gemischt war – nein, häßlich und geschminkt, in seiner abschreckendsten Gestalt, in dem Zustand, in den es die bürgerlichen Freidenker und die Militärpatrioten, die Nachfolger der Französischen Revolution, versetzt hatten. Seiner Meinung nach bestand das augenblickliche Regime lediglich aus Heuchelei und Gemeinheit. Der Militarismus flößte ihm Abscheu ein.
»Die Kaserne ist eine widerliche Erfindung der Neuzeit. Sie stammt erst aus dem siebzehnten Jahrhundert. Früher hatte man nur die gute alte Wachstube, wo die Soldaten Karten spielten und sich Geschichten erzählten. Ludwig der Vierzehnte ist der Vorläufer des Konvents und Bonapartes. Aber das Übel hat seinen Höhepunkt erreicht mit der scheußlichen Einrichtung der allgemeinen Wehrpflicht. Daß Kaiser und Republiken den Menschen die Pflicht zu morden auferlegt haben, ist ihre ewige Schande, das Verbrechen der Verbrechen. In den sogenannten barbarischen Zeiten vertrauten Fürsten und Städte ihre Verteidigung den Söldnern an, die als gewitzigte, kluge Leute ihre Kriege führten. Es gab in großen Schlachten mitunter nur fünf oder sechs Tote. Und die Ritter, die in den Krieg zogen, taten es doch wenigstens nicht gezwungen, sondern weil es ihnen Vergnügen machte, sich umbringen zu lassen. Zweifellos waren sie auch zu nichts anderem nütze. Zur Zeit Ludwigs des Heiligen wäre es keinem Menschen eingefallen, einen Mann von Wissen und Bildung in den Krieg zu schicken. Man riß auch nicht den Landmann von seiner Scholle, um ihn in ein Kriegsheer einzureihen. Aber heute macht man es jedem armen Bauern zur Pflicht, Soldat zu werden. Man verbannt ihn von seinem Haus, dessen Dach in der goldenen Abendsonne raucht, reißt ihn von den fetten Triften, wo sein Vieh weidet, von Feldern und väterlichen Wäldern; man lehrt ihn im Hof einer häßlichen Kaserne nach dem Reglement Menschen zu töten. Man bedroht ihn, beleidigt ihn, wirft ihn ins Gefängnis; man erzählt ihm, es sei eine Ehre für ihn; und wenn er auf solche Art keine Ehre gewinnen will, schießt man ihn tot. Er gehorcht, weil er ein Kind der Furcht und von allen Haustieren das sanfteste, freundlichste und lenksamste ist. Wir in Frankreich sind Soldaten und Bürger. Auch ein Grund zum Hochmut, daß man Bürger ist! Den Armen liegt es ob, die Reichen in ihrer Macht und ihrem Müßiggang zu erhalten. Dafür dürfen sie arbeiten unter der majestätischen Gleichheit des Gesetzes, das Reichen wie Armen verbietet, unter Brücken zu schlafen, auf den Straßen zu betteln und Brot zu stehlen. Wieder eine Wohltat der Revolution. Diese Revolution ist von Narren und Idioten zugunsten von Erraffern nationaler Güter gemacht worden, und sie läuft schließlich nur hinaus auf die Bereicherung gerissener Bauern und wucherischer Bourgeois. Sie errichtete im Namen der Gleichheit das Reich der Reichen. Sie hat Frankreich den Geldleuten ausgeliefert, die es seit hundert Jahren auffressen. Sie sind die Meister und Herren. Die Scheinregierung, bestehend aus armseligen, trübseligen, unseligen, scheuseligen armen Teufeln, steht im Solde der Finanz. Seit hundert Jahren gilt in diesem verseuchten Land als Verräter an der Gesellschaft, wer die Armen liebt. Man ist schon ein gefährliches Subjekt, wenn man sagt, daß es Elend gibt. Ja, man hat sogar seine Gesetze gegen Entrüstung und Mitleid gemacht. Und was ich jetzt hier sage, dürfte nicht gedruckt werden.«
Choulette ereiferte sich und fuchtelte mit dem Messer herum, während unter der frostigen Sonne die braunen Äcker, die violetten Sträuße der vom Winter entlaubten Bäume und die Pappelvorhänge an den silbernen Flüssen vorüberzogen.
Er schnitzte mit großem Eifer und blickte sein Werk dann voll Zärtlichkeit an: »Arme Menschheit«, sagte er, »ja, so siehst du aus – abgemagert, verweint, durch Schande und Elend abgestumpft –, das haben die aus dir gemacht, die über dich herrschen: die Soldaten und die Reichen.«
Die gute Madame Marmet, deren einer Neffe, ein reizender junger Mann, Artilleriehauptmann war und mit ganzer Liebe an seinem Beruf hing, war entsetzt über die Heftigkeit, mit der Choulette die Armee angegriffen hatte. Madame Martin sah in alledem nichts als ein amüsantes Spiel der Phantasie. Sie ließ sich durch die Ideen Choulettes nicht erschrecken; sie fürchtete sich vor nichts. Aber sie fand sie ein wenig lächerlich und glaubte nicht, daß die Vergangenheit jemals besser gewesen war als die Gegenwart.
»Ich glaube, Monsieur Choulette, daß die Menschen zu allen Zeiten so gewesen sind wie heute, egoistisch, gewalttätig, geizig und mitleidlos. Ich glaube, Gesetze und Sitten sind von jeher für die Unglücklichen hart und grausam gewesen.«
Zwischen La Roche und Dijon ging man in den Speisewagen, um zu frühstücken. Dann ließen die Damen Choulette mit seinem Glas Benediktiner, seiner Pfeife und seiner stürmisch erregten Seele allein und kehrten wieder in ihr Abteil zurück.
Madame Marmet begann jetzt mit stiller Zärtlichkeit von ihrem verstorbenen Gatten zu reden. Er hatte sie aus Liebe geheiratet und sehr schöne Gedichte auf sie gemacht, die sie noch aufbewahre und niemand zeigte. Und so lebhaft und heiter war er gewesen. Wer ihn in späteren Zeiten gesehen hatte, wo er schon durch Arbeit und Krankheit erschöpft war, hätte es gar nicht für möglich gehalten. Bis zum letzten Augenblick hatte er studiert. Da er an Herzerweiterung litt, konnte er zuletzt nicht mehr im Bett liegen, sondern brachte die Nächte, von seinen Büchern umgeben, im Lehnstuhl zu. Noch zwei Stunden vor seinem Tode versuchte er zu lesen. Er war gut und liebevoll; auch im Leiden blieb er voller Sanftmut.
Madame Martin wußte nicht recht, was sie darauf erwidern sollte, und sagte schließlich: »Sie sind lange Jahre hindurch glücklich gewesen, und jetzt leben Sie in Ihren Erinnerungen. Das ist schon ein gut Teil Glück hier auf Erden.«
Aber die gute Madame Marmet seufzte, und ein Schatten flog über ihre klare Stirn.
»Ja«, sagte sie, »Louis war der beste Mensch und der beste Gatte. Und doch hat er mich sehr unglücklich gemacht. Er hatte nur einen einzigen Fehler, unter dem ich aber schwer gelitten habe – er war eifersüchtig. Und diese schreckliche Leidenschaft machte ihn, der von Natur so gut, so zärtlich und großherzig war, oft tyrannisch, heftig und ungerecht. Sie dürfen mir glauben, daß ich ihm nie Grund dazu gegeben habe. Ich bin niemals kokett gewesen. Aber ich war jung und blühend, ich galt sogar beinahe für schön. Und das genügte; er ließ mich niemals allein ausgehen und verbot mir, in seiner Abwesenheit Besuche zu empfangen. Wenn wir zusammen auf einen Ball gingen, zitterte ich schon im voraus, daß er mir auf der Heimfahrt Szenen machen würde.
»Es ist wahr«, fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu, »ich tanzte sehr gerne – aber ich habe darauf verzichten müssen. Er litt zu sehr darunter.«
Die Gräfin Martin konnte ihr Erstaunen nicht verbergen. Sie hatte sich Marmet immer als einen alten, schüchternen, ausschließlich in seine Arbeiten vertieften Herrn vorgestellt, der zwischen seiner runden, rosigen und so sanften Frau und dem Skelett des etruskischen Kriegers im Helm aus Gold und Bronze eine etwas komische Figur abgab. Aber die gute alte Witwe vertraute ihr an, Louis sei noch ebenso eifersüchtig wie am ersten Tage gewesen, als er schon fünfundfünfzig und sie dreiundfünfzig Jahre zählte.
Und Thérèse dachte daran, daß Robert sie niemals mit Eifersucht gequält hatte. War es nur sein Taktgefühl und sein unbedingtes Vertrauen in sie gewesen – oder liebte er sie nicht genug, um sie auch unter seiner Liebe leiden zu lassen? Sie wußte es nicht, und sie hatte nicht das Herz, es wissen zu wollen; sie fühlte keine Neigung, diese verborgensten Schubfächer seiner Seele weiter zu durchstöbern. Ohne daran zu denken, was sie sagte, murmelte sie vor sich hin: »Wir sehnen uns nach Liebe, aber sobald ein Mann uns wirklich liebt, quält er uns – oder er langweilt uns.«
Den Rest des Tages brachten sie mit Lektüre zu oder hingen ihren Gedanken nach. Choulette war noch nicht wieder erschienen. Allmählich deckte die Nacht mit grauer Asche die Maulbeerbäume der Dauphine. Madame Marmet schlief längst den Schlaf des Gerechten; sie ruhte in ihrer Fülle wie auf weichen Kissen. Thérèse sah sie an und dachte: »Ja, sie ist wirklich glücklich, denn sie denkt gerne an die Vergangenheit zurück.«
Die Trauer der Nacht schlich ihr ins Herz. Der Mond ging auf über den Olivenhainen; sie sah die sanftgeschwungenen Linien der Ebenen und Hügel vorüberziehen, sah die blauen Schatten fließen. Und in dieser Landschaft, in der alles von Frieden und Vergessen sprach, nichts von ihr, nichts zu ihr redete, sehnte sie sich nach der Seine, dem Are de Triomphe mit seinem Stern von Avenuen und nach den Alleen im Bois, wo wenigstens die Steine und die Bäume sie kannten.
Plötzlich kam Choulette stumm und wild in das Abteil gestürzt. Kopf und Gesicht in einen roten Wollschal gehüllt und mit dem dicken Knotenstock in der Hand, flößte er ihr beinahe Schrecken ein. Und das war gerade das, was er wollte. Sein ungestümes Auftreten und die Wildheit seiner äußeren Erscheinung waren immer einstudiert. Er bemühte sich unaufhörlich um seltsame und kindische Effekte und gefiel sich darin, furchtbar zu erscheinen. Da er selbst sehr empfänglich für jeden Schrecken war, wollte er, daß auch die andern sich fürchten sollten. Er hatte eben am Gangfenster gestanden, seine Pfeife geraucht und den Mond zwischen Wolken über die Camargue wandern sehen. Und da war plötzlich jene grundlose Angst, jene Kinderangst über ihn gekommen, die manchmal seine leichtbewegte, phantastische Seele aufwühlte. Er war zu Madame Martin zurückgekehrt, um sich wieder zu beruhigen.
»Arles«, sagte er. »Kennen Sie Arles? Es ist reinste Schönheit. Ich war im Kloster Saint-Trophime und habe gesehen, wie die Tauben sich den Statuen auf die Schultern setzten; ich habe gesehen, wie die kleinen, grauen Eidechsen sich auf den Sarkophagen des Gräberfeldes von Aliscamps sonnten. Zu beiden Seiten des Weges, der auf die Kirche zuführt, liegen sie wie große Wannen; nachts dienen sie manchem Unglücklichen als Lagerstatt. Als ich dort eines Abends mit Paul Arène spazierenging, trafen wir eine alte Frau. Sie bereitete sich gerade in dem Sarkophag einer antiken Jungfrau, die am Tage ihrer Hochzeit gestorben war, ein Lager von trockenen Blättern. Wir wünschten ihr eine gute Nacht, und sie antwortete: ›Möge Gott euch erhören! Aber das Unglück hat gewollt, daß dieser Stein gerade nach der Seite, wo der Mistral herkommt, eine Spalte hat. Wenn die Spalte auf der anderen Seite wäre, würde ich hier ruhen wie die Königin Johanna.‹«
Thérèse gab keine Antwort. Sie war eingeschlafen. Und Choulette schauderte in der Kälte der Nacht; er hatte Furcht vor dem Tode.
8
Miß Bell hatte ihre Gäste in dem kleinen, englischen Wagen, den sie selbst kutschierte, vom Bahnhof in Florenz abgeholt und sie den Hügel hinauf nach Fiesole zu ihrer Villa gebracht, die rosenfarben und von einer Balustrade gekrönt auf die unvergleichlich schöne Stadt hinabschaute. Die Kammerjungfer folgte mit dem Gepäck. Auch für Choulette hatte sie Quartier besorgt. Er sollte bei einer Küsterwitwe im Schatten der Kathedrale von Fiesole wohnen. Man erwartete ihn erst zum Diner.
Die Dichterin war häßlich, aber ihr kurzgeschorener Kopf hatte etwas Anziehendes, und die zarte Gestalt mit den schmalen Hüften war nicht ungraziös. Sie trug eine Art Jackett und ein Herrenhemd über der knabenhaften Brust.
Als sie in Fiesole angekommen waren, hieß sie ihre französischen Freundinnen in ihrem Hause willkommen, das die empfindsame Glut ihres Geschmacks widerspiegelte. An den Wänden des Salons thronten friedlich inmitten von Engeln, Erzvätern und Heiligen, umrahmt von dem schönen goldenen Zierwerk der Triptychen, blasse, schmalfingrige sienesische Madonnen. Auf einem Sockel stand, erschreckend häßlich vor Magerkeit und Alter, nur mit ihrem Haar bekleidet, eine büßende Magdalena, irgendeine Bettlerin von der Straße nach Pistoia, die Sonne und Schnee ausgedörrt hatten, wie sie ein unbekannter Vorläufer Donatellos mit rührender und fürchterlicher Naturtreue in Ton nachgebildet hatte. Und überall sah man das Wappen von Miß Bell: Glocken und Glöckchen. In den Zimmerecken wölbten die größten von ihnen ihre Bronzehauben, andere reihten sich an den Sockeln der Wände eng aneinander, und die allerkleinsten bildeten einen Fries an den Gesimsen. Auf dem Ofen, auf den Truhen und auf den Koffern standen sie. Die Schränke füllten silberne und vergoldete Glocken, schwere Bronzeglocken mit der Lilie von Florenz, Renaissanceschellen in Form von Damen im Wulstrock, Sterbeglöckchen, verziert mit Tränen und Gebeinen, Filigranschellen mit symbolischen Tierfiguren und Laubwerk, wie sie in den Kirchen zur Zeit des heiligen Ludwig geläutet hatten, Tischglocken aus dem siebzehnten Jahrhundert mit einer Statuette als Handgriff, flache, blank glänzende Kuhglocken aus dem Rütlital, indische Glocken, die man mit einem Hirschhorn leise zum Klingen bringt, chinesische Schellen in Zylinderform. Aus aller Herren Ländern, aus allen Zeiten waren sie hier auf den Zauberruf der kleinen Miß Bell versammelt.
»Sie sehen sich meine sprechenden Wappen an«, sagte sie zu Madame Martin. »Ich glaube, alle diese Misses Bell fühlen sich hier recht wohl, und es sollte mich nicht wundern, wenn sie eines schönen Tages alle miteinander zu läuten anfingen. Aber Sie dürfen sie nicht alle gleichmäßig bewundern. Ihr reinstes und wärmstes Lob müssen Sie für die da aufsparen.« Und sie rührte mit dem Finger an eine dunkle, schmucklose Glocke, die einen feinen Ton gab.
»Die hier ist eine Dorfheilige aus dem fünften Jahrhundert. Sie ist eine geistige Tochter des heiligen Paulinus von Nola, der als erster den Himmel zu unseren Häupten klingen ließ. Sie ist aus einem seltenen Metall, dem sogenannten kampanischen Erz. Bald werde ich Ihnen eine ganz reizende Florentinerin daneben zeigen können, die Königin aller Glocken. Sie ist schon unterwegs. Aber, Darling, ich langweile Sie mit meinem Kram, und auch die gute Madame Marmet. Wie unrecht von mit.«
Dann führte sie die Gäste in ihre Zimmer.
Eine Stunde später erschien Madame Martin frisch und ausgeruht in einem seidenen spitzenbesetzten Negligé auf der Terrasse, wo Miß Bell sie schon erwartete.
Die feuchte Luft, lau in der noch schwachen, aber schon wärmenden Sonne, hauchte die beunruhigende Süße des Frühlings. Thérèse lehnte mit den Armen auf der Balustrade und badete ihre Augen in dem milden Licht.
Zu ihren Füßen streckten die Zypressen ihre schwarzen Spindeln gen Himmel, und die Olivenbäume wogten über die Hänge. Drunten im Tal lag Florenz mit seinen Kuppeln und Türmen und den unzähligen roten Dächern. Und jenseits der Stadt, am andern Ufer des Arno, dessen gewundener Lauf durch das Häusermeer teilweise dem Auge entzogen wurde, blauten die fernen Hügel. Sie suchte mit dem Blick den Giardino Boboli, wo sie bei einer früheren Italienreise spazierengegangen war, die Cascinen, die sie weniger liebte, den Palazzo Pitti, den Dom Santa Maria di Fiore. Dann verlor sie sich in der zauberhaften Unendlichkeit des Himmels, in den fließenden Formen der Wolken.
Nach langem Schweigen streckte Vivian Bell die Hand aus und wies auf den Horizont: »Darling, ich kann Ihnen nicht sagen – nein, ich kann wirklich nicht sagen –, aber schauen Sie sich um, Darling, sehen Sie nur. Was Sie hier sehen, gibt es nur einmal auf der Welt. Nirgends ist die Schöpfung so fein, so durchgeistigt, so voller Anmut wie hier. Der Gott, der die Hügel von Florenz erschaffen hat, war ein Künstler. Oh, er war Juwelier, Münzenschneider, Bildhauer, Bronzegießer, Maler. Kurz, es war ein Florentiner. Es ist das einzige, was er von der Welt selbst gemacht hat. Alles andere ist unvollkommener gearbeitet, von einer gröberen Hand. Was meinen Sie dieser Hügel von San Miniato mit seinem festen, reinen Umriß und der zarten violetten Färbung, sollte der von demselben Meister herrühren wie der Montblanc? Das ist unmöglich. Diese Landschaft hat die Schönheit einer antiken Münze, eines kostbaren Gemäldes; sie ist ein vollkommenes, ein harmonisches Kunstwerk. Und wissen Sie, es ist noch etwas – aber ich weiß nicht, wie ich es in Worte kleiden soll. Ich verstehe es selbst nicht recht, und doch ist es wirklich so. Ich fühle mich hier in dieser Gegend, und Sie werden ebenso fühlen, als ob ich nur halb lebte und halb schon gestorben wäre. Es ist ein sehr erlesenes, sehr trauriges und dabei doch wohltuendes Gefühl. Sehen Sie nur – sehen Sie immer wieder hin, und Sie werden die Melancholie entdecken, die über diesen Hügeln von Florenz liegt. Sie werden fühlen, wie eine köstliche Trauer von diesen geweihten Gefilden der Toten emporsteigt.«
Die Sonne neigte sich schon dem Horizont zu. Die Berggipfel erloschen einer nach dem andern, die Wolken am Himmel standen in Flammen.
Plötzlich fing Madame Marmet an zu niesen.
Miß Bell ließ Tücher holen und sagte, die Abende seien hier immer etwas kühl, und man müsse sich sehr in acht nehmen.
Dann fragte sie plötzlich: »Darling, kennen Sie Monsieur Jacques Dechartre? Er hat mir geschrieben, daß er nächste Woche nach Florenz kommt. Ich freue mich sehr, daß Monsieur Dechartre Sie hier trifft. Er wird uns in die Kirchen und Museen begleiten, und er wird ein guter Führer sein. Er versteht die schönen Dinge, weil er sie liebt. Und er hat außerordentliches Talent für die Bildhauerei. Seine Figuren und seine Medaillons finden in England noch mehr Verehrer als in Paris. Oh, ich freue mich, Darling, daß Monsieur Dechartre Sie hier trifft.«
9
Als sie am nächsten Morgen aus der Kirche Santa Maria Novella kamen und über den großen Platz gingen, auf dem, nach dem Vorbild des antiken Zirkus, zwei Marmorobelisken stehen, sagte Madame Marmet plötzlich: »Ich glaube, da ist Monsieur Choulette.«
Er saß in einem Schusterladen, mit seiner Pfeife in der Hand, machte rhythmische Gebärden und schien Verse zu rezitieren. Der florentinische Schuhflicker hörte ihm gutmütig lächelnd zu und arbeitete dabei ruhig weiter mit Ahle und Pfriem. Es war ein kleiner kahlköpfiger Mann, wie man sie in der flämischen Malerei so oft dargestellt sieht. Auf dem Tisch, mitten unter Leisten, Nägeln, Lederstücken und Pechkugeln, zeigte ein Basilikumstock sein grünes Blätterhaupt. Ein zahmer Sperling, dem ein Bein fehlte – es war durch ein Endchen Streichholz ersetzt –, hüpfte dem Alten munter bald auf die Schulter, bald auf den Kopf.
Madame Martin amüsierte sich sehr über diesen Anblick. Von der Schwelle aus rief sie Choulette, der leise und in singendem Ton deklamierte, und fragte ihn, warum er nicht mit ihr in die Spanische Kapelle gegangen sei.
Er stand auf und antwortete: »Madame, Sie jagen eitlen Bildern nach, aber ich suche das Leben und die Wahrheit.«
Dann drückte er dem alten Schuster die Hand und schloß sich den Damen an.
»Ich wollte gerade in die Kirche gehen«, sagte er, »da bemerkte ich diesen alten Greis, wie er über seine Arbeit gebeugt dasaß. Er hatte den Leisten zwischen den Knien wie in einem Schraubstock und nähte ein Paar grobe Schuhe. Ich fühlte, daß er ein einfacher und guter Mensch ist, und fragte ihn auf italienisch: ›Vater, wollen Sie ein Glas Chianti mit mir trinken?‹ Er war einverstanden und ging, um eine Flasche und Gläser zu holen, während ich seine Wohnung solange bewachte.«
Und Choulette deutete zum Ofen hin, auf dem zwei Gläser und eine Flasche standen. »Als er zurückkam, tranken wir zusammen. Dann habe ich ihm dunkle, schöne Verse vorgesagt und ihn durch die wohllautenden Töne ganz bezaubert. Ich werde noch oft in seinen Laden zurückkehren. Er soll mich lehren, Schuhe zu machen und wunschlos zu leben. Dann werde ich nichts mehr vom Leid wissen, denn das, was uns unglücklich macht, sind nur unsere Begierden und der Müßiggang.«
Die Gräfin Martin lächelte: »Monsieur Choulette, ich begehre wirklich nichts, und doch bin ich nicht froh. Soll ich etwa auch Schuhe machen?«
In tiefem Ernst antwortete Choulette: »Die Zeit ist noch nicht gekommen.«
Als sie den Garten der Oricellari erreicht hatten, sank Madame Marmet auf eine Bank nieder. Sie hatte in Santa Maria Novella die stillen Fresken Ghirlandajos, das Chorgestühl, Cimabues Madonna und die Malereien in den Kreuzgängen angesehen. Ihrem Mann zum Gedenken hatte sie es mit aller Sorgfalt getan, denn man sagte von ihm, daß er die italienische Kunst sehr geliebt habe. Sie war müde geworden. Choulette setzte sich neben sie und sagte: »Madame Marmet, können Sie mir sagen, ob es wahr ist, daß der Papst seine Gewänder bei Worth machen läßt?«
Madame Marmet glaubte es nicht, aber Choulette hatte es in den Cafés sagen hören. Madame Martin war überrascht, daß Choulette als Katholik und Sozialist so respektlos über den Papst sprach, der doch ein Freund der Republik war. Aber er konnte Leo XIII. nicht leiden.
Die Weisheit der Fürsten ist kurzsichtig«, sagte er, »das Heil der Kirche wird von der italienischen Republik ausgehen, so wie Leo der Dreizehnte es glaubt und will. Aber dieser fromme Machiavelli schlägt nicht den richtigen Weg ein, um die Kirche zu retten. Durch die Revolution wird der Papst auch seinen unbilligen Peterspfennig verlieren und den Rest seines Patrimoniums. Und das wird das Heil sein. Erst der verarmte und seines Glanzes beraubte Papst wird wahrhaft mächtig sein. Er wird die Welt bewegen. Man wird die Petrus und Linus, Cletus, Anacletus und Clemens auferstehen sehen, die demütigen und ungelehrten ersten Heiligen, die das Antlitz der Welt verwandelten. Wenn das Unmögliche geschähe, wenn morgen auf dem Stuhle Petri wieder ein echter Bischof und echter Christ säße, so würde ich zu ihm gehen und sagen: ›Sei nicht mehr ein in seiner Goldgruft eingesargter Greis, laß deine Kämmerer, deine Nobelgarde und deine Kardinäle fahren, gib deinen Hofstaat und die Götzenbilder deiner Macht auf. Gehe an meinem Arm und erbettle dir bei den Heiden dein Brot. In Lumpen, arm, siech und sterbend, gehe über die Landstraßen und laß Jesu Ebenbild in dir sehen. Sage: ›Ich gehe betteln um mein Brot, weil ich die Reichen verdamme.‹ Gehe in die Städte und rufe mit erhabener Einfalt von Tür zu Tür: ›Seid demütig, seid sanftmütig, seid arm!‹ Verkündige in den finsteren Städten, in Spelunken und Kasernen, Frieden und Barmherzigkeit. Man wird dich mißachten, mit Steinen nach dir werfen; die Gendarmen werden dich ins Gefängnis schleppen. Du wirst für die Niedrigen wie für die Hohen, für die Armen wie für die Reichen Gegenstand des Spottes, des Ekels und einer mitleidigen Verachtung sein. Deine Priester werden dich absetzen und gegen dich den Antipapst auf den Thron erheben. Alle werden sagen, daß du ein Narr bist. Und sie sollen recht haben: Du mußt ein Narr sein; denn die Narren haben die Welt gerettet. Die Menschen werden dir die Dornenkrone reichen und das Zepter von Rohr, sie werden dir ins Antlitz speien. Aber in diesem Zeichen wirst du als Christus und wahrer König erscheinen. Mit solchen Mitteln wirst du den Sozialismus Christi errichten, der das Reich Gottes sein wird auf Erden.‹«
Nachdem er also gesprochen hatte, zündete sich Choulette eine lange, krumme, italienische Zigarre an, durch die ein Strohhalm gezogen war, tat ein paar Züge üblen Rauches und fuhr dann ruhig fort:
»Das wäre der richtige Weg. Man mag mir alles absprechen, aber nicht das klare Erfassen von Situationen. Ja, Madame Mannet, Sie wissen nicht, wie wahr es ist, daß die großen Taten auf dieser Erde stets von Narren vollbracht worden sind. Oder glauben Sie, Madame Martin, daß der heilige Franziskus, wenn er vernünftig gewesen wäre, die lebendigen Wasser des Erbarmens und die Düfte der Liebe über die Erde hingeströmt hätte zur Erfrischung der Völker?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Madame Martin, »aber vernünftige Leute sind mir immer höchst langweilig gewesen. Ihnen darf ich das ja sagen.«
Sie kehrten mit der Dampftrambahn, die sich schnaubend den Hügel hinaufwindet, nach Fiesole zurück. Es hatte angefangen zu regnen. Madame Marmet schlief unterwegs ein, und Choulette fing an, über sein Schicksal zu jammern. Alle seine Leiden fielen auf einmal wieder über ihn her: Die feuchte Luft war schuld, daß er Schmerzen im Knie hatte und das Bein nicht beugen konnte; sein Reisesack war ihm gestern auf dem Weg vom Bahnhof nach Fiesole abhanden gekommen und war nicht wiederzufinden, ein nicht wiedergutzumachendes Unglück; und zum Überfluß hatte eine Pariser Revue eines seiner Gedichte mit Druckfehlern veröffentlicht, mit Druckfehlern so groß wie Weihwasserkessel, wie die Muschel der Aphrodite. Er beschuldigte Menschen und Dinge, sich feindselig und unheilbringend gegen ihn verschworen zu haben, und dabei wurde er albern, kindisch und unerträglich.
Madame Martin wurde durch sein Benehmen und durch den Regen niedergedrückt. Es kam ihr vor, als ob die Fahrt kein Ende nehmen wollte.
Als sie in das Haus mit den Glocken und in den Salon trat, fand sie Miß Bell damit beschäftigt, in Aldinischer Kursivschrift Verse, die ihr in der Nacht eingefallen waren, mit goldener Tinte auf ein Blatt Pergament zu schreiben. Beim Eintritt ihrer Freundin hob sie den Kopf. Aus dem unschönen Gesicht leuchteten ihre wundervollen Augen hell hervor.
»Darf ich Ihnen den Fürsten Albertinelli vorstellen, Darling?«
Der Fürst, mit seinem dichten schwarzen Bart schön wie ein junger Gott, stand an den Ofen gelehnt und verbeugte sich: »Madame, wenn wir Italiener Frankreich nicht schon längst ins Herz geschlossen hätten, müßten wir bei Ihrem Anblick anfangen, es zu lieben.«
Die Gräfin und Choulette baten Miß Bell, ihnen die Verse vorzulesen, die sie eben geschrieben hatte. Sie entschuldigte sich, daß sie als Ausländerin die unbeholfenen Strophen dem französischen Dichter, den sie nach François Villon am meisten liebte, zu hören geben wollte. Dann rezitierte sie mit ihrer feinen hellen Vogelstimme:
»Am Felsenfuße, wo die Quelle springt,
gleich der Najade, welche lacht und singt,
und feuchten Armes hin zum Arno rauscht,
hat einst ein schönes Kinderpaar den Ring getauscht.
Und Liebesglück durchströmte ihren Sinn,
ganz wie des Gießbachs Wasser an den Hängen hin.
Und sie hieß Gemma. Aber seinen Namen, wißt,
hat niemals uns verzeichnet ein Chronist.
Des Tages lagen schuldlos Mund auf Mund
die jungen Leiber in dem Thymiangrund,
der Ziegen Weide. Doch zur Abendzeit,
wenn der Werkmann müd der Muße weiht
im Lindenschatten, ging es stadtwärts für die Nacht.
Doch niemand in der Menge hatte ihrer acht.
Des Glückes Überfülle ließ sie häufig weinen.
Das Leben wollte ihnen trostlos scheinen.
Sie waren Baum und Strauch auf ihrer Wiesen,
die Rebenwinde und das Grün, und schmerzzerrissen
bog ihr Gezweig sich seufzend himmelwärts.
Daneben stand mit rotem Blütenherz
ein Kraut und schoß empor viel bleiche Blütenspeere.
Die Schäfer nannten es die Schweigebeere.
Und Gemma wußte, daß der ewige Schlummer
und Gottes Schlaf und Träumen ohne Kummer
dem käme, der von ihrer Blüte schmeckte.
Es kam ein Tag, der unterm Busch sie lachend weckte.
Da schob ein Blättchen sie dem Liebsten in den Mund.
Und als er froh auf ewig schlief, zur Stund
nahm selber sie die liebe Blätterspeise
und sank entseelt zu seinen Füßen leise.
Die Tauben flogen abends klagend zu.
Sonst störte niemand ihre Liebesruh.«
»Reizend«, sagte Choulette. »Italien unter den sanften Nebelschleiern Thules.«
»Wirklich reizend«, wiederholte die Gräfin, »aber warum wollten Ihre beiden schönen Kinder denn sterben, liebe Vivian?«
»Weil sie sich so glücklich wie irgend möglich fühlten, Darling, und weil sie sich nichts mehr wünschen konnten. Das war zum Verzweifeln, Darling, zum Verzweifeln. Wie kommt es nur, daß Sie das nicht verstehen?«
»Sie glauben also, wenn wir leben, so heißt das, daß wir noch hoffen?«
»Ja, Darling, wir leben in Erwartung des Morgen, des Königs der Feen, und dessen, was er in seinem schwarzen oder blauen, mit Blumen, Sternen und Tränen besäten Zaubermantel bringen wird. O bright king To-Morrow!«
10
Man hatte sich zum Diner angekleidet. Miß Bell saß im Salon und zeichnete Ungeheuer, in der Art der phantastischen Zeichnungen Leonardos. Sie schuf sie, um zu wissen, was sie dann sagen würden; denn sie war ganz sicher, daß sie sprechen und in seltsam phantastischen Versen ungewöhnliche Gedanken äußern würden. Sie würde ihnen lauschen. Auf diese Weise ersann sie meistens ihre Gedichte.
Am Klavier saß Fürst Albertinelli und spielte leise die Siziliana: O Lola. Seine weichen Finger berührten kaum die Tasten.
Choulette benahm sich noch unpassender als gewöhnlich. Er bat um Nadel und Faden, um sich selbst seine Kleider auszubessern, und jammerte darüber, daß er sein bescheidenes, kleines Necessaire verloren hatte, das er seit dreißig Jahren bei sich trug und das ihm teuer war wegen der angenehmen Erinnerungen und der guten Ratschläge, die er von ihm empfing. Er glaubte es in einem der profanen Säle des Palazzo Pitti verloren zu haben und hielt deshalb Schmähreden auf die Medici und sämtliche italienische Maler.
Dann warf er einen bösen Blick auf Miß Bell und sagte: »Ich habe immer gedichtet, während ich meine Lumpen zusammenflickte. Mir ist am wohlsten, wenn ich mit den Händen arbeite. Wenn ich mein Zimmer ausfege, singe ich meine Lieder. Und deshalb sind sie auch den Menschen zu Herzen gegangen wie die Gesänge jener alten Bauern und Handwerker, die vielleicht schöner sind als die meinen, aber jedenfalls nicht natürlicher. Ich setze meinen Stolz darein, mein eigner Diener zu sein. Die Küsterfrau wollte mir meine Lumpen ausbessern, aber ich habe es nicht gelitten. Es ist nicht schön, wenn wir von anderen das sklavisch verrichten lassen, was wir selbst in edler Freiheit tun können.«
Der Fürst spielte nachlässig seine gleichgültige Melodie weiter. Thérèse, die seit acht Tagen mit Madame Marmet die Kirchen und Museen besuchte, dachte daran, wie langweilig die alte Dame war, wenn sie unaufhörlich auf den Bildern der alten Meister Ähnlichkeiten mit irgend jemand von ihren Bekannten herausfand. Heute morgen hatte sie im Palazzo Ricardi schon auf den Fresken Benozzo Gozzolis eine ganze Menge gefunden: Garain, Lagrange, Monsieur Schmoll, die Prinzessin Seniavine als Pagen und Monsieur Renan zu Pferde. Sie erschrak selbst, Monsieur Renan überall zu begegnen. Mit einer geschickten Wendung, die ihre Freundin zur Verzweiflung brachte, kam sie stets mit ihren Gedanken auf ihren kleinen Kreis von Gelehrten und Gesellschaftsmenschen zurück. Mit sanfter Stimme erinnerte sie an die öffentlichen Sitzungen der Akademie und an die Vorlesungen in der Sorbonne wie an die Gesellschaftsabende, an denen geistvolle und mondäne Philosophen brillierten. Und was die Frauen anbetraf, so waren sie ihrer Ansicht nach samt und sonders entzückend und untadelig. Sie ließ sich überall einladen. Und Thérèse dachte: ›Die gute Madame Marmet ist wirklich zu brav. Sie langweilt mich.‹ Sie trug sich mit dem Gedanken, sie in Zukunft oben in Fiesole zu lassen und allein in die Kirchen zu gehen. Im stillen sagte sie sich mit einem Worte, das sie von Le Ménil gehört hatte: ›Ich werde Madame Marmet abhängen.‹
Ein schlanker alter Herr betrat den Salon. Seine gewichsten Schnurrbartspitzen und sein weißer Spitzbart gaben ihm das Aussehen eines alten Offiziers. Aber sein Blick hinter den Brillengläsern verriet die zarte Güte der Augen, die sich im Dienst der Wissenschaft und des Lebensgenusses verbraucht hatten. Es war ein Florentiner, ein Freund Miß Bells und des Fürsten, der Professor Arrighi, ehemals ein Liebling der Frauen und jetzt eine Berühmtheit in der Toskana und der Ämilia wegen seiner Abhandlungen über Landwirtschaftsfragen. Gräfin Martin gefiel er auf den ersten Blick. Und wenn sie sich auch keine sehr günstigen Vorstellungen vom Landleben in Italien machen konnte, so fragte sie ihn doch interessiert über seine Methoden und die von ihm erzielten Erfolge aus.
Er ging mit Energie und Bedachtsamkeit zu Werke. »Die Erde«, meinte er, »ist wie die Frauen. Sie will, daß man ihr gegenüber weder schüchtern noch brutal ist.«
Das Ave-Maria, das von allen Glockentürmen ringsum geläutet wurde, schuf aus dem Himmel ein einziges riesiges Instrument der Kirchenmusik.
»Merken Sie, Darling, wie klingend und silbern die Florentiner Luft abends vom Geläut der Glocken ist?«
»Es ist sonderbar«, sagte plötzlich Choulette, »wir sehen aus, als ob wir auf jemand warteten.«
Vivian Bell erwiderte, sie erwarteten auch wirklich jemanden, nämlich Monsieur Dechartre. Er müßte eigentlich schon dasein, und sie fürchtete, er möchte den Zug versäumt haben. Choulette ging auf Madame Marmet zu und fragte sehr ernsthaft: »Sind Sie imstande, Madame Marmet, irgendeine Tür zu sehen, eine einfache Holztür wie Ihre – nehme ich an – oder meine, diese Tür hier oder irgendeine andere, ohne von Furcht und Schrecken gepackt zu werden bei dem Gedanken an den Besucher, der jeden Augenblick eintreten kann? Die Türen unserer Wohnungen, Madame Marmet, öffnen sich in die Unendlichkeit. Haben Sie das je bedacht? Wissen wir jemals den wahren Namen dessen, der in menschlicher Gestalt, in wohlvertrauten Zügen und in gewöhnlichen Kleidern bei uns eintritt?«
Er für seine Person könne in seinem Zimmer niemals auf die Tür sehen, ohne daß ihm diese Furcht die Haare sträubte.
Madame Marmet sah indessen die Türen ihres Salons ohne alles Grauen aufgehen. Sie kannte die Namen aller, die sie besuchten: lauter entzückende Menschen.
Choulette sah sie melancholisch an und schüttelte den Kopf: »Madame Marmet, Madame Marmet, jeder, den Sie mit seinem irdischen Namen nennen, hat noch einen zweiten Namen, den Sie nicht kennen und der sein wahrer Name ist.«
Madame Martin fragte Choulette, ob er glaube, daß ein Unglück die Schwelle überschreiten müsse, um Eingang zu den Menschen zu finden. »Es ist erfinderisch und äußerst gewandt. Es kommt durch das Fenster und durchdringt die Wände. Es zeigt sich nicht immer, aber es ist stets da. Die armen Türen sind wirklich unschuldig am Kommen solch bösen Besuches.«
Streng belehrte Choulette die Gräfin Martin, daß sie das Unglück nie und nimmer einen bösen Besuch nennen dürfte. »Das Unglück ist unser größter Lehrmeister und unser bester Freund. Es lehrt uns den Sinn des Lebens. Meine Damen, wenn Sie leiden, dann wissen Sie, was zu wissen not tut, dann glauben Sie, was zu glauben not tut, dann tun Sie, was getan werden muß, dann sind Sie, was Sie sein müssen. Sie werden die Freude finden, die das Vergnügen verjagt hat. Die Freude ist schüchtern und fühlt sich auf Festen nicht heimisch.«
Fürst Albertinelli erklärte, Miß Bell und ihre beiden französischen Freundinnen hätten es nicht nötig, erst unglücklich zu werden, um vollkommen zu sein. Die Lehre von der Vervollkommnung durch Leiden sei eine barbarische Grausamkeit und unter dem heiteren Himmel Italiens ein Greuel. Das Gespräch wurde matter, und er bemühte sich, die Läufe der graziösen und doch so banalen Siziliana wiederzufinden; sehr vorsichtig, denn er fürchtete, in eine ganz ähnliche Melodie aus dem »Troubadour« zu geraten.
Vivian Bell unterhielt sich ganz leise mit den Ungeheuern, die ihr Bleistift gebar, und beklagte sich über ihre ungereimten und listig boshaften Antworten.
»Im Augenblick«, sagte sie, »möchte ich mich nur mit Gobelinfiguren unterhalten, die ebenso blasse, altertümliche und preziöse Dinge sagen, wie sie selbst sind.«
Der schöne Fürst fing, von dem Fluß seiner Melodie getragen, zu singen an. Seine Stimme entfaltete sich wie ein Pfauenrad, blies sich auf und verklang dann in hinsterbendem »Ah – ah – ah!«.
Die gute Madame Marmet blickte nach der Glastür und sagte: »Ich glaube, da kommt Monsieur Dechartre.«
Er trat ein, frisch und angeregt, einen freudigen Zug auf dem ernsten Gesicht.
Miß Bell empfing ihn mit fröhlichem Gezwitscher: »O Monsieur Dechartre, wir warten schon ganz ungeduldig auf Sie. Monsieur Choulette hat uns böse Dinge von Türen erzählt – ja, von Türen in den Wohnungen. Er behauptete, daß das Unglück ein höchst gefälliger alter Herr sei. All diese schönen Geschichten haben Sie nun versäumt. Sie haben uns aber lange warten lassen. Und warum?«
Er entschuldigte sich; er war nur erst ins Hotel gegangen, um etwas Toilette zu machen. Er hatte nicht einmal seinen großen und guten Freund begrüßt, den bronzenen heiligen Markus in seiner Nische an der Außenmauer von Or San Michele. Dann sagte er der Dichterin einige Komplimente und wandte sich an Madame Martin. Er vermochte seine Freude nicht ganz zu unterdrücken, während er sie begrüßte: »Ehe ich von Paris abreiste, habe ich Sie noch einmal am Quai Debilly aufgesucht, und da erfuhr ich, daß Sie in Florenz bei Miß Bell den Frühling erwarten wollten. Ich habe mich so gefreut, Sie hier in Italien wiederzusehen, das mir noch nie so lieb gewesen ist wie jetzt.«
Sie fragte ihn, ob er über Venedig gereist sei und ob er in Ravenna die leuchtenden Gespenster und die Kaiserinnen im Heiligenschein aufgesucht habe.
Nein, er hatte sich nirgends aufgehalten.
Sie sagte nichts. Ihr Blick ruhte auf der Glocke des heiligen Paulinus von Nola in der Ecke.
»Sie sind ja so versunken in die Noleserin«, sagte er zu ihr.
Vivian Bell warf Papier und Bleistift beiseite. »Sie werden bald ein Wunder sehen, das Sie noch mehr rühren wird, Monsieur Dechartre. Ich habe Hand auf die Königin aller Glöckchen gelegt. Ich fand sie in Rimini, in einer ganz verfallenen Kelter, die jetzt als Speicher dient. Ich suchte dort nach alten, öldurchzogenen Holzstöcken, die ganz hart, dunkel und doch so leuchtend geworden sind. Ich habe die Glocke gekauft und eigenhändig verpackt. Ich lebe nicht mehr – ich warte nur noch. Sie werden sie ja sehen. Sie hat auf ihrem Glockenleib einen Christus am Kreuz mit der heiligen Jungfrau und dem Johannes, die Jahreszahl vierzehnhundert und das Wappen der Malatesta ... Monsieur Dechartre, Sie passen nicht genügend auf; Sie müssen genau zuhören. Im Jahre vierzehnhundert hat sich Lorenzo Ghiberti auf der Flucht vor Krieg und Pest nach Rimini zu Paolo Malatesta begeben. Ganz gewiß stammen die Figuren auf meiner Glocke von seiner Hand. Sie werden also in der nächsten Woche hier bei mit eine Arbeit Ghibertis sehen können.«
Der Diener erschien und meldete, daß angerichtet sei. Miß Bell entschuldigte sich, daß sie ihre Gäste mit italienischer Küche bewirten müsse. Ihr Koch war ein Dichter aus Fiesole.
Als sie dann bei Tisch vor den maisstrohumflochtenen Flaschen saßen, sprachen sie von dem glückseligen fünfzehnten Jahrhundert, das sie alle so liebten. Fürst Albertinelli pries die Künstler jener Zeit; er sprach von ihrer heißen Liebe zur Kunst, von ihrem allumfassenden Geist und dem Feuer des Genies, das in ihnen loderte.
Dechartre bewunderte sie ebenfalls, aber in anderer Weise.
»Um jenen Männern, von Cimabue bis Masaccio, die ihrer Kunst so treulich dienten, wirklich gerecht zu werden, müßte das Lob einfach und klar sein wie sie selbst. Man muß sie sich in ihrem Atelier oder in ihrer Werkstatt vorstellen, wo sie als schlichte Handwerker lebten. Wenn man sie bei ihrer Arbeit gesehen hätte, würde man ihre Einfachheit und ihr Genie erst richtig beurteilen können. Sie waren unwissend und roh, hatten wenig gesehen und wenig gelesen. Ihre Augen und ihr Geist reichten nicht weiter als bis zu den Hügeln, die Florenz umschließen. Sie kannten nur ihre Stadt, die Heilige Schrift und einige Überreste von antiken Skulpturen, an denen sie studierten und die sie über alles liebten.«
»Sie haben recht«, sagte Professor Arrighi. »Ihre einzige Sorge war, die besten Verfahren in Anwendung zu bringen. Sie verwandten ihren ganzen Geist darauf, den Wandbewurf als Malgrund für ihre Fresken gut vorzurichten und die Farben gut zu reiben. Und der galt für ein Genie, der auf den Gedanken kam, eine Leinwand über das Holz zu spannen, damit das Gemälde, wenn das Holz bräche, nicht auch zunichte würde. Jeder Meister hatte seine Rezepte und seine Mischformeln, die er sorgsam geheimhielt.«
»Ach, es waren glückliche Zeiten«, fuhr Dechartre fort, »wo man noch nichts von dieser Originalität wußte, nach der wir heute so gierig streben. Damals suchte der Lehrling es seinem Meister gleichzutun. Er hatte keinen anderen Ehrgeiz als diesen; und wenn er sich von den andern unterschied, so kam das, ohne daß er es selbst gewollt hatte. Sie arbeiteten nicht um des Ruhmes willen, sondern nur, um leben zu können.«
»Und daran taten sie recht«, sagte Choulette, »es gibt nichts Besseres, als von seiner Arbeit zu leben.«
»Sie kümmerten sich nicht um die Nachwelt«, fuhr Dechartre fort, »sie wußten nichts von der Vergangenheit und dachten nicht an die Zukunft. Ihre Wünsche gingen nicht über ihr eigenes Leben hinaus. Sie setzten die ganze Kraft ihres Willens daran, gut zu arbeiten. Und in dieser Schlichtheit ihres Gemüts gerieten sie nicht so leicht auf Irrwege. Sie sahen die Wahrheit, die unser Intellekt uns verbirgt.«
Während er noch sprach, erzählte Choulette Madame Marmet, er habe heute einen Besuch bei der Prinzessin gemacht, an die er einen Empfehlungsbrief von der Marquise de Rieu erhalten hatte. Es machte ihm Freude, hervorzuheben, daß er, der Bohemien und Vagabund, bei dieser Prinzessin aus königlichem Hause empfangen wurde, zu der weder Miß Bell noch die Gräfin Martin Zutritt bekommen hätten. Sogar Fürst Albertinelli war stolz darauf, ihr einmal bei irgendeiner Zeremonie vorgestellt worden zu sein.
»Sie ist sehr fromm«, sagte der Fürst, »sie bringt den ganzen Tag mit Andachtsübungen zu.«
»Sie ist bewunderungswürdig in ihrer schlichten Hoheit«, erwiderte Choulette. »In ihrem Hause hält sie, umgeben von den Herren und Damen ihres Gefolges, auf die strengste Etikette, um sich eine Buße für ihre vornehme Herkunft aufzuerlegen, und jeden Morgen geht sie in die Kirche, um den Fußboden aufzuwaschen. Es ist eine einfache Dorfkirche, wo die Hühner aus und ein laufen und der Pfarrer mit dem Küster Briskola spielt.« Dabei beugte er sich auf den Tisch nieder und zeigte mit seiner Serviette, wie die Prinzessin den Boden aufwusch. Dann richtete er sich wieder auf und sagte bedeutungsvoll: »Nachdem ich gebührend in den verschiedenen Salons hatte warten müssen, wurde ich zum Handkuß zugelassen.«
Als er schwieg, fragte Madame Martin etwas ungeduldig: »Nun, und was hat denn diese Prinzessin mit ihrer bewunderungswürdigen schlichten Hoheit zu Ihnen gesagt?«
»Sie hat mich gefragt: ›Haben Sie Florenz besucht? Ich habe gehört, daß es seit kurzem in der Stadt sehr schöne Läden geben soll, die des Abends erleuchtet sind.‹ Und dann sagte sie: ›Wir haben hier einen sehr guten Apotheker. Selbst in Österreich gibt es keinen besseren. Er hat mir vor sechs Wochen ein Pflaster auf das Bein gelegt, das jetzt noch festsitzt.‹ – Das sind die Worte, die Maria Theresa an mich zu richten geruht hat. O diese schlichte Hoheit! Diese christliche Tugend! O Tochter des heiligen Ludwig! O wundervoller Widerhall deiner Stimme, hochheilige Elisabeth!«
Madame Martin lächelte. Sie glaubte, Choulette machte sich über die Prinzessin lustig. Aber er wies diesen Verdacht mit Entrüstung zurück. Und Miß Bell gab ihrer Freundin unrecht. Sie meinte, die Franzosen neigten dazu, immer alles als Scherz aufzufassen.
Dann wurde das Gespräch über Kunst wieder aufgenommen, die man in diesem Land mit der Luft einatmet.
»Was mich betrifft«, sagte die Gräfin Martin, »so bin ich nicht gelehrt genug, um Giotto und seine Schule bewundern zu können. Was mir besonders auffällt, ist die Sinnlichkeit dieser Kunst des Quattrocento, des sogenannten frommen Jahrhunderts. Frömmigkeit und Reinheit habe ich einzig in den trotzdem sehr hübschen Bildern von Fra Angelico gefunden. Das übrige, die Jungfrauen und Engel, sind wollüstig, kokett und mitunter von einer naiven Verderbtheit. Was haben sie denn Frommes an sich, diese jungen Heiligen Drei Könige, die schön wie Frauen sind; der von Jugend strotzende Sankt Sebastian, der eher einem schmerzensreichen christlichen Bacchus gleicht?«
Dechartre antwortete ihr, daß er genauso dächte wie sie und daß sie beide wohl recht haben müßten, da ja auch Savonarola ihre Ansicht geteilt habe, der in keinem Werk der Kunst Frömmigkeit fand und deshalb alle verbrennen wollte.
»Schon zu den Zeiten des halbmaurischen stolzen Manfred«, erklärte er weiter, »gab es in Florenz Männer, die, wie man sagte, der Sekte Epikurs angehörten. Sie suchten nach Argumenten gegen die Existenz Gottes. Der schöne Guido Cavalcanti verachtete die Dummköpfe, die noch an die Unsterblichkeit der Seele glaubten. Von ihm zitiert man das Wort: ›Der Tod des Menschen ist dasselbe wie der Tod des Tieres.‹ Als sich später die antike Schönheit aus den Gräbern erhob, erschien der christliche Himmel düster. Die Maler, die in Kirchen und Klöstern arbeiteten, waren weder fromm noch keusch. Perugino war Atheist und machte kein Hehl daraus.«
»Ja«, sagte Miß Bell, »aber man behauptet, daß er schwer von Begriff war und daß himmlische Wahrheiten seinen harten Schädel nicht zu durchdringen vermochten. Er war gierig und geizig und steckte ganz und gar in materiellen Interessen. Er dachte an nichts anderes als daran, sich Häuser zu kaufen.«
Professor Arrighi übernahm die Verteidigung des Pietro Vanucci aus Perugia.
»Er war ein ehrlicher Mann«, erklärte er, »und der Prior von San Gesù di Firenze tat sehr unrecht daran, ihm zu mißtrauen. Dieser Mönch übte die Kunst, Ultramarinblau herzustellen, indem er ausgeglühten Lapislazuli zerrieb. Ultramarin war also sein Gewicht in Gold wert, und der Prior, der das Geheimnis besaß, schätzte es höher als Rubine und Saphire. Er forderte Pietro Vanucci auf, die beiden Kreuzgänge seines Klosters auszumalen, und er erwartete wahre Wunder an Schönheit, weniger von der Geschicklichkeit des Meisters als von der Schönheit der mit diesem Ultramarin gemalten Himmelsgründe. Während der ganzen Zeit, die der Maler in den Kreuzgängen an dem Leben Christi arbeitete, wich der Prior nicht von seiner Seite und reichte ihm das kleine Säckchen mit dem kostbaren Pulver, das er nicht aus der Hand geben wollte. Pietro mußte unter der Aufsicht des heiligen Mannes aus dem Säckchen schöpfen. Aber er tauchte seinen Pinsel mit Farbe stets in einen Eimer Wasser, ehe er die Wand zu malen begann. Auf diese Weise verbrauchte er große Mengen von dem Pulver. Und der gute Pater seufzte, während er das Säckchen magerer und magerer werden sah: ›Jesus, welche Massen Ultramarin verschlingt doch diese Kalkwand.‹ Als die Fresken vollendet waren und Perugino von dem Mönch den vereinbarten Preis erhalten hatte, drückte er ihm ein Päckchen blaues Pulver in die Hand und sagte: ›Das gehört Euch, Pater; Euer Ultramarin, das ich mit meinem Pinsel schöpfte, sank in meinem Eimer auf den Boden. Ich habe es alltäglich gesammelt und gebe es Euch hiermit zurück. Aber lernt in Zukunft, ehrlichen Menschen nicht zu mißtrauen.‹«
»Ach«, sagte Therese, »es liegt gar nichts Außergewöhnliches in der Tatsache, daß Perugino geizig und doch rechtschaffen dabei war. Eigennützige Menschen sind oft sehr gewissenhaft; es gibt viel ehrliche Geizhälse.«
»Natürlich, Darling«, meinte Miß Bell, »Geizhälse wollen nicht schuldig bleiben, während die Verschwender es ganz erträglich finden, verschuldet zu sein. Sie denken kaum an das Geld, was sie haben, geschweige denn an das, was sie schulden. Ich habe ja auch nicht gesagt, daß Pietro Vanucci aus Perugia ein unehrlicher Mensch gewesen sei. Ich habe nur gesagt, daß er ein Dickschädel war und viele Häuser gekauft hat. Ich bin sehr froh, daß er dem Prior von San Gesù das Ultramarin wiedergegeben hat.«
»Da Ihr Pietro reich war«, sagte Choulette, »mußte er das Ultramarin wiedergeben. Reiche Leute sind moralisch verpflichtet, ehrenhaft zu sein, die Armen nicht!«
In dem gleichen Augenblick hielt er die Hände unter den parfümierten Wasserstrahl, den der Haushofmeister aus der Wasserkanne in das silberne Becken laufen ließ. Es war eine getriebene Kanne und eine Schale mit doppeltem Boden, die Miß Bell dem Gebrauch der Alten entsprechend nach dem Essen reichen ließ.
»Ich wasche mir die Hände«, sagte er, »von dem Übel, das Madame Martin mit Worten oder auf andere Weise anrichtet oder anrichten kann.«
Und er erhob sich grimmig und ging hinter Miß Bell, die Professor Arrighis Arm genommen hatte, aus dem Zimmer.
Der Kaffee wurde im Salon eingenommen. »Warum verurteilen Sie uns«, fragte sie, während sie einschenkte, »zu der traurigen, barbarischen Gleichheit, Monsieur Choulette? Warum? Daphnis' Flöte hätte schlecht geklungen, wenn sie aus sieben gleich langen Schilfrohren gemacht gewesen wäre. Sie wollen die schöne Harmonie von Herr und Diener, von Adel und Bürger zerstören. Sie sind ein Barbar, Monsieur Choulette! Sie haben Mitleid mit den Bedürftigen und sind erbarmungslos gegen die göttliche Schönheit, die Sie aus der Welt bannen möchten. Sie verjagen sie, Monsieur Choulette; Sie verstoßen sie, nackt und weinend. Seien Sie dessen sicher: Sie wird nicht auf Erden bleiben, wenn die armen Menschenkinder ausnahmslos schwach, armselig und unwissend sind. Wer die kunstvoll ersonnenen Gruppen, die die verschiedenen Stände der menschlichen Gesellschaft, niedere und hohe, miteinander bilden, zerstören will, ist nicht nur ein Feind von arm und reich, sondern ein Feind des Menschengeschlechtes überhaupt.«
»Feinde des Menschengeschlechtes!« erwiderte Choulette und warf Zucker in seinen Kaffee. »So nannten auch die harten Römer die Christen, die ihnen die Liebe wiesen.«
Dechartre saß neben Madame Martin und fragte sie um ihre Ansichten über die Kunst und das Schöne. Wenn sie etwas bewunderte, stimmte er ihr bei, führte sie weiter und regte sie an, es noch mehr zu bewundern; er bestürmte sie bisweilen mit zärtlichem Ungestüm. Sie sollte alles sehen, was er gesehen hatte, alles schön finden, was er schön fand. Wenn jetzt der Frühling kam, sollte sie die Gärten von Florenz besuchen. Er sah sie in Gedanken auf den edelgeschwungenen Terrassen stehen. Er sah, wie das Licht auf ihrem Nacken und in ihren Haaren spielte und wie der Schatten der Lorbeerbäume ihre Augensterne dunkler erscheinen ließ. Für ihn waren Erde und Himmel von Florenz nur da, um dieser jungen Frau als Schmuck zu dienen.
Dann machte er ihr Komplimente über die einfache Eleganz, mit der sie sich kleidete, ganz der Eigenart ihrer anmutigen Gestalt angemessen; er bewunderte die bezaubernde Kühnheit der Linien bei jeder ihrer Bewegungen. Er liebte diese heiter lebendigen, weich fließenden Toiletten voller Geist und Ungezwungenheit, die man so selten sieht und die man nie vergißt.
Sie war an Huldigungen gewöhnt, aber noch nie hatte ihr ein Kompliment so viel Freude gemacht. Sie wußte sehr wohl, daß sie sich gut zu kleiden verstand und daß ihr kühner Geschmack immer das richtige zu treffen wußte. Aber außer ihrem Vater hatte noch kein Mann ihr darüber wirklich verständnisvolle Anerkennung gezollt. Und sie hatte bisher geglaubt, daß die Männer nur die Wirkung einer Toilette zu empfinden vermöchten, ohne die sinnreiche Anordnung der Einzelheiten zu verstehen. Es gab ja wohl Männer, die Sinn für Putz hatten, aber die widerten sie gewöhnlich durch ihre weibischen Mienen und ihren zweideutigen Geschmack an. So hatte sie sich ganz darein ergeben, ihre Eleganz nur von Frauen bewundert zu sehen, aber bei diesen steckte meistens nur kleinlich übelwollender Neid dahinter. Die Bewunderung, die Dechartre ihr als Mann und Künstler entgegenbrachte, überraschte und erfreute sie. Sie nahm sein Lob freundlich entgegen, ohne es zu vertraulich und beinahe zudringlich zu finden.
»Sie sehen also auf Toiletten, Monsieur Dechartre?«
O nein, er sah nicht weiter darauf. Man sah so wenig gutangezogene Frauen, selbst heutzutage, wo sie sich ebensogut, wenn nicht besser als früher anziehen. Es machte ihm kein Vergnügen, diese wandelnden Pakete anzuschauen. Aber wenn er eine Frau vorübergehen sah, die Rhythmus und Linie hatte, so segnete er sie.
Er sprach jetzt etwas lauter, während er fortfuhr: »Wenn ich eine Frau sehe, die sich jeden Tag die Mühe gibt, sich schönzumachen, so muß ich daran denken, was für eine ernste Lektion sie uns Künstlern gibt. Sie verwendet so viel Sorgfalt auf ihre Toilette und ihre Frisur, und das alles nur für ein paar Stunden; aber diese Mühe ist nicht verloren. Wir sollten es ebenso machen – das Leben schmücken, ohne an die Zukunft zu denken. Für die Nachwelt zu schreiben, zu malen oder Bildwerke zu schaffen – das ist nichts weiter als törichte Eitelkeit.«
»Monsieur Dechartre«, fragte Fürst Albertinelli, »was meinen Sie zu einem malvenfarbenen, mit silbernen Blumen durchwirkten Negligé für Miß Bell?«
»Ich denke so wenig an die Zukunft hier auf Erden«, sagte Choulette, »daß ich meine schönsten Gedichte auf Blättchen Zigarettenpapier geschrieben habe. Sie sind in leichtem Rauch aufgegangen, aber meine Verse haben auf diese Weise eine Art metaphysische Existenz behalten.«
Er suchte sich absichtlich diesen Anschein von Nachlässigkeit zu geben. In Wirklichkeit hatte er niemals auch nur eine Zeile von seinen Gedichten verloren. Dechartre war aufrichtiger. Er hatte durchaus keine Lust, sich selbst zu überleben, aber Miß Bell fand das sehr unrecht von ihm. »Um groß und voll zu sein«, sagte sie, »bedarf das Leben ebensogut der Vergangenheit wie der Zukunft. Wir müssen unsere künstlerischen oder poetischen Werke vollbringen zur Ehre derer, die uns vorausgegangen sind, und in Gedanken an die kommenden Generationen. Auf diese Weise werden wir teilnehmen an dem, was war, was ist und was sein wird. Sie wollen nicht unsterblich sein, Monsieur Dechartre – sehen Sie sich vor, daß Gott Ihren Wunsch nicht erhört.«
»Oh, mir genügt es, noch einen Augenblick zu leben«, antwortete er. Dann verabschiedete er sich mit dem Versprechen, morgen in aller Frühe wieder zu erscheinen, um Madame Martin in die Kapelle Brancacci zu führen.
Eine Stunde später war Thérèse in ihrem Zimmer, das mit erlesenem Geschmack eingerichtet war und wie ein Märchengarten aussah. Die Wände waren mit einem Stoff bespannt, auf dem Zitronenbäume ihre mit mächtigen goldenen Früchten beladenen Zweige ausbreiteten. Den Kopf auf dem Kissen, den schönen nackten Arm über den Kopf gebogen, träumte sie beim Schein der Lampe und sah die Bilder ihres neuen Lebens verworren vorübertreiben: Vivian Bell und ihre Glocken, die Gesichter der Präraffaeliten, leicht wie Schatten, die einsamen und gleichgültigen Damen und Kavaliere inmitten frommer Szenen, ein wenig traurig und dem Kommenden zugewandt oder gefälliger und freundschaftlicher in ihrer weichen Lethargie; und dann den Abend in der Villa in Fiesole, den Fürsten Albertinelli, Professor Arrighi, Choulette, die behenden Worte und bizarren Ideen, und Dechartre, mit dem jungen Auge in dem etwas müden Gesicht, mit dem Teint und dem Spitzbart eines Arabers.
Mit seiner hinreißenden Phantasie und seiner Seele, die reicher war als alle, die sich ihr erschlossen hatten, übte er einen Reiz auf sie aus, dem sie nicht länger zu widerstehen vermochte. Sie hatte immer gewußt: Er besaß die Gabe zu gefallen. Jetzt spürte sie: Er wollte gefallen. Und dieser Gedanke erfüllte sie mit solcher Freude, daß sie die Augen schloß, als ob sie ihn hätte festhalten wollen. Aber dann durchfuhr sie ein plötzlicher Schauder. Ihr war, als ob sie auf einmal einen dumpfen Schlag im Innern gefühlt habe, einen Schmerz im Geheimsten ihres Wesens.
Wie ein Traumbild sah sie unvermutet ihren Freund vor sich, wie er mit der Flinte unter dem Arm durch die Wälder ging. Mit seinem festen, regelmäßigen Schritt wanderte er durch die tiefen Alleen dahin. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen, und das beunruhigte sie. Sie zürnte ihm ja nicht mehr, sie war nicht einmal mehr unzufrieden mit ihm. Sie war jetzt nur unzufrieden mit sich selbst. Und Robert ging geradeaus seinen Weg, ohne sich umzuwenden – weiter, immer weiter, bis er nur noch ein kleiner schwarzer Punkt in dem öden Walde war. Sie hielt sich für launenhaft, schroff und hart, daß sie ihn verlassen hatte, ohne ihm Lebewohl zu sagen, ohne ihm auch nur ein Wort zu schreiben. Und er war doch ihr Freund gewesen, der einzige, den sie auf der Welt besaß. ›Nein, ich will nicht, daß er meinetwegen unglücklich ist‹, dachte sie.
Allmählich beruhigte sie sich wieder. Er liebte sie ja, das wußte sie; aber er war nicht sehr sensibel. Es war zum Glück nicht seine Art, sich mit Gedanken zu quälen. »Er amüsiert sich jetzt auf der Jagd«, sagte sie sich, »und dabei fühlt er sich ganz zufrieden. Und dann besucht er seine Tante de Lannoix, die er immer so bewundert.« Sie beruhigte sich und gab sich wieder der zauberisch tiefen Heiterkeit von Florenz hin. In den Uffizien war ein Bild, das Dechartre besonders liebte. Sie hatte es leider nur flüchtig angesehen. Es war ein abgeschnittenes Medusenhaupt, und der Bildhauer hatte ihr gesagt, daß Leonardo in diesem Werk die grübelnde Tiefe und die tragische Zartheit seines Geistes ausgedrückt habe. Sie wollte es sich noch einmal ansehen und ärgerte sich darüber, daß sie es nicht von selbst eingehender betrachtet hatte. Dann löschte sie die Lampe aus und schlief ein.
Gegen Morgen träumte ihr, daß sie in einer verödeten Kirche Robert Le Ménil begegnete. Er war in einen Pelzmantel gehüllt, den sie noch nie an ihm gesehen hatte, und wartete auf sie. Aber eine Schar von Priestern und Gläubigen hatte sie plötzlich voneinander getrennt. Nun wußte sie nicht, wo er hingekommen war. Sie hatte wieder sein Gesicht nicht sehen können, und das beängstigte sie.
Als sie aufwachte, hörte sie vor dem offenen Fenster einen kurzen, traurig eintönigen Vogelschrei und sah in der milchigen Morgendämmerung eine Schwalbe vorüberschießen. Da begann sie zu weinen, ohne Sinn, ohne Grund. Verzweifelt wie ein Kind weinte sie über sich selbst.
11
Am frühen Morgen machte es ihr Freude, sich mit peinlicher und unauffälliger Sorgfalt anzuziehen. Ihr Ankleidezimmer verdankte sein Entstehen einer ästhetischen. Laune Vivian Bells. Mit seiner Fülle von grobglasiertem irdenem Geschirr, von schweren Kupfergefäßen und mit seinen schachbrettartigen Kachelwänden glich es einer Küche, aber einer Küche aus dem Feenreich. Es war bäurisch und dabei märchenhaft; die Gräfin Martin sollte die angenehme Überraschung haben, sich hier wie im Zauberland zu fühlen. Während die Jungfer sie frisierte, hörte sie unter ihrem Fenster Dechartre und Choulette miteinander plaudern. Sie machte wieder auf, was Pauline aufgesteckt hatte, und entblößte kühn ihre feine und klare Nackenlinie. Dann warf sie noch einen letzten Blick in den Spiegel und ging in den Garten hinab.
Der Garten war wie ein glückseliger Friedhof mit Taxus bewachsen. Dechartre zitierte Dantes Verse angesichts von Florenz: »Zur Stunde, da der Geist dem Leibe fremder ist ...«
Choulette saß neben ihm auf der Balustrade der Terrasse, ließ die Beine baumeln, hatte die Nase, in den Bart vergraben und schnitzte an der Gestalt des Elends auf seinem Wanderstecken. Dechartre nahm die Verszeilen wieder auf: »Zur Stunde, da der Geist dem Leibe fremder ist und minder von Gedanken schwer wird, wird er zum Gotte in Visionen ...«
Sie kam in einem maisfarbenen Kleide mit ihrem Sonnenschirm die Buchsbaumhecke entlang. Die zarte Wintersonne hüllte sie in mattes Gold.
Dechartre legte Freude in das »Guten Tag«, das er ihr sagte.
»Sie zitieren da Verse, die ich nicht kenne«, sagte sie. »Ich kenne nur Metastasio. Mein italienischer Lehrer liebte ihn sehr, und eigentlich nur ihn. Was ist das für eine Stunde, da der Geist zum Gott wird in Visionen?«
»Es ist die Stunde der Morgenröte. Vielleicht auch die Morgenstunde des Glaubens und der Liebe.«
Choulette bezweifelte, daß der Dichter Morgenträume gemeint haben sollte, die doch im Erwachen so lebhafte und manchmal unangenehme Eindrücke hinterlassen und die dem Leibe nicht fremd sind. Aber Dechartre hatte die Verse nur in der Begeisterung über die goldene Morgendämmerung zitiert, die er heute über den lichten Hügeln hatte auferstehen sehen. Schon lange quälte er sich mit Bildern, die ihn im Schlafe überfielen, und er war der Ansicht, daß diese Gestalten sich nicht auf die Dinge bezögen, die uns am meisten beschäftigen, sondern im Gegenteil auf Gedanken, die man tagsüber von sich wiese.
Da gedachte Therese wieder ihres Morgentraumes: des Jägers, der sich in der tiefen Allee verlor.
»Ganz gewiß«, sagte Dechartre, »ist das, was wir des Nachts sehen, ein unglückseliger Rest dessen, was wir am Tage vorher vernachlässigt haben. Der Traum ist häufig die Rache der Dinge, die wir verachten, oder der Vorwurf der Wesen, um die wir uns nicht kümmern. Daher wohl auch sein Überraschen und oft seine Melancholie.«
Einen Augenblick dachte sie nach und sagte: »Sie mögen recht haben.« Dann fragte sie Choulette rasch, ob das Bild des Elends auf seinem Stockknauf bald fertig wäre. Das Elend war zu einer Pietà geworden. Choulette erkannte die heilige Jungfrau darin. Er hatte sogar einen Vierzeiler gedichtet, den er in Spiralen darunterschreiben wollte, einen lehrhaft moralischen Vierzeiler. Er wollte fortan nur noch im Stil der Zehn Gebote schreiben, in französischen Versen. Der Vierzeiler war von solch schlichter, guter Art. Er ließ sich bewegen, ihn zu rezitieren :
»Ich weine im Kreuzesstaube.
Weine mit und liebe und glaube
am Erlöserbaum der Erde,
daß er allbeschattend werde.«
Wie am Tage ihrer Ankunft lehnte Thérèse auf der Balustrade der Terrasse und suchte fern in der Tiefe des Lichtmeeres die Gipfel der Vallombrosa, die fast ebenso durchsichtig klar waren wie der Himmel. Jacques Dechartre schaute sie an. Er glaubte sie zum erstenmal zu sehen, so zart fand er ihr Gesicht, in das die Arbeit des Lebens und der Seele Tiefen gegraben hatte, ohne die jugendliche Anmut und Frische zu zerstören. Das Licht, das sie so liebte, meinte es gut mit ihr. Sie war wirklich schön, gebadet in der leichten Helle von Florenz, die schöne Formen liebkost und hohe Gedanken nährt. Ein leichtes Rot stieg in ihre wohlgerundeten Wangen; die blaugrauen Augen lachten, und wenn sie sprach, hatte der Glanz ihrer Zähne eine brennende Süße. Er umfaßte mit einem einzigen Blick ihren biegsamen Körper, die vollen Hüften und den kühnen Schwung ihrer Gestalt. In der linken Hand hielt sie den Sonnenschirm, die rechte, nackt wie die andere, spielte mit Veilchen. Dechartre hatte eine Vorliebe, eine Liebe, eine Leidenschaft für schöne Hände. Hände hatten in seinen Augen einen ebenso frappanten Ausdruck wie Gesichter, sie zeigten Charakter und Seele. Und diese Hände begeisterten ihn. Er fand sie sinnlich und durchgeistigt. Sie schienen ihm nackt zu sein aus Wollust. Anbetend stand er vor den schlanken Fingern, den rosigen Nägeln und der zärtlich weichen, ein wenig vollen Innenhand, die feine Linien wie Arabesken durchliefen und die sich an den Fingerwurzeln in kleinen Hügeln harmonisch wölbte. Er betrachtete sie mit so verzückter Aufmerksamkeit, daß sie sie über dem Schirmgriff schloß. Dann trat er etwas hinter sie und betrachtete sie weiter. Die zarten reinen Linien des Oberkörpers und der Arme, die vollen Hüften, die feinen Knöchel, die schöne Gestalt dieser lebenden Amphora alles gefiel ihm an ihr.
»Der dunkle Fleck dort unten, das sind doch die Boboli-Gärten, nicht wahr, Monsieur Dechartre? Ich habe sie vor drei Jahren gesehen. Und wenn sie auch fast ohne Blumen waren, ich liebte sie wegen ihrer großen, traurigen Bäume.«
Er war beinahe überrascht, daß sie sprach und dachte. Der klare Klang ihrer Stimme setzte ihn in Erstaunen, als hörte er ihn zum ersten Male.
Er sagte, was ihm gerade einfiel, und lächelte gezwungen, weil er den unzweideutig sinnlichen Kern seines Begehrens verbergen wollte. Er benahm sich linkisch und ungeschickt. Sie schien es nicht zu bemerken und war wohl glücklich. Seine tiefe Stimme, die sich verschleierte und fast erstarb, fühlte sie unbewußt wie eine Liebkosung. Und auch sie sagte wie er harmlose Dinge wie:
»Die Aussicht ist wirklich schön. Das Wetter ist angenehm.«
12
Am Morgen, den Kopf auf dem mit einem glockenförmigen Wappen bestickten Kissen, dachte Thérèse an die Spaziergänge vom Tage vorher, an die zarten Madonnen im Kranz der Engel, an die unzähligen Kindergestalten in Stein und Farbe, alle schön, alle glücklich, die unschuldig das Halleluja der Anmut und Schönheit durch die ganze Stadt verkündeten.
In der berühmten Brancacci-Kapelle hatten sie zusammen vor den Fresken gestanden, die in ihrem bleichen Glanz wie ein überirdisches Morgenrot schimmern, und er hatte ihr von Masaccio erzählt. Er sprach so lebendig und anschaulich, daß sie den jugendlichen Meister wirklich vor sich zu sehen glaubte, mit dem leicht geöffneten Munde und den dunkelblauen Augen, die abwesend und in verzückter Ermattung blickten. Sie hatte die Wunder dieses Morgens geliebt, der bezaubernder ist als der Tag. Dechartre war für sie die Seele dieser herrlichen Formen, der Geist dieser edlen Dinge. Durch ihn, in ihm begriff sie die Kunst und das Leben. Sie interessierte sich für das Schauspiel der Welt nur, sofern es ihn interessierte.
Wie war diese Sympathie entstanden? Sie war sich selbst nicht ganz klar darüber. Damals, als Paul Vence ihn ihr vorstellen wollte, hatte sie keine Lust gehabt, ihn kennenzulernen, und keine Vorahnung davon, daß er ihr gefallen würde. Sie hatte sich nur an die zierlichen Bronzen und die feinen, mit seinem Namen gezeichneten Wachsmedaillons erinnert, die sie in den Ausstellungen des Champ-de-Mars und bei Durand-Ruel von ihm gesehen hatte. Aber es war ihr niemals in den Sinn gekommen, daß er selbst sympathisch sein oder einen größeren Reiz auf sie ausüben würde als all die andern Künstler und Kunstliebhaber, die sie manchmal zu ihrer Unterhaltung zu einem kleinen intimen Frühstück bei sich versammelte.
Als sie ihn dann sah, gefiel er ihr; sie hatte den ruhigen Wunsch, ihn an sich zu ziehen, ihn öfter zu sehen. An dem Abend, als er bei ihr dinierte, wurde sie gewahr, daß sie eine edle Neigung für ihn empfand, die ihr selbst wohltat. Aber gleich danach fing er an, sie etwas zu irritieren. Es machte sie ungeduldig, daß er so in sich selbst abgeschlossen war, nur in seiner eigenen Gedankenwelt lebte und sich zuwenig mit ihr beschäftigte. Es reizte sie, ihn aus seinem inneren Gleichgewicht aufzustören.
In diesem Zustand von Ungeduld und unter dem drückenden Gefühl ihrer Vereinsamung hatte sie ihn dann eines Abends vor dem Gitter des Musée des Religions getroffen, wo er ihr von Ravenna erzählt hatte und von der Kaiserin, die auf einem goldenen Sessel in ihrem Grabe thronte. Sein ernstes Wesen, der warme Ton seiner Stimme und der sanfte Blick seines Auges hatten sie bezaubert im Dunkel jenes Abends; aber er war zu fremd, zu fern, zu unbekannt. Fast wie körperliches Unbehagen war es über sie gekommen, und als sie damals an der Buchsbaumhecke entlangging, die die Terrasse abschließt, wußte sie nicht, ob sie sich danach sehnte, jeden Tag mit ihm zusammen zu sein oder ihn niemals wiederzusehen.
Und seit sie sich in Florenz wiedergefunden hatten, war sie nur glücklich, wenn er in der Nähe war, wenn sie seine Stimme hören konnte. Er machte ihr das Leben liebenswert, bunt und vielfältig – und neu, ganz neu. Er offenbarte ihr die erlesenen Wonnen und die süße Melancholie des Denkens; er weckte wollüstige Begierden, die in ihr schliefen. Sie war jetzt entschlossen, ihn an sich zu fesseln. Aber wie? Ihr klarer Geist sah alle Schwierigkeiten voraus. Einen Augenblick versuchte sie, sich selbst zu belügen: Er war ein Träumer und Schwärmer, ein Sonderling, der ganz in der Kunst aufging – es war ja möglich, daß er den Frauen gegenüber nicht leidenschaftlich empfand. Vielleicht würde er ihr Freund bleiben, ohne jemals mehr von ihr zu begehren. Aber sogleich schüttelte sie ihr schönes Haupt, das, von der dunklen Haarflut umwogt, auf dem Kissen ruhte; nein, mit diesem Gedanken wollte sie sich nicht beruhigen. Wenn Dechartre kein Liebender wäre, verlöre er für sie seinen ganzen Zauber.
Sie wagte nicht an die Zukunft zu denken. Sie lebte im Heute; glücklich, voll Unruhe und mit geschlossenen Augen.
So lag sie träumend in dem Halbdunkel, durch das vereinzelte Lichtstrahlen huschten, als ihre Kammerjungfer eintrat und ihr mit dem Morgentee einige Briefe brachte. Auf einem Umschlag, der das Zeichen des Clubs in der Rue Royale trug, erkannte sie Le Ménils gewandte, ungekünstelte Handschrift. Sie hatte diesen Brief erwartet; sie war nur überrascht, daß das, was kommen mußte, nun wirklich kam. Es war wie in ihrer Kindheit, wenn der unausbleibliche Stundenschlag der Uhr zur Klavierstunde rief.
Robert machte ihr berechtigte Vorwürfe. Warum war sie abgereist, ohne es ihn wissen zu lassen, ohne ihm auch nur Lebewohl zu sagen? Seit er wieder in Paris war, hatte er jeden Morgen auf einen Brief von ihr gewartet, aber es war keiner gekommen. Voriges Jahr war er glücklicher gewesen, als er zwei- oder dreimal in der Woche früh beim Aufwachen Briefe von ihr vorfand, so hübsch und wohlgesetzt, daß er bedauerte, sie nicht drucken lassen zu können. Voller Unruhe war er schließlich zu ihr gegangen.
»Ich war ganz bestürzt, als ich hörte, daß Du abgereist seist. Dein Mann hat mich empfangen und mir gesagt, daß Du auf seinen Rat für den Rest des Winters nach Florenz zu Miß Bell gegangen seist. Du wärest in letzter Zeit so blaß und mager geworden, und da habe er gedacht, daß eine Luftveränderung Dir guttun würde. Du wolltest nicht reisen, aber da Dein Zustand sich nicht besserte, habe er ernstlich darauf gedrungen.
Ich habe übrigens nichts davon gemerkt, daß Du schlecht ausgesehen hast. Im Gegenteil, mir schien, Deine Gesundheit ließ nichts zu wünschen übrig. Und außerdem ist Florenz durchaus kein günstiger Winteraufenthalt. Ich verstehe nicht, weshalb Du fortgegangen bist, und es beunruhigt mich aufs höchste. Ich bitte Dich, nimm diese Unruhe von mir.
Glaubst Du, daß es angenehm für mich war, erst durch Deinen Mann etwas über Dich zu erfahren und von ihm ins Vertrauen gezogen zu werden? Deine Abwesenheit ist ihm sehr unangenehm, und er ist ganz unglücklich, daß die Ansprüche, die das öffentliche Leben an ihn stellt, ihn jetzt in Paris zurückhalten. Im Club habe ich gehört, daß er Aussichten hat, Minister zu werden. Ich habe mich sehr darüber gewundert, denn man pflegt Minister gewöhnlich nicht unter den Leuten der höheren Gesellschaft zu wählen.«
Dann erzählte er von seiner Jagd. Er hatte drei Fuchsfelle für sie mitgebracht. Das eine war ganz besonders schön, von einem tüchtigen Burschen, den er selbst am Schwanz aus seinem Bau gezogen hatte; dabei hatte sich das Tier herumgedreht und ihn in die Hand gebissen. »Eigentlich war die Bestie ganz in ihrem Recht«, fügte er hinzu.
In Paris hatte er Verdruß. Sein kleiner Vetter wollte in den Club aufgenommen werden, und er fürchtete, daß er schwarz ballotiert würde. Die Bewerbung war aber bereits publik geworden, und unter diesen Umständen wagte er ihm nicht den Rat zu geben, sie zurückzuziehen. Damit hätte er eine sehr große Verantwortung übernommen. Andererseits wäre eine Ablehnung äußerst unangenehm.
Zum Schluß bat er sie noch einmal dringend, ihm bald Nachricht zu geben und recht bald wiederzukommen.
Als Thérèse den Brief gelesen hatte, zerriß sie ihn langsam und warf ihn dann ins Feuer. Mit fühlloser Trauer, ohne Mitleid, sah sie träumerisch zu, wie er verbrannte.
Zweifellos hatte er recht. Er sagte, was er sagen mußte, beklagte sich, wie er sich beklagen mußte. Aber was sollte sie ihm darauf antworten? Weiter um Nichtigkeiten mit ihm streiten, immer noch mit ihm schmollen? Als ob jetzt von Schmollen die Rede wäre! Der Grund ihres damaligen Zwistes war ihr inzwischen so gleichgültig geworden, daß sie erst nachdenken mußte, um sich daran zu erinnern. O nein, sie hatte gar keine Lust mehr, ihn zu quälen. Im Gegenteil, sie war jetzt sehr milde gegen ihn gestimmt. Aber es machte sie traurig, und sie erschrak beinahe darüber, daß er ihr so völlig vertraute und sie mit einer unbeirrbaren Ruhe liebte. Er hatte sich nicht verändert, er war noch ganz derselbe wie früher. Aber sie war nicht dieselbe geblieben. Es hatte sich etwas zwischen sie gedrängt, ein fast unmerkliches und doch mächtiges Etwas, wie der Einfluß der Luft, der Leben oder Tod bringt.
Als Pauline wiederkam, um sie anzukleiden, hatte sie noch nicht angefangen, seinen Brief zu beantworten.
Bekümmert dachte sie: ›Er vertraut mir, er ist ruhig.‹ Ja, das war es ja gerade, was sie so ungeduldig machte. Diese einfachen Naturen, die weder an sich noch anderen zweifeln, brachten sie auf.
Als sie dann in den Glockensalon trat, saß Miß Bell dort und schrieb. »Wollen Sie wissen, Darling, was ich gemacht habe, bis Sie kamen? Nichts und alles. Ich habe Verse gemacht. Oh, Darling, wir müssen die Poesie haben, damit wir aussprechen können, was uns das Herz bewegt.«
Thérèse küßte ihre Freundin und legte den Kopf an ihre Schulter: »Darf ich sehen?«
»O ja, Darling, sehen Sie nur. Es sind Verse nach dem Vorbild französischer Volkslieder.«
Und Thérèse las:
»Sie warf den weißen Kiesel
wohl in die blaue Flut.
Er sank, sank in die Wellen;
wo er verloren ruht.
Doch sie, die ihn geworfen,
sie hatte Schmach und Schmerz,
daß sie den falschen Wassern
zuwarf ihr volles Herz.«
»Ist das ein Sinnbild, Vivian? Bitte, erklären Sie es mir.«
»Oh, Darling, warum erklären? Wozu? Ein poetisches Bild muß mehrere Bedeutungen haben, und die, die Sie darin finden, wird für Sie die wahre sein. Aber in diesen Versen liegt noch ein ganz bestimmter Sinn: Man soll das, was man im Herzen trägt, nicht leichtsinnig von sich werfen.«
Es war angespannt. Sie hatten verabredet, die Galerie Albertinelli in der Via del Moro zu besuchen. Der Fürst erwartete sie, und Dechartre sollte sie dort treffen. Während der Wagen über das Steinpflaster der Chaussee abwärts rollte, versprudelte Vivian Bell in munterem Gezwitscher ihre geistreich mutwillige Heiterkeit. Als sie an den rosa oder weiß gestrichenen Häusern vorbeikamen, die von terrassenförmig angelegten Gärten mit Statuen und Springbrunnen umgeben sind, zeigte sie ihrer Freundin die Villa unter den blauschwarzen Pinien, wo die Damen und Kavaliere des Decamerone Zuflucht gesucht hatten, als die Pest Florenz verheerte, und wo sie sich die Zeit vertrieben, indem sie sich galante, übermütige oder tragische Geschichten erzählten.
Dann sprach sie von einem guten Einfall, den sie gestern abend gehabt hatte. »Sie waren mit Monsieur Dechartre in die Brancacci-Kapelle gegangen und hatten Madame Marmet in Fiesole zurückgelassen. Sie ist wirklich eine angenehme alte Dame, so vernünftig und liebenswürdig. Und sie weiß so viele Anekdoten über berühmte Pariser Persönlichkeiten. Wenn sie so erzählt, macht sie es gerade wie mein Koch Pampaloni. Wenn er Spiegeleier serviert, salzt er sie nämlich nicht, sondern stellt das Salzfaß daneben. Madame Marmet spricht mit der sanftesten Zunge; aber sie gibt das Salz auch daneben – in ihren Blicken, nach Pampalonis Rezept. Und jeder kann sich bedienen, wie er mag.
Oh, ich habe Madame Marmet sehr gerne. Gestern als Sie fort waren, fand ich sie ganz allein und traurig in einer Ecke des Salons sitzen. Sie dachte an ihren Mann, und ich sah, daß es traurige Gedanken waren. Da habe ich zu ihr gesagt: ›Madame Marmet, soll ich mit Ihnen an Ihren Mann denken? Ich möchte es sehr gerne tun. Ich habe gehört, daß er ein sehr gelehrter Mann war und Mitglied der Société Royale in Paris. Erzählen Sie mir doch etwas von ihm! Sie erzählte mir dann, daß er sein ganzes Leben den Etruskern gewidmet hatte. Oh, Darling, dieser Monsieur Marmet ist mir gleich lieb geworden, weil er für die alten Etrusker gelebt hat. Und da bin ich auf einen guten Gedanken gekommen und habe zu Madame Marmet gesagt: ›Wir haben hier in Fiesole ein kleines etruskisches Museum im Palazzo Pretorio. Wollen wir zusammen dorthin gehen?‹ Sie antwortete mir, daß es ihr mehr Freude machen würde als alle andern Kunstschätze von ganz Italien. So sind wir zusammen in den Palazzo Pretorio gegangen. Wir haben dort eine Löwin gesehen und eine ganze Menge groteske kleine Männer aus Bronze, ganz dicke und ganz dünne. Die alten Etrusker waren ein mit Ernst heiteres Volk. Sie machten Karikaturen in Erz. Und Madame Marmet betrachtete all diese Knirpse, von denen einige ihren dicken Bauch kaum mitschleppen können, während man bei andern alle Knochen zählen kann, mit einer Art schmerzerfüllter Bewunderung. Sie sah sie an, als ob – es gibt da einen sehr schönen französischen Ausdruck, den ich suche –, als ob sie die Trophäen und Denkmäler von Monsieur Marmet wären.«
Madame Martin lächelte, aber sie war bekümmert. Der Himmel kam ihr so trübe vor, die Straßen so häßlich, und die Menschen, die vorübergingen, sahen so gewöhnlich aus.
»Oh, Darling, der Fürst wird sich sehr freuen, Sie in seinem Palazzo zu empfangen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Aber warum denn, Darling?«
»Weil ich ihm nicht sehr sympathisch bin.«
Aber Vivian Bell versicherte ihr, daß der Fürst im Gegenteil ein großer Verehrer von ihr sei.
Sie hielten vor dem Palazzo Albertinelli. Im Rustikamauerwerk der düsteren Fassade waren bronzene Halteringe eingelassen, die einst in festlichen Nächten Pechfackeln trugen und die noch heute in Florenz die Wohnungen der vornehmsten Geschlechter bezeichnen. So atmete das Äußere trotzig wilden Stolz; das Innere zeigte sich leer, müßig, gelangweilt. Der Fürst eilte ihnen entgegen und führte sie durch kahle Salons in die Galerie. Er entschuldigte sich, daß er ihnen Bilder zeigte, die ihm zweifelsohne nicht viel Ehre machten. Der Kardinal Giulio Albertinelli hatte die Sammlung zu der Zeit zusammengestellt, als die heute überwundene Vorliebe für Guido Reni und die Carraccis herrschte. Sein Vorfahr hatte besonders die Werke der Bologneser Schule gesammelt. Aber er würde Madame Martin einige Bilder zeigen, die Miß Bell nicht mißfallen hatten, darunter einen Mantegna.
Die Gräfin Martin sah auf den ersten Blick, daß sie eine recht belanglose und zweifelhafte Sammlung vor sich hatte. Sie langweilte sich sofort unter der Unmenge kleiner Bildchen von Parrocel, die in ihrem gemalten Dunkel im Feuerschein ein Stückchen Rüstung und das Hinterteil eines Schimmels sehen ließen.
Dann erschien ein Kammerdiener und überreichte dem Fürsten eine Karte. Er wandte seinen Gästen den Rücken zu, während er laut Dechartres Namen las. Sein Gesicht nahm dabei jenen unzufriedenen, grausamen Zug an, den man sonst nur auf den Marmorbildern der römischen Kaiser sieht. Dann ging er lächelnd Dechartre entgegen, der die Treppe heraufkam. Nero hatte sich schon in Antinous verwandelt.
»Ich habe Monsieur Dechartre gestern aufgefordert, hierherzukommen«, sagte Miß Bell zu ihm, »ich wußte, daß Sie sich darüber freuen würden. Er möchte gern Ihre Galerie sehen.«
In Wirklichkeit war Dechartre nur gekommen, weil er hoffte, Madame Martin zu treffen.
Nun gingen sie alle vier durch die Galerie, zwischen den Bildern von Guido Reni und Albani. Miß Bell zwitscherte dem Fürsten hübsche Sachen zu über all die Patriarchen und heiligen Jungfrauen, deren blaue Mäntel aussahen, als ob ein beständiger Wind sie aufblähte. Dechartre war blaß und nervös, er trat dicht zu Madame Martin heran und sagte leise: »Die Galerie ist nichts weiter als ein Depot, wo sämtliche Kunsthändler der Welt den Ausschuß aus ihren Läden aufhängen, und der Fürst verkauft hier, was sie nicht an den Mann bringen konnten.«
Dann zeigte er ihr eine heilige Familie, die auf einer mit grünem Samt drapierten Staffelei stand und auf dem Rahmen den Namen Michelangelos trug.
»Sehen Sie, diese heilige Familie habe ich bei den Kunsthändlern in London, Basel und Paris gesehen. Und da diese nicht einmal die fünfundzwanzig Louisdor dafür bekommen konnten, die sie vielleicht wert ist, haben sie den letzten der Albertinellis damit beauftragt, sie für fünfzigtausend Francs zu verkaufen.«
Der Fürst hatte gesehen, daß sie miteinander flüsterten. Er erriet, was sie sprachen, und trat mit liebenswürdigem Lächeln auf sie zu: »Von diesem Bild gibt es noch ein zweites Exemplar, das überall ausgeboten worden ist. Ich will nicht behaupten, daß dieses hier das Original ist, aber es ist immer in der Familie geblieben, und die alten Kataloge schreiben es Michelangelo zu. Das ist alles, was ich darüber sagen kann.«
Dann wandte er sich wieder zu Miß Bell, die nach den Primitiven suchte.
Dechartre war in einer unbehaglichen Stimmung. Seit gestern abend dachte er unaufhörlich an Thérèse. Ihr Bild hatte ihn die ganze Nacht nicht losgelassen. Und als er sie jetzt wiedersah, kam sie ihm noch ganz anders bezaubernd vor als in den langen, schlaflosen Stunden. Sie erschien ihm noch begehrenswerter, weniger weich und verschwebend; sie wirkte jetzt stärker auf seine Sinne, heftiger, brennender, und zugleich kam ihre Seele ihm geheimnisvoller und unergründlicher vor. Sie war traurig, sie schien kalt und zerstreut – und er sagte sich, daß er ihr nichts bedeute, daß er lästig und lächerlich werde.
Und bei diesem Gedanken wurde er finster und gereizt. In bitterem Tone flüsterte er ihr zu: »Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich kommen sollte. Eigentlich wollte ich nicht. Warum habe ich es doch getan?«
Sie verstand gleich, was er damit sagen wollte. Sie fühlte, daß er begann, ihre Nähe zu fürchten, und daß er dabei ungeduldig, schüchtern und verlegen war. Aber gerade so wollte sie ihn haben. Sie war ihm dankbar dafür, daß ihre Gegenwart ihn erregte und beunruhigte.
Das Herz klopfte ihr, während er so sprach, aber sie tat, als ob sie glaubte, daß er sich nur ärgere, seine Zeit mit diesen schlechten Bildern vergeudet zu haben. So antwortete sie, die Galerie sei in der Tat nicht interessant. Er hatte schon gefürchtet, ihr Mißfallen zu erregen, und war jetzt ganz beruhigt. Er dachte, daß sie in ihrer Zerstreutheit und Gleichgültigkeit weder den Ton noch die Bedeutung seiner Worte verstanden habe, und sagte: »Nein, sie ist nicht interessant.«
Der Fürst hatte die Damen zum Frühstück eingeladen und forderte Dechartre auf, ebenfalls dazubleiben. Aber er entschuldigte sich.
Als er fortgehen wollte, sah er sich plötzlich mit Madame Martin allein in dem großen, leeren Salon, wo auf den Pfeilertischchen Konfektschachteln herumlagen. Eben vorher hatte er sich vorgenommen, sie zu meiden, aber jetzt dachte er nur noch daran, wann er sie wiedersehen würde. Er erinnerte sie daran, daß sie morgen den Bargello besuchen wollte: »Sie hatten mir erlaubt, Sie zu begleiten.«
Dann fragte sie, ob er nicht gefunden habe, daß sie heute langweilig und verstimmt gewesen sei.
Nein, langweilig hatte er sie durchaus nicht gefunden, aber es war ihm so vorgekommen, als ob sie traurig sei.
»Leider«, fügte er hinzu, »habe ich nicht einmal das Recht zu fragen, warum Sie traurig oder fröhlich sind.«
Sie warf ihm einen schnellen, beinahe harten Blick zu: »Sie werden wohl nicht glauben, daß ich Sie zu meinem Vertrauten machen will, hoffe ich.«
Damit wandte sie sich brüsk um.
13
Nach dem Diner saßen sie im Glockensalon unter den Lampen, deren große Schirme nur ein mattes Licht auf die schmalfingrigen Sieneser Madonnen fallen ließen.
Die gute Madame Mannet saß mit einer weißen Katze auf dem Schoß am Kamin und wärmte sich.
Der Abend war kühl und frisch. Madame Martin lächelte wohlig ermattet; sie sah noch den lichten Himmel, die blauen Berge und die uralten immergrünen Eichen, die ihre mächtigen gewundenen Äste über den Weg streckten. Sie war heute mit Miß Bell, Dechartre und Madame Marmet in der Kartause von Ema gewesen. Und während sie so in seligen Schönheitsträumen schwelgte, vergaß sie die Kümmernisse von vorgestern, die störenden Briefe, die Vorwürfe aus der Ferne. Es kam ihr vor, als ob es auf der Welt nichts anderes gäbe als Kreuzgänge mit Bildwerken in Stein und Farbe und mit einem Brunnen mitten auf dem grasbewachsenen Hof, als Dörfer mit roten Dächern und Wege, an denen sie den Frühling knospen sah, während jemand an ihrer Seite ging und schmeichelnde Worte zu ihr redete.
Dechartre hatte eben für Miß Bell in Wachs die Skizze zu einer kleinen Statue modelliert. Es war eine Beatrice. Vivian malte Engel, und Fürst Albertinelli beugte sich zu ihr, hinab, um zuzusehen. Es lag etwas nachlässig Weiches in seiner Haltung, wie er mit weit herausgebogener Hüfte dastand, sich den Bart strich und seine Augen wie eine Kurtisane spielen ließ. Vivian Bell hatte eben eine Bemerkung über die Ehe und die Liebe gemacht, und nun nahm der Fürst das Wort: »Eine Frau muß immer zwischen zwei Möglichkeiten wählen«, sagte er, »wenn ihr Mann Glück bei Frauen hat, ist sie nicht ruhig, und wenn das Gegenteil der Fall ist, ist sie nicht glücklich.«
»Darling«, fragte Miß Bell, »wie würden Sie in diesem Fall für eine Freundin wählen, die Sie sehr liebhätten?«
»Ich würde ihr wünschen, daß sie beides fände, Glück und Ruhe, und ich glaube auch, daß es möglich ist, wenn sie allen Verrat, allen schmählichen Argwohn und alles niedrige Mißtrauen verachtet.«
»Aber, Darling, der Fürst hat doch eben gesagt, daß eine Frau niemals glücklich und ruhig zugleich sein kann. Sagen Sie doch, was sollte Ihre Freundin in diesem Falle wählen?«
»Man wählt überhaupt nicht, Vivian, man wählt niemals. Verlangen Sie, bitte, nicht von mir, daß ich meine Ansichten über die Ehe aussprechen soll.«
In diesem Moment erschien Choulette. Er sah aus wie eine jener großartigen Bettlergestalten, die man an den Kirchentüren kleiner Städte anzutreffen pflegt. Er hatte im Wirtshaus mit den Bauern Briscola gespielt.
»Ah, da kommt Monsieur Choulette«, sagte Miß Bell, »der wird uns sagen, wie wir über die Ehe denken sollen. Ich bin geneigt, ihn anzuhören wie ein Orakel; denn er bemerkt vieles, war wir andern nicht sehen, und wiederum entgeht ihm vieles, was wir sehen. Nun, Monsieur Choulette, wie denken Sie über die Ehe?«
Er setzte sich und erhob mit sokratischer Miene die Hand: »Meinen Sie den durch die Kirche geheiligten Bund zwischen Mann und Weib? Die Ehe in diesem Sinne ist ein Sakrament, woraus folgt, daß fast immer ein Sakrileg daraus wird. Dagegen die Zivilehe ist einfach eine Formalität. Über die alberne Wichtigkeit, die unsere heutige Gesellschaft ihr beilegt, hätten die Frauen des Ancien régime einfach gelacht. Wir verdanken diese Einrichtung, wie so viele andere, jenem Aufruhr der Spießbürger, jenem Vorstoß der Steuerbeamten und Advokaten, den man die Große Revolution genannt hat und der den Leuten bewundernswert scheint, die davon leben. Sie ist die Mutter aller Dummheiten. Seit hundert Jahren kriechen täglich neue Albernheiten unter ihren blauweißroten Röcken hervor. Die Zivilehe bedeutet in Wirklichkeit nichts weiter als die Eintragung in eine Liste, die der Staat wie so manche andere aufstellt, um über die Verhältnisse der einzelnen unterrichtet zu sein. In einem gesitteten Staat muß eben jeder seine Nummer haben. Aber vor dem Sohne Gottes sind alle diese Nummern gleich. Und vom Standpunkt der Moral hat diese Eintragung in das große Register nicht einmal so viel Einfluß, daß sie eine Frau dazu bewegen würde, sich einen Liebhaber zu nehmen. Was hätte es denn auch für Reiz, ein Gelübde zu brechen, das nur vor dem Standesbeamten abgelegt wird? Um die Freuden des Ehebruchs zu genießen, muß eine Frau fromm sein.«
»Aber«, sagte Thérèse, »wir sind doch alle in der Kirche getraut.« Und dann fügte sie in aufrichtigem Ton hinzu: »Ich begreife nicht, daß sowohl Männer wie Frauen immer diese Torheit begehen, wenn sie schon alt genug sind, um zu wissen, was sie tun.«
Der Fürst sah sie mißtrauisch an. Er war durchaus nicht beschränkt, aber völlig außerstande, zu begreifen, daß man ohne besonderen Zweck und ohne besonderes Interesse über etwas reden konnte, nur um allgemeine Ideen auszusprechen. Es kam ihm vor, als ob die Gräfin Martin seine Pläne erriet und sie durchkreuzen wollte. Und während er schon darüber nachdachte, wie er sich dagegen verteidigen und an ihr rächen wollte, wandte er sich mit samtenem Blick und einschmeichelnder Galanterie an sie: »Madame, Ihre Worte zeigen, daß Sie den Stolz der schönen intelligenten Französinnen besitzen, der sich gegen jedes Joch empört. Die Französinnen lieben die Freiheit, und keine ist ihrer so würdig wie Sie. Ich selbst bin verschiedentlich in Frankreich gewesen. Ich habe die elegante Geselligkeit von Paris kennen und bewundern gelernt, die Salons, die Festlichkeiten, die Kunst der Konversation, das Spiel. Aber wenn wir dann wieder in unsern Bergen, unter unsern heimischen Olivenbäumen sind, so verbauern wir wieder. Wir nehmen unsere ländlichen Sitten wieder an und sehen in der Ehe nur eine morgenfrische Idylle.«
Vivian Bell betrachtete die Wachsstatuette, die Dechartre auf dem Tisch stehengelassen hatte.
»Wirklich, genauso muß Beatrice ausgesehen haben. Wissen Sie, daß es böswillige Menschen gibt, die behaupten, Beatrice habe überhaupt nicht existiert, Monsieur Dechartre?«
Choulette erklärte, daß er zu diesen böswilligen Menschen gehöre. Er glaubte nicht, daß Beatrice wirklicher gewesen sei als alle übrigen Damen, in denen die alten Minnedichter irgendeine lächerlich spitzfindige Scholastikeridee verkörpert hätten.
Er war neidisch auf jedes Lob, das man ihm nicht erteilte, eifersüchtig auf Dante wie auf alles in der Welt, aber sehr beschlagen. Er glaubte den schwachen Punkt in der Rüstung gefunden zu haben und schlug zu:
»Ich vermute, daß die junge Schwester der Engel nur in der Phantasie des altissimo poeta gelebt hat. Sie scheint eine reine Allegorie oder besser noch ein Rechenexempel, ein Gegenstand astrologischer Spekulation gewesen zu sein. Dante, der, unter uns gesagt, ein braver Doktor von Bologna war, hatte unter seiner spitzen Kappe arg viel Mondschein gefangen; er glaubte an die Kraft der Zahl. Der begeisterte Mathematiker träumte von Zahlen, und seine Beatrice ist eine Blüte seiner Arithmetik. Das ist alles.« Er steckte sich eine Pfeife an.
»Wie können Sie nur so etwas sagen, Monsieur Choulette«, rief Vivian Bell. »Sie tun mir weh. Und wenn unser Freund Gebhart Sie hören würde, wäre er sehr böse auf Sie. Ihnen zur Strafe soll uns Fürst Albertinelli den Gesang vorlesen, in dem Beatrice die Mondflecken erklärt. Eusebio, nehmen Sie die Divina Commedia. Es ist das weiße Buch dort auf dem Tisch. Öffnen Sie und lesen Sie.«
Während der Fürst beim Schein der Lampe vorlas, hatte sich Dechartre neben die Gräfin Martin auf das Sofa gesetzt und sprach mit leiser Stimme und voller Enthusiasmus über Dante als den Dichter, der am meisten von allen Plastiker war.
Er erinnerte Thérèse an das Bild, das sie vor zwei Tagen in Santa Maria Novella über der Porta dei Servi gesehen hatten, ein fast verwaschenes Fresko, auf dem man gerade noch den Dichter mit dem Lorbeerkranz, Florenz und die sieben Höllenkreise erkennen konnte. Aber es hatte genügt, um den Künstler in ihm zu begeistern, während sie gar nichts zu unterscheiden vermochte und darum auch nicht weiter gerührt war. Sie gestand ihm dabei auch, daß ihr Dante zu düster sei und sie deshalb nicht sonderlich anzöge. Dechartre, der gewohnt war, daß sie auf alle seine Ideen über Kunst und Dichtung einging, war überrascht und etwas mißvergnügt. »Es gibt große und gewaltige Dinge, die Sie nicht fühlen können«, sagte er mit lauter Stimme.
Miß Bell blickte auf und fragte, was das für Dinge seien, die Darling nicht fühlte. Als sie hörte, daß von Dante die Rede sei, rief sie mit gemachtem Zorn: »Was? Sie verehren ihn nicht – ihn, den Vater, den Meister, der über alles Lob erhaben ist, den strömenden Gott? Darling, ich liebe Sie nicht mehr. Ich verabscheue Sie!«
Und dann, als ob sie Thérèse und Choulette ihr Unrecht klarmachen wollte, erinnerte sie an die liebende Verehrung jenes florentinischen Bürgers, der die Kerzen vom Altar nahm, wo sie zu Christi Ehren entzündet waren, und sie vor Dantes Büste aufstellte.
Der Fürst hatte die unterbrochene Lektüre wieder aufgenommen:
»In ihren Schoß ließ uns die Perle ein,
die ewige ...«
Dechartre wollte Thérèse hartnäckig dazu bringen, etwas zu bewundern, was sie nicht einmal kannte. Gewiß hätte er leichten Herzens Dante, wie alle übrigen Dichter und was es sonst noch auf der Welt geben mochte, für sie hingegeben. Aber ohne daß sie selbst es wußte, so ruhig und begehrenswert in seiner Nähe, reizte sie ihn durch ihre lachende Schönheit. Seine Ideen wollte er ihr aufzwingen, seine leidenschaftliche Liebe zur Kunst, ja, selbst seine Phantasien und seine Launen sollte sie mit ihm teilen. Er redete leise und eindringlich auf sie ein, seine Worte waren gepreßt und von streitbarer Ungeduld.
»Mein Gott, wie sind Sie ungestüm«, sagte sie.
Da beugte er sich zu ihr herab und flüsterte ihr in leidenschaftlichem Ton, den er vergebens zu dämpfen suchte, ins Ohr: »Mit meiner ganzen Seele sollen Sie mich hinnehmen; es würde mich nicht glücklich machen, Sie zu erringen, wenn Sie meine Seele nicht kennen.«
Bei diesen Worten überlief Thérèse ein Schauer – sie wußte selbst nicht, ob es Furcht oder Freude war.
14
Als sie am nächsten Morgen erwachte, sagte sie sich, daß es Zeit sei, an Robert zu schreiben.
Es war ein regnerischer Tag; müde hörte sie zu, wie die Tropfen auf die Terrasse niederfielen.
Vivian Bell hatte ihr den Schreibtisch in raffinierter Sorgfalt mit einem ganzen Lager kunstgewerblicher Schreibwaren ausgestattet. Da waren kleine Briefbogen, die wie Pergamentblätter aus alten Gebetbüchern aussahen, und andere in Blaßviolett, die mit Silberstaub bestreut waren; leichte weiße Federn aus Zelluloid, die man wie Pinsel handhaben mußte; und die regenbogenfarbene Tinte schimmerte, sobald sie auf dem Papier stand, in Azur und Gold.
Thérèse wurde ungeduldig über all diese Zierlichkeiten und Finessen. Sie paßten so schlecht zu dem Brief, den sie schreiben wollte und der einfach und schlicht sein mußte.
Das Wort »Liebster«, mit dem sie Robert in der ersten Zeile anredete, schien ihr auf dem silbergrauen Papier zu schillern wie ein Taubenhals oder wie eine Perlmuttermuschel. Ein halbes Lächeln spielte um ihre Lippen.
Die ersten Sätze machten ihr Mühe, aber den Rest schrieb sie in aller Eile hin. Sie erzählte viel von Miß Bell und dem Fürsten Albertinelli, sprach dann etwas über Choulette und erwähnte, daß sie Dechartre auf der Durchreise in Florenz getroffen habe. Dann rühmte sie einige von den Bildern, die sie in den Museen gesehen hatte – aber ganz gedankenlos und nur um die Seiten zu füllen. Sie wußte ja, daß Robert nichts von Malerei verstand. Seine ganze Bewunderung galt einer kleinen Kürassierstatuette von Detaille, die er einmal bei Goupil gekauft hatte. Sie sah ihn wieder vor sich, den kleinen Reitersmann, den er ihr eines Tages mitten unter Familienphotographien in seinem Schlafzimmer vor dem Spiegel stolz gezeigt hatte. All das erschien ihr aus der Ferne dürftig, langweilig und trostlos.
Zum Schluß sagte sie ihm ein paar freundliche, warme Worte, die ihr wirklich von Herzen kamen. Sie hatte noch nie ein so mildes, versöhnliches Gefühl für ihn empfunden wie jetzt.
In vier Seiten hatte sie wenig gesagt und noch weniger zu verstehen gegeben. Sie teilte ihm nur noch mit, daß sie noch einen Monat in Florenz bleiben würde, da die Luft ihr guttäte. Dann schrieb sie an ihren Vater, an ihren Mann und die Prinzessin Seniavine und ging mit ihren Briefen in der Hand die Treppe hinab. Im Vorzimmer angelangt, warf sie drei auf die silberne Schale, die für die Postsachen bestimmt war. Nur den Brief an Robert Le Ménil ließ sie in die Tasche gleiten, weil sie Madame Marmets Späherblicke fürchtete. Sie dachte, es würde sich wohl bei einem Spaziergang Gelegenheit bieten, ihn in den Kasten zu werfen.
Gleich danach erschien Dechartre, um die Damen in die Stadt zu begleiten. Während er im Vorzimmer wartete, warf er einen Blick auf die Briefe.
Obwohl er nicht glaubte, daß man die Seele eines Menschen aus seiner Handschrift lesen könne, empfand er die Form der Buchstaben wie den Strich einer Zeichnung, der auch seine eigene Anmut haben kann. Und Schriftzüge der Thérèse entzückten ihn; sie kamen ihm vor wie eine Reliquie, die eben noch in ihrer Hand geruht hatte. Er betrachtete die Adressen, ohne sie zu lesen, und es gewährte ihm einen sinnlichen Genuß, den einfachen kühnen Schwung und die Offenheit, die aus ihren Schriftzügen sprach, zu bewundern.
Sie besuchten heute Santa Maria Novella. Die Gräfin Martin war schon einmal mit Madame Marmet dort gewesen, aber Miß Bell hatte ihnen Vorwürfe gemacht, daß sie die schöne Ginevra von Benci nicht gesehen hatten, die auf einem der Wandgemälde im Chor dargestellt war. Vivian behauptete, man dürfe dieses morgendliche Gesicht nur bei Morgenbeleuchtung betrachten.
Während die Dichterin und Thérèse miteinander plauderten, widmete Dechartre sich der guten Madame Marmet. Geduldig hörte er ihre Anekdoten an von den Mitgliedern der Akademie, die sich bei eleganten Damen zum Diner einladen ließen. Und dann weihte sie ihn in ihre Sorgen ein: Sie ging seit einigen Tagen damit um, sich einen Schleier zu kaufen, und konnte in Florenz keinen passenden finden, so daß sie sich nach den Läden in der Rue du Bac zurücksehnte.
Als sie die Kirche wieder verließen, kamen sie an dem Laden des Schusters vorüber, den Choulette sich zum Vorbild genommen hatte. Der brave Mann flickte ein Paar Bauernschuhe; neben ihm hob das Basilikum sein grünes Haupt, und der Sperling mit dem Holzbeinchen piepste.
Madame Martin fragte den Greis, wie es ihm ginge, ob er genug Arbeit habe, um davon leben zu können, und ob er zufrieden sei. Er beantwortete alle ihre Fragen mit dem anmutigen »Ja« der Italiener, mit diesem »si«, das in seinem zahnlosen Munde so milde klang. Dann ließ sie sich die Geschichte von seinem Sperling erzählen. Das arme kleine Tier war eines Tages mit dem Bein in siedendes Pech geraten.
»Ich habe meinem kleinen Gefährten aus einem Streichholz ein Holzbein gemacht, und jetzt kann er mir wieder wie früher auf die Schulter hüpfen.«
»Bei diesem guten alten Mann«, sagte Miß Bell, »lernt Monsieur Choulette Weisheit. Im alten Athen gab es einen Schuster mit Namen Simon, der philosophische Bücher schrieb und ein Freund von Sokrates war. Ich habe immer gefunden, daß Monsieur Choulette etwas von Sokrates hat.«
Thérèse fragte den Schuster nach seinem Namen und bat ihn, seine Lebensgeschichte zu erzählen. Er hieß Serafino Stoppini und war aus Stia. Er war schon sehr alt und hatte viel Schweres erlebt.
Er schob seine Brille auf die Stirn, und nun kamen seine schon fast erloschenen milden blauen Augen unter den geröteten Liedern zum Vorschein.
»Ich hatte Frau und Kinder, aber sie sind nicht mehr. Ich habe manches gewußt, aber jetzt habe ich alles vergessen.«
Miß Bell und Madame Marmet waren fortgegangen, um einen Schleier zu suchen.
›Der alte Mann hat nichts weiter auf der Welt‹, dachte Thérèse, ›als sein Werkzeug, eine Handvoll Nägel, einen Zuber, in dem er sein Leder aufweicht, und einen Blumentopf – und er ist glücklich.‹ Dann sagte sie: »Die Blume, die Sie da haben, duftet so schön, und bald wird sie blühen.«
»Wenn das arme kleine Ding blüht, muß es sterben«, antwortete er.
Dann ging sie fort und ließ ein Geldstück auf dem Tisch zurück. Dechartre begleitete sie. In ernstem, beinah strengem Ton sagte er: »Sie haben es gewußt?«
Sie sah ihn an und wartete, und er fuhr fort: »... daß ich Sie liebe.«
Sie sah ihn an, und ihre Lider zuckten. Einen Augenblick ließ sie ihre hellen Augen auf ihm ruhen, dann nickte sie bejahend mit dem Kopf. Dann ging sie rasch auf Miß Bell und Madame Marmet zu, die am Ende der Straße auf sie warteten. Er machte keinen Versuch, sie zurückzuhalten.
15
Nachdem sie sich von Dechartre getrennt hatte, frühstückte sie mit ihrer Freundin und Madame Marmet bei einer alten Florentinerin, die Viktor Emanuel einst geliebt hatte, als er noch Herzog von Savoyen war. Jetzt hatte sie seit dreißig Jahren ihren Palazzo am Arno nicht verlassen. Sie trug eine violette Perücke, war geschminkt und gepudert, ging in den großen weiten Sälen umher und spielte Gitarre. Die erste Gesellschaft von Florenz verkehrte bei ihr, und auch Miß Bell war oft dort.
Die alte, siebenundachtzigjährige Einsiedlerin fragte Gräfin Martin über die Pariser Gesellschaft aus, deren Tun und Treiben sie in den Zeitungen und im Gespräch mit einer Frivolität verfolgte, die durch ihr Alter ehrwürdig wurde. Sie war in ihrer Einsamkeit dem Kultus der Lebensfreude treu geblieben.
Als sie den Palazzo wieder verließen, führte sie Miß Bell, um dem scharfen Wind, dem Libeccio, der über den Fluß hinwehte, zu entgehen, durch alte enge Straßen zwischen düsteren Häusern, die sich plötzlich überraschend gegen den Himmel hin auftaten und in der klaren Luft einen lächelnden Hügel und drei schlanke Bäume durchblicken ließen. Im Gehen zeigte Vivian an den schmutzigen, mit roten Fetzen überhangenen Fassaden hier und dort ein marmornes Kleinod, eine Madonna, eine Lilie, eine heilige Katharina in einer Blattvolute. Sie gingen durch die engen Gäßchen der Altstadt bis zur Kirche Or San Michele, wo sie sich mit Dechartre verabredet hatten. Thérèse dachte mit tiefstem und bis ins kleinste gehenden Interesse an ihn. Madame Marmet wollte sich einen Schleier besorgen. Man hatte ihr Hoffnung gemacht, daß sie auf dem Corso einen finden würde. Die Angelegenheit brachte sie auf eine Geschichte, eine Zerstreutheit von Monsieur Lagrange, der eines Tages in seiner Vorlesung vom Katheder herab statt seines Taschentuches einen goldgepunkteten Schleier aus der Tasche gezogen und sich damit die Stirn gewischt hatte. Die Zuhörer waren überrascht und tuschelten. Es war der Schleier seiner Nichte, Mademoiselle Jeanne Michot, den sie ihm am Abend vorher anvertraut hatte, als er sie ins Theater begleitete. Und Madame Marmet setzte auseinander, wie er ihn in seiner Manteltasche gefunden, im Gedanken an die Rückgabe zu sich gesteckt und nun aus Versehen entfaltet und seiner lächelnden Hörerschaft entgegengeschwenkt habe.
Bei dem Namen Lagrange erinnerte sich Thérèse an den flammenden Stern, den der Gelehrte verkündet hatte, und trübe sich selbst verspottend, dachte sie, daß jetzt der Moment für den Weltuntergang dasei, wenn sie aus der Affäre gezogen sein wollte. Aber über die köstlichen Mauern der alten Kirche blickte der blaßblaue Himmel, den der Seewind getrocknet hatte, unerbittlich hernieder. Miß Bell wies auf eine der Bronzestatuen, die im Steinwerk der Nischen die Fassade schmückten.
»Sehen Sie doch, Darling, wie jung und stolz der heilige Georg ist. Sankt Georg, der Ritter, von dem einst die jungen Mädchen träumten. Wissen Sie, daß Julia beim Anblick Romeos rief: ›Wahrlich, er ist ein schöner Sankt Georg‹?«
Aber Darling fand ihn korrekt, langweilig und eigensinnig. Und im gleichen Augenblick fiel ihr plötzlich der Brief ein, den sie noch in der Tasche hatte.
»Ich glaube, da kommt Monsieur Dechartre«, sagte die gute Madame Marmet.
Er hatte sie in der Kirche vor dem Tabernakel Orcagnas gesucht. Er hätte aber daran denken sollen, welche unwiderstehliche Anziehungskraft der heilige Georg Donatellos auf Miß Bell ausübte. Auch er war voller Bewunderung für dies berühmte Werk, aber er hatte eine ganz besondere Freundschaft für den ehrlich bäurischen Sankt Markus, den sie in der Nische zur Linken sehen konnten, gegenüber dem Gäßchen mit dem Schwibbogen, der sich an das alte Zunfthaus der Wollenweber anlehnt.
Während sie auf die Statue zugingen, die er ihnen wies, entdeckte Thérèse einen Briefkasten an der Mauer des schmalen Gäßchens, auf das der Heilige hinabsah. Dechartre hatte inzwischen einen Platz ausgesucht, von wo man seinen Markus am besten betrachten konnte, und sprach von ihm mit überströmender Zuneigung.
»Wenn ich nach Florenz komme, gehe ich zuerst hierher«, sagte er. »Nur ein einziges Mal habe ich ihn nicht aufgesucht, aber er wird es mir nicht nachtragen: Er ist ein vortrefflicher Mensch. Vom großen Haufen wird er kaum geschätzt; er zieht die Blicke nicht auf sich. Aber ich fühle mich wohl in seiner Gesellschaft. Er lebt. Und ich kann verstehen, daß Donatello, da er ihm eine Seele gegeben hatte, ihm zugerufen haben soll: ›Markus, warum sprichst du nicht?‹«
Madame Marmet hatte bald genug von dem Heiligen, und der scharfe Wind belästigte sie. So zog sie Miß Bell mit sich fort in die Via Calzaioli, um ihren Schleier zu kaufen. Die beiden entfernten sich und überließen Darling und Dechartre ihrer Begeisterung. Bei der Modistin wollten sie sich wiedertreffen.
»Ich habe den Sankt Markus immer geliebt«, fuhr der Bildhauer fort, »weil ich in ihm, mehr noch als im heiligen Georg, die Hand und den Geist Donatellos erkenne, der sein Leben lang ein guter einfacher Arbeiter war. Und heute liebe ich ihn noch mehr, weil er mich in seiner ehrwürdigen und rührenden Schlichtheit an den alten Schuhmacher von Santa Maria Novella erinnert, mit dem Sie heute morgen so freundlich gesprochen haben.«
»Ach«, sagte sie, »ich weiß nicht einmal mehr, wie er heißt. Mit Monsieur Choulette nennen wir ihn Quentin Matsys, weil er an die Greisengestalten dieses Meisters erinnert.«
Als sie um die Ecke bogen, um die Fassade der Kirche zu betrachten, die auf das alte Zunfthaus der Wollenweber mit seinem Wappenlamm unter dem roten Ziegeldach blickt, entdeckte sie einen Briefkasten, der so verstaubt und rostig aussah, als ob er niemals geleert würde. Thérèse ließ ihren Brief hineingleiten, unter dem arglosen Blick des heiligen Markus.
Dechartre hatte es gesehen, und es fuhr ihm wie ein Stich durchs Herz. Er wollte weitersprechen, er versuchte zu lächeln, aber er sah immer wieder die kleine behandschuhte Hand vor sich, wie sie den Brief in den Kasten warf. Es fiel ihm wieder ein, daß er heute morgen Briefe von Thérèse auf der Schale in Miß Bells Vorzimmer gesehen hatte. Warum hatte sie diesen einen zurückbehalten? Der Grund war nicht schwer zu erraten.
Ganz in Gedanken versunken blieb er stehen und blickte um sich, ohne etwas zu sehen. Er versuchte sich zu beruhigen – vielleicht war es ein ganz gleichgültiger Brief, den sie vor Madame Marmets aufreizender Neugier verbergen wollte.
»Monsieur Dechartre, ich glaube, es ist Zeit, unsere Freundinnen wieder einzuholen.«
Vielleicht hatte sie an Madame Schmoll geschrieben, die mit Madame Marmet überworfen war. Aber gleich darauf fühlte er, wie töricht alle diese Vermutungen waren. Es war ja ganz klar. Sie hatte einen Liebhaber und schrieb an ihn. Vielleicht hatte sie ihm geschrieben: ›Ich habe Dechartre heute gesehen, der arme Kerl hat sich in mich verliebt.‹ – Aber mochte sie nun das geschrieben haben oder etwas anderes – daß sie einen Geliebten hatte, stand fest. Daran hatte er noch gar nicht gedacht. Aber jetzt fühlte er plötzlich einen furchtbaren Schmerz. Sein ganzer Körper und seine ganze Seele erbebten unter dem Gedanken, daß sie einem andern angehörte. Es war, als ob diese Hand, diese kleine Hand, wie sie den Brief in den Kasten gleiten ließ, sich seinem Gedächtnis eingebrannt hätte.
Sie begriff nicht, weshalb er mit einemmal so stumm und finster geworden war. Erst als sie sah, daß er einen beinah ängstlichen Blick auf den Briefkasten warf, erriet sie den Grund. Und sie fand es sonderbar, daß er eifersüchtig war, ohne irgendein Recht dazu zu haben. Aber es war ihr nicht unangenehm.
Als sie auf den Corso kamen, erkannten sie schon von weitem Miß Bell und Madame Marmet, die gerade aus dem Laden der Modistin kamen.
Und nun sagte Dechartre mit fordernder und dabei flehender Stimme zu Thérèse: »Ich muß mit Ihnen reden, mit Ihnen allein sein. Kommen Sie morgen abend um sechs Uhr an den Lungarno Acciaoli.«
Sie gab keine Antwort.
16
Als sie in ihrem hellbraunen Reisemantel um halb sieben am Lungarno Acciaoli ankam, begrüßte Dechartre sie mit einem so strahlenden und zugleich so demütigen Blick, daß sie gerührt war.
Die untergehende Sonne warf ihren roten Schein auf die mächtig angeschwollenen Fluten des Arno.
Zuerst schwiegen sie beide. Während sie dann an der eintönigen Reihe der Palazzi entlang zum Ponte Vecchio gingen, begann sie das Gespräch: »Sie sehen, daß ich gekommen bin. Ich dachte, ich müßte es tun. Ich fühle mich nicht ganz schuldlos an dem, was geschehen ist. Ich weiß wohl, daß ich Sie zu Ihrem jetzigen Benehmen veranlaßt und Sie auf Gedanken gebracht habe, die Ihnen sonst ferngelegen hätten.«
Er schien sie nicht zu verstehen, und sie fuhr fort: »Ja, ich bin egoistisch und unvorsichtig gewesen. Ich war gern mit Ihnen zusammen. Ihr Geist hat mich angezogen, und ich konnte Ihre Gesellschaft nicht entbehren. So habe ich getan, was ich konnte, um Sie an mich zu ziehen, Sie zu fesseln. Ich habe mit Ihnen kokettiert. Ich war dabei weder kalt noch berechnend, aber ich war kokett.«
Er schüttelte den Kopf und behauptete, daß er nichts davon bemerkt habe.
»Ja, gewiß, ich kokettierte mit Ihnen, und doch ist das sonst nicht meine Art. Aber mit Ihnen habe ich es getan. Ich sage nicht, daß Sie versucht hätten, das auszunutzen, obgleich Sie vollkommen dazu berechtigt gewesen wären. Sie haben sich auch nichts darauf eingebildet. Überhaupt habe ich nicht gefunden, daß Sie eitel sind. Vielleicht haben Sie es gar nicht bemerkt. Männer, die geistig hochstehen, haben oft keinen besonderen Scharfblick. Aber ich weiß sehr wohl, daß ich so gewesen bin, wie ich nicht hätte sein sollen. Und ich bitte Sie deshalb um Verzeihung. Deshalb bin ich hierhergekommen. Lassen Sie uns gute Freunde bleiben, weil es noch nicht zu spät ist.«
Aber in schwermütig mildem Ton sagte er ihr jetzt, daß er sie liebe. Im Anfang hatte ihm diese Liebe Stunden harmlosen und köstlichen Glückes gebracht. Er hatte sich nur danach gesehnt, sie zu sehen und immer wieder zu sehen. Aber dann hatte ihre Nähe angefangen, ihn zu beunruhigen, sie hatte ihn hin und her gerissen und aus dem inneren Gleichgewicht gebracht. Plötzlich und gewaltsam war es über ihn hereingebrochen, eines Tages, als sie auf der Terrasse in Fiesole saßen. Und jetzt hatte er nicht mehr den Mut, schweigend zu leiden. Alles in ihm schrie nach ihr. Er war nicht mit einer bestimmten Absicht gekommen. Und wenn er ihr von seiner Leidenschaft gesprochen hatte, so war es gegen seinen Willen geschehen, weil er nicht anders gekonnt hatte. Es hatte ihn unwiderstehlich getrieben, mit ihr über sie selbst zu sprechen, weil sie das einzige Wesen auf der Welt war, das für ihn existierte. Er lebte nicht mehr in sich selbst, er lebte nur noch in ihr. So mochte sie es denn jetzt erfahren, daß er sie liebte. Ja, er liebte sie, aber es war keine weiche, ziellose Schwärmerei – nein, es war eine unerbittliche, heiße Glut, die ihn zu ihr hintrieb. Ach, seine Phantasie zeigte ihm alles so klar und deutlich. Er wußte, er sah beständig, was er begehrte, und das war eine Qual.
Und dann schien es ihm, daß sie beide zusammen die Fähigkeit hätten, sich Wonnen zu schaffen, für die es wert war, das Leben gelebt zu haben. Ihr Dasein würde ein herrliches Kunstwerk sein, verborgen vor den Augen der Welt. Sie würden alle ihre Gedanken miteinander teilen, alles gemeinsam empfinden und verstehen und sich so eine wunderbare Welt des Fühlens und Denkens erschaffen.
»Wir würden uns das Leben zu einem Märchengarten machen«, sagte er.
Aber Thérèse tat, als ob sie alles, was er gesagt hatte, nur als unschuldige Phantasien auffaßte.
»Sie wissen sehr wohl, wie Sie mich durch den Reichtum Ihres Geistes angezogen haben. Es ist mir zum Bedürfnis geworden, Sie zu sehen und Ihnen zuzuhören. Ich habe das Ihnen gegenüber nur zu sehr durchblicken lassen. Zählen Sie auf meine Freundschaft, und quälen Sie sich nicht länger.«
Damit reichte sie ihm die Hand, aber er nahm sie nicht und antwortete ungestüm: »Ich will Ihre Freundschaft nicht. Mir liegt nichts daran. Ich will Sie ganz besitzen oder Sie nie wiedersehen. Das wissen Sie selbst sehr gut. Warum halten Sie mir Ihre Hand hin und sagen mir spöttische Worte? Ob Sie es gewollt haben oder nicht, Sie haben ein verzweifeltes Verlangen in mir wachgerufen, eine tödliche Sehnsucht danach, Sie zu besitzen. Sie sind mein Schmerz, mein Leid, meine Qual – und jetzt verlangen Sie von mir, daß ich nichts weiter für Sie sein soll als ein angenehmer Gesellschafter. Jetzt, in diesem Augenblick sind Sie kokett und grausam. Wenn Sie mich nicht lieben können, so lassen Sie mich meiner Wege gehen. Ich werde fortgehen – wohin weiß ich nicht – und Sie vergessen oder Sie hassen. Denn im Grunde meiner Seele schlummert ein Gefühl von Haß und Zorn gegen Sie. Oh, ich liebe Sie – liebe Sie!«
Sie glaubte alles, was er sagte; sie fürchtete, daß er wirklich fortgehen würde, und das Leben erschien ihr so freudlos und leer ohne ihn. So sagte sie: »Sie sind mir auf meinem Lebensweg begegnet, und ich will Sie nicht wieder verlieren. Nein, ich will es nicht.«
Schüchtern und zugleich ungestüm stammelte er, die Worte erstarben ihm in der Kehle.
Von den fernen Bergen sank die Dämmerung herab; auf dem Hügel von San Miniato erlosch der letzte Widerschein der Sonne.
»Wenn Sie mein Leben kennen würden«, sagte Thérèse, »wenn Sie wüßten, wie leer es war, ehe ich Sie traf, dann wüßten Sie auch, was Sie für mich sind, und Sie würden nicht mehr daran denken, mich zu verlassen.«
Aber der ruhige Ton ihrer Stimme und das gleichmäßige Geräusch ihrer Schritte auf dem Pflaster reizte ihn nur noch mehr. Und nun schrie er ihr ins Gesicht, wie er litt, wie das Verlangen nach ihr in ihm brannte, wie der Gedanke ihn quälte. Er sah sie ja überall vor sich, Tag und Nacht, zu jeder Stunde, und dann rief er nach ihr und breitete die Arme nach ihr aus. Ja, jetzt hatte er sie kennengelernt, die himmlische Krankheit.
»Ihre kühne Eleganz, die Anmut Ihrer Gedanken, Ihren stolzen Geist, ich atme es ein wie den Duft Ihres Körpers. Wenn Sie sprechen, ist mir, als ob Ihre Seele Ihnen auf die Lippen trete, und ich möchte vergehen, weil ich sie nicht von Ihrem Munde wegküssen darf. Ihre Seele ist für mich nur der duftende Atem Ihrer Schönheit. Meine Sinne waren ruhig, aber jetzt haben Sie alles in mir aufgewühlt. Und ich fühle, daß meine Liebe zu Ihnen primitiv und wild ist.«
Sie blickte ihn sanft an und antwortete nicht.
In diesem Augenblick sahen sie in der Ferne Lichter aufblitzen und vernahmen düstere Gesänge, die durch die hereinbrechende Nacht auf sie zu kamen. Und nun nahte eine Schar schwarzer Büßer, wie Gespenster, die vom Wind getrieben werden. Vor ihnen her schwankte das Kruzifix. Es waren die Barmherzigen Brüder, die mit verhülltem Gesicht, Psalmen singend und Fackeln in den Händen, einen Toten auf den Kirchhof trugen. Nach italienischer Sitte ging der Zug bei Nacht und im raschen Tempo. Jacques und Thérèse drückten sich an die Mauer, um den düster schaurigen Wirbel von Priestern, Chorknaben und vermummten Gestalten vorüber zu lassen. Der Sarg, die Kreuze und Fahnen schwankten hin und her, während sie über den verlassenen Quai dahinschritten, und daneben galoppierte der Tod, der unwillkommene Gast, der noch nie mit Freuden begrüßt wurde auf dieser wollustatmenden Erde.
Die schwarze Lawine war vorüber. Weinende Frauen liefen hinter dem Sarg her, den die Gespenster mit ihren groben Nagelschuhen davontrugen. Und Thérèse seufzte: »Was hilft es, wenn wir uns hier auf der Erde quälen?«
Er schien ihre Worte nicht zu hören und begann in ruhigerem Tone: »Ehe ich Sie kannte, fühlte ich mich nicht unglücklich. Damals liebte ich das Leben; meine Träume und mein Wissensdrang hielten mich daran fest. Ich genoß die schönen Formen und den Geist, der ihnen innewohnt, ich freute mich an jedem anmutig schmeichelnden Schein. Es war mein ganzes Glück, zu schauen und zu träumen. Ich genoß alles und war von nichts abhängig. Unbeschwert ließ ich mich von leichten und ziellosen Wünschen leiten. Ich nahm teil an allem und begehrte nichts. Nur das Begehren schafft Leiden; das weiß ich jetzt. In mir war kein dunkles Wollen; ich war glücklich, ohne es zu wissen. Oh, das war wenig, nur soviel, wie man zum Leben braucht. Aber jetzt besitze ich es nicht mehr. Durch Sie ist mir alles verlorengegangen. Was damals meine Freuden ausmachte, das Interesse, das ich für die Bilder der Kunst und des Lebens empfand, das lebhafte Vergnügen daran, mit meinen eigenen Händen einer Traumgestalt Form zu verleihen. – Sie haben mir alles genommen, und Sie haben mir nicht einmal den Schmerz darum gelassen. Ich sehne mich nicht nach meiner Freiheit, nach meiner einstigen Seelenruhe zurück. Es kommt mir vor, als ob ich nicht gelebt hätte, ehe ich Sie sah. Und jetzt, wo ich zum Leben erwacht bin, kann ich weder in Ihrer Nähe noch ferne von Ihnen leben. Ich bin tausendmal elender als jene Bettler, die wir auf dem Wege nach Ema gesehen haben. Die hatten wenigstens Luft zum Atmen. Aber ich? Sie sind die Lebensluft, die ich brauche und die mir versagt ist. Und doch bin ich froh, daß ich Ihnen begegnet bin. Es ist das einzige Ereignis, das für mein Leben wirklich von Bedeutung gewesen ist. Eben noch habe ich geglaubt, Sie zu hassen. Aber es ist nicht so. Ich bete Sie an, und ich segne Sie selbst für das Leid, das Sie mir angetan haben. Ich liebe alles, was mir von Ihnen kommt.«
Sie waren jetzt bis zu den düsteren Bäumen gekommen, die am Anfang des Ponte San Niccolo stehen. An der anderen Seite des Flusses breitete sich ödes Land aus, das im nächtlichen Dunkel einen noch trostloseren Eindruck machte als sonst.
Sie sah, daß er ruhiger geworden war. Eine milde Müdigkeit schien über ihn gekommen zu sein, und sie glaubte, seine Liebe und sein Verlangen seien nur Worte und phantastische Träume gewesen. Sie hatte nicht erwartet, daß er sich so schnell in sein Schicksal ergeben würde, und fühlte sich beinahe enttäuscht, daß sie der Gefahr, die sie gefürchtet hatte, so schnell entronnen war.
Jetzt streckte sie ihm noch einmal die Hand hin und sagte mutiger als das erstemal: »Kommen Sie, lassen Sie uns Freunde sein. Es ist schon spät, wir müssen umkehren. Begleiten Sie mich zu meinem Wagen, zur Piazza della Signoria. Ich werde immer Ihre Freundin sein, wie ich es bis jetzt gewesen bin. Ich fühle keinen Groll gegen Sie.«
Aber er zog sie mit sich fort auf die einsame Ebene zu, die sich an den Ufern des Flusses hindehnte.
»Nein, ich lasse Sie nicht gehen, ehe ich Ihnen alles gesagt habe. Aber ich kann nicht mehr reden, ich finde nicht die richtigen Worte. Ich liebe Sie, und ich will Sie besitzen. Ich will wissen, daß Sie mir gehören – ich schwöre Ihnen, daß ich nicht noch eine Nacht in diesen qualvollen Zweifeln zubringen will.«
Und nun zog er sie an sich, schloß sie in seine Arme und suchte durch den dunklen Schleier den Glanz ihres Blickes. »Sie müssen mich lieben. Ich will es, und Sie haben es auch gewollt. Sagen Sie mir, daß Sie mein sein wollen – sagen Sie es.«
Sie hatte sich sanft von ihm losgemacht und antwortete mit schwacher Stimme: »Ich kann nicht, nein, ich kann nicht, Sie sehen, daß ich aufrichtig zu Ihnen bin. Ich habe Ihnen eben gesagt, daß ich keinen Groll gegen Sie hege – aber das, was Sie von mir wollen, kann ich Ihnen nicht geben.«
Sie dachte an den, der in der Ferne auf sie wartete, und wiederholte: »Nein, ich kann nicht.«
Er beugte sich zu ihr hinab und sah ihr ängstlich fragend in die Augen, deren Sterne zitterten und sich verschleierten. »Und warum nicht? Ich sehe, daß Sie mich lieben, ich fühle es. Ja, Sie lieben mich. Warum wollen Sie so schlecht an mir handeln, warum mir nicht angehören?«
Er zog sie an seine Brust und suchte ihre Lippen, um ihr seine ganze Seele in einem langen Kusse hinzugeben. Aber dieses Mal entwand sie sich ihm rasch entschlossen und sagte: »Es ist unmöglich. Fragen Sie nicht weiter ich kann Ihnen nicht angehören.«
Seine Lippen bebten, und sein ganzes Gesicht verzerrte sich, während er rief: »Sie haben einen Geliebten, dem alle Ihre Gedanken gehören. Warum haben Sie mich so zum besten gehalten?«
»Ich schwöre Ihnen, daß ich das nicht getan habe. Wenn ich jemals einen Mann lieben würde, so könnten nur Sie es sein.«
Aber er hörte nicht mehr auf das, was sie sagte.
»Lassen Sie mich. Lassen Sie mich.«
Damit floh er von ihr fort in das Dunkel hinein.
Der Arno war über seine Ufer getreten und bildete zahllose Lachen auf dem lehmigen Uferland, in denen der halbverschleierte Mond sich in zitternden Glanzlichtern widerspiegelte.
In blinder, wahnsinniger Eile ging er über den aufgeweichten Boden, mitten durch die Wasserlachen dahin.
Von Schrecken erfüllt, stieß Thérèse einen lauten Schrei aus. Sie rief seinen Namen, aber er wandte nicht einmal den Kopf und gab keine Antwort. Mit unheimlicher Ruhe floh er immer weiter. Nun eilte sie ihm nach. Ihr Rock troff von Wasser, und die Kieselsteine verletzten ihre Füße. Als sie ihn eingeholt hatte, zog sie ihn heftig zu sich heran: »Was wollten Sie tun?«
Er blickte sie an und las in ihren Augen die Angst, die sie um ihn ausgestanden hatte: »Fürchten Sie nichts. Ich ging wie ein Blinder. Ich versichere Ihnen, daß ich mir nichts antun wollte. Oh, seien Sie unbesorgt. Ich bin verzweifelt, aber ganz ruhig. Ich wollte vor Ihnen fliehen, und ich bitte Sie jetzt um Verzeihung. Aber ich kann Sie nicht mehr sehen, nein, ich kann es nicht mehr. Lassen Sie mich, ich bitte Sie darum. Leben Sie wohl.«
Schwach und aufgewühlt antwortete sie: »Kommen Sie. Wir werden tun, was wir müssen.« Aber er verharrte in seinem düsteren Schweigen. Und nun wiederholte Sie: »Kommen Sie, kommen Sie.«
Dann nahm sie seinen Arm, und er fühlte sich neu belebt, als er die sanfte Berührung ihrer warmen Hand fühlte.
»Sie wollen also«, sagte er.
»Ich will Sie nicht verlieren.«
»Wollen Sie mir versprechen –«
»Ich muß wohl.«
Und in all ihrer Angst und Besorgnis mußte sie fast lächeln, wenn sie daran dachte, daß er durch sein sinnloses Benehmen so rasch über sie gesiegt hatte. Dann sagte er: »Morgen!«
Aber sie suchte instinktiv sich zu wehren und antwortete lebhaft: »O nein, nicht morgen.«
»Sie lieben mich nicht. Es reut Sie schon, daß Sie mir etwas versprochen haben.«
»Nein, ich bereue nichts – aber –«
Er bat und flehte. Sie blickte ihn an, dann wandte sie den Kopf, zögerte und sagte ganz leise: »Samstag.«
17
Nach dem Diner saßen sie im Salon. Miß Bell zeichnete bärtige Etruskerköpfe auf ein Kissen, das Madame Marmet sticken sollte. Fürst Albertinelli suchte die Stickwolle aus und legte dabei ein beinahe weibliches Feingefühl für Farbtöne an den Tag.
Der Abend war schon vorgerückt, als Choulette erschien, der wie gewöhnlich in einer kleinen Wirtschaft mit dem Koch Briscola gespielt hatte. Er strahlte, als ob der Geist eines Gottes über ihn gekommen wäre. Dann ließ er sich neben Madame Martin auf dem Sofa nieder und blickte sie zärtlich an, wobei ein wollüstiger Glanz in seinen grünen Augen funkelte. Er fing ein Gespräch mit ihr an und sang ihr Lob in poetischen und malerischen Redewendungen. Es klang wie der Entwurf zu einem Liebeslied, das er an ihrer Seite improvisierte. In abgerissenen, gequälten und seltsamen Sätzen sprach er ihr von dem Zauber, den sie ausströmte.
›Auch er!‹ dachte sie.
Und nun machte es ihr Spaß, ihn zu necken. Sie fragte ihn, ob er in den elenden Vierteln von Florenz nicht auch jene Sorte von Frauen gefunden habe, an die er sich am liebsten zu halten pflegte. Denn seine Vorliebe war bekannt, er mochte es leugnen oder nicht; man wußte, an welcher Tür er den Strick seiner Franziskanerkutte gefunden hatte. Seine Freunde hatten ihn öfters mit zweifelhaften Damen auf dem Boulevard Saint-Michel gesehen. Und seine Neigung für diese unglücklichen Geschöpfe ging durch seine schönsten Gedichte.
»Oh, Monsieur Choulette, soweit ich das beurteilen kann, taugen Ihre Auserwählten sehr wenig.«
Aber er antwortete in feierlichem Ton: »Sie mögen die Verleumdungen, die Monsieur Paul Vence über mich ausgestreut hat, mir mit vollen Händen ins Gesicht werfen. Das wird mich wenig kümmern. Sie brauchen nicht zu wissen, wie keusch ich bin und wie rein meine Seele ist. Aber urteilen Sie nicht so leichtfertig über die, die Sie ›jene Elenden‹ nennen. Gerade, weil sie unglücklich sind, sollten sie Ihnen heilig sein. Das verachtete und verlorene Weib ist wie weicher Ton in den Händen des himmlischen Töpfers, es ist Opferlamm und Sühnealtar zugleich. Die Prostituierten stehen Gott näher als die ehrbaren Frauen, denn sie haben allen Stolz und Hochmut von sich geworfen. Sie suchen ihren Ruhm nicht in nichtigem Schein wie die ehrbaren Frauen; dafür besitzen sie Demut, und das ist der Eckstein der Tugend, die dem Himmel wohlgefällig ist. Eine kurze Zeit der Reue genügt für sie, und dann werden sie dort die Ersten sein; denn ihre Sünden sind freudlos für sie und ohne Arg; deshalb tragen sie die Verzeihung und die Sühne in sich. Ihre Fehler sind zugleich ihr Leid, und das Leid wird ihnen zum Verdienst angerechnet werden. Als willenlose Werkzeuge der brutalen Genußsucht haben sie selbst jeder Wollust entsagt, und dadurch gleichen sie jenen Männern, die zur höheren Ehre Gottes Eunuchen wurden. Sie sind sündige Menschen wie wir alle, aber die Schande ist der Balsam, der ihre Schuld lindert, und das Leid läutert sie wie mit feurigen Kohlen. Und deshalb wird Gott sie erhören, wenn sie den Blick gen Himmel richten. Zur Rechten des Vaters ist ihnen der Thron bereitet, und im Himmelreich werden Kaiser und Königinnen glücklich sein, wenn sie zu den Füßen der Vorstadtdirnen sitzen dürfen. Denn Sie müssen nicht glauben, daß die himmlischen Wohnungen nach menschlichen Plänen eingerichtet sind. Weit gefehlt, Madame.«
Schließlich mußte er jedoch zugeben, daß es mehr als einen Weg gäbe, um das Heil zu erlangen. Die Liebe war einer von diesen Wegen.
»Die menschliche Liebe ist staubgeboren«, sagte er, »aber durch allen Schmerz hindurch steigt sie empor und führt zu Gott.«
Der Fürst war aufgestanden. Er küßte Miß Bell die Hand und sagte: »Auf Samstag.«
»Ja, Samstag, also übermorgen«, antwortete Vivian.
Thèrése erbebte. Samstag! Sie sprachen so ruhig darüber, als ob er schon ganz nah und ein Tag wie alle andern sei. Bis jetzt hatte sie nicht daran denken wollen, daß der Samstag so bald und so ganz von selbst kommen würde.
Eine halbe Stunde nachdem man sich getrennt hatte, lag Thérèse müde und wie betäubt in ihrem Bett und dachte nach. Plötzlich hörte sie leise an ihre Tür klopfen, und gleich darauf kam Vivians zierlicher Kopf unter der Portiere mit den großen Zitronenbäumen zum Vorschein.
»Hoffentlich störe ich Sie nicht, Darling? Sind Sie sehr müde?«
O nein, Darling hatte keine Lust zum Schlafen. Sie richtete sich auf und stützte sich auf die Ellbogen. Vivian setzte sich zu ihr aufs Bett, so vogelleicht, daß es unter ihr kaum nachgab.
»Darling, ich weiß, daß Sie viel Verstand haben. O ja, ich weiß es sehr wohl. Sie sind ebenso vernünftig, wie Monsieur Sadler ein guter Violinspieler ist. Er spielt zuweilen auch falsch, wenn er Lust dazu hat, und Sie tun es ebenso. Wenn Sie einmal nicht ganz richtig urteilen, so tun Sie es nur, um sich einen Virtuosenscherz zu machen. O Darling, Sie haben so viel Verstand und Urteil. Und ich möchte Sie um einen Rat bitten.«
Thérèse war überrascht und fühlte sich etwas beunruhigt. Sie protestierte in aller Aufrichtigkeit dagegen, daß sie viel Verstand habe. Aber Vivian hörte nicht auf das, was sie sagte.
»Ich habe viel François Rabelais gelesen, my love, durch die Lektüre von Rabelais und Villon habe ich Französisch gelernt. Es sind zwei alte gute Sprachlehrer. Darling, kennen Sie Pantagruel? Oh, Pantagruel ist eine schöne vornehme Stadt mit vielen Palästen, die im Glanz des Morgenrotes daliegt, ehe die Straßenkehrer dagewesen sind. O nein, Darling, der Schmutz ist noch nicht weggekehrt, und die Dienstmädchen haben die Marmorfliesen der Vorhöfe noch nicht gescheuert. Und ich habe gesehen, daß die Damen in Frankreich den Pantagruel nicht lesen. Sie kennen ihn auch nicht? Wirklich nicht? Oh, es ist nicht nötig. Nun, im Pantagruel fragt Panurge, ob er sich verheiraten soll, und er macht sich damit lächerlich. Ich werde mich ebenso lächerlich machen, aber ich möchte dieselbe Frage an Sie stellen.«
Thérèse vermochte ihr Unbehagen nicht zu verbergen, während sie antwortete: »Oh, um so etwas dürfen Sie mich nicht fragen, Liebste. Ich habe Ihnen meine Meinung darüber schon gesagt.«
»Aber, Darling, Sie haben nur gesagt, daß die Männer unrecht täten, sich zu verheiraten. Und das kann ich doch nicht auf mich beziehen.«
Madame Martin warf einen Blick auf Miß Bells kleinen knabenhaften Kopf. Der Ausdruck schamhafter Verliebtheit nahm sich so sonderbar auf ihrem Gesicht aus.
Dann gab sie ihr einen Kuß und sagte: »Aber, Liebste, es gibt keinen Mann auf der ganzen Welt, der zartfühlend und edel genug für Sie wäre.« Und mit liebevollem Ernst fügte sie hinzu: »Sie sind doch kein Kind mehr. Wenn jemand Sie liebt und Sie wirkliche Neigung für ihn fühlen, so tun Sie, was Sie für das Rechte halten, aber sehen Sie sich vor, daß sich in diese Liebe nicht etwa Interessen und Berechnungen mischen, die nichts mit wahrem Gefühl zu tun haben. Das rate ich Ihnen als Ihre Freundin.«
Miß Bell verstand nicht gleich. Dann wurde sie rot und erhob sich. Sie war schockiert.
18
Am Samstag um vier Uhr fand Thérèse sich, wie sie versprochen hatte, an der Pforte des englischen Friedhofs ein. Dechartre erwartete sie vor dem Gitter. Er war ernst und etwas verwirrt und sagte kaum ein Wort. Und sie war froh, daß er seine Freude nicht an den Tag legte. Dann führte er sie an der kahlen Mauer des Kirchhofs entlang bis zu einer schmalen Straße, die ihr völlig unbekannt war. Auf einem Schild las sie: Via Alfieri. Nachdem sie etwa fünfzig Schritt weit gegangen waren, blieb er vor einem dunklen Eingang stehen. »Hier«, sagte er.
Mit unsagbarer Traurigkeit blickte sie ihn an. »Sie wollen also, daß ich mitkommen soll?«
Sie sah, daß er fest entschlossen war, und folgte ihm, ohne weiter etwas zu sagen, in den dunkelfeuchten Flur. Nun kamen sie über einen Hof, wo Gras zwischen den Steinen wuchs. Im Hintergrund erhob sich ein Gartenhaus mit drei Fenstern, dessen säulengetragener Giebel mit Ziegen und Nymphen geschmückt war. Als sie auf der moosbewachsenen Terrasse standen, steckte er den Schlüssel ins Schloß. Er knirschte und wollte nicht schließen.
»Er ist verrostet«, murmelte er.
»Hierzulande sind alle Schlüssel verrostet«, sagte sie gedankenlos und ohne etwas damit sagen zu wollen.
Dann stiegen sie die Treppen hinauf, die mit ihrem Mäandergesims so still dalag, als ob seit langem keines Menschen Fuß sie betreten hätte. Er stieß eine Tür auf und ließ Thèrése in das Zimmer treten. Ohne um sich zu blicken, ging sie gleich auf das Fenster zu, das auf den Kirchhof hinaussah. Jenseits der Mauer ragten die Wipfel der Pinien empor, die in diesem Lande, wo Schmerz und Lust sich brüderlich zueinander gesellen und das süße Leben den Menschen bis an die Pforte des Grabes geleitet, durchaus keinen düsteren Eindruck machen.
Dechartre faßte sie an der Hand und führte sie zu einem Lehnstuhl. Aber sie blieb stehen und betrachtete das Zimmer, das er eingerichtet hatte, um ihrer Liebe ein Heim zu bereiten. Die Wände waren mit schönen alten Batikstoffen behängt, auf deren gemalten Komödiantenfiguren die freundliche Wehmut vergangener Freuden sprach. In einer Ecke des Zimmers hatte er ein halbverblichenes Pastell aufgehängt, das sie zusammen bei einem Antiquar gesehen hatten und das sie wegen seiner vergänglichen Anmut den Schatten der Rosa Alba nannte. Dann war da ein großer Lehnsessel und einige weiße Stühle; auf einem kleinen Tischchen standen bunte Tassen und venezianische Gläser. In allen Ecken papierne Wandschirme bemalt mit Masken, grotesken Figuren und Schäferszenen, in denen der leichtfertige Geist des alten Florenz, Bologna und Venedig zur Zeit der Großherzöge und der letzten Dogen sich widerspiegelte.
Thérèse bemerkte, daß er das Bett sorgfältig hinter einem von diesen Schirmen mit den lustigen Bildern verborgen hatte. Dazu noch einige Teppiche und ein Spiegel, das war die ganze Einrichtung. Mehr hatte er nicht gewagt, in dieser Stadt, wo eifrige Kunsthändler ihn geradezu verfolgten.
Nun schloß er das Fenster und zündete das Feuer an. Sie setzte sich in den Lehnstuhl, und er kniete vor ihr nieder, faßte ihre Hände, küßte sie und blickte sie lange mit ängstlicher und stolzer Bewunderung an. Dann warf er sich nieder und drückte seine Lippen auf die Spitze ihres Schuhes.
»Was machen Sie da?«
»Ich küsse Ihre Füße, die zu mir gekommen sind.«
Und nun stand er auf und zog sie sanft an sich. Er suchte ihre Lippen und drückte einen langen Kuß darauf. Sie blieb regungslos mit zurückgebogenem Kopf und geschlossenen Augen. Der Hut war ihr herabgeglitten, und ihr Haar hatte sich gelöst. – Und dann gab sie sich ihm hin, ohne sich weiter zu sträuben.
Zwei Stunden später, als die Sonne unterging und die Schatten auf dem Pflaster ins Riesenhafte wuchsen, stand Thérèse, die allein hatte gehen wollen, vor den beiden Obelisken der Santa Maria Novella. Sie wußte selbst nicht, wie sie dahin gekommen war.
An der Ecke des Platzes saß der alte Schuster und zog mit ewig gleicher Gebärde seinen Pechdraht, während der Sperling auf seiner Schulter saß. Der alte Mann lächelte.
Sie trat in den Laden und setzte sich auf einen Schemel. Dann sagte sie auf französisch: »Quentin Matsys, mein Freund, was habe ich getan, und was soll daraus werden?«
Er blickte sie ruhig und mit gütigem Lächeln an, ohne zu verstehen, ohne Besorgnis. Er wunderte sich über nichts mehr.
Sie schüttelte den Kopf. »Mein guter Quentin, ich habe es getan, weil er unglücklich war und weil ich ihn liebte. Ich bereue nichts.«
Und er antwortete wie immer sein melodisches »si, si«.
»Nicht wahr, Quentin, es war nicht unrecht von mir? Aber was soll jetzt geschehen, o mein Gott.«
Sie wollte wieder gehen. Da machte er ihr ein Zeichen, daß sie noch einen Augenblick bleiben möchte. Dann pflückte er vorsichtig ein Zweiglein von seinem Basilikum und reichte es ihr. »Weil es so schön duftet, Signora.«
19
Es war am nächsten Tage.
Choulette hatte seinen Knotenstock sorgfältig neben seine Pfeife und den alten gestickten Reisesack auf den Tisch des Salons gelegt. Dann begrüßte er Madame Martin, die am Fenster saß und las. Er wollte nach Assisi. Mit einem Gewand aus Ziegenfell angetan, sah er aus wie ein Schäfer aus einem alten Weihnachtsbild.
»Leben Sie wohl, Madame, ich will Fiesole verlassen. Ich verlasse Sie, Dechartre, den viel zu schönen Fürsten Albertinelli und Miß Bell, die niedliche kleine Menschenfresserin, und gehe in die Berge von Assisi. Der Dichter hat gesagt, man soll es nicht mehr Assisi nennen, sondern Morgen, weil von dorther die Sonne der Liebe aufgegangen ist. Ich will vor der heiligen Krypta niederknien, wo Sankt Franziskus ruht. Nackt liegt er dort in einem steinernen Schrein, und ein Stein dient ihm als Kopfkissen. Denn er wollte aus dieser Welt, der er die große Offenbarung der Güte und der Freude gebracht hat, nicht einmal ein Linnentuch mitnehmen.«
»Adieu, Monsieur Choulette. Bringen Sie mir eine geweihte Münze von der heiligen Klara mit. Ich liebe sie sehr.«
»Da haben Sie recht, Madame. Die heilige Klara war eine kluge und energische Dame. Als der heilige Franziskus krank und beinahe erblindet auf ein paar Tage nach San Damiano kam, um seine Freundin zu besuchen, baute sie ihm mit ihren eigenen Händen eine Hütte in ihrem Garten. Er war heiter. Seine quälende Schwäche und das Brennen in den Augenlidern scheuchten den Schlaf von seinen Augen, riesige Ratten kamen des Nachts und wollten ihn anfallen. Und da dichtete er den jubelnden Lobgesang auf die brüderliche strahlende Sonne und das schwesterliche Wasser – das Reine, das Keusche, das Heilspendende. Selbst in den schönsten von meinen Gedichten, im ›Verschlossenen Garten‹, ist nicht so viel ungesuchter Reiz und natürliche Schönheit zu finden. Und das versteht sich von selbst, denn die Seele des heiligen Franziskus war weit schöner als die meine. Obgleich alle meine Zeitgenossen, die ich kenne, hinter mir zurückstehen, bin ich doch nichts wert.
Als Franziskus seinen Sonnengesang gedichtet hatte, war er sehr zufrieden und dachte bei sich: ›Ich will mit meinen Brüdern durch die Städte ziehen, mit einer Leier in der Hand wollen wir uns an den Markttagen mitten auf dem Markt aufstellen. Dann werden die guten Leute kommen und uns umringen, und wir werden zu ihnen sagen: ›Wir sind des lieben Gottes Spielleute, und wir wollen euch ein Lied singen. Wenn es euch gefällt, müßt ihr uns eine Belohnung geben.‹ Sie werden einwilligen. Und wenn wir gesungen haben, werden wir sie an ihr Versprechen erinnern und ihnen sagen: ›Ihr schuldet uns eine Belohnung. Und wir erbitten uns als Belohnung von euch, daß ihr euch untereinander liebet.» Um ihr Wort zu halten und um den armen Spielleuten Gottes kein Unrecht zuzufügen, werden sie sich wahrscheinlich hüten, ihren Mitmenschen etwas zuleide zu tun.‹«
Madame Martin erklärte Sankt Franziskus für den liebenswertesten von allen Heiligen.
»Sein Werk«, fuhr Choulette fort, »wurde noch zu seinen Lebzeiten wieder zerstört. Trotzdem starb er zufrieden, denn er war demütig und frohen Herzens. Er war wirklich der milde Sänger Gottes. Und es ist ganz in der Ordnung, daß ein andrer armer Dichter seine Aufgabe fortführt und der Menschheit die wahre Freude und die wahre Religion verkündigt. Und dieser Dichter will ich sein, Madame, wenn anders es mir gelingt, den Stolz und die Vernunft in mir zu ertöten. Denn nur durch jene unbegreiflich hohe Weisheit, die von Gott kommt und vor den Menschen wie Torheit aussieht, vermag man die innere, sittliche Schönheit zu erlangen.«
»Ich möchte Sie nicht entmutigen, Monsieur Choulette, aber mich beunruhigt der Gedanke, was denn in Ihrer neuen Gesellschaft aus den armen Frauen werden soll. Sie werden sie wohl sämtlich ins Kloster stecken.«
»Ja, ich muß gestehen«, erwiderte Choulette, »daß die Frauen ein großes Hindernis für mein Reformationswerk sind. Die heftige Liebe, die man für sie empfindet, ist schädlich und böse. Sie gewähren uns keine wahre Freude und keinen friedlichen Genuß. Ich habe um ihretwillen zwei- oder dreimal ein abscheuliches Verbrechen begangen, von dem niemand etwas weiß. Und ich zweifle sehr, Madame, ob ich Sie in meinem zukünftigen Kloster Santa Maria degli Angeli zum Souper einladen werde.«
Dann nahm er seine Pfeife, seinen Reisesack und den Stock mit dem geschnitzten Menschengesicht.
»Was Liebe sündigt, wird vergeben werden. Oder vielmehr, wenn man wirklich liebt, tut man nichts Böses. Aber in der sinnlichen Liebe ist ebensoviel Haß, Selbstsucht und Zorn enthalten wie wirkliche Liebe. Der Anblick Ihrer Schönheit, der mich einen Abend lang hier auf diesem Kanapee entzückt hat, brachte eine Flut von wilden Gedanken über mich. Ich kam gerade aus dem Albergo, wo ich zugehört hatte, wie Miß Bells Koch zwölfhundert wunderbare Verse über den Frühling improvisierte. Eine himmlische Freude erfüllte mein Herz, aber durch Ihre Gegenwart wurde sie wieder zerstört. Es muß eine tiefe Wahrheit in dem Fluch liegen, der über Eva ausgesprochen wurde. Denn in Ihrer Nähe wurde ich traurig und schlecht. Milde Worte kamen von meinen Lippen, aber es waren lauter Lügen. Im Grunde meines Herzens war ich Ihr Gegner und Ihr Feind, ich haßte Sie. Und wenn ich Sie lächeln sah, hatte ich Lust, Sie zu töten.«
»Wirklich?«
»O Madame, das ist ein sehr natürliches Gefühl, das schon mancher Mann in Ihrer Nähe empfunden haben wird. Aber gewöhnliche Menschen empfinden es, ohne sich dessen bewußt zu sein, während meine lebhafte Phantasie mir mein eigenes Ich unaufhörlich widerspiegelt. Ich weiß sehr wohl, wie es in meiner Seele aussieht, manchmal strahlt sie in erhabener Größe, und dann wieder ist sie ein Abgrund von Abscheulichkeit. Wenn Sie an jenem Abend in mein Herz geblickt hätten, so würden Sie vor Entsetzen aufgeschrien haben.«
Thérèse lächelte: »Leben Sie wohl, Monsieur Choulette, und vergessen Sie die Münze der heiligen Klara nicht.«
Er stellte seinen Reisesack auf die Erde und erhob den Arm mit aufgerecktem Zeigefinger wie jemand, der hinweisen und belehren will. »Von mir haben Sie nichts zu fürchten, aber der Mann, dem Sie Ihre Liebe schenken werden und der Sie wiederliebt, wird Ihnen Böses zufügen. Leben Sie wohl, Madame.«
Dann nahm er sein Gepäck und ging. Sie sah seine hochgewachsene Bauerngestalt hinter den Goldregensträuchern des Gartens verschwinden.
Am Nachmittag fuhr sie nach San Marco, wo Dechartre sie erwartete. Sie sehnte sich nach ihm, und doch fürchtete sie sich davor, ihn so bald wiederzusehen. Aber ihre Angst wurde durch ein tiefes, süßes Gefühl gemildert, wie sie es nie zuvor empfunden hatte. Es war nicht jener jähe Schrecken über den unwiderruflichen Schritt, der sie damals befallen hatte, als sie sich zum erstenmal einem Manne aus Liebe hingegeben. Was jetzt auf sie einwirkte, war ruhiger, unklarer und doch mächtiger. Holde Träume milderten die brennende Erinnerung an seine Liebkosungen. Sie war in einen Abgrund von Unruhe und Besorgnis gestürzt, aber sie fühlte weder Scham noch Reue. Es war nicht ihr Wille, der sie dazu getrieben hatte, sondern eine innere, bessere Gewalt. Sie war nicht berechnend gewesen, sie rechnete auf nichts, wollte nichts für sich. Das sprach sie frei von aller Schuld. Zweifellos war es unrecht von ihr gewesen, ihm anzugehören, obgleich sie nicht frei war; aber sie hatte ja auch ihrerseits nichts verlangt. Vielleicht war sie für Dechartre nur das Traumbild eines heißen und wahren Begehrens. Sie kannte ihn so wenig. Sie hatte noch nicht die Probe gemacht auf seine schönen, feurig schweifenden Phantasien, die im Guten wie im Bösen weit über das Durchschnittsmaß hinausgingen. Wenn er sich jetzt plötzlich wieder von ihr losrisse und aus ihrem Gesichtskreis verschwände, so würde sie ihm keine Vorwürfe machen, ihm nicht einmal zürnen – so glaubte sie wenigstens. Sie wollte die Erinnerung festhalten an das höchste und seltenste Gut, das das Leben zu bieten vermag. Vielleicht war er einer echten, dauernden Neigung gar nicht fähig. Vielleicht hatte er sich eingebildet, sie zu lieben, oder hatte sie nur während jener einen Stunde geliebt. Sie wagte nicht noch mehr zu wünschen; denn ihr Stolz und ihre Offenheit empörten sich gegen die schiefe Situation, in der sie verstrickt war und die ihr klares Denken verwirrte.
Während ihr Wagen auf San Marco zurollte, versuchte sie sich einzureden, daß er kein Wort davon sagen würde, was sie ihm gestern gewesen war, und daß die Erinnerung an jenes Zimmer, wo sie sich geliebt hatten und vor dessen Fenster die schwarzen Pinienwipfel ins Blaue emporragten, für sie beide nur noch der Schatten eines verflogenen Traumes sein würde.
Er stand vor dem Wagentritt und streckte ihr die Hand entgegen. Und noch ehe er ein Wort gesagt hatte, las sie in seinem Blick, daß er sie liebte, sie noch begehrte, und gleichzeitig fühlte sie, daß sie ihn gerade so wollte.
»Sie sind gekommen – du bist da! Ich bin schon seit Mittag hier. Ich habe auf Sie gewartet – ich wußte ja, daß Sie noch nicht kommen würden, aber ich konnte es nirgends aushalten als an dem Ort, wo ich Sie wiedersehen sollte. Nun sind Sie da! Sagen Sie mir ein Wort, damit ich Sie anschauen und Ihre Stimme hören kann.«
»Sie lieben mich also immer noch?«
»Jetzt erst liebe ich dich. Vorher habe ich es mir nur eingebildet. Sie waren mir damals nur ein Traumbild, in das ich alle meine Wünsche hineinlegte. Aber jetzt bist du der Körper, in dem meine Seele wohnt. Ist es denn wirklich wahr, daß Sie mein sind? Was habe ich denn getan, daß mir das höchste, das einzig wahre Gut des Lebens zuteil geworden ist? Und all diese Menschen, von denen die Erde wimmelt, sie bilden sich ein, daß sie leben. Ich bin der einzige, der wirklich lebt! Sag mir, was habe ich getan, daß du mein geworden bist?«
»Oh, daß es so gekommen ist, das hat nur an mir gelegen. Das sage ich Ihnen ganz offen. Es ist meine Schuld allein. Sehen Sie, die Frauen gestehen es nicht immer ein, aber es ist immer ihre Schuld. Aber was auch kommen mag, ich werde Ihnen niemals Vorwürfe machen.«
Eine behende, lärmende Schar Bettler, Führer und Händler löste sich vom Portal und umgab sie mit einer Zudringlichkeit, in die sich doch die den leichtblütigen Italienern immer eigene Grazie mischte. Ihre Schlauheit ließ sie ein Liebespaar wittern, und sie wußten, daß Liebende immer freigebig sind. Dechartre warf ihnen ein paar Münzen hin, und sie wandten sich wieder ihrem glücklichen Müßiggang zu.
Ein städtischer Führer empfing die Besucher. Madame Martin war enttäuscht, daß es kein Mönch war. Die weißen Kutten der Dominikaner in Santa Maria Novella hatten sich so schön unter den Arkaden des Kreuzganges ausgenommen.
Dann gingen sie durch die Zellen, wo Fra Angelico, unterstützt von seinem Bruder Benedetto, für die Klosterbrüder seine reinen, unschuldigen Bilder auf die nackte Kalkwand gemalt hat.
»Erinnern Sie sich noch an jenen Winterabend, als wir uns vor dem Musée Guimet trafen – auf einem schmalen Brett, das über eine Grube in der Straße gelegt war? Und dann begleitete ich Sie bis zu der kleinen Straße, die zwischen Gärten zum Quai Debilly führt. Ehe wir uns trennten, blieben wir noch einen Augenblick an der Quaimauer mit der dürftigen Buchsbaumhecke stehen. Sie blickten auf die winterdürren Sträucher. Und als Sie fortgegangen waren, habe ich sie noch lange angeschaut.«
Sie standen jetzt in der Zelle, die Savonarola bewohnt hatte, als er Prior des Klosters San Marco war. Der Führer zeigte ihnen das Bild und die Reliquien des Märtyrers.
»Aber was haben Sie denn damals an mir gefunden? Es war dunkel.«
»Ich sah Sie gehen, und in der Bewegung beginnen die Formen zu sprechen. Jeder Ihrer Schritte sprach zu mir von den Geheimnissen Ihrer so klaren und bezaubernden Schönheit. Oh, meine Phantasie ist Ihnen gegenüber niemals diskret gewesen. Ich hatte nur nicht den Mut, Ihnen etwas zu sagen. Wenn ich Sie sah, fürchtete ich mich vor Ihnen, als vor der, die alles über mich vermochte. Voller Zagen betete ich Sie an, wenn ich in Ihrer Nähe war, und fern von Ihnen kamen ungezügelte Wünsche über mich.«
»Das habe ich nicht geahnt. Aber wissen Sie noch, wie wir uns zum erstenmal gesehen haben, damals, als Paul Vence Sie bei mir einführte? Sie saßen neben dem Wandschirm und betrachteten die Miniaturbilder, die dort hängen. Und dann sagten Sie: ›Dieses Damenbild von Siccardi gleicht der Mutter von André Chénier.‹ Darauf antwortete ich: ›Es ist die Großmutter meines Mannes. Wie sah denn Cheniers Mutter aus?‹ Und sie sagten: ›Es gibt ein Bild von ihr, sie sieht aus wie eine heruntergekommene Orientalin.‹«
Er bestritt, sich so ungehörig ausgedrückt zu haben.
»Doch, doch! Ich erinnere mich besser als Sie.«
Sie gingen weiter durch das stille, helle Kloster und besuchten auch die Zelle, die der selige Angelico mit dem lieblichsten Bilde geschmückt hat. Und dort, vor der Jungfrau, die in einem blassen Himmel von Gott dem Vater die ewige Krone empfängt, schloß er Thèrése in die Arme und drückte ihr einen Kuß auf den Mund, beinahe vor den Augen der beiden Engländerinnen, die mit dem Baedeker in der Hand durch den Gang kamen.
Dann sagte sie: »Wir dürfen die Zelle des heiligen Antonius nicht vergessen.«
»Thérèse, mitten in meinem Glück leide ich unter allem, was ein Teil von Ihnen ist und was mir nicht gehört. Ich leide darunter, daß Sie nicht ausschließlich durch mich und für mich leben. Ich möchte, daß Sie mir ganz allein gehören und daß auch Ihr vergangenes Leben mein gewesen wäre.«
Sie zuckte leicht mit den Achseln: »Ach, das Vergangene.«
»Die Vergangenheit ist das einzig Wirkliche im Leben. Alles was ist, ist Vergangenheit.«
Sie blickte ihn an, und ihre Augen glichen einem zauberisch bewegten Himmel, in dem Regen und Sonnenschein miteinander wechseln. »Nun, jetzt darf ich es Ihnen ja sagen: Außer mit Ihnen habe ich noch nie das Gefühl gehabt, als ob ich wirklich lebte.« –
Als sie nach Fiesole zurückkam, fand sie einen kurzen drohenden Brief von Le Ménil vor. Er konnte weder ihre lange Abwesenheit noch ihr Stillschweigen begreifen. Wenn sie ihm nicht gleich schreiben würde, daß sie zurückkäme, wollte er ihr nachreisen.
Sie war nicht überrascht, aber der Gedanke drückte sie nieder, daß nun wirklich alles kam, was kommen mußte, und daß ihr nichts von alledem, was sie gefürchtet hatte, erspart bleiben würde. Noch konnte sie ihn ja beruhigen; sie brauchte ihm nur zu sagen, daß sie ihn liebte, daß sie bald nach Paris zurückkehren würde und daß er auf diese unsinnige Idee verzichten müsse, sie in Florenz zu treffen. Florenz war das reine Dorf, wo sie nicht vermeiden konnten, miteinander gesehen zu werden. Aber dazu mußte sie ihm schreiben: »Ich liebe dich.« Sie mußte ihn mit zärtlichen Worten einschläfern. Und dazu hatte sie nicht den Mut. So ließ sie in ihrem Brief die Wahrheit durchblicken. In verblümten Worten beschuldigte sie sich selbst. Sie sprach dunkel davon, wie der Strom des Lebens die Seele mit sich fortrisse und wie wenig der einzelne im bewegten Meer der Dinge bedeutete. Dann bat sie ihn mit liebevoller Traurigkeit, ihr in einem Winkel seines Herzens ein gutes Andenken zu bewahren.
Sie brachte den Brief selbst auf die Post, die am Markt von Fiesole lag. Kinder spielten dort in der Abenddämmerung Himmel und Hölle. Sie blickte von dem Hügel hinab auf das sanftgeschwungene Talbecken, in dem das schöne Florenz wie ein kostbares Kleinod geborgen liegt. Und der Abendfriede ließ sie leise erschauern. Sie warf den Brief in den Kasten, und in diesem Augenblick stand es ihr plötzlich deutlich vor Augen, was sie getan hatte und was daraus folgen würde.
20
Auf der Piazza della Signoria, auf die die erblühte Frühlingssonne ihre gelben Rosen streute, schlug es Mittag. Die Glockenschläge zerstreuten die Menge der ländlichen Korn- und Pastenhändler, die sich zum Markttag dort versammelt hatten. Zu Füßen der Loggia dei Lanzi mit ihren Statuen hatten fliegende Eishändler über rotbezogenen Tischen ihre Stände aufgeschlagen mit der Inschrift: »Bibite ghiacciate!« Leichte Freude war vom Himmel auf die Erde niedergestiegen.
Thérèse und Jacques kamen von einem Morgenspaziergang durch die Boboli-Gärten zurück und gingen an der berühmten Loggia vorbei. Sie betrachtete die Sabinerin von Giovanni da Bologna mit der lebhaften Neugier, die eine Frau für jede andere Frau empfindet. Aber Dechartre sah nur auf Thérèse und sagte:
»Es ist wunderbar, wie das helle Tageslicht Ihrer Schönheit günstig ist und wie es den zarten Schimmer Ihrer Wangen erhöht.«
»Ja«, sagte sie, »bei künstlichem Licht bekommen meine Züge etwas Hartes; ich habe es bemerkt. Ich bin leider keine ›femme de soir‹ – und die Frauen finden gerade am Abend Gelegenheit, sich zu zeigen und zu gefallen. Die Prinzessin Seniavine hat bei Licht den schönsten mattgoldenen Teint, aber im Sonnenschein sieht sie gelb aus wie eine Zitrone. Das muß man ihr freilich lassen, sie macht sich wenig daraus. Sie ist nicht eitel.«
»Aber Sie sind es?«
»O ja, Früher war ich es für mich selbst, jetzt bin ich es für Sie.«
Sie sah immer noch die Sabinerin an, diese hochgewachsene, kräftige Gestalt, die mit Armen und Beinen sich der Umarmung des Römers zu entwinden sucht.
»Muß eine Frau diese trockenen Formen und langen Glieder haben, um schön zu sein? Bei mir ist das nicht der Fall.«
Er gab sich Mühe, sie darüber zu beruhigen. Aber in Wirklichkeit machte es ihr keine Sorge. Sie erblickte jetzt den Stand eines Eishändlers, dessen kupfernes Gerät auf einem scharlachroten Tuch leuchtete. Und nun bekam sie plötzlich Lust, im Stehen eine Portion Eis zu essen, wie sie es eben bei den Arbeiterinnen aus der Stadt gesehen hatte.
»Warten Sie einen Augenblick«, sagte er, und damit eilte er auf die Straße zu, die links der Loggia dei Lanzi abgeht, und verschwand. Nach wenigen Minuten kehrte er zurück und brachte ihr einen kleinen Löffel. Die Vergoldung war im Laufe der Zeit zum Teil verlorengegangen, den Stiel bildete die florentinische Lilie mit rotemailliertem Kelch.
»Damit sollen Sie Ihr Eis essen, denn Löffel gibt es nicht dazu. Sie hätten sonst die Zunge ausstrecken müssen. Das wäre zwar sehr hübsch gewesen, aber Sie sind es doch nicht gewohnt.«
Sie erkannte den Löffel wieder. Sie hatte ihn gestern im Laden eines in der Nähe wohnenden Antiquitätenhändlers gesehen.
Sie fühlten sich glücklich, und ihre einfache, volle Freude strömte über in leichten Worten, in die sie keine tiefere Bedeutung hineinzulegen versuchten. Und sie lachten, als der Florentiner mit seinem sparsamen und ausdrucksvollen Mienenspiel in den Redewendungen der alten italienischen Erzähler zu ihnen sprach. Thérèse amüsierte sich über die vollendete Mimik auf diesem lustigen Gesicht mit den antiken Zügen. Aber die Worte konnte sie nicht immer verstehen, und so fragte sie Jacques: »Was hat er eben gesagt?«
»Wollen Sie es wirklich wissen?«
Ja, sie bestand darauf.
»Nun, er hat gesagt, es würde ihn sehr glücklich machen, wenn die Flöhe in seinem Bett so schön wären wie Sie.«
Als sie ihr Eis gegessen hatte, drang er in sie, noch einmal Or San Michele zu besuchen. Es war ja ganz nah; sie brauchten nur schräg über den Platz zu gehen, und schon würden sie das steinerne Kleinod erblicken. So machten sie sich auf den Weg. Sie betrachteten die Bronzestatuen Sankt Georgs und des heiligen Markus. Dechartre sah an der rissigen Mauer den Briefkasten wieder, und mit quälender Deutlichkeit sah er die kleine behandschuhte Hand vor sich, wie sie den Brief hineingleiten ließ. Und er kam ihm so abscheulich vor, dieser blecherne Rachen, der ihr Geheimnis verschlungen hatte. Er konnte seine Blicke nicht wieder davon losreißen, und seine ganze Fröhlichkeit war mit einemmal verflogen. Thérèse gab sich währenddem alle Mühe, sich mit der schwerfällig ernsten Statue des Evangelisten zu befreunden.
»Es ist wahr, er hat einen geraden, offenen Ausdruck; wenn er sprechen könnte, würde kein unwahres Wort aus seinem Munde kommen.«
»Ja, es ist kein Frauenmund«, erwiderte Jacques bitter.
Sie verstand, was er meinte, und sagte in sehr sanftem Ton:
»Warum sprechen Sie so zu mir? Ich bin wirklich wahr und aufrichtig.«
»Was nennen Sie wahr sein? Sie wissen selbst, daß eine Frau lügen muß.«
Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Eine Frau ist wahr, wenn sie keine unnützen Lügen spricht.«
21
Thérèse glitt, in dunkles Grau gekleidet, durch die blühenden Goldregenbüsche. Die Sandbeerensträucher bedeckten mit ihren silberweißen Sternen die steil abfallende Terrasse, und über die Berglehne schoß der Lorbeer seine duftenden Flammenpfeile. Das weite Talrund von Florenz stand in voller Blüte.
In dem Balsamduft des Gartens wandelte Vivian, ganz in Weiß.
»Jetzt sehen Sie, Darling, daß Florenz wirklich die Stadt der Blumen ist und nicht mit Unrecht die rote Lilie im Wappen trägt. Heute ist ein Festtag, Darling.«
»Ach wirklich? – Ein Festtag?«
»Aber, Darling, wissen Sie denn nicht, daß heute der erste Mai ist – Primavera? Ist es Ihnen heute früh nicht vorgekommen, als ob Sie in einem Feengarten erwachten? O Darling, wollen Sie das Blumenfest nicht feiern? Fühlen Sie sich nicht glücklich? Sie lieben doch die Blumen so sehr. Ja, ich weiß, daß Sie das tun, my love, Sie haben so viel Sinn dafür. Sie haben mir einmal gesagt, daß die Blumen Freude und Schmerz empfinden, daß sie ebenso leiden können wie wir.«
»Ach, ich habe gesagt, daß sie leiden wie wir?«
»O ja, das haben Sie. Und heute ist das Blumenfest. Wir müssen es ebenso wie unsere Vorfahren feiern, nach dem geheiligten Brauch der alten Meister.«
Thérèse hörte zu, ohne zu verstehen, und zerknitterte unter ihrem Handschuh den Brief, den sie eben erhalten hatte – einen Brief mit italienischer Marke, der nur diese zwei Zeilen enthielt: »Ich bin heute abend im Hotel Grande Bretagne, Lungarno Acciaoli, abgestiegen und erwarte Dich morgen früh. Nr. 18.«
»Oh, Darling, Sie wissen nicht, daß es in Florenz Sitte ist, jedes Jahr am ersten Mai den Frühling zu feiern? Aber dann haben Sie ja auch nicht ganz verstanden, was Botticelli mit jenem Bilde sagen will, das er zur Feier des Blumenfestes gemalt hat, mit seinem lieblichen und träumerisch fröhlichen ›Frühling‹. Früher lebte an diesem Tage die ganze Stadt in Festesfreude. Über den Corso waren Blumenbogen gespannt, darunter gingen in langem Zuge die jungen Mädchen in festlichen Gewändern und mit Weißdornkränzen im Haar; sie schritten im Reigen über das junge Gras unter den Lorbeerbäumen. Und wir wollen es ebenso machen. Wir wollen im Garten tanzen.«
»Ach, im Garten tanzen?«
»Ja, Darling, und ich werde Sie toskanische Pas aus dem fünfzehnten Jahrhundert lehren, die Morisson, der Senior der Londoner Bibliothekare, in einem alten Manuskript aufgefunden hat. Kommen Sie möglichst bald zurück, Darling, dann setzen wir Blumenkränze auf und tanzen.«
»Ja, Liebste, wir wollen tanzen.«
Damit stieß sie die Gittertür auf und eilte den kleinen Weg hinab, der wie das Bett eines Wildbachs ausgewaschen war und an dem Rosenbüsche die Steine überblühten. Sie warf sich in den ersten Wagen, den sie fand. Der Kutscher hatte Kornblumen am Hut und am Peitschenstiel.
»Lungarno Acciaoli. Hotel Grande Bretagne.«
Sie wußte, wo das war – Lungarno Acciaoli. Sie war des Abends dort gegangen, und sie sah wieder, wie der goldene Abendschein auf der bewegten Oberfläche des Wassers in zitternden Reflexen zerbrach. Und dann war sie dort gewesen, als es schon ganz dunkel war und nur das dumpfe Murmeln des Flusses durch die Stille klang. Ach und die Worte und die Blicke, die sie so tief erregt hatten – der erste Kuß ihres Freundes, der erste Schritt auf dem Wege ihrer Liebe, den sie niemals wieder zurückgehen konnte! O ja, sie kannte den Lungarno Acciaoli und das Flußufer jenseits des Ponto Vecchio! ... Hotel Grande Bretagne – sie kannte es auch: eine breite Steinfassade, die auf den Quai hinausging. Es war noch ein Glück, daß er dort wohnte, da er nun einmal gekommen war. Ebensogut hätte er im Hotel de la Ville an der Piazza Manin, wo Dechartre wohnte, absteigen können. Es war wenigstens noch gut, daß sie nicht auf demselben Korridor, Tür an Tür wohnten. – Lungarno Acciaoli! – Und jener Tote, den damals die Vermummten in wilder Eile an ihnen vorbeigetragen hatten, der schlummerte jetzt wohl ruhig irgendwo auf einem kleinen blühenden Friedhof ...
Nummer 18. – Es war ein kahles Hotelzimmer, mit einem Ofen, wie man sie in Italien zu sehen pflegt. Auf dem Tisch lag peinlich sorgfältig ausgebreitet eine Garnitur Bürsten, daneben das Kursbuch, sonst waren weder Bücher noch Zeitungen zu sehen.
Er war da. Sie sah an seinem eingefallenen, fieberhaft erregten Gesicht, daß er sehr gelitten hatte, und es machte einen peinlichen und traurigen Eindruck auf sie. Er wartete auf ein Wort oder auf eine Bewegung von ihr, aber sie stand ihm fremd gegenüber und rührte sich nicht. Dann bot er ihr einen Stuhl an. Sie schob ihn weg und blieb stehen.
»Thérèse, es ist irgend etwas zwischen uns, was ich nicht weiß. Sag es mir.«
Sie schwieg einen Augenblick und antwortete dann langsam und schmerzlich: »Mein Freund, warum bist du damals fortgereist, als ich noch in Paris war?«
Ihr trauriger Ton erweckte den Glauben in ihm, daß sie ihm zärtliche Vorwürfe machen wollte. Sein Gesicht belebte sich, und er erwiderte lebhaft: »Ach, wenn ich das vorhergesehen hätte! Ja, diese Jagdpartie – du weißt recht gut, wie wenig mir daran lag. Aber dein Brief vom siebenundzwanzigsten«, er besaß das Talent, sich an Daten zu erinnern, »hat mich in eine furchtbare Unruhe versetzt. Damals ist irgend etwas geschehen. Sag mir die Wahrheit.«
»Nun, ich habe geglaubt, daß du mich nicht mehr liebtest.«
»Aber jetzt, da du das Gegenteil weißt?«
»Jetzt –«
Sie blieb mit herabhängenden Armen und gefalteten Händen stehen. Dann sagte sie mit erkünstelter Ruhe: »Mein Gott, Robert, wir beide haben uns angehört, ohne zu wissen, was wir taten. Das weiß man ja niemals. Du bist jung, eigentlich jünger als ich, da wir ungefähr im selben Alter stehen. Und du hast doch gewiß Pläne für die Zukunft.«
Er blickte ihr gerade ins Gesicht, und sie fuhr etwas unsicher fort: »Deine Verwandten, deine Mutter, deine Tanten und dein Onkel, der General, haben Pläne für dich gemacht. Das ist natürlich. Und ich hätte dir im Wege sein können. Es ist besser, wenn ich aus deinem Leben verschwinde. Wir werden einander in gutem Andenken behalten.«
Sie reichte ihm die behandschuhte Rechte hin. Aber er schlug die Arme übereinander.
»Du willst also nichts mehr von mir wissen. Du glaubst, du hast mich so glücklich gemacht, wie noch kein Mann gewesen ist, um mich jetzt einfach beiseite zu schieben, und damit gut. Wirklich, du scheinst zu denken, daß du mit mir fertig bist. Was hast du mir eben gesagt? Ein Verhältnis – jawohl, so etwas kann man lösen. Man findet sich zusammen, und man läßt sich wieder laufen. Aber du – nein, du bist keine Frau, die man wieder losläßt.«
»Ja, du hast vielleicht mehr in mir zu sehen geglaubt, als das gewöhnlich der Fall ist. Ich bin dir mehr gewesen als ein bloßer Zeitvertreib. Aber wenn ich nun nicht die Frau bin, für die du mich gehalten hast – wenn ich dich hintergangen habe – wenn ich leichtfertig bin du weißt ja, daß man so von mir gesprochen hat –, kurz, wenn ich dir gegenüber nicht so gehandelt habe, wie ich hätte handeln sollen – –«
Sie hielt inne, dann fuhr sie in ernstem reinem Ton, der zu ihren Worten im Widerspruch stand, fort: »Wenn ich, während ich dir angehörte, Anfechtungen gehabt, an andere gedacht habe, wenn ich dir sage, daß ich überhaupt keines tieferen Gefühls fähig bin – –«
»Du lügst«, unterbrach er sie.
»Ja, ich lüge. Und ich habe schlecht gelogen. Ich wollte unsere gemeinsame Vergangenheit besudeln, und das war unrecht von mir. Du weißt, wie es zwischen uns gewesen ist. Aber – –«
»Aber?«
»Ach, nichts weiter, als was ich dir immer gesagt habe. Ich fühle mich meiner selbst nicht sicher. Man sagt ja, daß es Frauen gibt, die für sich bürgen können. Ich habe dir schon gesagt, daß ich nicht zu denen gehöre und daß ich nicht für mich einstehen kann.«
Er warf den Kopf hin und her wie ein gereiztes Tier, das noch zögert, ehe es sich auf seinen Gegner stürzt.
»Was willst du damit sagen. Ich verstehe dich nicht. Ich verstehe überhaupt nichts mehr. Drücke dich deutlicher aus – hörst du – deutlich. Es liegt irgend etwas zwischen uns. Ich weiß nicht, was es ist. Aber ich will wissen, was ist es.«
»Ich habe es dir ja gesagt, Robert, daß ich keine Frau bin, die ihrer selbst sicher ist, und daß du nicht auf mich rechnen durftest. Nein, das hättest du nicht tun sollen. Ich habe dir nichts versprochen. Und selbst wenn ich es versprochen hätte – was haben denn Worte für einen Wert?«
»Du liebst mich nicht mehr. Ach, deine Liebe ist zu Ende, ich sehe es. Aber um so schlimmer für dich, denn ich, ich liebe dich! Du brauchtest dich mir nicht hinzugeben. Aber denke nicht, daß du dich wieder zurücknehmen kannst. Ich liebe dich, und ich will dich behalten. Hast du wirklich geglaubt, dich dieser Liebe so ruhig wieder entziehen zu können? Hör mal gut zu. Du hast dein möglichstes dazu getan, daß ich dich lieben mußte, daß ich an dir hänge und daß ich nicht mehr ohne dich leben kann. Wir haben unsagbare Wonnen miteinander genossen. Und du hast deinen Anteil daran nicht zurückgewiesen. Oh, ich habe dich nicht mit Gewalt an mich gerissen. Du hast es selbst gewollt. Es sind noch keine sechs Wochen her, daß du selbst dir nichts Besseres wünschtest. Du warst mein alles, und ich war alles für dich. Es gab Augenblicke, wo wir nicht mehr wußten, ob du ich oder ich du wäre. Und nun verlangst du mit einem Male von mir, daß ich nichts mehr von alledem wissen soll, daß ich dich nicht mehr kenne. Ich soll nur noch eine Fremde in dir sehen, eine Dame, die man hier und da in Gesellschaften trifft. Deine Dreistigkeit ist wirklich großartig! Sieh mal an – ich habe wohl nur geträumt? Deine Küsse, dein Atem, den ich auf meinem Halse gefühlt habe, der Aufschrei deiner Lust – das ist also alles nicht wahr gewesen? Habe ich es etwa erfunden? O nein, soviel ist gewiß, du hast mich geliebt. Ich fühle sie noch, deine Liebe von einst. Nun, ich habe mich nicht verändert, ich bin noch derselbe, der ich war. Und du hast mir nichts vorzuwerfen. Ich habe dich nicht mit anderen Frauen betrogen. Nicht etwa, als ob ich mir das zum Verdienst anrechnen wollte. Ich wäre gar nicht dazu imstande gewesen. Wer dich besessen hat, den wird selbst das schönste Weib nicht mehr reizen. Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dich zu betrügen. Und ich habe mich dir gegenüber immer als Gentleman benommen. Warum solltest du mich denn nicht mehr lieben können? Aber so sprich doch ein Wort, antworte mir doch, sage mir, daß du mich noch immer liebst! Sage es, weil es die Wahrheit ist. Komm zurück, Thérèse, und du wirst fühlen, daß du mich noch ebenso liebst wie früher, in unserem kleinen Liebesnest in der Rue Spontini, wo wir so glücklich gewesen sind. Komm.« In glühendem Verlangen breitete er die Arme nach ihr aus und stürzte auf sie zu. Aber sie stieß ihn mit eisigem Abscheu zurück und blickte ihn voller Schrecken an.
Jetzt hatte er begriffen. Er blieb stehen und sagte: »Du hast einen Liebhaber.«
Langsam senkte sie den Kopf und erhob ihn dann wieder, stumm und ernst.
Und nun schlug er sie ins Gesicht, auf die Brust, die Schulter. Aber im nächsten Augenblick wich er beschämt zurück. Er schlug die Augen nieder und sagte kein Wort. Dann führte er seine Finger an die Lippen und biß sich auf die Nägel, und nun bemerkte er, daß er sich die Hand an einer Nadel ihres Kleides blutig gerissen hatte. Er warf sich in einen Lehnstuhl, zog das Taschentuch hervor, um das Blut abzutrocknen, und blieb dann gleichgültig sitzen, als ob er an nichts mehr dächte.
Sie lehnte leichenblaß an der Tür, mit hoch erhobenem Kopf blickte sie ins Leere. Dann band sie ihren zerrissenen Schleier los und rückte den Hut mit mechanischer Sorgfalt wieder zurecht. Er hörte, wie ihr zerknittertes Kleid leise raschelte, und bei diesem Geräusch, das ihn vor kurzem noch beseligt hatte, zitterte er, blickte sie an, und der Zorn kam wieder über ihn.
»Wer ist es? Ich will es wissen!«
Sie rührte sich nicht. Auf ihrem weißen Gesicht brannte ein rotes Mal, wo seine Faust sie getroffen hatte. Dann erwiderte sie mit ruhiger Festigkeit: »Was ich dir sagen konnte, habe ich dir gesagt. Frage mich nicht weiter, es würde doch nichts nützen.«
Er sah sie an, und ein Ausdruck von Grausamkeit, den sie noch nie an ihm gesehen hatte, lag auf seinem Gesicht: »Oh, du brauchst mir seinen Namen nicht zu sagen. Ich werde ihn auch so zu erfahren wissen.«
Sie schwieg. Sie war traurig um seinetwillen und unruhig, wenn sie an den andern dachte. Aber bei all ihrer Angst und Besorgnis fühlte sie dennoch weder Reue noch bitteren Schmerz, denn ihre Seele war weit fort.
Er schien zu ahnen, was in ihr vorging, und es reizte seinen Zorn, daß sie so ruhig und milde war und dabei schöner als zu jener Zeit, da sie ihm angehörte. Und all diese Schönheit sollte jetzt einem andern gehören! Bei diesem Gedanken erwachte der Wunsch in ihm, sie zu töten, und er schrie ihr zu: »Geh fort! ... Geh!«
Und dann wie erschöpft durch diesen Ausbruch des Hasses, der seinem innersten Wesen widersprach, verbarg er das Gesicht in beide Hände und fing an zu schluchzen.
Sein Schmerz rührte sie und weckte in ihr die Hoffnung, ihn zu beruhigen und dem Abschied etwas von seiner Bitterkeit zu nehmen. Sie gab sich der Täuschung hin, ihn vielleicht darüber trösten zu können, daß er sie verloren hatte. Freundschaftlich und vertrauensvoll setzte sie sich neben ihn. »Ja, Robert, ich habe es verdient, daß du mir Vorwürfe machst, aber vielleicht verdiene ich eher noch dein Mitleid. Du magst mich verachten, wenn du willst und wenn man überhaupt ein unglückliches Geschöpf verachten darf, das vom Leben hin und her geworfen wird. Kurz, du magst über mich urteilen, wie du willst. Aber bewahre mir in deinem Zorn ein klein wenig Freundschaft. Laß es eine schmerzliche und doch süße Erinnerung sein, wie ein Herbsttag mit Sonne und scharfem Wind. Das habe ich verdient. Denke nicht zu hart über die heitere, oberflächliche Gefährtin, die ein Stück Wegs mit dir gegangen ist. Nimm Abschied von mir wie von einer Scheidenden, die dir traurig Lebewohl sagt, um Gott weiß wohin zu fahren. Das Abschiednehmen ist immer so traurig. Eben noch warst du zornig auf mich. Oh, ich mache dir keinen Vorwurf darüber, aber es tut mir weh. Behalte wenigstens etwas Sympathie für mich. Wer weiß, was die Zukunft noch bringt, so dunkel und unsicher wie sie jetzt vor mir liegt. Aber ich möchte mit sagen dürfen, daß ich gut, aufrichtig und offen mit dir gewesen bin und daß du das nicht vergessen hast. Mit der Zeit wirst du verstehen und verzeihen. Und heute schon denke mit etwas Mitleid an mich.«
Er hörte nicht, was sie sagte, aber die Liebkosung ihrer Stimme, dieser hell und klar fließenden Laute beruhigte ihn. Dann sagte er plötzlich: »Du liebst ihn nicht. Aber mich liebst du – und dann –«
Zögernd versuchte sie abzulenken. »Mein Gott, für eine Frau, wenigstens für mich, ist es nicht leicht zu sagen, ob sie liebt oder nicht. Ich weiß nicht, wie es bei andern ist. Aber das Leben geht hart mit uns um, man wird geschoben, gestoßen, hin und her geworfen.«
Er blickte sie jetzt vollkommen ruhig an. Ihm war eine Idee gekommen – ein plötzlicher Entschluß. Es war ja ganz einfach. Er wollte ihr verzeihen und alles vergessen, wenn sie nur sofort zu ihm zurückkehrte. »Thèrése, du liebst ihn nicht. Es war ein Irrtum – ein Augenblick, wo du deiner selbst nicht mächtig warst. Es war etwas Sinnloses, Furchtbares, was du aus Schwäche, aus Unbesonnenheit, vielleicht auch aus Zorn über mich getan hast. Schwöre mir, daß du ihn niemals wiedersehen willst.« Dabei faßte er sie am Arm. »Schwöre es mir.«
Sie schwieg mit finsterem Gesicht und biß die Zähne aufeinander. Er preßte ihr Handgelenk immer fester, und jetzt rief sie: »Du tust mir weh.«
Aber er hielt an seinem Plan fest. Er zog sie an den Tisch heran, wo neben den Bürsten und dem Tintenfaß einige Briefbogen lagen, deren große blaue Vignetten die Fassade des Hotels mit unzähligen Fenstern darstellten.
»Schreibe, was ich dir diktieren werde. Ich will den Brief dann besorgen.«
Als sie nicht wollte, zwang er sie in die Knie nieder. Aber sie sagte mit stolzer Ruhe: »Ich kann nicht, nein, ich kann nicht.«
»Warum nicht?«
»Weil – – willst du es wirklich wissen? –, weil ich ihn liebe.«
Jetzt ließ er plötzlich ihren Arm fallen. Hätte er seinen Revolver dagehabt, so hätte er sie vielleicht getötet. Aber gleich darauf verwandelte sich sein Zorn in tiefen Schmerz, und jetzt hätte er in seiner Verzweiflung am liebsten selbst sterben mögen.
»Ist es wahr, was du da sagst? Ist es denn möglich? Ist es wirklich wahr?«
»Weiß ich es denn selber? Kann ich es sagen? Verstehe ich mich denn selbst noch? Habe ich überhaupt noch einen Gedanken, ein Gefühl, eine Ahnung von irgend etwas? Habe ich – –«.
Mit einiger Anstrengung fügte sie hinzu: »Fühle ich denn in diesem Augenblick etwas anderes als meinen Schmerz und deine Verzweiflung?«
»Du liebst ihn – du liebst ihn! Was hat er denn an sich, wie ist er denn, daß du ihn liebst?«
Er war ganz bestürzt vor Überraschung, in einem Abgrund fassungslosen Staunens. Aber das, was sie gesagt hatte, trennte sie voneinander. Er wagte nicht mehr, sie brutal zu behandeln, sie zu fassen und zu schlagen wie ein Ding, das böse und widerspenstig war, aber ihm gehörte. Und immer wieder sagte er: »Du liebst ihn! Was hat er denn zu dir gesagt, was hat er getan, daß du ihn liebst? Ich kenne dich ja, ich habe es dir nicht immer gesagt, wenn deine Ideen mich schockierten. Ich möchte wetten, daß es nicht einmal ein Mann aus deinen Kreisen ist, und du glaubst wirklich, daß er dich liebt? Nun, und ich sage dir, daß du dich irrst. Nein, er liebt dich nicht, er fühlt sich geschmeichelt, weiter nichts. Bei der ersten Gelegenheit wird er dich laufen lassen. Wenn er dich hinreichend kompromittiert hat, jagt er dich zum Teufel. Und dann wirst du dich in Liebschaften einlassen. Im nächsten Jahr wird es heißen: ›Sie hat jeden Augenblick einen andern Liebhaber.‹ Und das ist mir unangenehm um deines Vaters willen, weil er mein Freund ist. Und er wird alles erfahren, du darfst dir keine Hoffnung machen, ihn hinters Licht zu führen.«
Sie fühlte sich durch seine Worte gedemütigt, aber sie tröstete sich mit dem Gedanken, was sie gelitten haben würde, wenn er sich edelmütig gezeigt hätte.
Und er in seiner Beschränktheit fühlte aufrichtige Verachtung für sie, und dieses Gefühl gewährte ihm eine Art Erleichterung. Er weidete sich daran.
»Nun, wie ist die Sache vor sich gegangen? Mir kannst du es doch ruhig erzählen.«
Aber sie zuckte so mitleidig verächtlich die Achseln, daß er nicht den Mut hatte, in diesem Ton fortzufahren. Und jetzt wurde er wieder feindselig: »Bildest du dir ein, daß ich dir helfen werde, den Schein zu wahren, daß ich weiter in deinem Hause verkehren und deinen Mann besuchen werde – soll ich etwa dabeistehen und euch das Licht halten?«
»Ich denke, du wirst handeln wie ein Gentleman. Ich verlange nichts weiter von dir. Ich möchte an dich denken können wie an einen guten Freund, und ich glaubte, du würdest nachsichtig und gut gegen mich sein. Aber ich sehe jetzt, daß es unmöglich ist, daß man sich nie im Guten trennen kann. Später wirst du vielleicht einmal besser über mich urteilen. Leb wohl.«
Er blickte sie an. Auf seinem Gesicht zeigte sich jetzt mehr Schmerz als Zorn. So hatte sie ihn noch nie gesehen, mit diesem harten Ausdruck in den tiefumränderten Augen und den eingefallenen Schläfen unter dem spärlichen Haar. Die eine Stunde schien ihn gealtert zu haben.
»Ich will dir lieber gleich sagen, was ich tun werde. Ich werde es nicht über mich gewinnen, dich wiederzusehen. Du bist keine Frau, der man in der Gesellschaft wieder begegnen kann, wenn man sie einmal besessen und dann wieder verloren hat. Ich habe dir das schon einmal gesagt. Du bist nicht wie die andern, du trägst irgendein Gift in dir, das du mir eingegeben hast und das ich in mir fühle, in meinen Adern, überall. Wenn ich dich doch nie gekannt hätte!«
Sie sah ihn gütig an: »Lebe wohl und denke, daß ich keinen solchen Schmerz wert bin.«
Aber dann, als er sah, wie sie die Hand auf den Türgriff legte, als er an dieser Gebärde fühlte, daß sie für ihn verloren war und daß sie niemals zurückkehren würde – stieß er einen Schrei aus und stürzte auf sie zu. Er hatte in diesem Augenblick alles vergessen. Es war nur ein dumpfes Gefühl in ihm zurückgeblieben, daß ihm ein schweres Unglück widerfahren war, ein Schmerz, der nie wieder heilen würde. Und aus dieser Erstarrung stieg plötzlich ein Wunsch in ihm auf. Er wollte sie noch einmal besitzen, ehe sie auf Nimmerwiedersehen von ihm ging. Und nun zog er sie an sich, er begehrte nach ihr mit der ganzen Kraft seines animalischen Wollens. Aber sie setzte ihm ihren klaren, freien und wachen Willen entgegen. Als sie sich von ihm losgemacht hatte, waren ihre Kleider zerknittert und zerrissen; aber sie hatte nicht einmal Furcht gehabt.
Er sah ein, daß alles vergeblich war. Und es kam ihm wieder zum Bewußtsein, daß sie nicht mehr sein war, weil sie einem andern gehörte. Der Schmerz kehrte zurück, und er stieß sie aus der Tür, indem er sie mit Schmähworten überhäufte. Einen Augenblick blieb sie draußen noch stehen. Ihr Stolz gebot ihr, noch auf ein Wort oder einen Blick zu warten, der ihrer einstigen Liebe würdig gewesen wäre. Aber er schrie noch einmal »Geh!« und schlug die Tür heftig zu.
In der Via Alfieri ging sie über den Hof, wo bleiches Gras wuchs, und stand wieder vor dem Gartenhaus. Still und friedlich lag es da mit seinen Ziegen und Nymphen im Giebelfeld, als bewahrte es die Erinnerung an Verliebte aus der Zeit der Großherzogin Elisabeth. Nun fühlte sie sich der quälenden und brutalen Welt entronnen und in Zeiten zurückversetzt, in denen sie das Schmerzliche des Lebens noch nicht kannte.
Am Fuß der Treppe, deren Stufen mit Rosen bestreut waren, stand Dechartre und wartete auf sie. Sie warf sich selbstvergessen an seine Brust, und er hob sie empor, als ob sie die kostbare Hülle dessen sei, vor dem er bleich und zitternd gestanden hatte. Mit halbgeschlossenen Augen gab sie sich dem demütigen und doch so stolzen Gefühl hin, eine schöne Beute zu sein. Sie war so müde und traurig, die abstoßende Erinnerung an die Ereignisse des heutigen Tages, der Gedanke an den Schimpf, der ihr widerfahren war, dabei das Gefühl ihrer wiedergewonnenen Freiheit, die Sehnsucht, alles zu vergessen, in die sich noch ein kleiner Rest von Furcht mischte – alles trug dazu bei, ihre Liebe zu steigern.
So ruhte sie auf dem Bett, beide Arme um seinen Hals geschlungen.
Als sie wieder zu sich kamen, waren sie ausgelassen wie zwei Kinder. Sie lachten, redeten Nichtigkeiten, spielten und aßen von den Limonen, den Orangen und Melonen, die neben ihnen auf den gemalten Tellern lagen. Sie hatte nur das zarte rosa Hemd anbehalten, das von der Schulter herabgeglitten war und den einen Busen sehen ließ, während der andere rosig hindurchschimmerte. Und sie schwelgte in dem Gefühl, ihm ihren Körper geschenkt zu haben. Zwischen den halbgeöffneten Lippen schimmerten ihre Zähne in feuchtem Glanz hervor.
Sie fragte ihn jetzt in etwas koketter Angst, ob die Wirklichkeit nicht hinter dem Bilde zurückgeblieben sei, das seine Phantasie ihm von ihr vorgespiegelt habe.
In dem milden Tageslicht, das gedämpft durch die Vorhänge hereindrang, blickte er sie mit jugendlicher Freude an. Und dann küßte er sie und sagte ihr tausend schöne Worte. Voller Glück blickten sie einander in die Augen, und unter Liebkosungen und heiterem Hinundherstreiten vergaßen sie sich und die Welt. Dann wurden sie plötzlich wieder ernst, ihre Augen umflorten sich, die Lippen preßten sich fester aufeinander, und mit jener heiligen Wut, welche die Liebe dem Haß ähnlich macht, umschlangen sie sich von neuem und versanken in den Abgrund der Liebe.
Als sie ihre feuchtglänzenden Augen wieder aufschlug, lächelte sie wie eine Genesende. Ihr Haupt ruhte auf dem Kissen, und die Haare flössen aufgelöst herab.
Jacques fragte, woher sie das kleine rote Mal an der Schläfe habe. Sie antwortete, daß sie es nicht mehr wisse und daß es nichts von Bedeutung sei. Und es war auch eigentlich keine Lüge – sie hatte es wirklich vergessen.
Dann erinnerten sie sich gegenseitig an die kurze schöne Geschichte ihrer Liebe, an ihr ganzes Leben, das am Tage ihrer ersten Begegnung begonnen hatte.
»Weißt du noch auf der Terrasse – am Morgen nach deiner Ankunft? Du sagtest unklare, zusammenhanglose Worte zu mir, aber ich habe gefühlt, daß du mich liebtest.«
»Ich hatte Angst, dir albern zu erscheinen.«
»Ja, du warst es auch etwas. Und gerade das war mein Triumph. Es fing an, mich ungeduldig zu machen, daß meine Nähe dich so wenig beunruhigte. Ich habe dich geliebt, ehe du noch an Liebe dachtest. Oh, und ich brauche mich dessen nicht zu schämen.«
Er goß ihr einen Schluck Asti spumante zwischen die Lippen. Aber sie wollte von dem Trasimener trinken, der auf dem Tischchen stand – zum Andenken an den See, den sie auf ihrer ersten Reise nach Italien gesehen hatte. Es war an einem Abend gewesen, und die opalschimmernde Schale des Sees im scharfgezackten Rund der Berge hatte ihr einen so trostlosen und doch so schönen Eindruck hinterlassen. Das war jetzt sechs Jahre her.
Aber er war unzufrieden, daß sie ohne ihn etwas Schönes entdeckt hatte.
»Warum bist du nicht früher gekommen?« sagte sie. »Erst mit dir zusammen habe ich wirklich sehen gelernt.«
Er schloß ihr die Lippen mit einem langen Kuß. Als sie wieder zur Besinnung kam, fühlte sie sich so glückselig müde, wie zerschlagen vor Wonne. Und sie rief ihm zu: »Ja, ich liebe dich! Ich habe immer nur dich geliebt!«
22
Le Ménil hatte ihr geschrieben: »Ich reise morgen abend um sieben Uhr und wünsche Dich am Bahnhof zu sehen.«
Sie ging hin. In seinem langen grauen Havelock sah sie ihn vor den Hotelwagen stehen.
»Aha, du bist es!« war alles, was er sagte.
»Aber, Robert, du hast mich ja gerufen.«
Er wollte es nicht eingestehen, aber er hatte aus einer unsinnigen Hoffnung heraus geschrieben, daß sie doch noch zu ihm zurückkehren würde und daß alles andere vergessen sei. Er hatte es sogar für möglich gehalten, daß sie ihm sagen würde: »Ich wollte dich nur auf die Probe stellen.«
Und wenn sie das wirklich gesagt hätte, nicht einen Augenblick hätte er daran gezweifelt, daß es wahr sei. So war er enttäuscht, daß sie nicht einmal den Mund auftat, und sagte schroff: »Was hast du mir zu sagen? Jetzt ist zu reden die Reihe an dir. Ich habe dir keine Erklärungen zu geben, mich wegen keiner Treulosigkeit zu rechtfertigen.«
»Robert, sei nicht grausam, sei nicht undankbar gegen die Vergangenheit. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe. Und dann noch, daß ich mit Schmerz und in wahrer Freundschaft von dir scheide.«
»Ist das alles? Dann geh nur hin und sage es dem andern. Es wird ihn mehr interessieren als mich.«
»Du hast mich hierhergerufen. Laß mich nicht bereuen, daß ich gekommen bin.«
»Es tut mir leid, dich bemüht zu haben. Du hättest jedenfalls eine bessere Verwendung für deine Zeit gehabt. Ich will dich nicht länger aufhalten. Geh nur wieder zu ihm, du kannst es ja kaum aushalten vor Sehnsucht.«
Bei dem Gedanken, daß das ewige menschliche Leid sich in solch armseligen und niedrigen Worten aussprach, die dann die tragische Kunst ins Erhabene wendete, kam ein Gefühl von Trauer über sie, das mit etwas Ironie gemischt war.
Er sah, daß ihre Lippen sich leicht kräuselten, und glaubte, sie lache.
»Du brauchst nicht darüber zu lachen. Höre mich noch einen Augenblick an. Vorgestern, in dem Hotelzimmer, wollte ich dich umbringen. Ich war so nah daran, daß ich weiß, was das heißen will. Aber ich werde es nicht tun, du kannst ganz ruhig sein. Wozu auch? Und da ich die gesellschaftlichen Rücksichten immer zu beobachten pflege, werde ich sogar in Paris einen Besuch bei dir machen. Man wird mir zu meinem Bedauern mitteilen, daß du nicht zu sprechen seist. Ich werde deinen Mann und auch deinen Vater besuchen, und zwar, um Abschied zu nehmen, ehe ich eine lange Reise antrete. Adieu, Madame!«
In dem Augenblick, als er ihr den Rücken wandte, sah Thérèse Miß Bell und Fürst Albertinelli vom Güterbahnhof her auf sich zukommen. Der Fürst war schön wie immer, und Vivian ging an seiner Seite in der Heiterkeit, die unschuldige Freuden schenken.
»Oh, Darling, was für eine angenehme Überraschung,. Sie hier zu finden! Der Fürst und ich sind eben auf dem Zollamt gewesen, um den Empfang der Glocke zu bestätigen.«
»Ah, sie ist also gekommen?«
»Ja, sie ist da, Darling, die Glocke von Ghiberti! Ich habe sie in ihrem hölzernen Käfig gesehen. Sie konnte nicht läuten, weil sie eingesperrt war; aber ich werde ihr in meinem Haus in Fiesole einen Campanile zur Wohnung geben. Wenn sie erst die Luft von Florenz um sich fühlt, wird sie glücklich sein, ihre silberne Stimme ertönen zu lassen. Und sie wird für Sie und für mich läuten, für den Fürsten, für die gute Madame Marmet, für Choulette und all unsere Freunde. Die Tauben werden sie besuchen, und sie wird all unsere Schmerzen und all unsere Freuden verkünden.«
»Aber, Liebste, die Glocken läuten niemals, wenn man wirklich traurig oder wirklich froh ist. Sie walten ihres Amtes nur, wenn es sich um konventionelle Gefühle handelt.«
»O Darling, da irren Sie sich sehr. Die Glocken wissen alles. Sie kennen alle Geheimnisse unserer Seele. – Aber ich freue mich sehr, Sie zu treffen. O my love, ich weiß, weshalb Sie an die Bahn gegangen sind. Ihre Kammerjungfer hat Sie verraten. Sie hat mir gesagt, daß Sie auf ein rosa Kleid warten, das immer noch nicht angekommen ist, und daß Sie vor Ungeduld vergehen. Aber Sie brauchen sich deshalb keine Sorgen zu machen. Sie sind immer die Allerschönste, my love.«
Dann forderte sie sie auf, in den Wagen zu steigen: »Kommen Sie schnell, Darling, Monsieur Jacques Dechartre kommt zum Diner, und ich möchte ihn nicht warten lassen.«
So fuhren sie durch den stillen Abend. Der Duft der Feldblumen erfüllte alle Wege.
»Darling, sehen Sie die dunklen Spindeln der Parzen, der Zypressen dort unten auf dem Friedhof? Dort werde ich einmal schlafen.«
Aber Thérèse dachte voller Unruhe: ›Sie haben ihn gesehen. Ob sie ihn erkannt hat? Ich glaube nicht, denn es war schon dunkel am Bahnhof, und die vielen kleinen Lichter blendeten so. Wenn ich nur wüßte, ob sie ihn überhaupt kennt. Ich kann mich nicht entsinnen, ob sie ihn voriges Jahr bei mir gesehen hat.‹
Was sie am meisten beunruhigte, war, daß der Fürst eine heimliche, boshafte Freude zu empfinden schien.
»Darling, wollen Sie einen Platz auf diesem ländlichen Friedhof neben mir haben? Wir beide werden Seite an Seite ruhen, mit etwas Erde über uns und sehr viel Himmel. Aber es ist nicht recht von mir, Ihnen eine Einladung zu machen, die Sie nicht annehmen können. Nein, my love, Sie dürfen Ihren ewigen Schlummer nicht am Fuße der Hügel von Fiesole schlafen. Sie müssen in Paris ruhen in einem schönen Grabgewölbe an der Seite des Grafen Martin-Bellème.«
»Aber warum? Glauben Sie denn, Liebste, daß eine Frau auch nach dem Tode mit ihrem Mann zusammenbleiben muß?«
»Ja, das muß sie, Darling, die Ehe gilt für Zeit und Ewigkeit. Kennen Sie nicht die Geschichte von dem jungen Ehepaar in der Auvergne, das sich so sehr liebte? Sie starben fast zu gleicher Zeit, und ihre Gräber lagen so, daß ein Weg sie voneinander trennte. Aber jede Nacht rankte sich ein Rosenstock von dem einen Grabe auf das andere hinüber, so daß man die Särge zuletzt vereinigen mußte.«
Als sie an der Badia vorüber waren, sahen sie eine Prozession, die von den Hügeln herabkam. Die Kerzen in den vergoldeten hölzernen Leuchtern flackerten im Abendwind. Weiße und blaue Ordensschwestern gingen neben den buntbemalten Fahnen her. Dann kam ein kleiner Sankt Johannes mit krausem, blondem Haar. Er hatte nichts an als ein Lammfell, das seine Schultern und Arme frei ließ. Neben ihm ging eine siebenjährige Maria Magdalena im goldenen Kleid ihrer gekräuselten Haare. Unter den Einwohnern von Fiesole, die scharenweise dem Zug folgten, erkannte Madame Martin Choulette. In der einen Hand trug er eine Kerze, in der andern sein Gebetbuch und auf der Nase eine blaue Brille. Er sang. Fahlrote Lichter zitterten in den Winkeln seines stumpfnasigen Gesichts und auf den Höckern des seltsam geformten Schädels. Sein wilder Bart hob und senkte sich im Rhythmus des Gesanges. In dem harten Widerspiel von Licht und Schatten, das seinen Kopf scharf modellierte, glich er einem jener alten unerschütterlichen Einsiedler, die ein ganzes Jahrhundert lang Buße tun können.
»Wie schön er ist«, sagte Thérèse. »Er schauspielert vor sich selbst. Er ist wirklich ein großer Künstler.«
»O Darling, warum wollen Sie nicht glauben, daß Monsieur Choulette ein frommer Mann ist? Warum nicht? Der Glaube ist etwas so Schönes und macht so glücklich. Und die Dichter wissen das. Wenn Monsieur Choulette seinen Glauben nicht hätte, hätte er seine wundervollen Verse nicht machen können.«
»Und Sie, Liebste, glauben Sie denn auch an etwas?«
»O ja, ich glaube an Gott und an das Wort Christi.«
Mittlerweile waren der Baldachin, die Fahnen und die weißen Schleier auf den Serpentinen der Bergstraße verschwunden. Aber man sah noch immer auf dem kahlen Schädel Choulettes den goldenen Widerschein der Kerze schimmern.
Dechartre war allein im Garten und erwartete sie. Thérèse fand ihn an der Balustrade der Terrasse, wo er die ersten Leiden seiner Liebe empfunden hatte.
Während Miß Bell mit dem Fürsten einen Platz für den Campanile aussuchte, in dem sie die Glocke aufhängen wollte, zog er seine Freundin mit sich fort unter die Goldregenbüsche.
»Du hattest mir doch versprochen, im Garten zu sein, wenn ich käme. Seit einer Stunde warte ich auf dich, und die Zeit ist mir tödlich lang vorgekommen. Nein, du hättest nicht fortgehen sollen. Ich war ganz überrascht und verzweifelt, als ich dich nicht fand.«
Sie antwortete unbestimmt, daß sie an den Bahnhof hätte gehen müssen und dann mit Miß Bell zurückgefahren sei, und nun entschuldigte er sich, daß er sie mit so besorgtem Gesicht empfangen habe. Aber ihn erschreckte jede Kleinigkeit, sein Glück machte ihm Angst.
Als sie schon bei Tisch saßen, erschien Choulette. Eine unheimliche Freude leuchtete aus seinen phosphoreszierenden Augen, und er sah aus wie ein alter Satyr. Seit er von Assisi zurück war, lebte er nur noch mit Leuten aus dem niederen Volk zusammen. Den ganzen Tag trank er mit Arbeitern und Dirnen Chianti, belehrte sie über das Wesen der Freude und Unschuld, über die Wiederkehr Jesu Christi und weissagte, daß demnächst der Militärdienst und die Steuern aufgehoben würden. Nach der Prozession hatte er in den Ruinen des römischen Theaters ein paar Vagabunden um sich versammelt und ihnen in makaronischer Rede, einem Gemisch von Französisch und Toskanisch, eine Predigt gehalten, die er jetzt selbstgefällig wiederholte:
»Könige, Senatoren und Richter haben gesagt: ›Das Leben des Volkes ruht in uns.‹ Sie lügen. Sie sind der Sarg, der da spricht: ›Ich bin die Wiege.‹
Das Leben der Völker ruht in den Ernten des Landes, die da reifen unter dem Blicke des Herrn. Es ruht in den Weinstöcken, die sich an die Ulmen ranken, ruht im Lächeln und in den Tränen, mit denen der Himmel die Bäume in den Fruchtgärten badet.
Es ruht aber nicht in den Gesetzen, die von den Reichen und Mächtigen zur Erhaltung des Reichtums und der Macht geschaffen worden sind.
Die Herren von Königreichen und Republiken haben in ihren Büchern geschrieben, daß Völkerrecht Recht zum Kriege sei. Sie haben die Gewalt verherrlicht. Und also überschütten sie die Eroberer mit Ehren, also errichten sie auf öffentlichen Plätzen Denkmäler für den Sieger und das Siegesroß. Aber es gibt kein Recht zum Mord. Und darum wird der Gerechte aus der großen Urne nicht das Los der Aushebung ziehen. Es ist nicht recht, die Torheit und die Verbrechen des Oberhauptes zu nähren, das über Königreich oder Republik herrscht. Und darum wird der Gerechte keine Steuer zahlen und den Zöllnern keinen Silberling geben. In Frieden wird er die Früchte seiner Arbeit genießen, wird Brot schaffen aus dem Korn, das er gesät, und die Frucht vom Baume essen, den er selbst beschnitten.«
»Ah, Monsieur Choulette«, sagte der Fürst in ernstem Ton, »Sie tun sehr recht daran, sich für die Zustände in unserm schönen, aber unglücklichen Lande zu interessieren, das vom Fiskus ausgebeutet wird. Wenn der Grundbesitz mit dreiunddreißig Prozent vom Reinertrag besteuert wird, so kann kein Verdienst dabei herauskommen. Der Besitzer sowohl wie die Arbeiter werden durch die Steuern zugrunde gerichtet.«
Thérèse und Dechartre waren ganz erstaunt über den unerwartet aufrichtigen Ton, in dem er das sagte. Dann fügte er hinzu: »Ich liebe meinen König, und meine Gesinnung ist durchaus loyal. Aber ich fühle mit den unglücklichen Landleuten.«
In Wirklichkeit hatte er ein einziges Ziel, das er mit zäher Hartnäckigkeit verfolgte. Er wollte die Domäne Casentino wieder in die Höhe bringen, die ihm sein Vater, Fürst Carlo, Adjutant des Königs Viktor Emanuel, hinterlassen hatte und die sich zu drei Viertel in den Händen der Wucherer befand. Aber er pflegte seine Zähigkeit hinter einer affektierten Weichlichkeit zu verbergen, und auch seinen Lastern huldigte er nur soweit, wie es seinem Ziele nützlich sein konnte. Um sich wieder zu einem der größten Grundbesitzer der Toskana aufzuschwingen, hatte er mit Gemälden geschachert, Schmugglergeschäfte mit den berühmten Deckengemälden seines Palazzo gemacht, hatte sich bei alten Damen einzuschmeicheln gewußt und schließlich angefangen, sich um Miß Bells Hand zu bewerben. Er wußte, daß sie sich sehr gut auf Geschäfte verstand und fähig war, ein Haus zu führen. Aber die Liebe zum Lande und zu den Bauern war echt, und die feurigen Worte Choulettes, die er nur zur Hälfte verstand, hatten sie von neuem entfacht. Er ließ seinen Gedanken jetzt freien Lauf: »In einem Lande, wo der Herr und seine Untergebenen wie eine Familie zusammenleben, hängt das Schicksal des einen von dem andern ab. Der Fiskus ruiniert uns. Und was für brave Leute haben wir unter unsern Pächtern! Auf den Landbau verstehen sie sich wie sonst nirgends auf der Welt.«
Madame Martin gestand, daß sie das nicht gedacht hätte. In der Lombardei sahen die Felder mit ihren zahllosen Bewässerungsgräben ja wohlbebaut aus, aber die Toskana war ihr immer wie ein schöner, wilder Garten vorgekommen.
Der Fürst antwortete lächelnd, daß sie vielleicht nicht so reden würde, wenn sie ihm die Ehre erwiesen hätte, seine Güter bei Casentino zu besuchen, obwohl sie durch langwierige Prozesse schwer gelitten hätten. Dort hätte sie sehen können, was der italienische Bauer zu leisten vermag. »Das Schicksal meines Gutes liegt mir am Herzen. Ich kam heute abend gerade von dorther, als mir am Bahnhof die doppelte Freude zuteil wurde, Miß Bell zu begegnen, die ihrer Glocke wegen dort war, und dann auch Sie, Madame, zu treffen, während Sie sich gerade mit einem Bekannten aus Paris unterhielten.« Er ahnte, daß es ihr unangenehm sein würde, wenn er diese Begegnung erwähnte. Als er seine Blicke über die Tafelrunde schweifen ließ, sah er, daß Dechartre überrascht und unruhig zusammenzuckte. Dann fuhr er fort: »Sie entschuldigen, Madame, wenn ich als einfacher Landmann mir anmaße, einige Menschenkenntnis zu besitzen. Aber ich habe es gleich gewußt, daß der Herr, der mit Ihnen sprach, ein Pariser war. Ich sah es an einem gewissen englischen Anstrich und daran, daß er steife Reserviertheit affektierte, während er sich doch völlig ungezwungen und mit ganz eigentümlicher Lebhaftigkeit bewegte.«
»Oh«, sagte Thérèse nachlässig, »ich hatte ihn sehr lange nicht gesehen und war sehr überrascht, ihn im Moment seiner Abreise hier in Florenz zu treffen.«
Dabei sah sie Dechartre an, aber er tat, als ob er nichts gehört hätte.
»Aber ich kenne den Herrn«, sagte Miß Bell. »Es war Monsieur Le Ménil. Ich habe zweimal mit ihm zusammen bei Madame Martin diniert, und wir haben uns sehr gut unterhalten. Er sagte mir, daß er sehr gern Fußball spiele und daß er dieses Spiel in Frankreich eingeführt habe, wo es jetzt Mode geworden sei. Dann hatte er mir von seinen Jagdabenteuern und seiner Tierliebe erzählt. Es ist mir aufgefallen, daß die Jäger eine große Liebe für die Tiere haben. Ich versichere Sie, Darling, Monsieur Le Ménil weiß entzückend von den Hasen zu erzählen. Er kennt ihre Gewohnheiten. Er hat mir gesagt, daß es so hübsch ist, wenn sie abends im Mondschein auf der Heide tanzen. Sie sind sehr klug; er hat einen alten Hasen gesehen, der von Hunden verfolgt wurde und einen andern Hasen mit Pfotenhieben aus seinem Lager aufjagte, um sie auf eine falsche Fährte zu locken. Darling, hat Monsieur Le Ménil Ihnen denn nicht von den Hasen erzählt?«
Thérèse antwortete, daß sie sich nicht erinnern könne und daß sie alle Jäger langweilig fände.
Aber Miß Bell widersprach. Nein, sie glaubte, Monsieur Le Ménil sei durchaus nicht langweilig, wenn er davon sprach, wie die Hasen im Mondschein auf der Heide und in den Weinbergen tanzten. Sie hätte am liebsten wie Phanion ein Häschen großgezogen.
»Darling, Sie kennen Phanion nicht? Monsieur Dechartre kennt sie bestimmt. Sie war sehr schön und den Dichtern lieb. Sie wohnte auf der Insel Kos in einem Häuschen am Berghang, der mit seinen Zitronen- und Terebinthenbäumen zum blauen Meer hinabstieg. Es hieß, sie habe den blauen Blick der See. Ich habe Monsieur Le Ménil die Geschichte der Phanion erzählt, und sie hat ihm viel Freude gemacht. Einmal bekam sie von einem Jäger ein langohriges Häschen geschenkt, das man der Mutter genommen hatte, als sie es noch säugte. Sie zog es auf ihrem Schoße groß und fütterte es mit Frühlingsblumen. Es gewann Phanion so lieb, daß es seine Mutter ganz vergaß. Es starb, weil es zu viel Blumen gefressen hatte. Phanion beweinte es, grub ihm ein Grab unter den Zitronenbäumen und setzte ihm einen Gedenkstein, den sie von ihrem Lager aus sehen konnte. Und der Schatten des kleinen Häschens fand Trost in den Gesängen der Dichter.«
Dann erklärte die gute Madame Marmet, Le Ménil sei sehr beliebt wegen seines eleganten und bescheidenen Auftretens, das heutzutage bei jungen Leuten so selten sei. Sie hätte ihn gern gesehen, weil sie ihn um eine Gefälligkeit bitten wollte.
»Es handelt sich nämlich um meinen Neffen«, sagte sie, »er ist Hauptmann bei der Artillerie, sehr gut angeschrieben und sehr beliebt bei seinen Vorgesetzten. Sein Oberst hat lange unter dem Onkel von Le Ménil, dem General de La Briche, gestanden. Und ich würde Monsieur Le Ménil sehr dankbar sein, wenn er diesen Onkel bitten wollte, sich bei Oberst Faure für ihn zu verwenden. Übrigens kennt er meinen Neffen schon. Sie haben sich voriges Jahr bei einem Maskenball getroffen, den der Hauptmann de Lessay den Offizieren der Garnison Caen und den jungen Leuten aus der Nachbarschaft im Hotel d'Angleterre gab.«
Mit niedergeschlagenen Augen fügte sie dann hinzu: »Die Damen gehörten natürlich nicht der besten Gesellschaft an, aber es sollen sehr hübsche darunter gewesen sein. Die Herren hatten sie aus Paris kommen lassen. Mein Neffe, der mir alle diese Einzelheiten erzählt hat, war als Postillion kostümiert und Monsieur Le Ménil als Schwarzer Husar. Er soll sehr viel Glück gehabt haben.«
Miß Bell sagte, es täte ihr sehr leid, daß sie nichts von seinem Aufenthalt in Florenz gewußt habe. Sie hätte ihn sonst nach Fiesole eingeladen.
Dechartre blieb bis zum Ende der Mahlzeit finster und zerstreut. Als er sich verabschiedete und Thérèse ihm die Hand gab, fühlte sie, daß er es vermied, sie wie sonst zu drücken.
23
Als sie ihn am nächsten Morgen in dem verborgenen Gartenhäuschen der Via Alfieri wiedersah, fand sie ihn traurig gestimmt. Sie gab sich alle Mühe, ihn zu zerstreuen. Sie war liebevoll und heiter und umschmeichelte ihn mit der stolzen Demut eines liebenden Weibes, das sich rückhaltlos hingibt. Aber er wurde nicht froh. Er hatte die ganze Nacht über seinen Kummer nachgedacht, und das, was ihn quälte, hatte dabei immer festere Gestalt angenommen. Er hatte jetzt einen Grund gefunden, sich unglücklich zu fühlen. Seine Phantasie ließ ihn einen Zusammenhang ahnen zwischen der kleinen Hand, die vor der Statue des bronzenen Sankt Markus einen Brief in den Kasten gleiten ließ, und dem nichtssagenden und doch bedrohlichen Unbekannten am Bahnhof. Und so hatte sein Schmerz einen Namen und ein Gesicht bekommen. Von quälenden Bildern bestürmt, saß er in dem Lehnstuhl, auf dem Thérèse bei ihrem ersten Besuch geruht hatte. Sie hatte ihn jetzt darauf niedergezogen, beugte sich über ihn und hüllte ihn ein in ihr warmes Leben und ihre liebende Seele.
Sie wußte ja zu gut, was ihn quälte, um ihn ganz einfach danach zu fragen.
Aber um ihn auf andere Gedanken zu bringen, erinnerte sie ihn an die süßen Geheimnisse, die dieses Zimmer für sie beide barg, und an ihre gemeinsamen Spaziergänge durch die Stadt. Und sie wußte ihn an reizende kleine Vertraulichkeiten zu erinnern.
»Weißt du noch den kleinen Löffel mit der roten Lilie, den du mir unter der Loggia dei Lanzi geschenkt hast? Ich benutze ihn jeden Morgen, wenn ich meinen Tee trinke. Wenn ich aufwache, freue ich mich, ihn wiederzusehen, und daran fühle ich, wie sehr ich dich liebe.«
Aber er erwiderte nur ein paar traurige, inhaltlose Worte, und nun sagte sie: »Sieh, jetzt bin ich so dicht bei dir, und du kümmerst dich gar nicht um mich. Dich beschäftigt ein Gedanke, von dem ich nichts weiß. Und doch bin ich etwas, was wirklich existiert, und das andere ist eine bloße Idee – ein Nichts.«
»Glaubst du wirklich, daß eine Idee nichts ist? Eine Idee kann uns entweder glücklich oder elend machen. Wir können von einer Idee leben oder daran sterben. Und ich denke daran –«
»An was denkst du?«
»Warum fragst du? Du weißt es ja. Ich denke an das, was ich gestern abend gehört habe und was du mir verheimlicht hattest. Ich denke an deine gestrige Begegnung am Bahnhof, die nicht etwa durch einen Zufall herbeigeführt wurde, sondern durch einen Brief – weißt du es noch? –, den du damals bei der Kirche Or San Michele in den Kasten geworfen hast. Oh, ich mache dir keine Vorwürfe. Dazu habe ich kein Recht. Aber warum hast du mir angehört, wenn du nicht frei warst?«
Sie dachte, es sei unmöglich, die Wahrheit zu sagen.
»Du meinst jenen Herrn, den ich gestern am Bahnhof getroffen habe. Ich versichere dir, es war die nichtssagendste Begegnung von der Welt.«
Es berührte ihn schmerzlich, daß sie den Namen nicht auszusprechen wagte. Und nun vermied er es ebenfalls.
»Thérèse, ist er wirklich nicht deinetwegen gekommen? Hast du nicht gewußt, daß er in Florenz war? Ist er nichts weiter für dich als ein Mann, den du in Gesellschaften triffst und der in deinem Hause verkehrt? War er es nicht, um dessentwillen du damals am Arno sagtest: ›Ich kann nicht‹? Ist er dir nichts?«
Fest und bestimmt erwiderte sie: »Ja, er verkehrt bei uns. Der General Larivière hat ihn bei uns eingeführt. Mehr habe ich dir darüber nicht zu sagen. Ich versichere dir, daß er mir in jeder Beziehung gleichgültig ist und daß ich es nicht fasse, wie du etwas anderes glauben kannst.« Es gewährte ihr eine Art Genugtuung, diesen Mann zu verleugnen, der seine Rechte ihr gegenüber so gewaltsam und so hartnäckig geltend gemacht hatte. Aber schnell hielt sie inne; sie stand auf und blickte ihren Freund mit ihren schönen zärtlichen und ernsten Augen an: »Siehst du, von dem Tage an, wo ich mich dir hingegeben habe, gehört mein ganzes Leben nur dir. Wenn ein Zweifel oder ein beunruhigender Gedanke in dir aufsteigt, dann frage mich nur. Die Gegenwart gehört dir, und du weißt, daß nur du, du sie allein erfüllst. Und wenn du wüßtest, wie leer und nichtig mein vergangenes Leben war, würdest du vollkommen beruhigt sein. Ich glaube, keine Frau, die so wie ich zur Liebe geschaffen ist, hätte dir eine so unberührte Seele entgegenbringen können. Das schwöre ich dir. All die Jahre, in denen ich dich noch nicht kannte, habe ich in Wirklichkeit gar nicht gelebt. Laß uns nicht weiter davon sprechen. Es ist nichts darin gewesen, worüber ich mich zu schämen brauchte; ob ich etwas zu bedauern habe, ist eine andere Sache. Ja, ich bedaure, daß ich dich erst so spät kennengelernt habe. Warum bist du nicht früher gekommen? Vor fünf Jahren hätte ich mich dir ebenso freudig hingegeben wie heute. Aber du mußt mir vertrauen, und dann wollen wir das Vergangene nicht weiter aufrühren. Denke an Lohengrin. Wenn du mich liebst, bin ich für dich der Schwanenritter. Ich habe dich um nichts gefragt. Ich habe nichts wissen wollen. Ich habe dir keine Vorwürfe in bezug auf Mademoiselle Jeanne Tancrède gemacht. Ich sah, daß du mich liebtest, daß du littest, und das war mir genug – weil ich dich liebte.«
»Eine Frau kann gar nicht in derselben Weise eifersüchtig sein wie der Mann, und sie vermag nie nachzufühlen, was uns so leiden macht!«
»So, das weiß ich nicht. Und warum?«
»Warum? Weil es nicht in ihrem Fleisch und Blut liegt, diese sinnlose und doch so erhabene Leidenschaft, den Gegenstand seiner Liebe ganz allein zu besitzen, dieser uralte Instinkt, aus dem sich der Mann ein Recht gemacht hat. Der Mann ist der Gott, der da will, daß sein Geschöpf nur ihm gehört. Seit unvordenklichen Zeiten ist die Frau dazu geschaffen, Besitz des Mannes zu sein. Es ist die Vergangenheit, die dunkle Vergangenheit, die bestimmend auf unsere Leidenschaften wirkt. Wir sind ja schon so alt, wenn wir geboren werden.
Bei der Frau ist die Eifersucht nur gekränkte Eitelkeit. Aber beim Mann ist es eine tiefgehende, physische und moralische Qual. – Du fragst, warum? Siehst du, trotz der andächtigen Ehrfurcht, trotz der liebenden Scheu, die ich vor dir empfinde – du bist für mich die Materie, und ich bin die Idee, die sie beseelt, du bist die Form und ich der Inhalt, du der Ton und ich der Bildner. Oh, du brauchst dich nicht darüber zu beklagen. Was ist denn der armselige Töpfer neben dem schön geformten laubumkränzten Krug, der aus seiner Hand hervorgegangen ist?
Sein Werk atmet Ruhe und Schönheit, aber wie elend steht er daneben da. Er quält sich, er leidet unter seinem Wollen – denn Wollen bedeutet Leiden. O ja, ich bin eifersüchtig. Und ich weiß wohl, was alles in meiner Eifersucht liegt. Wenn ich meine Empfindungen prüfe, so finde ich ererbte Vorurteile und daneben den Stolz des Wilden, eine krankhafte Empfindlichkeit, ein Gemisch von sinnloser Gewalttätigkeit und grausamer Schwäche, eine törichte und böse Auflehnung gegen die Satzungen des Lebens und der Welt. Aber obwohl ich das alles weiß und einsehe, hört es doch nicht auf, mich zu quälen.
Ich bin der Chemiker, der beim Probieren der Säure erkennt, mit welchen Basen sie neutralisiert wird, welche Salze sie bildet, und der dennoch von ihr verbrannt, bis auf die Knochen verbrannt wird.«
»Du wirst absurd, mein Lieber.«
»Ja, das bin ich, ich fühle es selbst besser als du. Ja, es ist sinnlos, eine Frau zu begehren, in der vollen Blüte ihrer Schönheit und ihres Geistes, eine Frau, die als Herrin ihrer selbst freiwillig und wissend über sich verfügt, die weiß, was sie tut und es dennoch wagt und dadurch nur noch schöner und begehrenswerter wird. Eine solche Frau zu lieben und nach ihrem Besitz zu verlangen, gerade weil sie so ist, und doch darunter zu leiden, daß sie nicht mehr jene farblose kindliche Unschuld hat, die bei ihr abstoßend wirken müßte, wenn sie sie wirklich besäße; gleichzeitig zu verlangen, daß sie das sein soll, was sie ist, und daß sie es doch wieder nicht sein soll; sie anzubeten, so wie das Leben sie gemacht hat, und dabei bitter zu bedauern, daß dieses Leben, das sie doch verschönte, sie überhaupt nur anrühren durfte – ja, das ist Wahnsinn. Ich liebe dich, hörst du, ich liebe dich, so wie du mein geworden bist, mit deinem Fühlen, deinem ganzen Wesen, mit all den Erfahrungen, mit alledem, was vielleicht von jenem Mann oder von andern herrührt – was weiß ich denn?
Darin liegt meine ganze Wonne und meine ganze Qual. Es muß doch ein tiefer Sinn darin liegen, daß die unvernünftige öffentliche Meinung unsere Liebe als Schuld verdammt. Wenn die Freude ins Unendliche wächst, wird sie immer zur Schuld. Siehst du, Liebste, das ist es, was mich so quält.«
Sie kniete vor ihm nieder, faßte seine Hände und zog ihn an sich.
»Ich will nicht, daß du leidest. Nein, ich will es nicht. Es ist sinnlos. Ich liebe dich und habe immer nur dich geliebt. Du darfst mir glauben. Ich lüge nicht.«
Er küßte sie auf die Stirn: »Ich würde dir nicht einmal zürnen, Liebste, wenn du mich getäuscht hättest. Im Gegenteil, ich wäre dir sehr dankbar dafür. Gibt es denn etwas Menschlicheres und etwas, was berechtigter wäre, als jemand zu täuschen, um ihm einen Schmerz zu ersparen? Mein Gott, was sollte denn aus uns werden, wenn die Frauen nicht so barmherzig wären, uns zu belügen. Ja, tue es, Geliebte, belüge mich aus Barmherzigkeit. Laß mich in dem Traum, der allen düsteren Kummer verschönt. Ja, du sollst lügen, du sollst dir keine Skrupel darüber machen. Du wirst dem Traumbild der Schönheit und der Liebe nur einen Trug mehr hinzufügen.«
Und dann seufzte er: »O der gesunde Menschenverstand, die triviale Weisheit.«
Sie fragte, was er damit sagen wollte und was diese triviale Weisheit wäre, und er erwiderte, daß er an ein Sprichwort dächte. Es wäre sehr zutreffend, aber ziemlich grob, und er wollte es lieber nicht sagen.
»Sag es trotzdem.«
»Wenn du es durchaus willst: Geküßter Mund bleibt immer jung. – Es ist auch wahr«, fügte er hinzu, »daß die Liebe die Schönheit erhält. Die Frau saugt immer neue Lebenskraft aus der Liebe wie die Biene den Honig aus den Blüten.«
Sie küßte ihn auf den Mund, um ihren Liebesschwur zu besiegeln: »Ich schwöre dir, daß ich nur dich geliebt habe. O nein, die Liebe ist es nicht gewesen, die mir dies bißchen Schönheit erhalten hat, das ich dir so gern darbringe. Ich habe dich ja so lieb, so lieb.«
Aber wieder dachte er an den Briefkasten bei der Kirche Or San Michele und an den fremden Mann am Bahnhof.
»Wenn du mich wirklich liebtest, dann würdest du mich allein lieben.«
Jetzt stand sie entrüstet auf: »Du glaubst also doch, daß ich einem andern angehöre? Aber es ist furchtbar, daß du so etwas auszusprechen vermagst. So denkst du also über mich. Und du sagst, daß du mich liebst. – Sieh, ich habe Mitleid mit dir, weil du von Sinnen bist.«
»Bin ich das wirklich – bin ich von Sinnen? Sag es mir – sag es mir noch einmal.«
Sie war vor ihm niedergekniet. Ihre Hände umfingen seine Schläfen und seine Wangen. Und nun wiederholte sie ihm, daß es sinnlos sei, sich über ein ganz gewöhnliches und bedeutungsloses Zusammentreffen zu beunruhigen. Sie zwang ihn zu glauben oder vielmehr zu vergessen. Er sah und fühlte jetzt nichts mehr als ihre zarten Hände, ihre glühenden Lippen, ihre gierigen Zähne, ihre volle Brust, ihren ganzen Körper, der sich ihm darbot, und hatte keinen andern Gedanken mehr, als in ihren Armen zu vergehen. Alle Bitterkeit und aller Zorn waren von ihm geschwunden, und es war nichts zurückgeblieben als das brennende Verlangen, alles zu vergessen und auch in ihr jeden Gedanken auszulöschen, mit ihr hinzusinken in den Taumel der Wollust. Und sie selbst, von Unruhe und Verlangen gestachelt, fühlte die heiße Leidenschaft, die sie in ihm hervorrief. Sie fühlte, daß sie alles über ihn vermochte, und zugleich, wie machtlos sie war. Und mit einer Glut wie nie zuvor gab sie ihm Liebe um Liebe. Es war eine unbewußte Raserei, ein dumpfes Begehren in ihr, sich rückhaltloser als jemals hinzugeben, und sie ging so weit, wie sie selbst es nie für möglich gehalten hätte.
In warme Schatten gehüllt lag das Zimmer da. Goldene Lichtpfeile schossen durch die Vorhänge und ließen den Korb mit Erdbeeren aufleuchten, der neben einer Flasche Asti auf dem Tischchen stand. Die venezianische Dame lächelte mit ihren farblosen Lippen auf das Bett hernieder, und auf den Wandschirmen zogen die Schäfer von Bergamo und Verona in stummem, fröhlichem Reigen dahin. Von einer vollerblühten Rose, die in einem Glase auf dem Tisch stand, fiel langsam Blatt um Blatt herab. Und durch das stille Gemach wehte nur der schwüle Atem der Liebe.
Sie gaben sich ihrer wollüstigen Ermattung hin. An der Brust des Geliebten schlief sie ein, und durch den leichten Schlummer bebten die genossenen Wonnen nach. Als sie die Augen wieder aufschlug, sagte sie voller Glück: »Ich liebe dich.«
Er hatte die Arme auf das Kissen gestützt und sah sie mit dumpfer Bangigkeit an. Sie fragte, warum er traurig sei: »Eben noch warst du so froh, warum bist du es nicht mehr?« Und als er schweigend den Kopf schüttelte: »So sprich doch ein Wort. Ich will lieber deine Klagen als dein Schweigen.«
Und nun sagte er: »Willst du es wirklich wissen? Aber sei nicht böse. Ich leide mehr als je zuvor, weil ich jetzt weiß, was du zu geben vermagst.«
Sie fuhr jäh zurück und blickte ihn voller Schmerz und Vorwurf an.
»Und du kannst glauben, daß ich jemals einem anderen das gewesen bin, was ich dir jetzt war? Du triffst mich gerade da, wo ich am empfindlichsten bin – in meiner Liebe zu dir. Das verzeihe ich dir nicht. Ich liebe dich. Ich habe nur dich geliebt und nur durch dich gelitten. Aber du kannst zufrieden sein. Du hast mir sehr weh getan. Bist du im Grunde deines Herzens böse?«
»Thérèse, wenn man liebt, ist man niemals gut.«
Sie saß im Bett und ließ wie eine Badende ihre nackten Beine herabhängen. So blieb sie lange unbeweglich und in Gedanken sitzen. Ihr Gesicht, das vorhin vor Glück erbleicht war, rötete sich jetzt wieder, und eine Träne netzte ihre Wimpern.
»Thérèse, warum weinst du?«
»Verzeih mir, mein Freund, es ist das erstemal in meinem Leben, daß ich liebe und daß ich wirklich geliebt werde. Ich fürchte mich.«
24
In der Glockenvilla hörte man das schwere Poltern der Koffer auf den Treppen. Daneben stieg Pauline mit Paketen beladen leichtfüßig die Stufen hinab, während die gute Madame Marmet mit ihrer ruhigen Wachsamkeit den Transport leitete und Miß Bell sich in ihrem Zimmer ankleidete.
Thérèse lehnte in ihrem grauen Reisekostüm an der Balustrade der Terrasse und warf noch einen letzten Blick auf die Stadt der Blumen.
Sie hatte sich endlich zur Abreise entschlossen. Ihr Mann bat sie in jedem Brief, bald wiederzukommen. Wenn sie, wie er inständig bat, Anfang Mai nach Paris zurückkehrte, so könnten sie vor dem Grand Prix noch zwei oder drei Diners mit großen Empfängen geben. Seine Partei wurde von der öffentlichen Meinung unterstützt, und der Strom schien ihn vorwärts zu tragen. Garain hatte gemeint, der Salon der Gräfin Martin könne von ausgezeichnetem Einfluß auf die Zukunft des Landes sein.
Alle diese Gründe machten zwar wenig Eindruck auf sie, aber sie war momentan sehr wohlwollend gegen ihren Mann gestimmt und bereit, sich ihm gefällig zu zeigen. Vorgestern hatte sie auch einen Brief von ihrem Vater erhalten. Montessuy ging weder auf die politischen Aussichten seines Schwiegersohnes ein, noch wollte er seiner Tochter irgendeinen Rat geben, aber er ließ durchblicken, daß man in der Gesellschaft anfing, sich mit dem geheimnisvollen Aufenthalt der Gräfin Martin zu beschäftigen, die sich unter Dichtern und Künstlern in Florenz aufhielt, und daß man die Glockenvilla von Paris aus in einem phantastisch-romantischen Lichte sah.
Übrigens fühlte sie selbst sich in diesem engen Kreise von Fiesole zu sehr beobachtet. Madame Marmet war ihr lästig, und der Fürst Albertinelli beunruhigte sie in ihrem neuen Leben.
Die Zusammenkünfte im Gartenhaus in der Via Alfieri wurden schwierig und gefährlich.
Professor Arrighi, den der Fürst öfters besuchte, hatte sie eines Abends getroffen, als sie dicht an Dechartre geschmiegt durch die einsamen Straßen ging. Professor Arrighi, der Verfasser eines Lehrbuchs der Landwirtschaft, war der liebenswürdigste aller Weisen. Er hatte sein schönes, heroisches Antlitz mit dem weißen Bart abgewandt und nur am nächsten Tage zu der jungen Frau gesagt: »Früher fühlte ich das Nahen einer schönen Frau schon von weitem. Jetzt, da ich über die Tage hinaus bin, wo Damen mir ihre Gunst schenken, hat der Himmel Mitleid mit mir und verhüllt sie meinem Blicke. Ich habe sehr, sehr schlechte Augen bekommen. Heute erkenne ich auch das liebenswerteste Geschöpf nicht mehr.« Sie hatte verstanden und nahm es sich zur Warnung. Sie sehnte sich danach, ihr Glück in dem großen Paris verstecken zu können.
Vivian, der sie ihre nahe Abreise angekündigt hatte, war in sie gedrungen, doch noch ein paar Tage zu bleiben. Thérèse aber hatte den Verdacht, daß ihre Freundin noch immer schockiert war über den Rat, den sie ihr eines Nachts in dem Zimmer mit den Zitronenbäumen gegeben hatte. Zum mindesten fürchtete sie, daß Miß Bell sich nicht mehr recht wohl fühlte in Gesellschaft einer Vertrauten, die ihre Wahl mißbilligte und die der Fürst ihr als kokett, vielleicht sogar als leichtsinnig dargestellt hatte. Die Abreise wurde also auf den 5. Mai festgesetzt.
Ein klarer, heitrer Tag lag über dem Arnotal. Thérèse blickte träumerisch von der Terrasse auf das blaue Becken von Florenz hinab, über dem der Himmel im roten Morgenschein leuchtete. Dann beugte sie sich vor, um am Fuß der blühenden Abhänge den winzig kleinen Erdenwinkel zu entdecken, wo sie so unsagbare Wonnen genossen hatte.
Wie ein dunkler Fleck lag der Friedhof da, und dort mußte die Via Alfieri sein. Und nun sah sie sich wieder in jenem Zimmer, das ihr so teuer geworden war und das sie wohl nie wieder betreten würde. Wie die wehmütige Erinnerung an einen entflohenen Traum tauchten jene unwiederbringlich dahingeflossenen Stunden wieder vor ihr auf. Ihre Augen umflorten sich, ihre Knie zitterten, und das Herz wurde ihr schwer. Es kam ihr vor, als ob sie nicht mehr lebte, als ob sie ihr innerstes Leben dort in jenem Winkel von Florenz zurückgelassen hatte, wo die starren schwarzen Wipfel der Pinien emporragten.
Sie war unzufrieden mit sich selbst. Warum war sie so von Angst und Unruhe erfüllt, wo sie doch hätte hoffen und sich freuen sollen. Sie wußte ja, daß sie Jacques Dechartre in Paris wiedertreffen würde. Sie hätten beide gleichzeitig dort ankommen, am liebsten sogar zusammen reisen mögen. Aber wenn sie es auch für nötig gehalten hatten, daß er noch einige Tage in Florenz bleiben sollte, so stand ihre Wiedervereinigung doch nahe bevor. Das erste Rendezvous war verabredet, und sie lebte jetzt schon in dem Gedanken daran. Sie nahm ihre Liebe mit sich, sie war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Und doch blieb ein Teil ihres Selbst in dem kleinen Gartenhaus mit den Nymphen und Ziegen zurück – etwas das für immer dahin war. In der vollen Glut des Lebens sehnte sie sich nach unendlich zarten und köstlichen Dingen. Sie erinnerte sich, wie Dechartre ihr gesagt hatte: »Die Liebe ist Fetischismus. Ich habe auf der Terrasse ein paar vertrocknete schwarze Beeren von dem Ligusterstrauch gepflückt, den du einmal angeblickt hast.« – Warum hatte sie nicht daran gedacht, einen kleinen Stein von jenem Gartenhaus mitzunehmen, wo sie die Welt in ihrer Liebe vergessen hatte?
Ein Aufschrei von Pauline schreckte sie aus ihren Gedanken empor. Choulette war plötzlich aus dem Gebüsch hervorgesprungen und hatte der Kammerjungfer, die die Mäntel und Reisetaschen in den Wagen trug, einen Kuß gegeben. Und jetzt jagte er durch die Alleen, struppig und vergnügt; die abstehenden Ohren an seinem kahlen Schädel sahen beinah wie Hörner aus. Als er herankam, begrüßte er Madame Martin: »Ich muß also Abschied von Ihnen nehmen, Madame?«
Er wollte in Italien bleiben. Eine Dame hatte ihn zu sich gerufen, wie er sagte. Die Dame hieß Rom. Er wollte dort die Kardinäle aufsuchen. Der eine, der für einen äußerst verständigen alten Mann galt, würde vielleicht auf seine Idee, eine revolutionäre sozialistische Kirche zu gründen, eingehen.
Choulette hatte sein Ziel. Er wollte auf den Trümmern der ungerechten, grausamen Zivilisation das Kreuz von Golgatha aufrichten, nicht mehr das nackte, tote, sondern ein lebendiges, das mit blühenden Armen die Welt beschatten sollte. Zu diesem Zwecke wollte er einen Orden und eine Zeitung gründen. Den Orden kenne Madame Martin. Das Blatt sollte einen Sou kosten und in rhythmischer Rede und in Klageversen abgefaßt sein. Es könne, nein, müsse vorgesungen werden. Ganz schlichte und ungekünstelte, starke oder heitere Verse seien schließlich die einzige Sprache, die für das Volk passe. Prosa gefiele nur Leuten mit sehr subtilem Verstand. Er hatte sich oft genug bei den Anarchisten in den Kneipen der Rue Saint-Jacques aufgehalten, und sie hätten ihre Nächte damit verbracht, Poesie vorzutragen und anzuhören.
»Eine Zeitung«, erklärte er weiter, »die ein Liederbuch sein wird, wird dem Volk ans Herz greifen. Man spricht mir einige Begabung nicht ab. Ob man damit recht hat, weiß ich nicht. Aber man muß zugeben, daß ich einen praktischen Sinn habe.«
Miß Bell stieg, sich ihre Handschuhe anziehend, die Freitreppe herab.
»O Darling, Stadt, Hügel und Himmel wollen von Ihnen beweint werden. Sie haben sich heute nur darum so schön gemacht, damit Sie den Abschied bedauern und sich nach ihnen zurücksehnen ...«
Choulette aber, der der zierlichen, etwas trockenen Anmut des Toskaner Landes überdrüssig war, sehnte sich nach dem grünen Umbrien und seinem feuchten Himmel. Er dachte an Assisi, das aufrecht und betend in seiner saftigen Au stand, inmitten einer weicheren und demütigeren Welt.
»Es gibt dort Wälder und Gestein«, sagte er, »Lichtungen, in denen ein Stück Himmel mit weißen Wolken sichtbar wird. Ich bin dort in den Fußstapfen des heiligen Franziskus gewandelt und habe seinen Sonnengesang in meine schlichten, armseligen französischen Reime gebracht.«
Madame Martin wollte sie hören. Miß Bell lauschte bereits, und ihr Gesicht hatte den inbrünstig andachtsvollen Ausdruck der Engel Mino da Fiesoles.
Choulette machte sie darauf aufmerksam, daß es nur eine rohe, kunstlose Arbeit sei. Die Verse wollten nicht schön sein. Sie seien einfach, manchmal uneben wegen der Leichtigkeit. Und mit schleppender, eintöniger Stimme rezitierte er den Lobgesang:
»Ich preise dich, mein Gott, weil du die Erde gemacht
in Liebe und Glanz und unser Leben darin gewollt.
Dem Maler gleich, der Bilder in ein Buch gebracht,
besätest du die Welt mit Grün und Blau und Gold.
Ich preise dich, mein Gott, weil du die Leuchterin
und Königin der Welt erschufst gleich gut und hold,
weil sie dein würdig ist und strahlenprächtig hin
nach deinem Sinn ein Flammenball durchs Weltall rollt.
Ich preise dich, mein Gott, um meinen Bruder Wind,
um Schwester Lunen und die Sternenschwesterscharen,
und weil am blauen Himmel deine Wolken sind
und Morgennebel oft wie Linnen ausgebreitet waren.
Ich preise dich, mein Gott, und will dich benedein,
um jeden Grashalm und um jede Eichenkrone,
um Feuer, mir so brüderlich gut und gemein,
um Schwester Wasser, deine köstlich keusche Nonne.
Und um die starke Erde, die die Brust in Blüten,
die Mutter samt dem Kind, in Windeln jauchzend, stillt,
und jeden, der dich liebt, den Armen, dessen Träne Engel hüten,
und zu dir tragen, wenn seinem Schmerze sie entquillt.
Um meine Schwester Leben und um den Bruder Tod
will ich dich ewig preisen, Herr, und will inmitten
des Sterbens Kind sein, das vom schönen Abendrot
zu Morgenröten schläft, die nimmermehr verglühten.«
»Ach, Monsieur Choulette«, sagte Miß Bell, »dies Gedicht steigt gen Himmel, wie der Eremit auf dem Campo santo in Pisa den von den Ziegen geliebten Berg erklimmt. Ich will es Ihnen beschreiben: Der greise Eremit steigt empor, auf den Stab des Glaubens gestützt. Seine Schritte sind ungleichmäßig, weil die Krücke ihn nur auf der einen Seite stützt, so daß dieser Fuß dem andern voraus ist. Darum sind auch Ihre Verse ungleichmäßig. Ach, ich habe Sie so gut verstanden.«
Der Dichter nahm das Lob an, in der festen Überzeugung, es unbewußt verdient zu haben.
»Sie haben den Glauben, Monsieur Choulette«, sagte Thérèse, »und wozu sollte er Ihnen dienen, wenn nicht dazu, schöne Verse zu machen?«
»Um zu sündigen, gnädige Frau.«
»Ach, wir sündigen schon ohnedies.«
Madame Marmet erschien. Sie war völlig reisefertig und freute sich im Grunde ihres Herzens darauf, ihre kleine Wohnung in der Rue de la Chaise, ihr Hündchen Toby, ihren alten Freund Monsieur Lagrange und nach all den Etruskern von Fiesole ihren heimischen Kriegersmann wiederzusehen, der inmitten der Bonbonschachteln durch das Fenster auf den Square du Bon-Marché hinaussah.
Miß Bell fuhr die Freundinnen in ihrem Wagen zum Bahnhof.
25
Dechartre war erschienen, um den beiden Damen Lebewohl zu sagen. Als sie sich getrennt hatten, fühlte Thérèse, was er für sie war. Er hatte ihrem Leben einen neuen, köstlichen Reiz verliehen, der so frisch und wirklich war, daß sie ihn auf ihren Lippen fühlte. Wie in einem Traum lebte sie jetzt dem Wiedersehen entgegen und blickte nur dann und wann in stillem Staunen auf, wenn Madame Marmet während der Fahrt irgendeine Bemerkung machte: »Ich glaube, wir sind schon über die Grenze«, oder: »Sehen Sie, wie die Rosen dort an der Küste blühen.«
Ihre innere Freude hielt an, als sie nach einer Hotelnacht in Marseille die grauen Olivenbäume auf den steinigen Halden sah, die Maulbeerbüsche und das ferne Profil des Pilatus, die Rhone, Lyon und dann die heimischen Gegenden, die Bäume, die den Strauß ihrer Wipfel hoch erhoben. Vor kurzem waren sie noch düster und violett gewesen, und jetzt standen sie in einem Kleide von zartem Grün da. Sie sah die kleinen gestreiften Teppiche der bebauten Felder an den Hängen wieder und die Pappelreihen an den Flußufern. Die Reise floß ihr gleichmäßig dahin. Sie kostete die Fülle der durchlebten Stunden und das Erstaunen über so viel Glück noch einmal durch. Mit dem Lächeln einer aus dem Traum erwachenden Schläferin begrüßte sie im fahlen Licht der Bahnhofshalle ihren Mann, der glücklich war, sie wiederzusehen. Dann umarmte sie die gute Madame Marmet und dankte ihr von ganzem Herzen. Und sie empfand auch wirklich eine tiefe Dankbarkeit gegen alles, was sie umgab. Es ging ihr wie dem heiligen Franziskus, von dem Choulette ihr so viel erzählt hatte.
Als sie dann in ihrem Coupé die Quais unter dem golden leuchtenden Staub des Abends entlangfuhren, hörte sie ohne Ungeduld zu, während ihr Mann ihr von seinen Erfolgen auf der Rednertribüne, von den Absichten seiner Partei, von seinen Plänen und Hoffnungen erzählte und schließlich von der Notwendigkeit sprach, demnächst zwei oder drei große politische Diners zu geben. Sie schloß die Augen, um sich ihren Träumen ungestört hingeben zu können, und dachte: ›Morgen habe ich einen Brief von ihm, und in acht Tagen sehen wir uns wieder.‹
Als sie über die Brücke kamen, blickte sie hinab auf das Wasser im feurigen Widerschein, auf die rauchdunklen Brückenreihen, die langen Platanenreihen und die blühenden Kastanienbäume am Cours-la-Reine. Die wohlbekannte Umgebung erschien ihr in einem zauberisch neuen Licht. Es war ihr, als ob ihre Liebe das ganze Weltall verklärt hätte. Und dann fragte sie sich, ob wohl die Steine und Bäume sie wiederkannten, und dachte bei sich: ›Wie ist es möglich, daß meine Augen, mein ganzes Wesen, ja selbst mein Schweigen – wie ist es möglich, daß Himmel und Erde nicht von meinem Geheimnis reden?‹
Monsieur Martin-Bellème, der sie für übermüdet hielt, riet ihr, sich auszuruhen.
Als es Nacht war, hatte sie sich in ihrem Zimmer eingeschlossen, und in dem tiefen Stillschweigen, in dem sie nur ihr Herz klopfen hörte, schrieb sie einen Brief an den fernen Geliebten – einen Brief voll jener Liebesworte, die in ihrer ewigen Neuheit den Blumen gleichen: »Ich habe Dich lieb und sehne mich Dir entgegen. Ich bin glücklich! Ich fühle, daß Du mir nah bist und daß nichts auf der Welt ist als Du und ich. Von meinem Fenster aus sehe ich einen Stern, der in bläulichem Lichte zittert. Und während ich ihn anblicke, denke ich daran, daß Du ihn auch in Florenz siehst. Auf meinem Tisch liegt der kleine Löffel mit der roten Lilie. Komm bald! Der Gedanke an Dich brennt in meiner Seele! Komm!«
Es waren die ewigen, uralten Gefühle und Bilder, die in ihrem Herzen zu neuem Leben erwachten.
So lebte sie eine Woche ganz in sich selbst versunken dahin. Die süße Glut der Tage in der Via Alfieri brannte noch in ihr. Es war ihr, als ob sie noch jeden Kuß fühlte, den er ihr damals gegeben, und sie liebte sich selbst, weil sie sich von ihm geliebt wußte.
Sie ließ sich neue Toiletten machen und überwachte die Anfertigung mit Geschmack und liebevoller Sorgfalt. Sie fand sich selbst schön und wollte sich selbst gefallen.
Wenn nichts von ihm auf der Post war, befiel sie eine wahnsinnige Unruhe, aber wenn der Schalterbeamte ihr durch das kleine Gitter einen Brief reichte, auf dem sie die breite, schwungvolle Handschrift ihres Freundes erkannte, so zitterte sie vor Freude und verschlang jedes seiner Worte, das von Erinnerungen, Wünschen und Hoffnungen sprach.
So verfloß die Zeit schnell in heißen, von auf und nieder wogenden Gefühlen zerrissenen Stunden.
Nur der Morgen des Tages, an dem Jacques ankommen sollte, kam ihr entsetzlich lang vor.
Lange, ehe der Zug ankam, war sie am Bahnhof. Es war eine Zugverspätung gemeldet worden, und das brachte sie ganz außer sich. Sie war optimistisch in allen ihren Lebensplänen, und wie ihr Vater, wollte sie sich ihr Schicksal nach ihrem eigenen Willen gestalten – so erschien ihr diese Verzögerung, die sie nicht vorausgesehen hatte, wie ein Verrat. Das fahle Licht, das während dreier Viertelstunden durch die Glasscheiben der Halle auf sie herabsickerte, kam ihr vor wie die Körner einer ungeheuren Sanduhr, die die Minuten abmaß, die man ihrem Glück gestohlen hatte.
Sie war schon nahe daran, zu verzweifeln, als die riesige Schnellzuglokomotive, folgsam wie ein Tier, endlich im letzten roten Schein der untergehenden Sonne auf dem Bahnsteig hielt und sie Jacques' hohe, schlanke Gestalt durch das Gedränge der Aussteigenden auf sich zukommen sah. Er blickte sie an mit jener dunklen, wilden Freude, die sie an ihm kannte, und sagte: »Endlich hab' ich dich wieder. Ich hatte schon Angst zu sterben, ehe ich dich wiedersehen würde. Du weißt ja nicht, und ich habe es selbst nicht gewußt, was für eine Qual es ist, eine ganze Woche von dir getrennt zu sein. Ich bin wieder in dem kleinen Gartenhaus in der Via Alfieri gewesen, und in dem Zimmer – du weißt – vor dem alten Pastell habe ich geweint vor Raserei und Liebe.«
Sie sah ihn mit glücklichem Blick an. »Und ich – meinst du nicht, daß auch ich dich herbeirief, daß ich dich bei mir haben wollte und in meiner Einsamkeit die Arme nach dir ausstreckte? Ich habe deine Briefe in dem Schrank verborgen, wo ich meine Schmucksachen aufbewahre, und in der Nacht las ich sie immer und immer wieder. Es war unvorsichtig von mir, aber ich war glücklich. In deinen Briefen fühlte ich dich, dein ganzes Selbst – nur zu sehr und doch zu wenig.«
Sie gingen über den Vorplatz, wo die kofferbeladenen Fiaker daherrasselten. Thérèse fragte ihn, ob sie nicht einen Wagen nehmen wollten. Er gab keine Antwort, er schien ihre Worte gar nicht gehört zu haben.
Dann sagte sie: »Einmal bin ich bis zu deinem Hause gegangen, aber ich wagte nicht, es zu betreten. Ich habe nur durch das Gitter geblickt; da sah ich die Fenster im Hintergrund des Hofes hinter einer Platane und unter lauter Rosen, und ich dachte: ›Dort ist es.‹ – Ich bin niemals so bewegt gewesen.«
Er sah und hörte nicht mehr. Eilig überquerte er mit ihr den Fahrdamm; sie stiegen eine schmale Treppe hinab und kamen in eine verlassene Straße, die etwas tiefer lag als der Bahnhofsplatz. Und dort zwischen Holzplätzen und Kohlenschuppen sah sie ein kleines Hotel mit Tischen vor der Tür und einem Restaurant im Erdgeschoß. Die Fenster unter dem gemalten Wirtshausschild waren mit weißen Vorhängen verhüllt.
Dechartre blieb vor der kleinen Tür stehen und schob Thérèse in den dunklen Gang hinein.
»Wo führst du mich hin«, fragte sie, »und was ist die Uhr? Ich muß um halb acht zu Hause sein. – Wir sind von Sinnen.«
Und dann, in einem Zimmer mit roten Fliesen, einem Bett von Nußbaumholz und einem kleinen Teppich, auf dem ein Löwe dargestellt war, schwelgten sie einen Augenblick in weltentrücktem Vergessen.
Als sie die Treppe wieder hinabstiegen, sagte sie: »Jacques, mein Freund, wir sind zu glücklich. Wir begehen einen Raub am Leben.«
26
Am nächsten Tage brachte sie eine Droschke nach einer belebten und dennoch öden Straße. Es war dort halb düster, halb heiter, Gartenmauern zwischen Neubauten. Der Wagen machte halt, wo die Straße unter der gewölbten Arkade eines Gebäudes im Regence-Stil hindurchläuft, das sich, verstaubt und vergessen, wie aus Laune quer über die Straße schiebt. Hier und da strecken sich grüne Zweige zwischen den Mauern hervor und geben diesem Stadtwinkel ein freundlicheres Gesicht.
Während sie an der kleinen Pforte die Glocke zog, sah sie sich um und erblickte in dem von Häusern umschlossenen Viereck eine Dachluke, über der ein Flaschenzug hing, und einen großen vergoldeten Schlüssel, der einem Schlosser als Wahrzeichen diente. Und sie nahm alle Einzelheiten dieser neuen Umgebung in sich auf, als ob sie ihr längst vertraut und bekannt waren.
Tauben flogen über sie hinweg, und sie hörte Hühner gackern. Dann erschien ein Diener mit mächtigem Schnurrbart, um sie einzulassen. Es lag etwas halb Militärisches, halb Ländliches in seinem Äußeren.
Sie trat jetzt in den kiesbestreuten Hof, auf den eine Platane ihren Schatten warf. Auf der linken Seite war das Pförtnerhäuschen; in seinen Fenstern hingen Käfige mit Kanarienvögeln. Daneben erhob sich der weinumrankte Giebel des Nachbarhauses; ein Bildhaueratelier lehnte sein Gebälk daran, hinter dessen großen Fensterscheiben verstaubte Gipsabgüsse schliefen.
Zur Rechten war der Hof durch eine niedrige Mauer abgeschlossen, in die kostbare Trümmerstücke von Friesen und zerbrochene Säulenschäfte eingelassen waren.
Im Hintergrund erblickte man das Wohnhaus. Es war nicht sehr groß und hatte an der Vorderseite sechs Fenster, halb verborgen unter Efeu und wilden Rosen.
Philippe Dechartre hatte darin, von der Architektur des 15. Jahrhunderts entzückt, mit großer Stilkenntnis den Charakter eines Privatbaues aus der Zeit Ludwigs XII. wiederzuerwecken versucht. Das Gebäude war um die Mitte des zweiten Kaiserreiches begonnen, aber nie zu Ende geführt worden. Der Erbauer so vieler Schlösser war gestorben, ehe er noch sein eigenes Nest hatte fertigstellen können. Es hatte dadurch aber nur gewonnen. Es war in einem Stil begonnen, der damals vielleicht seinen ausgezeichneten Wert hatte, während er jetzt banal und unzeitgemäß erscheint. Allmählich war es seines Rahmens weiter Gärten verlustig gegangen, und nun stand das kleine Palais Dechartres zwischen den Mauern hoher Häuser eingezwängt. Das rohe, unbehauene Steinwerk war in der vergeblichen Erwartung des vielleicht schon vor zwanzig Jahren gestorbenen Steinmetzen abgebröckelt; die drei Dachfenster waren in ihrer kunstlosen Plumpheit kaum herausgearbeitet; das Dach hatte die Witwe des Architekten nur ganz einfach und mit wenig Kostenaufwand decken lassen. Aber all diese glücklichen Zufälle des Unvollendeten und Unbeabsichtigten verbesserten die Unschönheit der allzu neuen Altertümlichkeit und archäologischen Romantik. Sie vertrugen sich mit der Bescheidenheit dieses durch die wachsende Bevölkerung verhäßlichten Viertels.
Kurz und gut, das kleine Haus besaß bei allem scheinbaren Verfall in seinem grünen Kleid genügend Reiz. Und plötzlich entdeckte Thérèse mit sicherem Gefühl noch andere Übereinstimmungen. In der vornehmen Vernachlässigung, die sich von den efeubedeckten Wänden bis zu den blinden Fensterscheiben des Ateliers, ja sogar bis auf die überhängende, mit ihren Rindenschuppen das üppige wilde Gras im Hofe bestreuende Platane erstreckte, erkannte sie den Geist des Bewohners, der gleichgültig gegen das Bestehende, nicht geschickt, zu bewahren, das ewige Ungenügen leidenschaftlicher Herzen in sich trug. Bei aller Freude empfand sie einen innersten Schmerz, als sie die Gleichgültigkeit gewahr wurde, mit der er die Dinge rings um ihn her behandelte. Sie erkannte darin eine lässige Vornehmheit, zugleich aber auch eine geistige Losgelöstheit, die ihrer eigenen Natur, ihrer Montessuyischen Seele voller Interessen und Fürsorglichkeiten ganz entgegengesetzt war. Sie dachte sofort, wie sie, ohne die verträumte Anmut dieses verwilderten Erdenwinkels zu stören, ihre ordnende Aktivität hineintragen, wie sie den Weg mit Kies bestreuen und in die Ecke, die ein wenig Sonne hatte, Blumenfreude pflanzen würde. Voller Mitgefühl betrachtete sie eine Statue, die sich aus irgendeinem verfallenen Park hierher verirrt hatte, eine am Boden liegende und über und über mit Moos bewachsene Flora, deren abgebrochene Arme neben ihr lagen. Sie träumte davon, wie sie sie bald wieder aufrichten würde als Figur für den Springbrunnen, dessen Wasser jetzt traurig in einen Eimer rannen, der das Becken ersetzen mußte.
Dechartre hatte schon seit einer Stunde nach ihr ausgeschaut. Er war froh und unruhig, und als er jetzt die Freitreppe hinabstieg, zitterte er in dem Übermaß seines Glücks.
Als sie auf den kühlen Flur traten, wo die ernste Pracht der Bronze- und Marmorstatuen aus dem Halbdunkel hervorleuchtete, blieb Thérèse stehen, betäubt vom Schlagen ihres Herzens, das in ihrer Brust Sturm läutete.
Er drückte sie an sich und küßte sie lange. Durch das Brausen, das durch ihre Schläfen klang, vernahm sie seine Stimme, und sie dachte dabei an die kurze, wilde Liebesstunde des vorigen Abends. Sie sah den Bettvorleger wieder vor sich mit seinem Berberlöwen, und ermattet vor Wonne erwiderte sie Jacques' Küsse.
Dann führte er sie eine hölzerne Wendeltreppe hinauf in das große Zimmer, das seinem Vater als Arbeitskabinett gedient hatte und wo er selbst zeichnete, modellierte und vor allem las. Die Lektüre war für ihn ein Zaubertrank; über einer halbgelesenen Seite konnte er sich in Träumen verlieren.
Auf den verblaßten gotischen Gobelins, die über den Schränken hingen und bis an die bemalten Balken des Plafonds reichten, sah man inmitten eines phantastischen Waldes eine Dame mit hohem spitzem Kopfputz, zu deren Füßen ein Einhorn im Grase ausgestreckt lag.
Er führte sie zu dem breiten, niedrigen Diwan hin, dessen Kissen mit prächtig leuchtenden Stücken Brokat von spanischen und byzantinischen Kirchengewändern überzogen waren. Aber sie ließ sich daneben auf einem Lehnstuhl nieder.
»Endlich sind wir wieder zusammen«, sagte Jacques, »jetzt mag die Welt untergehen.«
»Früher habe ich an den Weltuntergang gedacht«, antwortete sie, »aber ich fürchte ihn nicht. Monsieur Lagrange hatte ihn mir aus Galanterie versprochen, und ich wartete darauf. Ich habe mich so viel gelangweilt, ehe ich dich kannte.«
Dann blickte sie um sich und betrachtete die Vasen und Statuetten, die auf den Tischen standen, die Gobelins und das glänzende Gewirr von Waffen, Schmelzarbeiten, Marmorfiguren, Malereien und alten Büchern: »Was für schöne Sachen du hast!«
»Sie stammen zum größten Teil von meinem Vater, der im goldenen Zeitalter der Sammler lebte. Die Bildteppiche mit der Geschichte vom Einhorn, deren vollständige Folge sich in Cluny befindet, hat er achtzehnhunderteinundfünfzig in einem Gasthaus in Meung-sur-Yèvre entdeckt.«
Voller Neugier und etwas enttäuscht sagte sie dann: »Aber ich sehe nichts von dir, weder eine Statue noch ein Relief, keine deiner in England so gesuchten Wachsarbeiten, weder eine Statuette noch eine Plakette oder ein Medaillon.«
»Glaubst du etwa, daß es mir Freude machen würde, inmitten meiner eigenen Werke zu leben? Die Figuren, die ich selbst gemacht habe, kenne ich zu genau, und sie langweilen mich. Was kein Geheimnis in sich birgt, hat auch keinen Reiz mehr.«
Sie sah ihn mit erheucheltem Unwillen an: »Du hast mir bisher nie gesagt, daß man jeden Reiz für dich verliert, wenn man keine Geheimnisse mehr für dich hat.«
Er legte seinen Arm um ihre Hüften: »Ach, das Lebendige ist nur zu geheimnisvoll. Und du, meine Geliebte, bleibst immer ein Rätsel für mich, dessen unbekannter Sinn alle Seligkeiten des Lebens und alle Schrecken des Todes in sich faßt. Habe keine Angst, dich mir hinzugeben. Ich werde nie aufhören, dich zu begehren, und ich werde dich niemals ganz ergründen. Besitzen wir überhaupt jemals das, was wir lieben? Alle Küsse und Liebkosungen – sind sie etwas anderes als wonnige und doch hoffnungslose Versuche, ineinander einzudringen? Wenn ich dich in meinen Armen halte, suche ich immer noch nach dir, und niemals habe ich dich ganz, weil ich dich immer noch begehre, weil ich in dir das Unmögliche und das Grenzenlose will. Wenn ich es jemals wüßte, was du wirklich bist! Siehst du – weil ich ein paar schlechte Figuren geschaffen habe, deshalb bin ich noch lange kein Bildhauer. Ich bin eher eine Art Dichter oder Philosoph, der in der Natur nach den Ursachen dessen forscht, was uns quält und beunruhigt. Die bloße Empfindung der Form genügt mir nicht. Meine Kollegen lachen mich aus, weil ich die Sachen nicht so einfach nehme wie sie. Und sie haben recht. Und dieser Tölpel Choulette hat ebenfalls recht, wenn er verlangt, daß man lebt, ohne zu denken und ohne zu begehren. Unser Freund, der Schuster von Santa Maria Novella, ist ein Meister der Lebenskunst, weil er nichts von alledem ahnt, was ihn ungerecht oder unglücklich machen könnte.
Meine Liebe zu dir sollte naiver sein und frei von dieser metaphysischen Leidenschaft, die mich töricht und schlecht werden läßt. Nicht wissen und vergessen – das ist das beste auf der Welt. Komm, komm zu mir, die Sehnsucht nach dir hat mich entsetzlich gequält während unserer Trennung. Komm, Geliebte, ich muß dich selbst in deinen Armen vergessen. Nur in dir kann ich das Vergessen finden und mich selbst verlieren.«
Er schloß sie in die Arme und hob den Schleier empor, um sie auf den Mund zu küssen.
Aber sie zog den schwarzen Tüll bis über das Kinn herab, eine gewisse Scheu überkam sie in diesem großen, fremden Saal, und sie fühlte sich verlegen unter dem Blick der unbekannten Dinge.
»Hier? Aber was denkst du denn?«
Er sagte ihr, daß sie ganz allein im Hause seien.
»Allein? Aber der Mann mit dem furchtbaren Schnurrbart, der mir die Tür geöffnet hat?«
Jacques lächelte: »Das ist Fusellier, der alte Diener meines Vaters. Mein ganzer Haushalt besteht nur aus ihm und seiner Frau. Über die kannst du ganz ruhig sein, sie sitzen den ganzen Tag treu und bissig in ihrer Portierloge. Du wirst auch seine Frau kennenlernen, aber ich sage dir im voraus, daß sie dich sehr familiär behandeln wird.«
»Sag mal, warum trägt denn Fusellier als Portier und Haushofmeister einen solchen Tatarenschnurrbart?«
»Aber, Liebste, die Natur hat ihm seinen Bart gegeben, und ich lasse ihn ihm gern. Es gefällt mir, daß er aussieht wie ein alter Feldwebel, der sich auf den Obstbau verlegt hat. Es kommt mir beinah vor, als ob er mein Gutsnachbar wäre.«
Dann setzte er sich auf eine Ecke des Diwans und zog sie auf seine Knie nieder, und sie küßten sich. Aber plötzlich stand sie rasch auf: »Du mußt mir auch die andern Zimmer zeigen. Ich bin sehr neugierig und will alles sehen.«
Er führte sie nun in die zweite Etage. Die Wände des Korridors waren mit Aquarellen von seinem Vater bedeckt. Dann öffnete er eine Tür, und sie traten in das Zimmer seiner Mutter, das mit Palisandermöbeln ausgestattet war.
Jacques hatte es ganz so gelassen, wie es war, in seiner Vergangenheit des Gestern, der einzigen, die uns wahrhaft rührt und uns traurig stimmt, und obgleich es nun schon seit neun Jahren nicht bewohnt war, hatte es sich noch nicht in die Einsamkeit ergeben. Der Spiegelschrank sah aus, als ob er darauf wartete, daß die alte Dame sich in seinen Scheiben betrachten würde, und auf der Stutzuhr aus Onyx stand eine nachdenkliche Sappho, die sich zu langweilen schien, weil sie den Pendel nicht mehr hin und her schwingen hörte.
An der Wand hingen zwei Porträts. Das eine war von Ricard und stellte Philippe Dechartre dar mit blassem Gesicht und wogender Haarfülle. Um seinen Mund lag ein Zug von Güte und Beredsamkeit, und die feuchten Augen blickten wie in romantische Träumereien versunken vor sich hin. Das andere, von einer ruhigeren Hand gemalt, war seine Frau, eine schlanke, feurige Dame mittleren Alters; man hätte sie beinah schön nennen können.
»Das Zimmer meiner lieben Mama gleicht mir«, sagte Jacques, »es vermag nicht zu vergessen.«
»Du siehst deiner Mutter ähnlich«, sagte Thérèse, »du hast ganz ihre Augen. Paul Vence hat mir erzählt, daß sie dich vergötterte.«
»Ja«, erwiderte er lächelnd, »sie war eine herrliche Frau, so intelligent und zartfühlend und dabei so entzückend kindisch. Ihre Mutterliebe ging ins Extreme, sie ließ mich keinen Augenblick in Ruhe. Auf die Weise quälte sie mich und sich selbst.«
Thérèse betrachtete eine Bronze von Carpeaux, die auf der Kommode stand.
»Du siehst hier«, erklärte er, »den Kronprinzen mit seinen Ohren wie Zephirflügel, die sein kaltes Gesicht heiter machen. Die Bronze ist ein Geschenk Napoleons des Dritten an meine Eltern. Sie waren in Compiègne. Als der Hof sich in Fontainebleau aufhielt, nahm mein Vater den Grundriß des Schlosses auf und zeichnete die Galerie. Morgens stand der Kaiser gewöhnlich im Gehrock, die Meerschaumpfeife im Mund, neben ihm, wie ein Pinguin auf einem Felsen. Ich war damals nicht dabei, aber ich hörte diese Geschichten bei Tisch, und sie sind mir im Gedächtnis geblieben. Der Kaiser war damals ruhig und friedlich. Seine Schweigsamkeit unterbrach er nur selten mit ein paar Worten, die der buschige Schnurrbart fast erstickte. Erst allmählich wurde er lebhafter, und dann setzte er meist seine Maschinenbauideen auseinander, denn er war ein Techniker und Erfinder. Mit einem Taschenbleistift zeichnete er seine Figuren auf die Skizzen meines darüber untröstlichen Vaters. So verdarb er ihm zwei oder drei Entwürfe in jeder Woche. Er schätzte meinen Vater sehr und versprach ihm Arbeiten und Ehren, die niemals kamen. Der Kaiser ist ein guter Mensch, aber er hat keinen Einfluß, pflegte meine Mutter zu sagen. Ich war damals noch ein Kind, aber stets ist mir eine unbestimmte Sympathie für diesen Mann geblieben, der zwar kein Genie war, wohl aber eine liebevolle und schöne Seele hatte und in den großen Abenteuern des Lebens natürlichen Mut und ruhigen Glauben an das Schicksal zeigte. Und zudem war er mir schon sympathisch darum, weil er von Menschen geschmäht und bekämpft wurde, die sich an seine Stelle setzen wollten und die doch im Grunde ihrer Seele nicht einmal seine Liebe zum Volke hatten. Wir haben sie ja inzwischen zur Macht kommen sehen. Beim Himmel, was sind es für niedrige Seelen! Senator Loyer zum Beispiel, der sich bei euch im Rauchzimmer die Taschen voll Zigarren steckte und mich noch aufforderte, ein gleiches zu tun. ›Für den Weg‹, meinte er. Dieser Loyer ist ein böser Mensch, hart gegen Unglückliche, Schwache und Niedere. Und dann Garain. Findest du nicht auch, daß er ein widerlicher Mensch ist? Erinnerst du dich, wie ich das erstemal bei euch aß und man über Napoleon sprach? Du trugst das Haar tief im Nacken mit einem Diamantpfeil in einem entzückend trotzigen Knoten. Paul Vence sagte allerlei feine Dinge, die Garain nicht verstand. Du fragtest auch mich nach meiner Meinung.«
»Ich wollte dich glänzen sehen. Ich war schon damals stolz auf dich.«
»Nein, vor so ernsthaften Leuten hätte ich nicht ein einziges Wort reden können. Und doch hatte ich große Lust zu erklären, daß mir Napoleon der Dritte mehr zusagte als der Erste und daß ich seine Gestalt viel rührender finde. Aber dieser Gedanke hätte damals wahrscheinlich sehr schlecht gewirkt. Und außerdem bin ich nicht talentlos genug, um mich mit Politik zu beschäftigen.«
Er ging jetzt im Zimmer umher und blickte die einzelnen Möbel mit vertraulicher Zärtlichkeit an. Dann öffnete er eine Schublade des Sekretärs: »Sieh, da ist Mamas Brille. Wie oft hat sie danach gesucht! Aber jetzt will ich dir mein eigenes Zimmer zeigen. Wenn es nicht ganz in Ordnung ist, so bitte ich in Frau Fuselliers Namen um Entschuldigung. Sie ist darauf dressiert, meine Unordnung zu respektieren.«
Die Vorhänge waren herabgelassen, und er zog sie auch nicht auf.
Eine Stunde später schlug Thérèse selbst die Gardinen von rotem Satin zurück. Und das helle Sonnenlicht fiel ihr blendend in die Augen und spielte auf ihrem gelösten Haar. Nach längerem Suchen fand sie einen venezianischen Spiegel mit breitem Ebenholzrahmen und trübem Glas. Sie stellte sich auf die Fußspitzen, um sich darin sehen zu können, und sagte: »Bin ich das wirklich – dieses düstere, verschwommene Gespenst da? Über den Spiegel hat dir gewiß noch keine Dame, die sich darin sah, Komplimente gemacht.«
Als sie ein paar Stecknadeln vom Tisch nahm, entdeckte sie eine kleine Bronze, die sie bisher nicht gesehen hatte. Es war eine alte italienische Arbeit in flämischer Manier: eine nackte Frauengestalt mit kurzen Beinen und schwerem, verfaltetem Leib, die mit ausgestreckten Armen zu laufen schien. Sie fand den Ausdruck der Figur gemein und komisch zugleich und fragte, was sie eigentlich täte.
»Sie macht nichts anderes als Frau Welt über dem Portal vom Münster zu Basel.«
Thérèse war zwar in Basel gewesen, aber Frau Welt kannte sie nicht. Sie musterte also die kleine Bronze von neuem, verstand nicht und fragte: »Etwas sehr Unpassendes? Wie kann hier etwas schwer zu sagen sein, was sich über einem Kirchenportal zuträgt?«
Plötzlich wurde sie unruhig: »Gott im Himmel, was werden Fusellier und seine Frau von mir denken?«
Dann entdeckte sie an der Wand ein Medaillon, das von Dechartre modelliert war, das Profil eines kleinen Mädchens mit lustigem und lasterhaftem Ausdruck.
»Wer ist das?«
»Ach, das ist Claire. Ein kleines Zeitungsmädchen aus der Rue Demours, das mir jeden Morgen den ›Figaro‹ brachte. Sie hatte Grübchen in den Backen, die wie zum Küssen geschaffen aussahen. Und einmal habe ich ihr gesagt: ›Ich möchte ein Porträt von dir machen.‹ Darauf erschien sie an einem Sommertag mit Ohrgehängen und Ringen, die sie sich auf dem Jahrmarkt in Neuilly gekauft hatte. Aber später ist sie nicht mehr gekommen. Ich weiß nicht, was aus ihr geworden ist. Sie war zu elementar, um eine richtige Kokette zu werden. Soll ich sie wegnehmen?«
»O nein, sie macht sich sehr gut hier in der Ecke. Auf diese Claire bin ich nicht eifersüchtig –«
Es war jetzt Zeit für sie, nach Hause zu gehen. Aber sie konnte sich nicht entschließen, aufzubrechen. Sie schlang ihre Arme um den Hals des Freundes: »Oh, ich liebe dich! Und du bist heute so froh gewesen und hast so viel gelacht. Das steht dir so gut. Es liegt etwas Feines und Leichtes in deiner Fröhlichkeit. Ich möchte dich immer froh machen. Ich sehne mich nach Freude, beinah ebensosehr wie nach Liebe. Und wer soll mir Freude geben, wenn du es nicht tust?«
27
Thérèse war jetzt schon seit sechs Wochen wieder in Paris, und sie lebte immer noch in dem fiebernden Halbschlaf des Glücks, in selig gedankenlosem Dahinträumen.
Jeden Tag sah sie Jacques in dem kleinen Haus mit der schattenspendenden Platane, und wenn sie sich dann gegen Abend endlich wieder voneinander losrissen, so nahm sie Erinnerungen mit sich fort, die ihr teuer waren. Und diese wohlige Mattigkeit, aus der immer wieder ein neues Verlangen emporwuchs, war das Band, das sich von einer Liebesstunde zur andern schlang.
Sie hatten beide dieselben Neigungen, ließen sich von denselben Einfällen leiten, von den gleichen Launen hinreißen.
So machte es ihnen Freude, die hübschen halbländlichen Gegenden am Rande der Stadt zu durchstreifen: die kleinen Gassen mit den rotangestrichenen Wirtshäusern im Schatten der Akazien, die steinigen Wege, wo Brennesseln am Fuße der Mauern wachsen, die kleinen Gehölze und die Felder mit dem hellen Himmel darüber, auf den der Rauch der Fabriken dunkle Streifen zieht. Und Thérèse fühlte sich glücklich, wenn sie an seiner Seite dahinging. Sie fand sich selbst in dieser Umgebung nicht zurecht, und es kam ihr vor, als ob sie sich mit ihm in ein fremdes Land verirrt hätte.
Heute war ihnen die Laune gekommen, das Dampfboot zu besteigen, das sie so oft von ihrem Fenster aus gesehen hatte. Sie hatte keine Angst, erkannt zu werden. Die Gefahr war auch nicht groß, und seit sie liebte, hatte sie alle Vorsicht vergessen. Sie fuhren an den Ufern entlang, die lachender und lachender wurden, während sie der staubigen Kahlheit der Vorstädte entrannen. Sie streiften Inseln mit Baumgruppen, die kleine Kneipen und zahllose an den Weiden festgebundene Ruderboote beschatteten. In Bas-Meudon stiegen sie aus. Als Thérèse über Hitze und Durst klagte, führte er sie durch eine Seitentür in ein Wirtshaus, wo möblierte Zimmer vermietet wurden. Es war ein Haus mit vielen Holzgalerien, das die Einsamkeit größer erscheinen ließ und das in der ländlichen Stille zu schlummern und nur auf die Sonntage zu warten schien, wo die Rufe der Bootsausflügler und das Gelächter der Mädchen seine Räume erfüllten, vermischt mit Bratenduft und dem Dunst der Fischgerichte.
Sie stiegen die knarrende Hühnerstiege hinauf und nahmen ein Zimmer im ersten Stock. Die Kellnerin brachte ihnen Wein und Biskuits.
Das Mahagonibett war hinter wollenen Vorhängen verborgen, und auf dem Kamin, der schräg vor einer Ecke des Zimmers angebracht war, hing ein ovaler Spiegel mit bemaltem Rahmen. Durch das offene Fenster sah man die Seine, ihre grünen Ufer und die fernen Hügel, die im warmen Lichte gebadet dalagen, während die Sonne schon fast die Spitzen der Pappeln berührte. Am Ufer des Flusses tanzten zahllose Mückenschwärme. Und die vibrierende Stille des Sommerabends lag über der Erde und über den Gewässern und erfüllte die ganze Luft.
Thérèse blickte lange auf den ruhig dahinfließenden Strom. Langsam durchschnitt das Dampfboot die Flut, die von der Schraube zu Gischt zermahlen wurde, und wenn die langen Wellen des Kielwassers das Ufer berührten, so sah es aus, als ob das kleine Haus, das über dem Fluß hing, wie ein Schiff hin und her schaukelte.
»Ich habe das Wasser gern«, sagte sie, während sie sich nach ihrem Freund umwandte. »Mein Gott, ich bin so glücklich!«
Ihre Lippen fanden sich, und während sie hinsanken in verzückter Liebesraserei, verrann die Zeit, ohne daß sie etwas davon wußten. Nur alle zehn Minuten, wenn wieder ein Dampfboot vorüberkam, drang das Plätschern der Wellen durch das halbgeöffnete Fenster zu ihnen herein.
Dann richtete Thérèse sich auf den Kissen wieder empor. Ihre Kleider lagen ungeduldig hingeworfen auf dem Fußboden umher, und nun erblickte sie im Spiegel ihren blühenden nackten Körper.
»Ja, es ist doch wahr, daß ich zur Liebe geschaffen bin«, antwortete sie auf die zärtlichen Lobsprüche ihres Freundes.
Und mit zarter Lüsternheit betrachtete sie ihre eigenen Formen in dem rosigen Licht, das die blassen oder purpurnen Rosen ihrer Wangen, ihrer Lippen und Brüste erblühen ließ. »Ich liebe mich, weil du mich liebst.«
Ja, er liebte sie, und er konnte sich selbst nicht erklären, warum er so mit dieser glühenden Andacht, mit dieser heiligen Wut liebte. Es war nicht nur, weil sie so selten, so wunderbar schön war. Ihre Linien waren schön, aber die Linien des Körpers folgen jeder Bewegung. Man vermag sie niemals festzuhalten, und ihr steter Wechsel ist die Ursache aller ästhetischen Freuden und Qualen. Die schönen Linien sind wie ein Blitz, der dem Auge schmerzliches Entzücken bereitet, mit Staunen und Bewunderung weidet man sich an ihnen. Aber das, was die Liebe und das Verlangen so gebieterisch wachruft, ist eine sanfte und furchtbare Gewalt, die noch mächtiger ist als die Schönheit. Unter tausend Frauen findet man eine einzige, von der man niemals wieder lassen kann, wenn man sie einmal besessen hat, die man immer wieder und wieder besitzen will. Es ist die holde Blüte ihres Körpers, die dieses unheilbare Liebesleid in die Brust des Mannes senkt. Und es ist noch etwas anderes, das sich nicht in Worte fassen läßt, gleichsam die Seele ihres Körpers.
Thérèse war eine von jenen Frauen, die man weder betrügen noch verlassen kann.
Und nun rief sie voller Freude: »Sag, kann man wirklich nicht wieder von mir lassen?«
Sie wollte wissen, warum er sie nicht modellierte, wenn er sie doch so schön fand.
»Warum? Weil ich nur ein mittelmäßiger Bildhauer bin. Und daß ich mir selbst darüber klar bin, ist ein Beweis dafür, daß mein Geist nicht mittelmäßig ist.
Wenn du mich aber durchaus für einen großen Künstler halten willst, so werde ich dir noch einen andern Grund angeben. Um eine Figur zu schaffen, die wirklich Leben hat, muß man das Modell als untergeordnetes Material anfassen, das man hin und her kneten und bearbeiten kann, um die Essenz der Schönheit daraus zu gewinnen. Aber du – deine Formen, dein Körper, alles an dir bedeutet für mich etwas unsagbar Kostbares. Wenn ich eine Büste von dir machen wollte, müßte ich mich sklavisch an all diese Einzelheiten klammern, die für mich alles bedeuten, weil sie ein Teil von dir sind. Ich würde mich eigensinnig darin verbeißen und doch kein harmonisches Ganzes herausbringen.«
Sie sah ihn etwas erstaunt an, und er fuhr fort: »Aus dem Gedächtnis ist es etwas anderes. Ich habe eine kleine Bleistiftskizze von dir gemacht, die ich immer bei mir trage.«
Als sie sie absolut sehen wollte, zeigte er ihr die einfache, kühne Zeichnung in seinem Skizzenbuch. Aber sie erkannte sich nicht wieder, sie fand es zu hart, und es lag etwas darin, was ihr fremd vorkam.
»Also so siehst du mich? So lebt mein Bild in dir?«
Er machte das Buch wieder zu: »Nein, es ist nur ein Versuch; eine flüchtige Notiz, weiter nichts. Aber ich glaube doch, daß es richtig aufgefaßt ist. Es ist möglich, daß du dich selbst nicht so siehst, wie ich dich sehe. Überhaupt sieht jeder dasselbe Wesen mit anderen Augen an.«
Und in beinah heiterem Ton fügte er hinzu: »Und in diesem Sinn kann man auch behaupten, daß ein und dieselbe Frau niemals zwei verschiedenen Männern angehören kann. Das ist eine Idee von Paul Vence.«
»Ich glaube, er hat recht«, sagte Thérèse. Dann fragte sie: »Wie spät ist es?«
Es war sieben. Sie drängte zum Aufbruch. Sie kam jetzt jeden Tag später nach Hause. Und ihr Mann fing schon an, Bemerkungen darüber zu machen. »Wir sind jetzt bei allen Diners die letzten«, hatte er gesagt, »es ist wirklich ein Verhängnis.«
Aber da er fast täglich im Palais Bourbon bei den Budgetdebatten aufgehalten wurde und außerdem als Berichterstatter eines Unterausschusses viel zu tun hatte, ließ er selbst häufig auf sich warten.
Und so kam es, daß die Interessen des Staates Thérèses Unpünktlichkeit zum Deckmantel dienen mußten.
Sie erinnerte sich lächelnd an einen Abend, wo sie erst um halb neun bei Madame Garain erschienen war. Sie hatte schon einen Skandal befürchtet, aber es war gerade der Tag der großen Interpellation. Ihr Mann kam erst um neun Uhr mit Garain von der Kammer, und sie dinierten beide im Straßenanzug. Aber sie hatten das Ministerium gerettet.
Dann wurde sie nachdenklich.
»Wenn die Kammer Ferien macht, mein Lieber, so habe ich gar keinen Vorwand mehr, in Paris zu bleiben. Mein Vater kann jetzt schon meine Aufopferung nicht begreifen, die mich hier zurückhält. In acht Tagen muß ich zu ihm nach Dinard. Aber was soll ich ohne dich anfangen?«
Sie faltete die Hände und sah ihn unsagbar zärtlich und traurig an. Aber er entgegnete finster: »Nein, Thérèse, ich muß mich vielmehr unruhig fragen, was aus mir werden soll ohne dich. Wenn du nicht bei mir bist, kommen die schwarzen Gedanken wieder über mich und lassen mich nicht los.«
Sie fragte, was für Gedanken er meine, und er entgegnete: »Ich habe es dir ja schon gesagt, du Geliebte. Ich muß dich selbst in dir vergessen. Und wenn du fort bist, wird die Erinnerung an dich mich quälen. Aber es ist ganz in der Ordnung, ich muß eben für das Glück bezahlen, das du mir gibst.«
28
Das blaue, mit rosigen Klippen besäte Meer warf seinen silbernen Saum weit auf den feinen Sand des Gestades, das in weitem Amphitheater zwischen zwei begrenzenden goldenen Felshörnern anstieg.
Der Tag war so heiter, daß es beinahe schien, als ob die Sonne Griechenlands auf Chateaubriands Grab herabschiene.
Thérèse saß in einem Zimmer mit Blumenrankentapete, von dessen Balkon man über die Myrten und Tamarisken des Gartens hinweg einen weiten Blick auf den Strand und das Meer mit seinen Inseln und Vorgebirgen genoß. Sie las die Briefe, die sie sich am Morgen von der Post in St-Malo abgeholt hatte. Unterwegs, im vollbesetzten Fährboot, konnte sie sie nicht öffnen. Aber gleich nach dem Frühstück hatte sie sich in ihr Zimmer eingeschlossen, und die entfalteten Briefe auf den Knien, las sie begierig und gab sich ganz dem flüchtigen Genuß hin.
Um zwei Uhr sollte sie mit ihrem Vater, ihrem Mann, der Prinzessin Seniavine, Madame Berthier d'Eyzelles, der Gattin des Deputierten, und Madame Raymond, der Gattin des Mitglieds der Akademie, eine Wagenpartie machen.
Sie hatte heute zwei Briefe bekommen. Der erste, den sie las, atmete den heitern, zarten Hauch der Liebe. Noch nie hatte Jacques ihr so einfach, so glückstrahlend und so entzückend geschrieben.
Seit er sie liebte, sagte er ihr, war ihm so leicht und freudig zumute, als ob seine Füße kaum mehr den Erdboden berührten. Er hatte nur die eine Angst, daß alles ein Traum sei und daß er auf einmal erwachen könnte, ohne sie jemals gekannt zu haben. Ja, es war ein Traum. Und was für ein Traum! Das Gartenhaus in der Via Alfieri, das kleine Wirtshaus in Meudon – ihre Küsse, ihre göttlichen Schultern, ihr schlanker, geschmeidiger Körper mit seinen lachenden Grübchen, mit seinem frischen Duft, der so balsamisch war wie ein Bach, der unter Blumen dahinfließt. Und wenn er nicht träumte, so war es ein Rausch, und er war der Trunkene, der anfängt zu singen. Er war so glücklich, daß seine Vernunft ihn völlig verlassen hatte. Obwohl sie nicht bei ihm war, sah er sie doch immer vor sich: »Ja, ich sehe Dich, Du bist mir nah, ich sehe die Wimpern, die Deine Augen beschatten, deren Grau schöner ist als das Blau des Himmels und der Blumen, ich sehe Deine Lippen, die köstlichen Früchten gleichen, Deine Wangen und die zwei geliebten Grübchen darin, wenn Du lachst. Ich sehe Dich, und Du bist so schön, so begehrenswert, aber Du entfliehst mir, Du entgleitest mir immer wieder. Wenn ich die Arme nach Dir ausbreite, bist Du entschwunden, und dann entdecke ich Dich wieder – in weiter, weiter Ferne, wie Du am hellen Strande stehst, in Deinem rosa Kleid und mit Deinem Schirm. Und Du bist nicht größer als ein Zweig blühender Heide, so klein, wie ich Dich einmal in Florenz vom Campanile herab auf dem Domplatz gesehen habe. Und wie damals sage ich mir auch jetzt wieder: ›Ein Grashalm würde hinreichen, sie meinen Blicken zu entziehen, und doch ist sie alles für mich, eine ganze Welt von Schmerz und Freude.‹«
Er beklagte sich nur über die Qualen des Getrenntseins. Und doch leuchtete das glückselige Lächeln der Liebe durch seine Klagen hindurch. Er drohte ihr scherzend damit, daß er sie in Dinard überraschen würde. »Du brauchst nichts zu fürchten. Kein Mensch wird mich erkennen. Ich werde mich als Hausierer verkleiden, der mit Gipsfiguren handelt. Und das bin ich ja auch. In einer grauen Bluse und einer Zwillichhose werde ich am Gitter der Villa Montessuy die Glocke ziehen, Bart und Gesicht mit weißem Staub gepudert. Du wirst mich an den Statuetten erkennen, die ich auf dem Brett auf meinem Kopf trage. Denn es werden lauter Liebesgötter sein: ein treuer Amor, ein eifersüchtiger Amor, ein zärtlicher Amor und ein wilder Amor – nein, viele wilde Amoretten. Und dann rufe ich in der harten klangvollen Sprache der Handwerker von Pisa oder Florenz: ›Tutti gli Amori per la signora Teresina.‹«
Durch die letzte Seite des Briefes klang ein ruhiger, liebevoller Ton. Und dazwischen wieder andächtige Herzensergießungen, bei denen Thérèse an die Gebetbücher denken mußte, die sie als Kind gelesen. »Ich liebe Dich, und ich liebe alles an Dir. Die Erde, die Dich trägt, die die Last Deines Körpers kaum fühlt und der Du neuen Reiz verleihst. Ich liebe das Licht, das macht, daß ich Dich sehen kann, und die Luft, die Du einatmest. Ich liebe die Platane, die auf meinem Hof wächst, weil Du sie angeblickt hast. – Heute nacht bin ich durch die Allee gegangen, wo ich Dir damals an einem Winterabend begegnet bin, und ich habe einen Zweig von dem Busch abgebrochen, auf dem Deine Augen damals geruht haben. In dieser Stadt, wo Du nicht bist, sehe ich nur Dich.«
Am Schluß erzählte er ihr, daß er auswärts frühstücken wolle. Madame Fusellier war gestern nach Nevers, ihrer Heimatstadt, gereist, und so war sein Kochtopf kaltgestellt. Er wollte ein Restaurant in der Rue Royale aufsuchen, wo er schon bekannt war. Und dort unter lauter gleichgültigen Menschen würde er mit ihr allein sein.
Wie ermattet durch seine unsichtbaren Liebkosungen, schloß Thérèse die Augen und lehnte den Kopf zurück. Als sie dann das Rascheln der Mailcoach vernahm, die vor der Terrasse hielt, öffnete sie den zweiten Brief. Und sowie sie die veränderte Handschrift, die hastig hingeworfenen, abwärts laufenden Zeilen sah, dieses Bild tiefster Niedergeschlagenheit, erschrak sie.
Die ersten unklaren Worte ließen eine plötzlich erwachte Angst und einen düsteren Verdacht durchblicken: »Thérèse, Thérèse, warum gabst Du Dich mir, wenn Du Dich nicht ganz geben konntest? Was hat es mir geholfen, daß Du mich belogst, nun ich es doch erfahren habe, was ich nicht wissen wollte.«
Sie hielt inne, und ihre Augen verschleierten sich. Dann dachte sie: ›Und wir waren gerade so glücklich. Mein Gott, was ist nur geschehen? Während ich mich an seiner Freude sonnte, war sie schon wieder verflogen. Man sollte lieber überhaupt nicht schreiben, denn die Gefühle, von denen ein Brief spricht, sind in dem Augenblick, wenn ihn der andere liest, doch schon wieder ausgelöscht und entschwunden.‹
Dann las sie weiter. Und als sie sah, daß sein Herz von Eifersucht zerrissen war, sank ihr der Mut.
›Wenn ich ihm noch nicht bewiesen habe, daß ich ihn mit allen Kräften liebe, daß ihm mein ganzes Sein gehört, wie soll ich ihn dann jemals davon überzeugen?‹
Sie brannte darauf, zu erfahren, weshalb er plötzlich so außer sich war. Und Jacques' Brief sagte es ihr: Er hatte in einem Restaurant in der Rue Royale gefrühstückt und dort einen alten Bekannten getroffen, der aus einem Kurort kam und auf der Durchreise nach der See in Paris war. Sie hatten miteinander geplaudert, und der Zufall wollte, daß dieser Mann, der überall in der Gesellschaft verkehrte, auch die Gräfin Martin kannte und von ihr sprach. – Hier unterbrach Jacques plötzlich seine Erzählung, um seinem Schmerz Luft zu machen: »Thérèse, Thérèse, warum hast Du mich belogen, wenn ich doch eines Tages erfahren mußte, was nur ich nicht gewußt habe. Aber die Schuld liegt mehr auf meiner Seite als auf Deiner. Der Brief, den Du bei Or San Michele in den Kasten warfst, das Rendezvous am Bahnhof in Florenz hätten hingereicht, mich zu belehren, wäre ich nicht darauf versessen gewesen, allem Augenschein zum Trotz an meinen Illusionen festzuhalten. Ich wollte nicht – nein, ich wollte es nicht wissen, daß Du einem andern angehörtest in dem Moment, wo Du Dich mir zu eigen gabst, mit dieser kühnen Anmut, dieser hinreißenden Glut, an der ich vergehen werde. Ich wußte nichts und wollte nichts wissen. Ich habe damals nicht weiter gefragt aus Angst, daß Du nicht imstande seist, mich länger zu belügen. Oh, ich war so schlau – und so hat es kommen müssen, daß irgendein Tölpel mir plötzlich an der Tafel eines Restaurants brutal die Augen öffnete und mich zwang zu sehen. Oh, und jetzt, wo ich nicht mehr zweifeln kann, jetzt kommt es mir vor, als ob jener Zweifel Seligkeit gewesen wäre. Er hat den Namen genannt, jenen Namen, den ich schon in Florenz aus Miß Bells Munde gehört hatte, und hat noch hinzugefügt: ›Die Sache ist allgemein bekannt.‹
Also, Du hast ihn geliebt und liebst ihn noch!
Und wenn ich in der Einsamkeit meines Zimmers meine Zähne in das Kissen presse, wo Dein Kopf geruht hat – dann ist er vielleicht bei Dir. Ja, er ist in Deiner Nähe. Man hat mir gesagt, daß er jedes Jahr zu den Rennen nach Dinard geht. Ich sehe ihn vor mir, ich sehe alles. Wenn Du wüßtest, was für Vorstellungen mich quälen, würdest Du sagen: ›Er ist von Sinnen‹, und Du würdest Mitleid mit mir fühlen.
Oh, ich wollte, ich könnte Dich vergessen – Dich und alles andere. Aber ich kann nicht. Du weißt, daß ich Dich nur in Dir selbst vergessen kann. Unaufhörlich sehe ich Euch zusammen. Es ist eine furchtbare Qual. Damals, in jener Nacht – Du weißt – am Ufer des Arno, da glaubte ich unglücklich zu sein. Aber ich wußte damals überhaupt noch nicht, was leiden bedeutet. Jetzt erst weiß ich es.«
Als Thérèse zu Ende gelesen hatte, dachte sie: ›Ein zufällig hingeworfenes Wort hat ihn in diesen Zustand versetzt. Ein bloßes Wort hat diese wahnsinnige Verzweiflung über ihn gebracht.‹ Und sie suchte zu ergründen, wer jener Elende sein mochte, der so über sie gesprochen hatte. Sie hegte Verdacht gegen ein paar junge Leute, die Le Ménil ihr einmal vorgestellt und vor denen er sie gewarnt hatte. Und in einer Anwandlung von jener blassen, kalten Wut, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, sagte sie sich: »Ich werde es schon erfahren.«
Aber was sollte sie bis dahin tun? Sie wußte, daß ihr Freund sich in sinnloser Verzweiflung aufrieb, und sie konnte nicht zu ihm eilen, ihn in ihre Arme schließen, sich ihm mit Leib und Seele hingeben, damit er fühlen mußte, daß sie ganz sein war, daß er ihr glauben mußte. – Und ihm schreiben? Wieviel besser wäre es gewesen, selbst bei ihm zu sein, stumm an sein Herz zu sinken und ihm dann zu sagen: »Wage es, jetzt noch zu glauben, daß ich nicht dir ganz allein gehöre!«
Und doch blieb ihr nichts anderes übrig, als ihm zu schreiben. Aber als sie ihren Brief angefangen hatte, hörte sie Stimmen und Gelächter im Garten. Die Prinzessin Seniavine war schon dabei, den hohen Tritt des Wagens zu ersteigen.
Thérèse ging hinab. Lächelnd und ruhig trat sie auf die Terrasse. Der große mit Mohnblumen geschmückte Strohhut warf einen durchsichtigen Schatten über ihr Gesicht, aus dem nur die glänzenden grauen Augen hervorleuchteten.
»Mein Gott, wie ist sie schön«, rief die Prinzessin Seniavine, »und wie schade, daß man sie niemals sieht. In aller Morgenfrühe steigt sie schon in die Fähre und wandelt durch die Straßen von Saint-Malo. Und am Nachmittag schließt sie sich in ihr Zimmer ein. Sie will nichts mit uns zu tun haben.«
Dann fuhren sie den Strand entlang, an all den Villen und terrassenförmig angelegten Gärten vorbei, die den Hang des Hügels kränzten. Zur Linken sah man die Wälle und Türme von St-Malo aus dem blauen Meer emporragen. Dann bog der Wagen in einen Weg ein, der zu beiden Seiten von grünen Hecken eingefaßt war. Dort begegneten ihnen Bauernfrauen aus Dinard mit ihren großen Batisthauben, deren Flügel im Winde flatterten.
»Es ist schade«, sagte Madame Raymond, die neben Montessuy saß, »daß die alten Volkstrachten sich immer mehr verlieren. Daran sind die Eisenbahnen schuld.«
»Ja, das ist richtig«, antwortete Montessuy, »wenn die Eisenbahnen nicht wären, so würden die Landleute noch ihre malerischen Trachten von einst tragen. Aber dann' hätten wir sie nie zu sehen bekommen.«
»Was tut das?« meinte Madame Raymond. »Wir könnten sie uns wenigstens vorstellen.«
»Aber«, fragte jetzt die Prinzessin Seniavine, »sehen Sie mitunter interessante Dinge? Ich niemals.«
Madame Raymond, die aus den Büchern ihres Gatten einige vage Begriffe von Philosophie geschöpft hatte, erklärte, die Dinge an sich seien überhaupt nichts, es komme nur auf die Idee an.
Und Madame Martin murmelte, ohne Madame Berthier d'Eyzelles, die neben ihr auf der zweiten Bank saß, anzublicken: »O ja, die Menschen sehen nur ihre Idee, jagen taub und blind nur ihrer Idee nach, und es ist vergebene Mühe, sie davon abbringen zu wollen.«
»Aber, Liebste«, sagte Graf Martin, der vor ihr neben der Prinzessin saß, »wenn man nicht eine bestimmte Idee verfolgt, gibt man sich ganz dem Zufall anheim – à propos, Montessuy, haben Sie die Rede von Loyer bei der Enthüllung der Statue Cadet-Gassicourts gelesen? Ein glänzendes Debüt! Loyer hat sehr viel politische Einsicht.«
Sie fuhren durch weidengesäumte Wiesen, nahmen eine Steigung und waren auf einer weiten waldigen Ebene. Eine Zeitlang rollte der Wagen an der Mauer eines Parkes hin. Soweit das Auge reichte, lief die Straße im feuchten Schattendunkel.
»Ist das Guerric?« fragte die Prinzessin Seniavine.
Jetzt wurde plötzlich ein verschlossenes Gittertor mit der eisernen Marquiskrone darüber zwischen zwei von Löwen gekrönten steinernen Pfeilern sichtbar, und durch die Eisenstäbe erblickte man am Ende einer schattigen Lindenallee die grauen Steinmauern des Schlosses.
»Ja«, sagte Montessuy, »das ist Guerric.« Dann wandte er sich an Thérèse: »Du hast den Marquis de Ré ja gut gekannt. Er hatte sich noch mit fünfundsechzig Jahren seine volle Jugendkraft bewahrt. Er war tonangebend in allem, was die Mode betraf, und wurde viel geliebt. Die jungen Leute kopierten seinen Gehrock, sein Monokel, seine Art sich zu bewegen, seine Eigenheiten und seine noble Unverschämtheit. Aber plötzlich verschwand er aus der Gesellschaft. Sein Haus wurde zugeschlossen, seine Pferde verkauft, und er selbst zeigte sich nicht mehr. Erinnerst du dich nicht mehr, Thérèse? Du warst damals erst kurze Zeit verheiratet, und er verkehrte viel bei euch. Eines Tages erfuhr man, daß er Paris verlassen hatte. Er war mitten im Winter hierher nach Guerric gezogen. Natürlich forschte man nach der Ursache dieses plötzlichen Rückzuges, und es wurde vermutet, daß irgendein Schicksalsschlag – vielleicht die Demütigung einer ersten Niederlage und die Angst, vor den Augen der Welt zu altern – ihn dazu getrieben habe. Das Alter war ja das, was er am meisten fürchtete. Während der sechs Jahre, die er jetzt schon in dieser Zurückgezogenheit lebt, hat er tatsächlich sein Schloß und seinen Park niemals verlassen. Er sieht in Guerric nur zwei oder drei alte Herren, mit denen er seine Jugend gemeinsam verlebt hat. Nur für sie öffnet sich dieses verschlossene Gitter. Sonst hat kein Mensch ihn je wiedergesehen, und es wird ihn auch niemand zu Gesicht bekommen. Er verbirgt sich vor der Welt mit derselben Energie, mit der er einst in der Welt seine Rolle spielte. Er litt nicht, daß man seinen Verfall belauert. Er ist lebend tot. Und ich kann das nicht verachten.«
Thérèse dachte an den liebenswürdigen alten Herrn, der einst mit ihr seine galante Laufbahn ruhmreich hatte beschließen wollen. Sie wandte sich um und blickte auf das Schloß, dessen vier erkerbewehrte Türme über die grauen Eichenwipfel emporragten.
Als sie zurückgekehrt waren, schützte sie Migräne vor und erklärte, daß sie nicht zum Diner erscheinen würde. Dann schloß sie sich in ihr Zimmer ein, nahm den Brief, der ihr so viel Kummer bereitete, aus ihrem Schmuckkasten. Sie las die letzte Seite noch einmal durch. »Der Gedanke, daß Du einem andern angehörst, brennt in mir und zerreißt mir das Herz. Und ich wollte wenigstens, daß es nicht gerade der wäre.«
Das war zur fixen Idee bei ihm geworden. Dreimal auf der selben Seite sagte er: »Ich wollte nur, daß es nicht gerade der wäre.«
Und auch sie hatte nur einen Gedanken: sie wollte ihn nicht verlieren.
Um ihn nicht zu verlieren, hätte sie alles gesagt, alles getan.
Sie setzte sich an den Tisch und schrieb in einem Ausbruch eindringlicher, schmerzlich-tiefer Zärtlichkeit einen Brief. Wie ein Angstschrei kehrten immer die Worte wieder: »Ich liebe Dich, ich liebe Dich. Ich habe nur Dich geliebt. Sieh, Du allein füllst mein Herz, mein ganzes Sein aus, nur Du. Höre nicht auf einen Elenden. Höre auf mich. Ich schwöre Dir, ich habe niemanden geliebt, niemals vor Dir geliebt.«
Und während sie schrieb, vermischte der ewige Seufzerhauch des Meeres sich mit den Seufzern, die aus ihrer Brust drangen. Sie wollte wahr sein und glaubte selbst, daß sie die Wahrheit sagte. Und es war auch alles wahr, was sie ihm schrieb, weil es aus ihrer tiefen, wahren Liebe hervorging.
Als sie dann den sicheren, schweren Schritt ihres Vaters auf der Treppe hörte, verbarg sie den Brief und öffnete die Tür. Montessuy fragte zärtlich, ob ihr noch nicht besser sei.
»Ich wollte dir gute Nacht sagen und dich um etwas fragen. Wahrscheinlich werde ich Le Ménil morgen bei den Rennen treffen. Er ist ein Gewohnheitsmensch und kommt alle Jahre dorthin. Und wenn ich ihn nun treffe, Liebling – würdest du etwas dagegen haben, wenn ich ihn einlade, ein paar Tage hier zuzubringen? Dein Mann meint, es würde eine angenehme Zerstreuung für dich sein. Wir könnten ihm das blaue Zimmer geben.«
»Ganz wie du willst. Aber es wäre mir lieber, wenn du das blaue Zimmer für Paul Vence reserviertest, der große Lust hat, herzukommen. Und es ist ebenfalls möglich, daß Choulette kommt, ohne sich vorher anzumelden. Das ist so seine Gewohnheit. Wahrscheinlich wird er eines Tages wie ein Bettler an der Haustür läuten. Übrigens irrt sich mein Mann, wenn er glaubt, Le Ménil sei mir sympathisch. Und außerdem muß ich nächste Woche auf ein paar Tage nach Paris.«
29
Vierundzwanzig Stunden später als ihr Brief war Thérèse selbst bei Jacques. Es war ihr nicht schwer geworden, einen Vorwand zu dieser Fahrt nach Paris zu finden. Sie war mit ihrem Mann zusammen gereist, der seine Wahlangelegenheit in Aisne betreiben wollte, wo die Sozialisten gegen ihn agitierten. Sie überraschte Jacques am frühen Morgen in seinem Atelier. Er entwarf gerade eine große Statue, die Florenz darstellen sollte, wie es am Ufer des Arno um seinen entschwundenen Glanz trauert.
Das Modell, das auf einem hohen Schemel thronte, blieb ruhig in seiner Pose sitzen. Es war ein hochgewachsenes, brünettes Mädchen. Das scharfe Licht, das durch die Scheiben hereinfiel, hob die schönen Linien ihrer Hüften und Schenkel hervor, aber das Gesicht hatte etwas Hartes, der Hals war schmutzigdunkel, die Brust zu stark geädert, die Knie mager und faltig, die Zehen waren übereinandergeschoben, und der Bauch hatte eine unschöne gelbliche Farbe. Thérèse betrachtete sie voller Neugier. Sie erkannte die ursprünglich schönen Formen unter all dem Elend des schlechtgenährten, ungepflegten Körpers.
Dechartre kam ihr entgegen mit dem Modellierholz in der einen und einem Tonklumpen in der anderen Hand. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck von schmerzlicher Zärtlichkeit, der sie tief berührte. Dann legte er sein Werkzeug auf den Modellierblock, bedeckte die Figur mit einem nassen Tuch und sagte: »Genug für heute; mein Kind.«
Das Mädchen stand auf, sammelte verlegen seine Kleider, die in einem Haufen schmutziger Wäsche und dunklen Wollzeugs bestanden, und verschwand hinter dem Schirm, um sich anzukleiden.
Jacques hatte indessen seine Hände in eine grüne Schüssel mit Wasser getaucht, um den im Trocknen weiß gewordenen zähen Ton abzuspülen. Dann verließ er mit Thérèse das Atelier.
Als sie über den Hof an der Platane vorübergingen, deren Stamm sich schälte und seine Rindenschuppen auf den Sand streute, sagte sie: »Du glaubst mir nicht. Nicht wahr?«
Er führte sie in sein Zimmer.
Der Brief, den sie ihm von Dinard aus geschrieben, hatte den peinlichen Eindruck schon gemildert. Sie war gerade in dem Moment gekommen, wo er, des Leidens müde, sich nach Ruhe und Liebe sehnte. Die paar Zeilen hatten seine Seele beruhigt, die sich von Einbildungen nährte und weniger für die Dinge als für die Zeichen der Dinge empfänglich war. Und doch war eine Wunde in seinem Herzen zurückgeblieben.
In diesem Zimmer, wo alles für sie sprach, wo alle Möbel, Vorhänge und Teppiche von ihrer Liebe redeten, flüsterte sie ihm schmeichelnde Worte zu: »Wie hast du das glauben können? Weißt du denn nicht, was du mir bist? Es war Wahnsinn. Glaubst du, eine Frau, die dich gekannt hat, könnte jemals wieder einem andern Mann angehören?«
»Aber vorher?«
»Vorher habe ich auf dich gewartet.«
»Und er war nicht bei den Rennen in Dinard?«
Nein, sie glaubte nicht. Aber jedenfalls war sie nicht dagewesen. All diese Pferde und Menschen, die sich nur für Pferde interessierten, waren ihr so langweilig.
»Jacques, du brauchst keinen andern zu fürchten, weil du mit niemand zu vergleichen bist.«
Aber im Gegenteil, er war sich bewußt, wie wenig er war, wie wenig überhaupt der einzelne in dieser Welt bedeutet, wo die Geschöpfe wie Körner und Spreu in der Getreideschwinge geworfelt, gemischt und geschieden werden, die ein Knecht oder ein Gott bewegt. Doch dieses Bild, im eigentlichen wie im übertragenen, mystischen Sinne, enthielt noch zu viel Ordnung und Regel, um es genau auf das Leben anwenden zu können. Ihm schien eher, daß die Menschen Kaffeebohnen in einer Kaffeemühle waren. Dieses Bild war ihm in den Sinn gekommen, als er vorgestern zusah, wie Frau Fusellier Kaffee mahlte.
»Warum hast du so wenig Selbstvertrauen?« fragte Thérèse.
Sie sagte nicht viel, aber ihre Augen und jede ihrer Bewegungen redeten, und der Atem, der ihre Brust hob und senkte. Und in dem glückseligen Staunen, sie zu sehen und ihre Stimme zu hören, ließ er sich überzeugen.
Sie fragte ihn, wer jene abscheulichen Worte gesagt habe. Er hatte keinen Grund, es zu verbergen. Es war Daniel Salomon.
Sie wunderte sich nicht darüber. Es war allgemein bekannt, daß Salomon als Liebhaber einer Frau überhaupt nicht in Betracht kommen konnte; dafür wollte er wenigstens in die intimen Geheimnisse aller Frauen eindringen und alles von ihnen wissen. Sie erriet gleich, weshalb er so gesprochen hatte.
»Jacques, sei nicht böse über das, was ich dir sage. Du bist nicht besonders gewandt darin, deine Gefühle zu verbergen. Er hat vermutet, daß du mich liebst, und hat sich Gewißheit darüber verschaffen wollen. Ich bin überzeugt, daß er keinen Zweifel mehr hegt, in welchem Verhältnis wir zueinander stehen. Aber es ist mir im höchsten Grade gleichgültig. Im Gegenteil, ich würde mich weniger ruhig fühlen, wenn du deine Gefühle besser zu verheimlichen wüßtest. Denn dann würde ich glauben, daß du mich nicht lieb genug hast.«
Um ihn nicht von neuem zu beunruhigen, ging sie schnell auf ein anderes Thema über.
»Ich habe dir gar nicht gesagt, wie sehr mir deine Skizze gefällt. Es ist Florenz am Ufer des Arno? Also die Geschichte unserer Liebe?«
»Ja, in diese Figur wollte ich meine ganze Liebe hineinlegen. Sie sieht traurig aus, und ich wollte ihr so viel Schönheit verleihen. Siehst du, Thérèse, in der Schönheit liegt immer etwas Schmerzliches. Deshalb leide ich auch, seit mein Leben schön geworden ist.«
Er durchwühlte die Taschen seines Flanelljacketts und zog sein Zigarettenetui heraus. Aber sie drängte ihn, sich anzukleiden. Er sollte bei ihr frühstücken, sie wollten den ganzen Tag zusammenbleiben. Und es sollte schön werden.
Mit kindlicher Freude blickte sie ihn an. Aber dann wurde sie wieder traurig und dachte daran, daß sie Ende der Woche nach Dinard zurückkehren und dann nach Joinville gehen mußte. Und während all der Zeit würden sie voneinander getrennt sein.
In Joinville, bei ihrem Vater, konnte sie ihn ja für ein paar Tage einladen. Aber sie würden dort nicht frei und ungestört sein wie in Paris.
»Ja, es ist wahr«, sagte er, »Paris mit seinem verworrenen Getriebe ist der beste Ort für uns.« Und dann fügte er hinzu: »Selbst wenn du nicht hier bist, mag ich Paris nicht verlassen. Es würde mir schrecklich sein, in einer Gegend zu leben, die nichts von dir weiß. Wenn Himmel und Erde, wenn Bäume, Brunnen und Bilder mir nichts von dir zu sagen wissen, so haben sie mir überhaupt nichts zu sagen.«
Während er sich ankleidete, blätterte sie in einem Buch, das sie auf dem Tisch gefunden hatte. Es waren die Märchen aus »Tausendundeiner Nacht«. Hier und da fand sie romantische Abbildungen, die Sultaninnen und Wesire, schwarze Eunuchen, Basare und Karawanen zeigten.
Sie fragte: »Tausendundeine Nacht? Gefällt dir so etwas?«
»Sehr«, entgegnete er, während er seine Krawatte knüpfte. »Wenn ich gerade in der rechten Stimmung bin, glaube ich an diese arabischen Prinzen, deren Beine sich auf einmal in schwarzen Marmor verwandeln, und an die Haremsweiber, die nachts auf den Gräbern umherirren. Diese Märchen verhelfen mir zu leichten Träumen, in denen man das Leben vergißt. Gestern abend bin ich ganz traurig zu Bett gegangen und habe dann die Geschichte von den drei einäugigen Bettelmönchen gelesen.«
Mit einem Anflug von Bitterkeit sagte Thérèse: »Du suchst zu vergessen! Ich aber möchte um nichts in der Welt den Gedanken an einen Schmerz verwischen, der mir von dir kommt.«
Dann gingen sie zusammen hinunter auf die Straße. Thérèse sollte etwas weiter hin einen Wagen nehmen, um ein paar Minuten früher in ihrer Wohnung zu sein.
»Mein Mann erwartet dich zum Frühstück.« Unterwegs sprachen sie über tausend Kleinigkeiten, denen ihre Liebe Interesse und Reiz verlieh. Sie machten Pläne für den Nachmittag, um in die kurzen Stunden des Beisammenseins ein Unendliches an Freude und Wonne zu drängen. Sie fragte ihn um Rat wegen ihrer Toiletten und konnte sich nicht entschließen, sich wieder von ihm zu trennen. Sie fühlte sich so glücklich,, mit ihm durch die sonnenbeschienenen, mittagsfrohen Straßen zu gehen.
In der Avenue des Ternes sahen sie eine Reihe von Läden, die wetteifernd einen Überfluß herrlicher Gaumengenüsse zur Schau gestellt hatten. Vor dem Fleischgeschäft prangten ganze Girlanden von Geflügel, vor dem Obstgeschäft Kisten voll Aprikosen und Pfirsiche, Körbe mit Weintrauben und ein Gebirge von Birnen. Obst- und Blumenkarren säumten die Fahrbahn. In der Glasveranda eines Restaurants saß eine Menge Menschen beim Frühstück. Mitten unter ihnen entdeckte Thèrése Choulette. Er saß ganz allein an einem kleinen Tisch neben einem Lorbeerbaum und zündete gerade seine Pfeife an.
Als er sie gesehen hatte, warf er mit großartiger Gebärde ein 100-Sous-Stück auf den Tisch und erhob sich, um sie zu begrüßen. Er war sehr ernst, und der lange Gehrock ließ ihn würdevoll und sittenstreng erscheinen. Er sagte, er hätte Madame Martin sehr gerne in Dinard besucht, aber die Marquise de Rieu hatte ihn in der Vendée zurückgehalten. Und inzwischen hatte er eine neue Ausgabe seines »Verschlossenen Gartens« veranstaltet, mit einem Anhang »Der Weingarten der heiligen Klara«. Mit diesem Werk hatte er Herzen gerührt, die man fühllos geglaubt hätte; er hatte aus dürren Felsen Quellen springen lassen – wie Moses, meinte er selbst.
Dann durchstöberte er sein Portefeuille und zog einen fleckigen, zerrissenen Brief hervor: »Sehen Sie, den hat Madame Raymond, die Gattin des Akademiemitglieds, mir geschrieben. Ich übergebe ihre Worte der Öffentlichkeit, weil sie ein gutes Zeugnis für sie selbst sind.«
Damit faltete er die zierlichen Bogen auseinander und las: »Ich habe meinen Mann veranlaßt, Ihr Buch zu lesen, und er hat ausgerufen: ›Das ist Geist vom Heiligen Geist! Dieser verschlossene Garten mit seinen Lilien und weißen Rosen hat daneben, scheint mir, eine kleine Pforte, die auf den Weg zur Akademie führt.‹«
Choulette ließ diese Worte in seinem branntweinduftenden Munde förmlich zergehen, um ihren Wohlgeschmack auszukosten. Dann steckte er den Brief sorgfältig wieder in sein Portefeuille.
Madame Martin beglückwünschte ihn, daß Madame Raymond ihn zu ihrem Kandidaten auserwählt habe: »Sie würden auch der meine sein, Monsieur Choulette, wenn die Wahlen für die Akademie in meiner Hand lägen. Aber lockt der Gedanke an das Institut Sie wirklich so sehr?«
Er versank eine Zeitlang in feierliches Schweigen, dann sagte er: »Madame, ich werde diesen Schritt mit einigen hervorragenden Persönlichkeiten des politischen und kirchlichen Lebens besprechen, die in Neuilly wohnen. Die Marquise de Rieu drängt mich, in ihrer Gegend für einen Sitz im Senat zu kandidieren; er ist frei geworden durch den Tod eines alten Mannes, der in dieser Welt des Scheins General gewesen ist. Und ich werde mich mit Priestern, mit Frauen und Kindern darüber beraten – am Boulevard Bineau – o ewige Weisheit! Der Wahlkreis, um dessen Stimmen ich mich bemühen will; liegt in einer waldreichen, hügeligen Gegend, deren Felder Kopfweiden säumen. Nicht selten findet man in einem ihrer hohlen Stämme das Skelett eines Chouans, der noch immer das Gewehr im Arme und den Rosenkranz in den Knochenfingern hält. Ich werde mein Glaubensbekenntnis in die Eichenrinde graben, und man soll dort lesen: Friede den Pfarreien! Möge der Tag doch kommen, da die Bischöfe, den hölzernen Krummstab in den Händen, dem ärmsten Hilfsgeistlichen des ärmsten Kirchspiels gleichen werden! Denn die Bischöfe sind es, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben. Ihre Namen waren Hannas und Kaiphas. Und sie werden vor dem Antlitz des Gottessohnes diese Namen ewig tragen. Und siehe, als sie ihn kreuzigten, war ich der gute Schächer, der ihm zur Seite hing.«
Dann schwenkte er seinen Stock in Richtung auf Neuilly: »Dechartre, mein Freund, glauben Sie nicht an den Boulevard Bineau dort unten in Staub und Sonnenglanz?«
»Adieu, Monsieur Choulette«, sagte Thérèse, »vergessen Sie mich nicht ganz, wenn Sie Senator geworden sind.«
»Madame, ich gedenke Ihrer jeden Tag in meinem Morgen- und Abendgebet. Und ich sage zu dem Herrn: ›Weil du sie in deinem Zorn mit Reichtum und Schönheit gesegnet hast, sieh gnädig auf sie herab, Herr, und verfahre mit ihr nach deiner großen Barmherzigkeit.‹«
Damit ging er in stolzer Haltung die Straße hinab, wobei er sein lahmes Bein mühsam nachschleppte.
30
In einen weiten Umhang von rosa Tuch eingehüllt, stieg Thérèse mit Dechartre die Stufen der Terrasse hinab. Er war am Morgen in Joinville angekommen.
Es waren nur die intimsten Freunde des Hauses dort versammelt, und sie hatte ihn jetzt eingeladen, ehe die großen Parforcejagden anfingen, weil sie fürchtete, daß Le Ménil dann wie alljährlich erscheinen würde. Sie hatte schon lange nichts von ihm gehört.
Der leichte Herbstwind spielte mit ihren lockigen Haaren, und in ihren grauen Augen spiegelte sich der goldene Schein der untergehenden Sonne.
Hinter ihnen lag das Schloß. Über den dreifachen Bögen des Erdgeschosses standen zwischen den Fenstern auf schlanken Konsolen römische Kaiserbüsten. Zu beiden Seiten des Mittelbaues erhoben sich zwei hohe Eckpavillons mit Schieferdächern, die von riesigen ionischen Säulen getragen wurden. In dieser Anordnung erkannte man die Kunst des Architekten Leveau, der 1650 das Schloß Joinville-sur-Oise für den reichen Mareuilles, eine Kreatur Mazarins und glücklicheren Spießgesellen des Finanzministers Foucquet, gebaut hatte.
Vor dem Hause dehnten sich weite Teppichbeete aus, die nach Zeichnungen von Le Nôtre entworfen waren, und grüne Rasenflächen mit dem Brunnenbecken. Dann kam die Grotte mit ihren fünf Rustikabogen und den großen Hermensäulen, und dahinter ragten die mächtigen Bäume empor, die schon in herbstlichem Rot und Gold schimmerten.
»Diese blühende und grünende Geometrie hat doch ihren eigenen Reiz«, sagte Dechartre.
»Ja«, antwortete Thérèse, »aber ich muß an die Plantane in dem kleinen Hof denken, wo das Gras zwischen den Steinen wächst. Nicht wahr, wir werden dort einen schönen Springbrunnen anlegen und Blumen pflanzen?«
Sie lehnte sich gegen einen der Steinlöwen mit fast menschlichem Gesicht, die an den Stufen über den zugeschütteten Schloßgräben Wache hielten, wandte sich gegen den Bau und sagte mit einem Blick auf ein Dachfenster, das sich in Form eines Drachenmaules über dem Kranzgesims öffnete: »Dort ist dein Zimmer, gestern abend bin ich da gewesen. In derselben Etage, aber ganz am Ende auf der anderen Seite, ist Papas Büro. Es ist nichts weiter drin als ein einfacher Tisch, ein Schreibsekretär aus Mahagoni und eine Karaffe auf dem Kamin: Papas Junggeselleneinrichtung. Aber von diesem Zimmer ist unser ganzer Reichtum ausgegangen.«
Sie gingen jetzt die kiesbestreuten Wege zwischen den Beeten entlang und erreichten die kurzgeschnittene Buchsbaumhecke, die den Park nach Süden abgrenzte. Dann kamen sie an der Orangerie vorbei, deren mächtiges Tor mit dem Lothringerkreuz von Mareuilles gekrönt war, und gelangten in die große Lindenallee. Unter den schon halbentblätterten Bäumen standen steinerne Nymphen, die in dem feuchten Schatten vor Kälte zu beben schienen. Von Zeit zu Zeit, wenn ein Windhauch vorüberstrich, fiel ein Blatt zur Erde und blieb liegen wie eine goldrote Muschel, in der noch ein Regentropfen hing.
Thérèse deutete auf die Nymphen und sagte: »Wie oft haben sie mich weinen sehen, als ich noch ein Kind war und so gerne sterben wollte. Ich sehnte mich nach dem Leben und hatte doch Angst davor. Damals schon wartete ich auf dich, aber du warst noch so fern von mir.« Die Lindenallee erweiterte sich zu einem Rondell mit einem großen Bassin, in dessen Mitte sich eine Gruppe muschelblasender Nereiden und Tritonen erhob. Wenn die Wasser spielten, bildeten sie ein fließendes Diadem mit Schaumblumen.
»Das ist die Krone von Joinville«, sagte sie. Dann zeigte sie ihm einen Fußweg, der sich vom Bassin nach Osten in die Felder verlor.
»Das ist mein Weg«, sagte sie, »wie oft bin ich dort gegangen, wenn ich traurig gestimmt war. Ja, ich war traurig, ehe ich dich kannte.«
Sie folgten wieder der Allee, die jenseits des Rondells weiterlief, von neuen Linden, neuen Nymphen gesäumt. Sie gingen hinab bis zur Grotte. Es war hinten im Park ein Halbkreis von fünf tiefen balustradengekrönten Nischen, die aus Feldsteinen erbaut und durch riesige Hermensäulen voneinander getrennt waren. In ungeschlachter Nacktheit ragte die Figur an der Ecke des Bauwerks vor ihnen empor und sah mit steinernem Blick scheu und wild auf sie hernieder.
»Als mein Vater Joinville kaufte«, sagte Thérèse, »war diese Grotte nur ein einziger grasbewachsener Trümmerhaufen, in dem Schlangen und unzählige Hasen hausten. Er hat dann nach den Kupferstichen von Perrele, die man in der Bibliothek fand, die Bogen und Hermen wiederhergestellt. Er war sein eigener Architekt.«
Vom Verlangen nach Dunkel und Geheimnis getrieben, traten sie jetzt in den Buchengang, der zur Seite der Grotte lag. Aber ein Geräusch von Schritten, das von der Allee herkam, ließ sie plötzlich innehalten. Und nun erblickten sie durch die Zweige hindurch Montessuy, der die Prinzessin Seniavine umschlungen hielt. Langsam gingen die beiden auf das Schloß zu. Jacques und Thérèse hatten sich hinter einer riesigen Herme verborgen und warteten, bis sie vorüber waren.
Dann sagte sie, während er sie schweigend anblickte: »Nun, das ist doch immerhin etwas stark. Ich verstehe jetzt, weshalb die Prinzessin Papa im letzten Winter immer um Rat fragte, wenn sie sich Pferde kaufen wollte.«
Und doch bewunderte sie ihren Vater, weil er dieses schöne Weib erobert hatte. Die Prinzessin galt für sehr schwer zugänglich, und sie sollte sehr reich sein, obwohl sie durch ihre wahnsinnige Unordnung jeden Augenblick in Geldverlegenheit geriet.
Sie fragte Jacques, ob er sie nicht sehr schön fände. Er meinte, sie habe einen für seinen Geschmack zu stark sinnlichen Reiz. Hübsch war sie zweifellos, aber er hatte eine Ahnung, daß wie bei allen Brünetten ihre Haut dunkel und gelblich war. Thérèse gab zu, daß das wohl möglich sei, und doch war die Prinzessin abends so schön, daß sie alle anderen Frauen in den Schatten stellte.
Dann führte sie ihn hinter der Grotte die moosbewachsene Treppe hinauf zur großen Fontäne, mit ihrem Bündel von Schilfrohr aus Blei inmitten des rosafarbenen Marmorbeckens. Dort war der Park zu Ende, und das Gehölz begann.
Schweigend gingen sie unter den hohen Bäumen dahin, während die Blätter leise rauschten. Jenseits der hohen Wand von prächtigen Ulmen schimmerten die hellen Stämme der Espen und Birken in den letzten Sonnenstrahlen.
Er schloß sie in seine Arme und küßte ihre Augenlider.
Die Nacht begann herabzusinken, und zwischen den Zweigen hindurch funkelten die ersten Sterne. In dem feuchten Gras stimmten die Kröten ihren melancholischen Gesang an.
Weiter gingen sie nicht.
Lange nachher, als es schon Nacht geworden war, traten sie den Heimweg nach dem Schloß an. Ihr war, als ob sie seine Küsse und den frischen Duft des Waldes noch auf den Lippen fühlte. Sie sah ihn noch vor sich, wie er an einen Birkenstamm gelehnt vor ihr stand. Er sah beinah aus wie ein Faun, und sie hing an seiner Brust, die Arme um seinen Hals geschlungen, und glaubte vor Lust zu vergehen. Und nun lächelte sie den Nymphen zu, die unter den Linden standen und die einst die Tränen ihrer Kindheit hatten fließen sehen.
Am Himmel glänzte das Sternenkreuz des Schwans, und die schmale Mondsichel spiegelte sich in dem Bassin des Springbrunnens. Im Grase ließen die Grillen ihren zirpenden Liebesruf erschallen.
Als sie die letzte Biegung der Hecke erreicht hatten, sahen Jacques und Thérèse das Schloß vor sich liegen wie eine dunkle unheimliche Masse, und hinter den breiten Fenstern des Erdgeschosses bewegten sich flüchtige Schatten in dem roten Lichtschein hin und her. Dann ertönte eine Glocke, und nun rief Thérèse: »Ich muß mich schnell zum Diner ankleiden.«
Bei den steinernen Löwen verschwand sie, und es kam ihrem Freunde vor, als ob es eine Fee gewesen sei, die eben noch an seiner Seite ging.
Nach dem Diner waren alle im Salon versammelt.
Monsieur Berthier d'Eyzelles las die Zeitung, und die Prinzessin Seniavine saß am Spieltisch und legte Karten.
Thérèse träumte mit halbgeschlossenen Augen über einem Buch. An ihren Knöcheln fühlte sie noch die Stiche der Dornen, die sie im Gebüsch hinter der großen Fontäne geritzt hatten, und ein heißer Schauer durchlief sie, wenn sie an den Geliebten dachte, der sie dort im Walde besessen hatte wie ein Faun, der mit einer Nymphe spielt.
Jetzt fragte die Prinzessin, ob es etwas Amüsantes sei, was sie da läse.
»Ich weiß nicht. Ich habe mehr nachgedacht als gelesen. Paul Vence hat recht, daß man immer nur sich selbst in den Büchern findet.«
Vom Billardsaal hörte man durch die Portiere die abgerissenen Rufe der Spielenden und das Rollen der Kugeln.
»Ich habe Glück«, rief die Prinzessin und warf die Karten hin. Sie hatte eine große Summe auf ein Pferd gewettet, das heute bei den Rennen in Chantilly lief.
Thérèse erzählte dann, daß sie einen Brief aus Fiesole erhalten habe. Miß Bell teilte ihr mit, sie würde sich demnächst mit dem Fürsten Eusebio Albertinelli della Spina verheiraten.
Die Prinzessin fing an zu lachen. »Dieser Mann wird ihr einen ausgezeichneten Dienst leisten.«
»Inwiefern?« fragte Therese.
»Er wird ihr die Männer verleiden.«
Jetzt trat Montessuy in den Salon. Er hatte die Partie gewonnen und war sehr gut aufgelegt.
Er setzte sich neben Berthier d'Eyzelles und nahm eine von den Zeitungen, die auf dem Sofa lagen.
»Der Finanzminister kündigt an, daß er nach den Ferien seinen Gesetzentwurf über das Sparkassenwesen vorlegen wird.«
Es handelte sich darum, die Sparkassen zu ermächtigen, an die Gemeinden Geld auszuleihen, und das hätte den Banken, die Montessuy leitete, großen Abbruch getan.
»Berthier«, sagte er, »verhalten Sie sich ablehnend gegen dieses Projekt?«
Berthier neigte den Kopf. Nun stand Montessuy auf und legte seine Hand auf die Schulter des Deputierten.
»Mein lieber Berthier, ich habe eine Ahnung, daß das Ministerium beim Wiederbeginn der Saison stürzen wird.«
Dann wandte er sich an Thérèse: »Le Ménil hat mir einen ganz sonderbaren Brief geschrieben.«
Thérèse stand auf und schloß die Tür zum Billardsaal. Der Luftzug war ihr unangenehm, wie sie sagte.
»Einen ganz komischen Brief«, wiederholte Montessuy. »Er wird nicht zur Jagd kommen. Er hat sich eine Jacht von achtzig Tonnen gekauft – ›Rosebud‹ heißt sie – und schwimmt damit im Mittelmeer herum. Er will nur noch auf dem Wasser leben. Es ist wirklich schade, niemand versteht es so wie er, eine Jagd zu leiten.«
In diesem Moment trat Dechartre mit dem Grafen Martin ein, der, nachdem er ihn im Billard geschlagen hatte, sehr freundschaftlich gegen ihn gesinnt war und ihm die Gefahren einer Luxus- und Dienstbotensteuer auseinandersetzte.
31
Die bleiche Wintersonne drang durch die Nebel, die über der Seine lagen, und beschien die Hunde von Oudry über den Türen des Speisezimmers im Palais Martin.
Madame Martin saß neben dem Abgeordneten Garain, dem ehemaligen Justizminister und Ministerpräsidenten, und dem Senator Loyer, während Monsieur Berthier d'Eyzelles neben dem Grafen Martin placiert war.
Es war ein ganz einfaches und intimes politisches Frühstück.
Wie Montessuy vorausgesagt hatte, war das Ministerium vor vier Tagen gestürzt worden.
Garain war heute morgen ins Elysee beschieden worden und hatte den Auftrag übernommen, ein neues Kabinett zu bilden.
Er beschäftigte sich jetzt beim Frühstück damit, die Liste zusammenzustellen, die dem Präsidenten am Abend vorgelegt werden sollte. Während sie mit allen möglichen Namen um sich warfen, hing Thérèse ihren Gedanken nach.
Als die Kammer wieder zusammentrat, war sie mit ihrem Mann nach Paris zurückgekehrt, und sie lebte seitdem wie in einem Märchen.
Jacques liebte sie, und in seiner Liebe lag eine beseligende Mischung von Leidenschaft und stiller Zärtlichkeit, von Erfahrung und naiver Neugier. Dabei war er nervös, reizbar und unruhig. Aber gerade diese wechselnden Stimmungen machten seine Fröhlichkeit um so wertvoller. Plötzlich brach die echte Heiterkeit des Künstlers bei ihm durch wie eine Flamme und verschönte ihre Liebe, ohne zu verletzen. Sie war entzückt über sein geistvolles Lachen, über den natürlichen Takt, den er an den Tag legte, wenn sie in intimen Stunden miteinander scherzten, und der sich selbst in seinen Launen offenbarte. In der ersten Zeit war seine Liebe nur eine finstere, sich immer gleichbleibende Glut gewesen. Und gerade das hatte ihr Herz gewonnen. Aber dann hatte sie entdeckt, wie überströmend heiter er sein konnte, wieviel verschiedene Töne er anzuschlagen wußte. Er konnte in seiner Sinnlichkeit so anmutig sein und hatte eine ganz eigene Gabe, mit seinen Liebkosungen die ganze Seele und nicht nur das Fleisch zu befriedigen.
»Das ist leicht gesagt: ein homogenes Ministerium«, rief Garain. »Man muß trotzdem den einzelnen Fraktionen der Kammer ihre selbständigen Tendenzen belassen.« Er war etwas unruhig. Er sah sich jetzt von ebenso vielen Fallen umgeben, wie er sie seinerzeit andern gelegt hatte. Sogar seine Mitarbeiter standen ihm feindlich gegenüber.
Graf Martin wollte ein modern angehauchtes Ministerium.
»Ihre Liste besteht aus lauter Persönlichkeiten von ganz verschiedener Herkunft, und jeder verfolgt andere Tendenzen. Und wissen Sie, was ich für die bedeutendste Tatsache halte, die uns die politische Geschichte der letzten Jahre gelehrt hat? Ich meine die Möglichkeit, beinah möchte ich sagen die Notwendigkeit, einheitliche Gesichtspunkte in der Leitung der Geschäfte einzuführen. Und gerade Sie, mein lieber Garain, haben diese Idee mit großer Beredsamkeit verfochten.«
Monsieur Berthier d'Eyzelles verhielt sich schweigend.
Loyer, der Senator, beschäftigte sich damit, Brotkugeln zwischen den Fingern zu drehen. Als einstiger Stammgast der Restaurationen zweiten Ranges hatte er sich angewöhnt, beim Brotkügelchenkneten oder Korkenschnitzeln seine Ideen zu verarbeiten. Dann erhob er sein kupferrotes Gesicht mit dem ungepflegten Bart und blickte Garain mit rötlich schimmernden, eng zusammenstehenden Augen an: »Ich habe das immer gesagt, aber man hat es mir nicht glauben wollen. Die Vernichtung der monarchisch gesinnten Rechten ist für die Häupter der republikanischen Partei ein nicht wiedergutzumachender Schaden gewesen. Man regierte gegen die Rechte, und die wahre Stütze der Regierung ist doch immer die Opposition. Das Kaiserreich hat gegen uns und gegen die Orléanisten regiert; der sechzehnte Mai wiederum regierte gegen die Republikaner. Wir waren besser daran, als wir die Rechte gegen uns hatten, denn die Rechte war die beste Opposition, die man sich denken kann – eine große, ehrliche, unpopuläre Partei, die trotz ihrer beständigen Drohungen völlig machtlos war. Wir hätten sie festhalten müssen, aber man hat es nicht verstanden. Und dann – gestehen wir es nur ein: mit der Zeit nützt alles sich ab.
Trotzdem müssen wir immer eine Opposition haben. Und jetzt haben wir nur noch die Sozialisten, um uns den Halt zu geben, den die Rechte uns fünfzehn Jahre lang mit einer so aufopfernden Beständigkeit geboten hat. Aber die Sozialisten sind zu schwach. Man müßte sie stärken, ihnen Gelegenheit geben, sich auszubreiten und sie zu einer Partei machen, die politisch mitzählt. Das ist, so wie die Sache liegt, die wichtigste Aufgabe für das neue Ministerium des Innern.«
Garain, der kein Talent zum Zyniker besaß, erwiderte kein Wort.
»Garain, wissen Sie schon«, fragte Graf Martin, »ob Sie als Präsident das Justizministerium oder das Ministerium des Innern mit übernehmen werden?«
Garain erwiderte darauf, seine Entscheidung hinge davon ab, was N ... wählen würde, den man unbedingt in das Kabinett aufnehmen müsse und der noch zwischen den beiden Portefeuilles schwanke. Er selbst, Garain, würde seine persönlichen Neigungen immer dem Gemeinwohl opfern.
Loyer grinste in seinen Bart hinein. Er sehnte sich sehr danach, Justizminister zu werden, und dieser Wunsch datierte schon von lange her. Unter dem Kaiserreich war er Repetitor für Jurisprudenz gewesen, und seine Lektionen, die er am Tisch irgendeines Kaffeehauses zu geben pflegte, wurden sehr hoch geschätzt. Er besaß viel Talent für Rechtskniffe. Seine politische Karriere hatte er damit begonnen, daß er Artikel schrieb, die sehr geschickt darauf angelegt waren, ihm Verfolgungen, Prozesse und sogar ein paar Wochen Gefängnis einzutragen. Und von jener Zeit an sah er in der Presse eine Waffe der Opposition, die zu unterdrücken die Aufgabe jeder vernünftigen Regierung war.
Seit dem 4. September 1870 war es sein Traum, Justizminister zu werden, um der Welt zu zeigen, wie der einstige Bohemien und zu Badinguets Zeiten Stammgast des Gefängnisses Sainte-Pélagie, wie der Rechtsrepetitor, der bei einer Portion garniertem Sauerkraut seine Lektionen erteilt hatte, sich als oberster Chef des Gerichtswesens ausnehmen würde.
Aber dutzendweise waren ihm wahre Tölpel zuvorgekommen. In dem mittelmäßigen Ehrenamt eines Senators war er alt geworden. Er war arm, dabei träge und abgearbeitet, von ungepflegtem Äußeren, unterhielt ein Verhältnis mit einer Kellnerin, und doch machten sein alter Jakobinergeist und die aufrichtige Verachtung, die er gegen das Volk empfand und die noch größer war als sein Ehrgeiz, noch eine politische Größe aus ihm. Sein Name stand jetzt mit auf der Liste Garains, er glaubte sich das Justizministerium sicher. Und nun wurde Garain, sein Protektor, selbst zu einem unerwünschten Rivalen. So lächelte er höhnisch vor sich hin, während er einen kleinen Hund aus Brot knetete.
Monsieur Berthier d'Eyzelles saß sehr ruhig und ernst da und strich düster seinen schönen weißen Backenbart.
»Glauben Sie nicht auch, Monsieur Garain, daß es gut wäre, wenn man in dem Kabinett den Männern einen Platz einräumte, die von Anfang an die Politik verfolgt haben, die wir jetzt treiben?«
»Sie haben sich darin verloren«, entgegnete Garain in seiner Ungeduld. »Ein Politiker darf den Tatsachen nicht vorauseilen. Er tut unrecht, wenn er zu früh recht haben will. Mit Denkern macht man keine Staatsgeschäfte. Seien wir doch ehrlich. Wenn Sie ein Ministerium des linken Zentrums haben wollen, dann sagen Sie es bitte frei heraus. Dann ziehe ich mich zurück. Aber ich warne Sie. Weder die Kammer noch das Land werden mit Ihnen gehen.«
»So viel ist gewiß«, sagte Graf Martin, »daß wir uns eine Mehrheit sichern müssen.«
»Mit meiner Liste ist unsere Mehrheit gemacht«, antwortete Garain. »Nur eine Minderheit hat das Ministerium gegen uns unterstützt, dazu kommen für uns noch die Stimmen, die wir von ihr zu uns herübergezogen haben. Meine Herren, ich rechne auf Ihre Uneigennützigkeit.«
Und nun begannen sie wieder mit der mühevollen Arbeit, die Portefeuilles unter sich zu verteilen. Graf Martin sollte zuerst die öffentlichen Arbeiten erhalten, aber er weigerte sich, weil er in diesen Sachen nicht kompetent sei. Dann wurde ihm das Außenministerium zugesprochen, womit er ohne jede Einwendung zufrieden war.
Aber Monsieur Berthier d'Eyzelles, dem Garain Handel und Landwirtschaft anbot, hielt sich zurück.
Loyer fiel das Kolonialamt zu. Er schien ganz damit beschäftigt, den kleinen Hund, den er eben zusammengeknetet hatte, auf dem Tischtuch festzukleben, und schielte dabei mit seinen kleinen Augen zu der Gräfin Martin hinüber. Er fand sie sehr begehrenswert und hoffte darauf, in Zukunft in den intimen Kreis des Hauses gezogen zu werden.
Während er Garain eifrig weiterreden ließ, widmete er sich dieser hübschen Frau. Er suchte ihre Neigungen und ihre Lebensgewohnheiten zu erforschen. So fragte er, ob sie gerne ins Theater ginge und ob sie manchmal des Abends mit ihrem Mann das Café besuche. Und sie fand ihn interessanter als die anderen, mit seinem verwahrlosten Äußeren, seiner Unkenntnis des gesellschaftlichen Lebens und seinem stolzen Zynismus.
Garain hatte sich erhoben. Er mußte noch N ... und N ... und N ... aufsuchen, ehe er mit seiner Liste zum Präsidenten der Republik ging. Der Graf Martin bot ihm seinen Wagen an, aber Garain hatte seinen eigenen, der unten auf ihn wartete.
»Glauben Sie denn«, fragte Graf Martin, »daß der Präsident mit allen Namen, die auf der Liste stehen, einverstanden ist?«
»Der Präsident«, antwortete Garain, »wird sich durch die in der Situation begründeten Notwendigkeiten leiten lassen.«
Als er schon an der Tür stand, schlug er sich plötzlich an die Stirn und kam wieder zurück: »Wir haben den Kriegsminister vergessen.«
»Oh, den werden wir mit Leichtigkeit unter den Generälen finden«, sagte Graf Martin.
»So«, rief Garain, »glauben Sie, daß die Wahl des Kriegsministers so einfach ist? Da sieht man, daß Sie nicht wie ich Ministerpräsident gewesen sind und drei verschiedenen Kabinetten angehört haben. Die Kriegsminister haben uns immer die dornigsten Schwierigkeiten bereitet, und die Generäle sind sich alle gleich. Sie wissen ja, wen ich damals gewählt habe, als ich das Kabinett zu bilden hatte. Wir wählten einen Mann, der nichts von Staatsgeschäften verstand. Ich glaube, er wußte nicht einmal, daß es zwei Kammern gibt. Wir mußten ihm das ganze Räderwerk des parlamentarischen Mechanismus auseinandersetzen, ihm sagen, daß es eine Militärkommission, eine Finanzkommission und soundso viele Unterkommissionen gäbe, wir mußten ihm erklären, was ein Berichterstatter und was die Beratung über das Budget sei. Er bat uns, man möge ihm das alles auf ein Stück Papier aufschreiben. Im Grunde waren wir ganz entsetzt über seine Unkenntnis von Menschen und Dingen. Und nach vierzehn Tagen wußte dieser Mensch mit allen Kniffen seines Handwerks Bescheid, kannte sämtliche Senatoren und Abgeordneten persönlich und intrigierte mit ihnen gegen uns, daß es eine Art hatte. Ohne den Beistand des Präsidenten Grévy, der dem Militär gegenüber sehr mißtrauisch war, hätte er uns alle über den Haufen geworfen. Und das war ein ganz gewöhnlicher General, ein General wie alle andern. Nein, nein, glauben Sie nur nicht, daß man das Kriegsministerium so unüberlegt in aller Eile dem ersten besten anvertrauen darf.«
Ihn schauderte noch, wenn er an seinen einstigen Kollegen vom Boulevard Saint-Germain dachte.
Dann ging er. Thérèse erhob sich jetzt. Der Senator Loyer bot ihr den Arm mit der ganzen wohlabgerundeten Grazie, die er vor vierzig Jahren bei Bullier gelernt hatte.
Dann ließ sie die Herren allein. Sie sehnte sich danach, Dechartre wiederzusehen.
Über der Seine und den steinernen Quais mit ihren goldenen Platanen wogten rötliche Nebel. Der flammende Schein der Sonne warf den letzten Glanz des Jahres auf den wolkigen Himmel.
Voller Wonne zog Thérèse die frische, würzige Luft ein und genoß die verlöschende Pracht des Tages.
Seit ihrer Rückkehr nach Paris war sie so glücklich, daß sie sich jeden Morgen über das Wetter freute, mochte es nun gut oder schlecht sein. In dem Egoismus ihrer Liebe kam es ihr vor, als ob der Wind nur für sie durch die entblätterten Bäume brauste, nur für sie der feine graue Regen auf die Straßen niederrieselte und die kalte Wintersonne am blassen Himmel ihre Bahnen zog – nur für sie und damit sie Jacques erzählen konnte: »Es stürmt – es regnet«, oder: »Das Wetter ist schön!« Ihr war, als ob das ganze Weltall in ihrer Liebe aufgehen müsse. Und für sie brach jeder Tag in neuer Schönheit an, weil jeder sie wieder in die Arme ihres Freundes führte.
Während sie heute, wie alle anderen Tage, nach dem kleinen Haus in Les Ternes ging, dachte sie über ihr Glück nach, das so unverhofft in seiner ganzen Fülle über sie gekommen war und dessen sie sich endlich sicher fühlte. Sie ging im letzten Glanz der Sonne, die schon vom Winter angerührt war, und sie sagte sich: ›Ja, er liebt mich. Ich glaube, daß die Liebe zu mir ihn ganz erfüllte Die Liebe kommt ihm leichter und natürlicher als andern Männern, denn die andern haben irgendeine Idee, die über ihnen steht, sie haben ihren Glauben, ihre Gewohnheiten und ihre Interessen. Sie glauben an Gott oder an irgendwelche Ziele oder an sich selbst. Jacques glaubt ausschließlich an mich. Ich bin sein Gott, ich bin sein Ziel und sein Leben.‹ Dann dachte sie weiter: ›Aber es ist wahr, er braucht keinen Menschen, nicht einmal mich. Seine Phantasie ist eine herrliche, in sich abgeschlossene Welt, in der er vollkommen glücklich leben könnte. Ich dagegen – ich kann nicht ohne ihn leben. Was sollte aus mir werden, wenn ich ihn verlöre?‹
Sie beruhigte sich wieder mit dem Gedanken an ihre leidenschaftliche Neigung, an die beglückenden Stunden ihres Beisammenseins. Und sie erinnerte sich, daß sie ihm eines Tages gesagt hatte: »Deine Liebe zu mir ist ausschließlich sinnlich. Ich beklage mich nicht darüber; vielleicht ist die sinnliche Liebe die einzige wahre.« Er hatte darauf geantwortet: »Ja, und sie ist die einzige, die wirklich groß und stark ist, denn sie hat ihr Gesetz und ihre Waffen, sie ist gewaltsam und geheimnisvoll, erfüllt von Geist und Farbe. Sie hängt am Fleisch und an der Seele, die im Fleische wohnt. Alles andere ist Lüge und Illusion.«
Sie fühlte sich jetzt beinah ruhig in ihrem Glück.
Sein Argwohn und seine Besorgnisse hatten sich zerstreut wie Gewitterwolken im Sommer. Die schlimmste Zeit für ihre Liebe war gewesen, als sie voneinander getrennt waren. Nein, wenn man sich liebt, soll man sich niemals trennen.
An der Ecke der Avenue Marceau und der Rue Galilée streifte ein Schatten, eine längst vergessene Gestalt an ihr vorüber. Sie erriet, wer es war, obgleich sie ihn kaum erkannt hatte.
Aber sie glaubte sich geirrt zu haben, sie wollte sich geirrt haben. Der, den sie zu sehen geglaubt, existierte nicht mehr für sie, hatte niemals für sie existiert. Es war ein Phantom aus einer versunkenen Welt, aus dem Dunkel der halbgelebten Dinge. Und doch konnte sie im Weitergehen ein Gefühl von Kälte und Beklommenheit, konnte das leise Unbehagen nicht loswerden, mit dem diese unklare Begegnung sie erfüllt hatte.
Als sie die Straße hinaufging, begegnete sie einer Menge von Zeitungsverkäufern. Mit ausgestrecktem Arm hielten sie die Abendblätter empor, die in großgedruckten Lettern das neue Ministerium verkündeten.
Dann überquerte sie die Place de l'Etoile, von der glückseligen Ungeduld des Verlangens vorwärts getrieben. In Gedanken sah sie Jacques schon am Fuß der Treppe stehen, wo er zwischen den wilden, nackten Leibern der Bronze- und Marmorstatuen auf sie wartete. Und dann nahm er sie in seine Arme, und während sie schon unter seinen Küssen erschauerte, trug er sie hinauf in das dunkle, wollustatmende Zimmer, wo sie in ihrem Liebesrausch das Leben vergaßen.
Aber dann, in der Stille der Avenue Mac-Mahon, trat jener Schatten auf sie zu, der vorhin schon einmal an ihr vorbeigestreift war, und stand in nüchterner und peinlicher Bestimmtheit vor ihr da.
Sie erkannte Robert Le Ménil, der ihr vom Quai Debilly an gefolgt war und nur gewartet hatte, bis sie in eine ruhige Straße einbog, um sie anzureden.
In seiner Miene und in seinem ganzen Wesen lag jene Einfachheit und Klarheit, die Thérèse einst zu ihm hingezogen hatte. Seine von Natur harten Züge waren von Sonne und Wetter gebräunt und erschienen dadurch noch finsterer. Sein Gesicht war etwas eingefallen, aber vollkommen ruhig, und man sah ihm an, daß er schwer gelitten hatte.
»Ich habe mit dir zu reden.«
Sie mäßigte ihre Schritte, und er ging neben ihr her.
»Ich habe versucht, dich zu vergessen. Nach dem, was vorgefallen ist, war das ganz selbstverständlich, nicht wahr? Und ich habe dazu getan, was ich konnte. Es wäre ja das beste gewesen, dich zu vergessen. Aber ich habe es nicht gekonnt. Ich habe mir eine Jacht gekauft und bin sechs Monate auf dem Meer gewesen. Vielleicht hast du davon gehört?«
Sie nickte bejahend, und er fuhr fort: »›Rosebud‹ – eine hübsche kleine Jacht von achtzig Tonnen. Ich hatte sechs Mann Besatzung und habe selbst mit ihnen manövriert. Es war immerhin eine Zerstreuung.«
Er schwieg. Sie ging langsam weiter, sie war traurig, und vor allem langweilte er sie. Es kam ihr über alle Begriffe albern und peinlich vor, all diese fremdartig klingenden Worte anhören zu müssen.
»Was ich in dieser Zeit gelitten habe, ich müßte mich schämen, es dir zu sagen.«
Sie fühlte, daß er die Wahrheit sagte, und wandte den Kopf ab.
»Oh, ich habe dir alles verziehen. Ich habe in meiner Einsamkeit viel darüber nachgedacht. Tage und Nächte habe ich auf meinem Diwan in der Deckskajüte gelegen und immer wieder dieselben Gedanken durch den Kopf gewälzt. Während dieser sechs Monate habe ich mehr nachgedacht als sonst in meinem ganzen Leben. Lache nicht darüber. Nichts vermag den Geist so aufzuwecken wie ein großer Schmerz. Ich habe eingesehen, daß es meine Schuld war, wenn ich dich verloren habe. Ich hätte es besser verstehen müssen, dich festzuhalten. Und wenn ich so dahingestreckt dalag, während ›Rosebud‹ über das Meer dahinglitt, habe ich mir gesagt: ›Nein, ich habe es nicht verstanden. Oh, wenn ich noch einmal wieder von vorn beginnen dürfte.‹ Ich habe es eingesehen – nach langem Nachdenken und unter tiefem Leiden habe ich begriffen, daß ich nicht genug auf deine Neigungen und Ideen eingegangen bin. Du bist eine geistig hochstehende Frau. Ich habe es früher nicht so bemerkt, weil es nicht das war, was meiner Liebe zugrunde lag. Ich habe dich oft verletzt und gereizt, ohne es zu ahnen.«
Thérèse schüttelte den Kopf, aber er ließ sich nicht beirren: »Ja, ja, ich habe dich oft verletzt. Ich habe dein Zartgefühl nicht genug geschont. Es kam zu Mißverständnissen zwischen uns, weil wir verschiedenen Wesens sind. Und dann habe ich nicht genug für deine Unterhaltung gesorgt. Ich wußte dir nicht die Freuden zu verschaffen, deren du bedarfst und die einer intelligenten Frau, wie du es bist, zukommen.«
Er war so aufrichtig in seinem Schmerz und seiner Reue, daß es Thérèse trotz allem sympathisch berührte. So sagte sie mit sanfter Stimme: »Lieber Robert, ich habe mich niemals über dich zu beklagen gehabt.«
Aber er sprach weiter.
»Was ich dir da sage, ist alles wahr. Ich habe es eingesehen, während ich ganz allein mit meinem Schiff auf dem weiten Meere war. Ich habe Stunden durchlebt, die ich nicht einmal jenem Mann wünschen möchte, der mir das schwerste Leid meines Lebens zugefügt hat. Wie oft habe ich Lust gehabt, mich ins Meer zu stürzen. Ich habe es nicht getan. Haben meine religiösen Grundsätze, hat der Gedanke an meine Familie mich zurückgehalten? Oder habe ich nicht den Mut dazu gehabt? Ich weiß es selber nicht. Vielleicht war es – trotz der Entfernung, die zwischen uns lag – der Gedanke an dich, der mich am Leben festhielt. Ich wurde zu dir hingezogen, und deshalb bin ich jetzt hier. Seit zwei Tagen habe ich dir aufgelauert. Dein Haus wollte ich nicht wieder betreten. Ich hätte dich nicht allein gefunden, vielleicht nicht einmal mit dir sprechen können. Außerdem wärest du gezwungen gewesen, mich zu empfangen. Deshalb fand ich es besser, auf der Straße mit dir zu reden. Auch dieser Gedanke ist mir auf dem Schiff gekommen. Ich habe mir gesagt, auf der Straße wird sie mich nur anhören, wenn sie es selber will – wie damals vor vier Jahren in Joinville, weißt du noch, in der Allee mit den Statuen, bei der großen Fontäne.« Und mit einem tiefen Seufzer fügte er hinzu: »Ja, wie damals in Joinville, weil wir noch einmal von vorn beginnen müssen. Seit zwei Tagen also warte ich auf dich. Gestern regnete es, und du bist im Wagen ausgefahren. Ich hätte dir folgen können, um zu wissen, wohin du gingst. Ich hatte große Lust dazu. Aber ich habe es nicht getan, denn ich will nichts tun, was dir mißfällt.«
Sie reichte ihm die Hand: »Ich danke dir. Ich habe es wohl gewußt, daß ich mein Vertrauen zu dir nicht zu bereuen brauchte.«
Sie war erregt und ungeduldig und bebte in nervöser Angst vor dem, was er jetzt noch sagen würde. Deshalb suchte sie das Gespräch abzubrechen und ihm zu entkommen.
»Leb wohl, Robert, du hast noch das ganze Leben vor dir. Du bist glücklich. Denke daran und quäle dich nicht länger, es ist nicht der Mühe wert.«
Aber er warf ihr einen Blick zu, der sie zwang, zu bleiben. Sein Gesicht hätte den erregten und dabei entschlossenen Ausdruck angenommen, den sie kannte.
»Ich habe dir gesagt, daß ich mit dir zu reden habe. Du mußt mich noch einen Augenblick anhören.«
Sie dachte an Jacques, der schon auf sie wartete. Hin und wieder kamen Leute vorbei, blickten sie an und gingen weiter. Sie blieb unter einem Baum stehen und wartete auf das, was er sagen wollte, während Mitleid und Furcht sich in ihrem Herzen regten.
»Sieh, ich habe dir verziehen, ich will alles vergessen. Aber sei wieder mein. Ich verspreche dir, daß alles, was geschehen ist, niemals wieder erwähnt werden soll.«
Aber sie fuhr zusammen und zeigte eine so echte Regung von Überraschung und Betrübnis, daß er innehielt. Dann dachte er einen Augenblick nach und sagte: »Ich weiß wohl, daß mein Vorschlag ungewöhnlich ist. Aber ich habe alles überlegt, alles durchdacht. Es ist das einzige, was möglich ist. Denke darüber nach, Thérèse, antworte mir nicht gleich.«
»Nein, das wäre schlecht von mir, dich darüber zu täuschen. Ich kann und will nicht auf das eingehen, was du mir gesagt hast, und du weißt, warum.«
Jetzt fuhr ein Fiaker vorbei. Sie gab dem Kutscher ein Zeichen, und er hielt an. Aber Robert hielt sie noch einen Augenblick zurück: »Ich habe vorhergesehen, daß du mir so antworten würdest. Und deshalb sage ich dir noch einmal: Antworte mir nicht gleich.«
Sie hatte den Türgriff schon in der Hand, und nun blickte sie ihn mit ihren grauen Augen an.
Das war der schwerste Augenblick für ihn. Er dachte an die Zeit zurück, wo er diese schönen Augen unter den halbgeschlossenen Lidern hatte hervorleuchten sehen. Er hielt ein Schluchzen zurück und murmelte mit erstickter Stimme: »Thérèse, höre mich an. Ich kann nicht ohne dich leben. Ich liebe dich. Erst jetzt liebe ich dich wirklich, früher habe ich es selbst nicht gewußt.«
Und während sie dem Kutscher die Adresse irgendeiner Modistin zurief, entfernte er sich mit seinen raschen, elastischen Schritten, die heute etwas ungleichmäßiger waren als sonst.
Ihr war nach dieser Begegnung etwas unruhig und bange zumute. Wenn es denn hatte sein müssen, daß sie ihn wiedersah, so wäre es ihr lieber gewesen, ihn so heftig und brutal zu sehen wie damals in Florenz.
An der Ecke der Allee rief sie dem Kutscher hastig zu: »Les Ternes, Rue Demours.«
32
Es war an einem Freitag in der Oper. Der Vorhang hatte sich eben über Fausts Studierzimmer gesenkt.
In den bewegten Tiefen des Parketts hoben sich die Lorgnetten, und die Blicke irrten suchend durch den in Gold und Purpur gehaltenen Zuschauerraum, in dessen ungeheurer Weite die Lichter hier und da wie verloren aufglänzten.
Die dunklen Schreine der Logen umschlossen schimmernde Frauenköpfe und entblößte Schultern. Der ganze erste Rang glich einer langgeschweiften Girlande von Diamanten, Blumen, Haarkronen, nacktem Fleisch, Gaze und Seide.
In der Proszeniumsloge sah man die Frau des österreichischen Botschafters und die Herzogin von Gladwin, im ersten Rang Berthe d'Isigny und Jane Tull, die durch den Selbstmord ihres Geliebten zur Tagesberühmtheit geworden war. In den Logen saßen Madame Bérard de la Malle mit gesenkten Augen und den langen Wimpern, die ihre kindlich reinen Wangen beschatteten; die Prinzessin Seniavine, die hinreißend aussah und hinter ihrem Fächer ihr Panthergähnen verbarg; Madame Morlaine zwischen zwei jungen Frauen, die sie unterwies, mit Eleganz geistreich zu sein; Madame Meillan im Selbstbewußtsein ihrer seit dreißig Jahren gebietenden Schönheit; Madame Berthier d'Eyzelles mit ihrem eisengrauen Scheitel, der von Diamanten glänzte. In steifer Haltung saß sie da, und die kupferne Röte ihres Gesichts trug noch dazu bei, die strenge Würde ihrer Erscheinung zu erhöhen. Sie zog die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich, denn man hatte am Morgen des heutigen Tages erfahren, daß Garain mit seiner Liste gescheitert war und Berthier d'Eyzelles die Aufgabe übernommen hatte, das Ministerium zu bilden. Die Verhandlungen standen unmittelbar vor dem Abschluß. Die Zeitungen hatten schon die neue Liste veröffentlicht, darunter den Namen des Grafen Martin als Finanzminister. Und die Operngläser richteten sich auf die noch leere Loge der Gräfin.
Ein brausendes Stimmengewirr erfüllte den Raum. General Larivière stand auf seinem gewohnten Platz in der dritten Parkettreihe und sprach mit dem General de La Briche.
»Ich werde nächstens Ihrem Beispiel folgen, alter Kamerad, und mich in die Touraine zurückziehen, um Kohl zu bauen.«
Er hatte einen seiner melancholischen Anfälle, wo es ihm zum Bewußtsein kam, daß das Leben in seinem Alter nicht viel mehr bieten konnte. Er hatte Garain die Cour gemacht, aber Garain hatte ihn zu schlau gefunden und ihm als Kriegsminister einen schrulligen, kurzsichtigen Artilleriegeneral vorgezogen. Aber wenigstens hatte er jetzt die Genugtuung, Garain von seinen Freunden Berthier und Martin-Bellème verlassen und verraten zu sehen. Er lachte nur mit den Fältchen um seine kleinen Augen. Sonst erheiterte nichts sein griesgrämiges Gesicht. Es war ein Lachen im Profil. Er war des Lebens der ewigen Verstellung satt und freute sich des unvorhergesehenen Genusses, seinen Gedanken freien Lauf lassen zu können.
»Jawohl, mein guter La Briche. Sie bringen uns mit ihrer Bürgerarmee, die viel kostet und nichts taugt, nur in die Patsche. Nur die kleinen Armeen haben einen Wert. Das hat auch Napoleon gewußt, und der verstand sich darauf.«
»Wohl wahr, wohl wahr«, seufzte bewegt und mit Tränen in den Augen General La Briche.
Eben ging Montessuy an ihnen vorüber, um zu seinem Platz zu gelangen. Larivière hielt ihm die Hand hin.
»Montessuy, man sagt, daß Sie an Garains Fiasko schuld sind? Mein Kompliment.«
Montessuy verteidigte sich dagegen, irgendwie in die Politik eingegriffen zu haben. Er war weder Senator noch Deputierter, nicht einmal Generalrat des Departements Oise. Und während er sich im Saal umblickte, sagte er: »Sehen Sie, Larivière, die reizende kleine Brünette mit dem gescheitelten, glatt anliegenden Haar, dort in der Loge rechts.«
Dann setzte er sich ruhig auf seinen Platz in dem Vollgefühl seiner realen Macht.
Im Foyer, in den Gängen, im Zuschauerraum gingen inmitten der lässigen Gleichgültigkeit die Namen der neuen Minister von Mund zu Mund: Vorsitz und Inneres Berthier d'Eyzelles, Justiz und Kultus Loyer, Finanzen Martin-Bellème. Man kannte sie alle mit Ausnahme der Minister für Handel, Krieg und Marine, die noch nicht endgültig bestimmt waren.
Jetzt ging der Vorhang auf über der Wirtshausszene. Die Studenten waren noch bei ihrem zweiten Chorgesang, als Madame Martin in ihrer Loge erschien. Sie hatte das Haar hochfrisiert und trug ein weißes Kleid mit flügelartigen Ärmeln. Eine Lilie aus roten Rubinen hielt die Draperie ihrer Taille vorn an der linken Seite zusammen.
Neben ihr nahm Miß Bell in einem grünen Samtkleid à la Queen Ann Platz. Sie war jetzt mit dem Fürsten Eusebio Albertinelli della Spina verlobt und nach Paris gekommen, um ihre Aussteuer zu besorgen.
Mitten im bewegten Kirmeslärm auf der Bühne sagte Miß Bell: »Darling, Sie haben in Florenz einen Freund, der liebevoll ihr Andenken pflegt, Professor Arrighi. Er hat für Sie das Lob aufgespart, das ihm das allergrößte ist: Sie seien ein musikalisches Geschöpf, meint er. Aber wie sollte sich auch Professor Arrighi Ihrer nicht erinnern, wo doch selbst der Goldregen im Garten Sie nicht vergessen kann. Mit entblätterten Zweigen klagt er über Ihr Fortsein. Er hat Sehnsucht nach Ihnen, Darling.«
»Sagen Sie den Blumen«, antwortete Thérèse, »daß ich mir ein köstliches Andenken aus Florenz mitgenommen habe, das mir das Leben reich und schön macht.«
Im Hintergrund der Loge stand Martin-Bellème mit Joseph Springer und Duvicquet, denen er mit gedämpfter Stimme seine Ideen über Finanzangelegenheiten auseinandersetzte.
»Frankreichs Unterschrift ist die beste in der ganzen Welt.« Und er fügte hinzu: »Man muß mit Überschüssen amortisieren und nicht mit Steuern.« Er neigte zur Vorsicht in Finanzfragen.
Dann fing Miß Bell wieder an: »O Darling, ich werde den Blumen in Fiesole sagen, daß Sie sich nach ihnen sehnen und sie bald wieder auf ihrem Hügel besuchen werden. Aber was ich Sie noch fragen wollte: Sehen Sie Monsieur Dechartre in Paris? Ich möchte ihn so gerne wiedersehen. Ich habe ihn so gern, weil er eine vornehme Seele hat. O Darling, Monsieur Dechartres Seele hat so viel Grazie und Vornehmheit.«
Thérèse antwortete, daß Monsieur Dechartre gewiß heute abend hier sei und nicht verfehlen werde, Miß Bell zu begrüßen.
Der Vorhang fiel über dem farbigen Wirbel des Walzers. In den Gängen drängten sich die Zuschauer. Financiers, Künstler und Abgeordnete versammelten sich in dem kleinen Salon, der an die Loge grenzte. Alle umringten Monsieur Martin-Bellème, beglückwünschten ihn oder winkten ihm von ferne zu und erdrückten sich beinahe gegenseitig, um ihm die Hand zu schütteln. Joseph Schmoll bahnte sich hustend und stöhnend, blind und taub einen Weg durch die verachtete Menge, um zu Madame Martin zu gelangen. Er faßte ihre Hand und bedeckte sie schnaufend mit schallenden Küssen.
»Man sagt, daß Ihr Mann Minister geworden ist. Ist das wahr?«
Sie wußte nur, daß es so hieß, aber es war noch nicht sicher. Übrigens war ihr Mann in der Nähe, man konnte ihn selbst darüber befragen.
Aber Schmoll war ein Anhänger der buchstäblichen Wahrheit. »Ah, er ist noch nicht Minister? Wenn er wirklich ernannt ist, werde ich Sie um eine kleine Unterredung bitten. Es handelt sich um eine Sache von allergrößter Wichtigkeit.«
Dann schwieg er und blickte unter der goldenen Brille mit seinen halbblinden, visionären Augen um sich, die die Ursache waren, daß er trotz seiner brutal pedantischen Natur in einer Art von mystischem Dunkel lebte. Dann sagte er plötzlich: »Sie waren dieses Jahr in Italien, nicht wahr?« – und ehe sie noch antworten konnte – »Ja, ich weiß, ich weiß, Sie sind in Rom gewesen und haben dort auch den Triumphbogen dieses niederträchtigen Titus gesehen, dieses abscheuliche Marmordenkmal mit dem Relief, auf dem man unter der den Juden abgewonnenen Siegesbeute auch den siebenarmigen Leuchter sieht. Nun, und ich sage Ihnen, Madame, es ist ein Schandfleck der Menschheit, daß dieses Monument noch steht, noch dazu in Rom, wo die Päpste sich nur mit Hilfe der jüdischen Wechsler und Finanzleute gehalten haben. Die Juden haben die Wissenschaft aus Griechenland und dem Orient nach Italien gebracht. Die Renaissance, Madame, ist nur das Werk der Juden, das ist eine feststehende, wenn auch allgemein verkannte Tatsache.«
Damit verschwand er in der Menge, und man hörte nur noch das dumpfe Krachen der Zylinderhüte, die er zertrat.
Inzwischen hatte die Prinzessin Seniavine Thérèse mit jener lebhaften Neugier beobachtet, die manchmal beim Anblick schöner Frauen in ihr aufleuchtete. Sie winkte Paul Vence, der in der Nähe stand: »Finden Sie nicht, daß Madame Martin dieses Jahr ganz besonders schön ist?«
Im Foyer, wo das Licht sich in den goldenen Verzierungen spiegelte, wandte der General La Briche sich an Larivière: »Haben Sie meinen Neffen gesehen?«
»Ihren Neffen, Le Ménil?«
»Ja, ich meine Robert, er war eben noch da.
La Briche stand einen Augenblick nachdenklich, dann sagte er: »Er war diesen Sommer in Semanville, und er kam mir so sonderbar vor, so zerstreut. Er ist ein sympathischer Junge, intelligent und aufrichtig wie Gold. Aber er müßte irgendeine feste Beschäftigung haben, ein Ziel im Leben.«
Eben hatte es geklingelt. Die Pause war zu Ende. Nur die beiden Greise wandelten noch in dem leeren Foyer auf und ab.
»Ja, ein Ziel im Leben«, wiederholte La Briche, dessen lange, hagere Gestalt schon stark gebeugt war, während sein Kamerad mit elastischen, jugendlichen Schritten auf die Tür zueilte, die zum Bühnenhaus führte.
Gretchen spann und sang ihr Lied. Als sie geendet hatte, sagte Miß Bell zu Madame Martin: »O Darling, Monsieur Choulette hat mir einen wundervollen Brief geschrieben. Er hat mir erzählt, daß er so berühmt geworden ist, und ich bin sehr zufrieden, das zu wissen, und dann hat er gesagt: ›Der Ruhm anderer Dichter ruht auf Myrrhen und Weihrauch, aber der meine blutet und stöhnt unter einem Regen von Steinen und Austernschalen.‹ Ist es wirklich wahr, my love, daß die Franzosen den guten Monsieur Choulette steinigen?«
Während Thérèse sie darüber beruhigte, ließ Loyer sich gebieterisch und mit ziemlichem Getöse die Loge aufschließen.
Durchnäßt und mit Schmutz bedeckt trat er ein und sagte: »Ich komme gerade vom Elysée.«
Er war so galant, Madame Martin zuerst die frohe Nachricht zu verkündigen: »Das Dekret ist unterzeichnet. Ihr Mann ist Finanzminister. Es ist ein sehr schönes Portefeuille.«
»Hat der Präsident keine Einwendungen gemacht, als man ihm meinen Namen nannte?« fragte Martin-Bellème.
»Nein, Berthier hat ihm von der seit Generationen bewährten Redlichkeit der Familie Martin gesprochen, von ihrer Vermögensstellung und vor allem von den persönlichen Banden, die Sie mit gewissen Persönlichkeiten der Finanzwelt verknüpfen, deren Beistand für die Regierung von Vorteil sein kann. Und wie Garain sich so richtig ausdrückte, hat er sich von der in der Situation begründeten Notwendigkeit leiten lassen. So hat er denn unterzeichnet.«
Ein paar Falten glitten über das gelbliche Gesicht des Grafen Martin. Er lächelte.
»Das Dekret«, fuhr Loyer fort, »wird morgen im ›Officiel‹ erscheinen. Ich habe selbst den Kabinettsattache in einer Droschke in die Setzerei begleitet. Das ist immer sicherer. Zu Grévys Zeiten, der doch gewiß nicht dumm war, ist es vorgekommen, daß man die Papiere auf dem Wege zum Elysée zum Quai Voltaire abgefangen hat.«
Damit warf er sich in einen Stuhl und weidete sich mit Augen und Nüstern an Madame Martins Schultern.
»Man wird jetzt nicht mehr, wie zur Zeit meines armen Freundes Gambetta, sagen können, daß es der Republik an Frauen mangelt. Sie, Madame, werden uns herrliche Feste in den Salons des Ministeriums geben.«
Gretchen stand jetzt mit ihrem Halsschmuck und ihren Ohrringen vor dem Spiegel und sang die Schmuckarie.
Graf Martin erklärte: »Man wird die Regierungserklärung abfassen müssen. Ich habe darüber nachgedacht, und ich habe, wenigstens was mein Ressort betrifft, die richtige Formel gefunden: Man muß mit Überschüssen amortisieren und nicht mit Steuern.«
Loyer zuckte die Achseln: »Lieber Martin, es gibt eigentlich nichts Wesentliches, was an der Erklärung des vorigen Kabinetts zu ändern wäre. Die Situation ist im ganzen sichtlich die gleiche geblieben.« Er schlug sich gegen die Stirn. »Verdammt! Ich habe etwas vergessen. Wir haben Ihren Freund Larivière als Kriegsminister auf die Liste gesetzt, ohne ihn zu fragen. Ich habe den Auftrag, es ihm mitzuteilen.«
Er dachte, ihn in dem Café zu finden, wo das Militär verkehrte, aber Graf Martin wußte, daß der General im Theater war.
»Dann muß ich ihn gleich festhalten«, sagte Loyer und verbeugte sich zum Abschied. »Sie gestatten, Madame, daß ich Ihren Gatten entführe.«
Eben nachdem sie fort waren, traten Jacques Dechartre und Paul Vence in die Loge.
»Ich gratuliere, Madame«, sagte Paul Vence.
Aber sie wandte sich rasch an Dechartre:
»Nun, ich hoffe, Sie wenigstens werden mir nicht gratulieren.«
Paul Vence fragte, ob sie in die Räume des Ministeriums übersiedeln würde.
»Nein, um Gottes willen nicht«, rief sie ganz entsetzt.
»Aber, Madame«, fuhr er fort, »Sie werden auf den Bällen im Elysée erscheinen, und wir andern werden Gelegenheit finden, zu bewundern, wie Sie sich auch dort Ihren geheimnisvollen Reiz bewahren und immer die schöne Frau bleiben, von der alle träumen.«
»Monsieur Vence«, erwiderte sie, »mir scheint, der Ministerwechsel inspiriert Sie zu ziemlich leichtfertigen Betrachtungen.«
»Madame«, entgegnete er, »ich werde nicht wie mein treuer Meister Renan sagen: ›Was geht das den Sirius an?‹, weil man mir mit Recht antworten würde: ›Was geht der große Sirius die kleine Erde an?‹ Aber ich habe mich immer gewundert, wie Erwachsene und sogar alte Leute sich durch die Illusion der Macht irreführen lassen. Üben denn nicht der Hunger, der Tod und die Liebe, alle diese erhabenen oder niedrigen Notwendigkeiten des Lebens eine so unumschränkte Macht über die Menschheit aus, daß den Herren der Erde nichts anderes übrigbleibt, als nur noch auf dem Papier oder in bloßen Worten zu herrschen? Und noch seltsamer ist es, daß die Völker in dem Glauben leben, daß sie noch andere Staatsoberhäupter und andere Minister haben als ihr Elend, ihre Begierden und ihre Dummheit. Es war ein weiser Mann, der da sagte: ›Gebt den Menschen als Zeugen und Richter die Ironie und das Mitleid.‹«
»Aber, Monsieur Vence«, sagte Madame Martin lachend, »das haben Sie ja selbst geschrieben. Ich lese Ihre Bücher.«
Die beiden Minister suchten währenddem im Zuschauerraum und in den Gängen nach dem General. Auf den Rat der Logenschließerin begaben sie sich hinter die Kulissen. Sie wanden sich zwischen den Dekorationen, die gerade aufgerichtet oder niedergelassen wurden, und durch das Gewühl von deutschen Mädchen in roten Röcken, Hexen, Kobolden und Kurtisanen des Altertums durch und erreichten den Ballettsaal.
Der große, fast leere Raum, dessen Wände mit allegorischen Malereien bedeckt waren, machte jenen ernsthaften, feierlichen Eindruck, der allen Institutionen des Staates und des Reichtums eigen ist.
Zwei Tänzerinnen standen mit mürrischen Gesichtern da, den einen Fuß auf der Bank, die sich an der Wand entlangzog. Hier und da ziemlich schweigsame Gruppen von Herren im Frack und Tänzerinnen mit kurzen abstehenden Röcken.
Loyer und Martin-Bellème nahmen die Hüte ab, als sie eintraten. Im Hintergrund des Saales entdeckten sie Larivière mit einem hübschen Mädchen in rosafarbenem Oberkleid, das von einem goldenen Gürtel zusammengehalten wurde und, an den Hüften geschlitzt, das Trikot durchblicken ließ. In der Hand hielt sie einen Becher aus vergoldeter Pappe, und als die beiden näher traten, hörten sie, wie sie zum General sagte: »Sie sind freilich schon ziemlich alt, aber ich bin überzeugt, daß Sie mindestens noch ebensoviel wert sind wie der da.«
Dabei wies sie mit einer verächtlichen Handbewegung auf einen jungen Mann, der mit einer Gardenia im Knopfloch neben ihnen stand.
Loyer machte dem General ein Zeichen, daß er mit ihm sprechen wolle, und zog ihn zu der Bank hin.
»Ich habe das Vergnügen, Ihnen mitzuteilen, daß Sie Kriegsminister geworden sind.«
Larivière glaubte ihm nicht und gab keine Antwort. Dieser schlechtgekleidete Mann mit den langen Haaren, der in seinem staubigen, viel zu weiten Rock aussah wie ein Taschenspieler aus dem Tingeltangel, flößte ihm sehr wenig Zutrauen ein, so daß er eine Falle oder einen schlechten Scherz dahinter vermutete.
»Monsieur Loyer, Justizminister«, stellte Graf Martin vor.
Loyer fing jetzt an, in ihn zu dringen: »General, Sie dürfen sich nicht drücken. Ich habe mein Wort gegeben, daß Sie annehmen werden. Wenn Sie noch länger zögern, könnte Garain uns einen Streich spielen, er ist ein Verräter.«
»Mein lieber Kollege«, sagte Graf Martin, »Sie drücken sich etwas zu stark aus. Aber Garain ist vielleicht nicht ganz aufrichtig. Und es wird dringend gewünscht, daß der General annimmt.«
»Das Vaterland über alles«, antwortete Larivière, vor Bewegung stammelnd.
»Sie wissen ja, Herr General«, sagte Loyer, »die bestehenden Gesetze müssen unbeugsam, aber mit Mäßigung angewandt werden. Daran müssen Sie sich halten.«
Dabei folgte er mit dem Blick den beiden Tänzerinnen, die auf der Bank ihre kurzen, muskulösen Beine ausstreckten.
Und Larivière murmelte: »Die ausgezeichnete Disziplin unserer Armee ... der gute Wille der Vorgesetzten ... auch der schwierigsten Lage gewachsen.«
Loyer klopfte ihm auf die Schulter: »Mein lieber Kollege, die großen Armeen haben sehr viel für sich.«
»Ich bin ganz Ihrer Meinung«, erwiderte Larivière, »unsere Armee entspricht so, wie sie ist, allen Anforderungen der nationalen Verteidigung.«
Jetzt begann Loyer wieder: »Die großen Armeen haben das Gute, daß sie den Krieg unmöglich machen. Es wäre Wahnsinn, diese ungeheuren Streitkräfte, deren Leitung geradezu übermenschliche Fähigkeiten erfordern würde, in einen Krieg zu verwickeln. Das ist auch Ihre Meinung, nicht wahr, General?«
Larivière zwinkerte mit den Augen: »Die Situation erfordert große Umsicht. Wir stehen einem Gegner gegenüber, den wir nicht einmal genau kennen und vor dem wir auf der Hut sein müssen.«
Aber jetzt blickte Loyer ihn mit stiller, zynischer Verachtung an:
»Glauben Sie nicht auch, teurer Kollege, daß in dem höchst unwahrscheinlichen Falle eines Krieges die Stationsvorsteher die wahren Generale sein würden?«
Dann verließen die drei Minister das Theater durch den Bühnenausgang, um sich zum Ministerpräsidenten zu begeben, der sie erwartete.
Der letzte Akt hatte begonnen. Madame Martin hatte nur noch Dechartre und Miß Bell in ihrer Loge.
»Ich freue mich so, Darling, wie sagt man doch, ich bin ganz begeistert, zu denken, daß Sie die rote Lilie von Florenz auf dem Herzen tragen. Und Monsieur Dechartre mit seiner Künstlerseele muß ebenso zufrieden damit sein, dieses entzückende Kleinod auf Ihrer Taille zu sehen. Oh, ich möchte den Juwelier kennenlernen, der es gemacht hat, Darling. Diese Lilie ist schlank und geschmeidig wie eine Iris. Oh, sie ist elegant und prächtig, und grausam. Haben Sie nicht schon bemerkt, my love, daß schöner Schmuck immer eine Art von prunkvoller Grausamkeit an sich hat?«
»Mein Juwelier ist ganz in der Nähe«, sagte Thérèse, »Sie haben seinen Namen schon genannt. Monsieur Dechartre ist so liebenswürdig gewesen, die Zeichnung für den Schmuck zu entwerfen.«
In diesem Augenblick öffnete sich die Logentür. Thérèse wandte sich um und erblickte in dem Halbdunkel Le Ménil, der sich in seiner jähen, geschmeidigen Art verbeugte.
»Darf ich bitten, Madame, Ihrem Herrn Gemahl meine Glückwünsche zu übermitteln?«
Dann machte er ihr ein ziemlich kühles Kompliment über ihr gutes Aussehen und wandte sich mit einigen verbindlichen und korrekten Worten an Miß Bell.
Thérèese hörte voller Angst zu, in qualvollem Bemühen, irgendeine nichtssagende Antwort zu geben. Er fragte, ob sie einen angenehmen Sommer in Joinville verlebt habe. Er wäre sehr gerne zur Jagd gekommen, aber es wäre ihm nicht möglich gewesen. Erst war er mit seiner Jacht auf dem Mittelmeer und dann in Semanville, um zu jagen.
»Oh, Monsieur Le Ménil«, sagte Miß Bell, »Sie sind auf dem blauen Meer umhergeirrt? Haben Sie auch Sirenen gesehen?«
Nein, Sirenen waren ihm nicht begegnet, aber drei Tage lang war ein Delphin hinter seiner Jacht hergeschwommen.
Miß Bell fragte, ob der Delphin musikalisch gewesen sei.
Nein, das glaubte er nicht. Die Delphine sind nichts weiter als eine Art von kleinen Walfischen. Die Seeleute nennen sie Meergänse, wegen einer gewissen Ähnlichkeit in der Kopfform. Aber Miß Bell wollte nicht glauben, daß das Ungetüm, das den Sänger Arion auf seinem Rücken zum Vorgebirge Tänarum trug, einen Gänsekopf gehabt habe.
»Monsieur Le Ménil, wenn nächstes Jahr wieder ein Delphin Ihrem Schiff folgt, so bitte ich Sie, spielen Sie ihm auf der Flöte die Hymne an den delphischen Apoll vor. Lieben Sie das Meer, Monsieur Le Ménil?«
»Eigentlich ist mir der Wald lieber.«
Er war vollkommen Herr seiner selbst, er sprach einfach und mit großer Ruhe.
»Oh, Monsieur Le Ménil, ich weiß, daß Sie den Wald lieben und die kleinen Lichtungen, wo die kleinen Hasen im Mondschein tanzen.«
Dechartre war blaß geworden, er stand auf und ging hinaus.
Jetzt kam die Kirchenszene. Gretchen lag auf den Knien und rang die Hände, den Kopf unter der Last der langen blonden Zöpfe gebeugt. Die Stimmen der Orgel und des Chores ließen das Dies irae erschallen:
Wenn der Jüngste Tag erscheinet,
wenn das Kreuz am Himmel leuchtet
und die Welt in Staub vergeht.
»Oh, Darling, wissen Sie, daß diese Totenlitanei, die in den katholischen Kirchen gesungen wird, aus einem Franziskanerkloster stammt? Es ist etwas vom Brausen des Sturmes darin, der im Winter durch die Lärchenwipfel auf dem Berge Alvernia zieht.«
Aber Thérèese hörte nichts mehr. Dechartre hatte ihre Seele mit sich fortgenommen.
Man hörte jetzt, daß im Salon Stühle umgeworfen wurden. Schmoll kam noch einmal. Er hatte erfahren, daß Monsieur Martin-Bellème jetzt wirklich zum Minister ernannt war, und kam nun gleich mit seiner Bitte um das Kommandeurkreuz und eine größere Wohnung im Institut. Die seinige war so finster und eng und völlig unzureichend für seine Frau und seine fünf Töchter. Er hatte sogar sein Arbeitskabinett in einer Dachkammer aufschlagen müssen. Er erging sich in endlosen Klagen und wich nicht eher, als bis Madame Martin ihm versprochen hatte, ein Wort für ihn einzulegen.
»Monsieur Le Ménil«, fragte Miß Bell, »wollen Sie nächstes Jahr wieder auf die See?«
Le Ménil glaubte nicht. Er hatte nicht die Absicht, »Rosebud« zu behalten. Das Meer war ihm zu melancholisch. Und mit eigensinniger, hartnäckiger Ruhe sah er Thérèse an, während er sprach.
Auf der Bühne, in Gretchens Kerker, mahnte Mephistopheles zum Aufbruch: »Der Morgen dämmert auf«, während die Musik den schauerlichen Galopp der Pferde wiedergab.
Und jetzt sagte Thérèse: »Ich habe Kopfweh, es ist zum Ersticken heiß.«
Le Ménil erhob sich, um die Tür halb zu öffnen.
Dann stieg der klare Gesang Gretchens, mit dem sie die Engel herbeiruft, leuchtend zum Himmel empor.
»Darling, ich will Ihnen sagen, dieses arme Gretchen will ihr irdisches Leben nicht retten, und deshalb wird sie im Geist und in der Wahrheit gerettet. Und ich glaube fest daran, Darling, daß wir alle gerettet werden. O ja, ich glaube, daß alle Sünder einst rein vor Gott dastehen werden.«
Thérèse erhob sich jetzt in ihrer vollen Größe, sie war leichenblaß, und die Lilie an ihrer Seite strahlte in blutigem Glanz. Miß Bell saß unbeweglich da und lauschte der Musik. Le Ménil hatte im Salon Madame Martins Mantel geholt, und während er dastand und ihn bereithielt, ging sie durch die Loge, dann durch den Salon und blieb neben der halboffenen Tür beim Spiegel stehen.
Nun legte er ihr den rotsamtenen Abendmantel, der mit Gold gestickt und mit Hermelin gefüttert war, um, wobei seine Finger ihre bloßen Schultern streiften. Und mit klarer, leiser Stimme sagte er: »Thérèese, ich liebe Dich. Denke an das, was ich dir vorgestern gesagt habe. Ich erwarte dich jeden Tag, jeden Tag von drei Uhr an in unserm Heim, Rue Spontini.«
Sie neigte den Kopf, um sich den Mantel umhängen zu lassen, und in diesem Augenblick sah sie Dechartre. Er stand da, die Hand auf den Türgriff gelegt, und hatte alles gehört. Er sah sie an, und alles, was menschliche Augen an Schmerz und Vorwurf auszudrücken vermögen, lag in seinem Blick. Dann verschwand er in dem dunklen Korridor. Ihr war zumute, als ob ein glühender Hammer in ihrer Brust pochte, und sie blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen.
»Hast du auf mich gewartet?« fragte Montessuy, der kam, um sie abzuholen. »Du bist heute sehr allein; ich werde dich und Miß Bell nach Hause bringen.«
33
Während sie im Wagen saß, und später dann in ihrem Zimmer, sah sie immer nur diesen Blick ihres Geliebten vor sich, diesen harten, schmerzerfüllten Blick. Sie wußte, wie leicht er verzweifelte, wie rasch er entschlossen war, nichts mehr zu wollen. Sie hatte ihn damals am Ufer des Arno gesehen, wie er vor ihr flüchten wollte. Damals war sie trotz ihrer Angst und allem Schmerz noch glücklich gewesen, denn sie hatte ihm nachstürzen dürfen und ihm zugerufen: »Komm!«
Und auch dieses Mal, obgleich sie von Menschen umgeben und beobachtet war, hätte sie irgendeinen Ausweg finden, ihm irgendein Wort sagen müssen, ihn nicht in dieser stummen Verzweiflung fortgehen lassen dürfen. Aber sie war zu sehr erschrocken gewesen; all ihre Kraft hatte sie verlassen. Der ganze Zwischenfall war so sinnlos gewesen und so rasch vor sich gegangen. Gegen Le Ménil fühlte sie jenen primitiven Zorn, wie gegen einen Stein, an dem man sich den Kopf gestoßen hat. Aber sich selbst machte sie die bittersten Vorwürfe, daß sie ihren Freund hatte fortgehen lassen, ohne ein Wort zu sagen, ohne einen Blick, in dem ihre ganze Seele lag.
Sie ging ungeduldig auf und ab, während Pauline auf sie wartete, um sie auszukleiden. Dann blieb sie plötzlich stehen. In dem dunklen Spiegel, der das Licht der Kerzen widerstrahlte, sah sie den Korridor des Theaters und Dechartre, der sie verließ, um nie wieder zu ihr zurückzukehren.
Wo mochte er jetzt sein? Und was dachte er in seiner Einsamkeit? Es war eine Todesqual für sie, nicht gleich zu ihm eilen zu können.
Sie preßte beide Hände vor die Brust, als ob sie ersticken müßte. Pauline stieß einen leichten Schrei aus, als sie Blutstropfen auf der weißen Taille ihrer Herrin sah. Ohne es selbst zu merken, hatte Therese sich die Hand an der roten Lilie geritzt. Sie löste das Kleinod von der Brust, das blutende Symbol ihres Geheimnisses, das sie vor aller Welt am Herzen getragen. Und während sie es zwischen den Fingern hielt, betrachtete sie es lange. Sie dachte an die Tage in Florenz, an die Zelle in San Marco, wo der Kuß des Geliebten sanft ihre Lippen berührt hatte, während sie mit halbgeschlossenen Augen die Engel und den blauen Himmel auf den Wandgemälden, in verschwommenen Umrissen vor sich sah. Sie sah die Loggia dei Lanzi und den Eishändler mit seinem blitzenden Kupfergefäß auf dem roten Tischtuch, und sie dachte an das Gartenhaus in der Via Alfieri mit den Nymphen und Ziegen und an das Zimmer, wo die Schäfer auf den Wandschirmen den Schrei ihrer Wonne und ihr langes Schweigen mit angehört hatten.
Und alles das konnte ja nicht nur der Schatten von etwas Vergangenem, nicht nur das Gespenst ihrer einstigen Liebesstunden sein. Es war die greifbare Gegenwart der Liebe. Und ein törichtes Wort, das ein Fremder zwischen sie geworfen hatte, sollte jetzt alles zerstören! Nein, zum Glück war das nicht möglich. Ihre Liebe konnte nicht von solchen elenden Kleinigkeiten abhängen. Hätte sie nur zu ihm hineilen können, so wie sie war, halb ausgekleidet jetzt in der Nacht in sein Zimmer treten. Sie würde ihn vor dem Feuer sitzend finden, die Ellbogen auf die Knie gestützt und den Kopf zwischen den Händen – ganz in seinem Schmerz versunken. Und dann würde sie seine Haare streicheln und ihn zwingen, den Kopf zu erheben und zu sehen, daß sie ihn liebte, daß sie sein war, sein Eigentum, sein lebender Reichtum an Freude und Liebe.
Sie hatte die Kammerjungfer fortgeschickt und sich zu Bett gelegt. Und während sie bei der brennenden Lampe dalag, bewegte sie nur einen einzigen Gedanken in ihrem Geiste.
Es war ein Zufall, ein unsinniger Zufall. Er mußte es ja einsehen, daß ihre Liebe mit dieser Dummheit nichts zu scharfen hatte. Was für ein Wahnsinn, sich um eines andern willen zu beunruhigen! Als ob es für sie überhaupt noch einen andern Mann auf der Welt gäbe!
Ihr Gatte hatte leise die Tür geöffnet, und als er das Licht sah, trat er ein.
»Schläfst du noch nicht, Thérèse?«
Er hatte noch mit seinen Kollegen bei Berthier d'Eyzelles konferiert und wollte seine Frau um einige Punkte befragen, er gab sehr viel auf ihr Urteil. Vor allem lag ihm daran, eine aufrichtige Ansicht zu hören.
»Jetzt wären wir also soweit«, sagte er, »ich weiß, teure Freundin, daß du mir helfen wirst. Meine Stellung ist, obgleich mich alle darum beneiden, eine äußerst schwierige und gefährliche. Und zum Teil verdanke ich sie ja dir, da es vor allem der mächtige Einfluß deines Vaters ist, der mich vorwärts getragen hat.«
Dann fragte er sie um Rat wegen der Wahl eines Kabinettssekretärs.
Sie riet ihm, so gut sie konnte. Sie fand ihn ganz vernünftig und ruhig und wenigstens nicht unverständiger als die andern.
Er erging sich jetzt in Betrachtungen.
»Ich muß das Budget jetzt vor dem Senat so verfechten, wie es von der Kammer verabschiedet worden ist. Es enthält Neuerungen, die ich nicht billigte. Als Deputierter habe ich sie bekämpft, aber als Minister muß ich sie verteidigen. Damals betrachtete ich die Dinge von außen, aber von innen gesehen, erscheinen sie mir in einem ganz anderen Licht. Und außerdem bin ich jetzt nicht mehr frei in meinen Entschlüssen.«
Dann seufzte er: »Ach, wenn man wüßte, wie wenig wir ausrichten können, wenn wir ans Ruder gelangt sind.«
Dann erzählte er ihr von seinen Eindrücken. Berthier verhielt sich reserviert, und die andern ließen nichts durchblicken. Nur Loyer trat sehr diktatorisch auf.
Sie hörte ohne besondere Aufmerksamkeit, aber auch ohne Ungeduld zu. Sein bleiches Gesicht und seine matte Stimme zeigten ihr wie eine Uhr die Minuten, die langsam eine nach der andern verrannen.
»Bizarre Einfälle hat Loyer gehabt. Im gleichen Atem erklärte er sich als strenger Anhänger des Konkordates und rief: ›Die Bischöfe sind geistliche Präfekten. Ich werde sie schützen, da sie zu mir gehören. Und mit ihnen werde ich auch die Gendarmerie der Seele, die Pfarrer, in der Hand haben.‹«
Dann machte er sie darauf aufmerksam, daß sie jetzt in einer andern Gesellschaft verkehren müsse als die, welche sie gewohnt war. Ohne Zweifel würden diese Leute ihr manchmal gewöhnlich vorkommen. Aber seine jetzige Stellung machte es notwendig, gegen alle höflich zu sein. Übrigens konnte er ja auf ihren Takt und auf ihre Selbstlosigkeit rechnen.
Sie sah ihn etwas erschrocken an: »Aber das eilt ja nicht, mein Freund, das werden wir alles später sehen.«
Er war müde und angegriffen und wünschte ihr jetzt gute Nacht. Sie sollte doch lieber schlafen. Sie würde ihre Gesundheit noch zugrunde richten, wenn sie des Nachts immer lese. Damit verließ er sie.
Thérèse lauschte dem Geräusch seiner Schritte, die etwas schwerer klangen als gewöhnlich, wie er durch sein Arbeitskabinett, in dem diplomatische Schriftstücke und Zeitungen sich häuften, in sein Zimmer ging, vielleicht um zu schlafen. Und nun senkte sich die nächtliche Stille bedrückend auf sie herab. Sie blickte auf die Uhr, es war halb zwei.
Und sie dachte: ›Er leidet jetzt ebenso wie ich. Er hat mich so zornig und verzweifelt angeblickt.‹
Aber ihr leidenschaftlicher Mut war ungebrochen. Was sie so ungeduldig machte, war, daß sie hier gefangen war, wie eine Gefangene in Einzelhaft. Aber wenn der Tag anbrach, war sie wieder frei und konnte zu ihm gehen, ihn sehen und ihm alles erklären. Es war ja alles so klar. Und während sie immer von denselben schmerzlichen Gedanken gequält dalag, horchte sie auf die Wagen, die in langen Zwischenräumen über den Quai rollten. Dieses Geräusch, das ihr die Stunden teilte, beschäftigte sie und interessierte sie beinah. Aufmerksam lauschte sie dem Rasseln, das erst schwach, wie aus weiter Ferne, klang und dann immer lauter herankam. Man konnte deutlich das Rollen der Räder, das Knarren der Achsen und das Stampfen der Hufe unterscheiden. Dann wurde es allmählich schwächer und verlor sich in der Ferne.
Und wenn es wieder still geworden war, kamen die Gedanken von neuem über sie.
Er mußte ja fühlen, daß sie ihn liebte, daß sie niemals einen andern geliebt hatte. Das Unglück war, daß die Nacht so langsam verging. Sie wagte nicht auf die Uhr zu sehen aus Furcht, daß sie nichts zeigte als die niederdrückende Unbeweglichkeit der Zeit.
Nun stand sie auf, ging an das Fenster und schlug die Vorhänge zurück. Ein bleicher Lichtschein lag über dem bewölkten Himmel. Sie glaubte, daß es schon der erste Schein des anbrechenden Tages sei, und schaute auf die Uhr. Es war halb vier. – Dann kehrte sie, von der dunklen Unendlichkeit da draußen angezogen, zum Fenster zurück und blickte hinab. Auf dem Trottoir spiegelten sich die Gasflammen, und ein stiller Regen rieselte vom bleichen Himmel herab. Plötzlich klang eine menschliche Stimme durch die Nacht, erst in schrillen Tönen, dann immer dumpfer und abgerissener, als ob sie sich in mehrere Stimmen gespalten hätte, die einander antworteten. Es war ein Betrunkener, der über das Trottoir wankte und hier und da gegen die Bäume anstieß. Dabei hatte er einen langen Wortwechsel mit den Gestalten seiner Träume, denen er edelmütig seine Stimme lieh und die er dann mit mächtigen Worten und Gebärden niederschmetterte. Thérèse sah den armen Kerl in seinem weißen Kittel die Quaimauer entlangschwanken, einem Fetzen gleich, der vom Nachtwind getrieben wird. Sie konnte einzelne Worte verstehen, die er immer wiederholte: »Ja, das werde ich ihr sagen, der Regierung!«
Allmählich wurde ihr kalt, und sie legte sich wieder ins Bett. Und jetzt kam ihr eine Befürchtung. Sie dachte: Er ist wahnsinnig eifersüchtig. Das ist etwas, was in seinem Blut und seinen Nerven liegt. Aber auch seine Liebe liegt in seinem Blut und seinen Nerven. Liebe und Eifersucht ist eins bei ihm. Ein anderer würde begreifen und sich zufriedengeben, wenn nur seine Eitelkeit nicht darunter litte. Aber er war eifersüchtig im tiefsten Innern und mit jeder Fiber seines Körpers. Sie wußte, daß er geradezu physisch darunter litt und daß die Wunde durch seine lebhafte, quälende Phantasie immer wieder aufgerissen wurde. Ja, sie wußte, wie tief er litt. Sie hatte gesehen, wie bleich er geworden war, als sie vor der Bronzestatue des heiligen Markus einen Brief in den Kasten an der Mauer des alten Hauses geworfen hatte, und damals besaß er sie nur in der Sehnsucht und im Traum.
Sie dachte an seine halbunterdrückten Klagen, an die jähe Traurigkeit, die ihn später manchmal nach ihrer Umarmung befallen hatte, und an den geheimnisvollen Schmerz, der in seinen oft wiederholten Worten lag: »Ich muß dich in dir selbst vergessen.« Der Brief, den er ihr nach Dinard geschrieben, fiel ihr wieder ein seine maßlose Verzweiflung über ein Wort, das er bei Tisch in irgendeinem Restaurant gehört hatte. Aber sie verlor den Mut nicht. Sie wollte ihm alles sagen, alles gestehen. Und ihr Geständnis sollte ihm zurufen: »Ich liebe dich, ich habe nie einen andern geliebt.« Nein, sie hatte ihn nicht verraten. Sie konnte ihm nichts sagen, was er nicht schon längst ahnte. Sie hatte ja so wenig wie möglich gelogen und nur, um ihm einen Schmerz zu ersparen. Wie sollte er das nicht verstehen? Es war besser, wenn er alles wußte, denn dieses alles war ja ein bloßes Nichts. Sie dachte immer wieder dieselben Gedanken durch und wiederholte sich immer wieder die gleichen Worte.
Die Lampe verbreitete jetzt nur noch ein trübes, qualmendes Licht. Thérèse zündete eine Kerze an – es war halb sieben. Sie bemerkte, daß sie einen Augenblick geschlummert hatte. Dann eilte sie an das Fenster. Der Himmel war dunkel und floß mit der Erde in ein düsteres Chaos zusammen. Sie war auf einmal begierig, genau zu wissen, wann denn eigentlich die Sonne aufginge. Sie hatte keine Ahnung davon. Sie dachte nur, daß die Nächte im Dezember sehr lang waren. Sie suchte sich zu erinnern, konnte aber nicht daraufkommen, und es fiel ihr nicht einmal ein, den Kalender, der auf dem Tisch lag, zu befragen. Wie eine glückbringende Verheißung schlugen die schweren Schritte der Arbeiter, die jetzt truppweise vorbeikamen, und das Gerassel der Milch- und Gemüsewagen an ihr Ohr. Und bei diesen ersten Tönen, die aus der erwachenden Stadt zu ihr herüberdrangen, erbebte sie.
34
Als sie um neun Uhr den Hof von Jacques' Wohnung betrat, fand sie Fusellier, der im Regen den Hof kehrte und dabei seine Pfeife rauchte. Dann kam auch seine Frau aus der Loge. Beide zeigten verlegene Mienen. Madame Fusellier nahm zuerst das Wort: »Monsieur Jacques ist nicht zu Hause.«
Als Thérèse stumm und unbeweglich stehenblieb, trat Fusellier mit seinem Besen in der Hand auf sie zu, während er mit der andern seine Pfeife hinter dem Rücken verbarg.
»Monsieur Jacques ist noch nicht nach Hause gekommen.«
»Ich werde auf ihn warten«, sagte Therese.
Madame Fusellier führte sie in den Salon und machte Feuer an. Es wollte nicht gleich brennen, und so blieb sie gebückt, die Hände auf den Schenkeln, vor dem Ofen stehen und sagte: »Das macht der Regen, der drückt den Rauch nieder.«
Madame Martin meinte, es sei nicht der Mühe wert, erst Feuer zu machen, es wäre ihr nicht kalt.
Dann sah sie sich im Spiegel. Sie war bleich, und rote Flecken brannten auf ihren Wangen. Und jetzt erst fühlte sie, daß ihre Füße ganz erstarrt waren. Sie trat näher an das Feuer heran. Madame Fusellier sah, daß sie unruhig war, und suchte nach einem tröstenden Wort.
»Monsieur Jacques wird jetzt gleich kommen. Wenn Madame auf ihn warten wollen, es wird gleich warm sein.«
Trübes Licht fiel mit dem Regen nieder auf das Glasdach. Die Dame mit dem Einhorn an der Wand, die Dame mit der steifen Geste und dem verblichenen Körper, verlor inmitten der Kavaliere und des von Blumen und Vögeln bunten Waldes ganz ihre Schönheit. Thérèse wiederholte sich immer von neuem: »Er ist noch nicht nach Hause gekommen«, bis sie den Sinn der Worte nicht mehr verstand. Mit brennenden Augen blickte sie nach der Tür. So blieb sie regungslos sitzen und konnte nicht mehr denken. Sie wußte selbst nicht wie lange, es mochte vielleicht eine halbe Stunde gewesen sein. Dann näherten sich Schritte, und die Tür ging auf. Er trat ins Zimmer. Sie sah, daß er vor Fieber glühte und von Regen und Schmutz durchnäßt war. Jetzt blickte sie ihn so offen und frei an, daß er ganz betroffen war. Aber gleich darauf kam sein ganzer Jammer ihm wieder zum Bewußtsein. »Was willst du noch von mir?« sagte er. »Du hast mir alles Leid angetan, das du mir antun konntest.« Sie erschrak vor dem Ton seiner Stimme, der durch die Müdigkeit etwas Mildes bekommen hatte.
»Jacques, hör mich an.«
Er gab ihr mit einer Bewegung zu verstehen, daß er nichts von ihr hören wollte.
»Jacques, du mußt mich hören. Ich habe dich nicht hintergangen. Nein, nein, ich habe es nicht getan. Wie wäre es denn möglich. Hast du –«
Er schnitt ihr das Wort ab: »Habe Mitleid mit mir. Verschone mich, ich bitte dich darum. Du hast mir schon weh genug getan. Wenn du wüßtest, was für eine Nacht ich hinter mir habe, würdest du nicht den Mut haben, mich noch länger zu quälen.« Dann ließ er sich auf denselben Diwan niedersinken, wo er sechs Monate früher ihre Lippen unter dem Schleier geküßt hatte.
Er war die ganze Nacht gegangen, immer aufs Geratewohl an der Seine entlang bis dahin, wo die Ufer von Weiden und Pappeln bestanden sind. Um seine Qual zu lindern, hatte er versucht, sich zu zerstreuen. Auf dem Quai de Bercy hatte er eine ganze Stunde zugesehen, wie der Mond durch die Wolken glitt, wie er zum Vorschein kam und wieder verschwand. Dann hatte er angefangen, mit peinlicher Genauigkeit die Fenster an den Häusern zu zählen. Dann begann es zu regnen, und er ging bis zu den Markthallen und trank in irgendeinem Wirtshaus ein Glas Branntwein. »Glücklich siehste gerade nich aus«, hatte dort ein dickes, schielendes Mädchen zu ihm gesagt. Dann war er auf der ledergepolsterten Bank eingeschlafen, das waren wenigstens ein paar gute Minuten gewesen.
Die Bilder dieser qualvollen Nacht spiegelten sich noch in seinen Augen wider.
»Ich habe an jene Nacht am Arno gedacht«, sagte er, »du hast mir alle Freude und alle Schönheit der Welt zerstört.«
Er flehte sie an, ihn allein zu lassen. Er fühlte in seinem ermatteten Zustand tiefes Mitleid mit sich selbst. Er hätte schlafen mögen – nicht sterben, nein, ihn schauderte vor dem Tode. Aber schlafen, um nie wieder aufzuwachen. Und jetzt stand sie vor ihm, so sehr begehrt, und ebenso begehrenswert wie einst, trotz ihrer fahlen Blässe und dem schmerzlich starren Ausdruck der tränenlosen Augen. Unerklärlich nun und geheimnisvoller als je, stand sie vor ihm, und mit seinem Schmerz lebte sein Haß von neuem auf. Mit einem bösen Blick suchte er an ihr die Spuren der Liebkosungen, mit denen der andere sie bedeckt hatte.
Thérèse streckte die Arme nach ihm aus: »Jacques, laß mich sprechen.«
Aber er machte ein Zeichen, daß es überflüssig sei. Und doch verlangte ihn danach, sie anzuhören, und schon horchte er begierig auf das, was sie sagte. Er wies schon im voraus mit Abscheu alles zurück, was sie ihm sagen würde, und doch war es das einzige, was ihn auf der Welt interessierte.
»Du hast es glauben können, daß ich dich verriete«, begann sie, »und daß ich nicht ausschließlich in dir lebte! Aber kannst du denn gar nichts begreifen. Siehst du denn nicht ein, daß dieser Mann anderswo als im Theater, als gerade in meiner Loge mit mir hätte reden können, wenn er wirklich mein Liebhaber wäre. Hätte er nicht tausend andere Mittel gehabt, ein Rendezvous mit mir zu verabreden? O nein, Jacques, seit mir das Glück geworden – selbst heute in meiner Verzweiflung und Qual sage ich noch, das Glück –, dich zu kennen, habe ich nur dir angehört. Wie hätte ich es denn fertiggebracht, einem andern das zu sein? Es ist etwas Ungeheuerliches, was du dir einbildest. Aber ich liebe dich. Ich liebe nur dich. Ich habe nie einen andern geliebt.«
Langsam und mit grausamem Nachdruck sagte er: »›Ich erwarte dich jeden Tag, jeden Tag von drei Uhr an in unserm Heim, Rue Spontini.‹ War das kein Liebhaber, war es nicht dein Liebhaber, der so zu dir sprach? O nein, es war wohl ein Fremder, es war jemand, den du gar nicht kanntest.«
Sie richtete sich hoch auf und sagte mit schmerzlichem Ernst: »Ja, ich habe ihm angehört. Du hast es wohl gewußt. Ich habe es abgeleugnet, habe gelogen, um dich nicht zu erzürnen, um dir keinen Schmerz zu bereiten; ich sah dich unruhig und voll Argwohn. Aber ich habe so wenig und so schlecht gelogen. Und du wußtest es. Mach mir keine Vorwürfe darüber. Du hast es gewußt: wie oft hast du mir von der Vergangenheit gesprochen, und dann hat man es dir auch damals im Restaurant gesagt. Aber du hast viel mehr vermutet, als je gewesen ist. Und wenn ich dich auch belog, hintergangen habe ich dich nicht. Wenn du wüßtest, wie wenig jener Mann in meinem Leben gewesen ist! Sieh, ich kannte dich ja noch nicht. Ich wußte nicht, daß du einmal kommen würdest. Ich langweilte mich.«
Sie warf sich auf die Knie: »Es war unrecht von mir. Ich hätte auf dich warten sollen. Aber wenn du wüßtest, wie tot das Vergangene für mich ist, wie wenig es jemals gelebt hat.«
Ihre Stimme ging in einen weichen, singenden Klageton über, während sie sagte: »Warum bist du nicht früher gekommen? Warum?«
Sie schleppte sich zu ihm hin, wollte seine Hände fassen, seine Knie umklammern. Aber er stieß sie zurück.
»Ich war blind. Ich habe es nicht geglaubt, nicht gewußt – ich wollte es nicht wissen.« Dann stand er auf und sagte in plötzlich hervorbrechendem Haß: »Ich wollte nicht – nein, ich wollte nicht, daß es gerade der war.«
Sie setzte sich auf den Platz, von dem er eben aufgestanden war, und mit leiser, klagender Stimme sprach sie von ihrer Vergangenheit. Sie war damals so allein gewesen und hatte in einer so trostlos alltäglichen Umgebung gelebt. Es war dann alles so gekommen, und sie hatte nachgegeben. Aber sie hatte es gleich bereut. Oh, wenn er wüßte, wie trüb und öde ihr Leben gewesen war, er würde nicht eifersüchtig sein, sondern sie beklagen.
Sie schüttelte den Kopf und blickte ihn durch die aufgelösten Locken an, die ihr über die Stirn herabhingen.
»Aber ich habe dir da von einer andern Frau erzählt. Ich habe nichts mit ihr gemein. Ich – ich selbst existiere ja erst, seit ich dich kenne, seit ich dein geworden bin.«
Er hatte angefangen, wie wahnsinnig im Zimmer auf und ab zu gehen, wie er vorhin am Ufer der Seine entlanggestürzt war, und jetzt brach er in schmerzerfülltes Lachen aus. »Nun, und während du mich liebtest – was tat da jene andere Frau, die nicht du war?«
Entrüstet sah sie ihn an: »Du kannst glauben ...?«
»Du hast ihn nicht in Florenz gesehen – hast ihn nicht damals an den Bahnhof begleitet?«
Sie erzählte ihm, wie er ihr nachgereist war, daß sie ihn gesehen und mit ihm gebrochen hatte und wie er dann zornig fortgefahren war. Und seitdem versuchte er, sie zurückzugewinnen, aber sie hatte nicht einmal darauf geachtet.
»Jacques, ich sehe ja nur dich auf der Welt, ich weiß nur von dir.«
Er schüttelte den Kopf: »Ich glaube dir nicht.«
Sie lehnte sich auf: »Ich habe dir alles gesagt. Du magst mich anschuldigen, mich verdammen, aber kränke mich nicht in meiner Liebe zu dir. Das verbiete ich dir.«
Er schüttelte wieder den Kopf.
»Laß mich, du hast mir schweres Leid angetan. Ich habe dich so geliebt, daß ich jeden Schmerz, der von dir gekommen wäre, auf mich genommen, gehegt, ja geliebt hätte. Aber dieser Schmerz ist zu häßlich. Er flößt mir Abscheu ein. Laß mich, ich leide zu sehr. Lebe wohl.«
Sie stand vor ihm, die kleinen Füße fest auf dem Teppich. »Ich bin gekommen, weil ich um mein Glück, um mein Leben kämpfen muß. Du weißt, ich bin zähe, ich gehe nicht von dir.«
Und dann wiederholte sie ihm alles, was sie ihm schon gesagt hatte. Sie fühlte sich ihrer selbst völlig sicher, und mit ungestümer Offenheit erklärte sie ihm, wie sie das Band zerrissen hatte, das lange schon locker und ihr lästig geworden war; wie sie von dem Tage an, wo sie sich ihm im Gartenhaus in der Via Alfieri hingegeben, nur ihm angehört hätte – ohne Reue und ohne auch nur mit Blicken oder Gedanken jemals von ihm zu weichen. Aber daß sie überhaupt von dem andern sprach, reizte seinen Zorn von neuem, und er schrie ihr zu: »Ich glaube dir nicht.«
Und wieder begann sie alles noch einmal zu sagen, was sie gesagt hatte. Aber dann blickte sie plötzlich instinktiv nach der Uhr: »Mein Gott, es ist schon zwölf.«
Wie oft hatte sie diesen Ruf erschreckt ausgestoßen, wenn die Abschiedsstunde unerwartet schnell herbeigekommen war. Und Jacques erbebte, als er diese vertrauten Worte hörte, die heute so schmerzlich und verzweifelt klangen.
Unter Tränen und in eindringlichem Ton sprach sie noch einen Augenblick weiter. Aber dann mußte sie gehen, und sie hatte nichts erreicht.
Als sie zu Hause ankam, saßen im Vorzimmer Marktfrauen, die mit Blumensträußen auf sie warteten.
Es fiel ihr wieder ein, daß ihr Mann Minister geworden war. Ganze Stöße von Telegrammen, Karten und Briefen waren für sie angekommen, die Glückwünsche oder Bitten enthielten. Auch Madame Marmet hatte ihr geschrieben, um sie zu bitten, bei General Larivière ein gutes Wort für ihren Neffen einzulegen.
Sie trat in das Speisezimmer und sank erschöpft auf einen Stuhl. Monsieur Martin-Bellème war eben mit seinem Frühstück fertig. Man erwartete ihn jetzt im Ministerrat und bei dem bisherigen Finanzminister, dem er seinen Besuch machen mußte. Die wohlberechnete Unterwürfigkeit, die das Personal ihm entgegenbrachte, schmeichelte ihm und beunruhigte ihn gleichzeitig. Er war ihrer schon überdrüssig.
»Vergiß nicht, mein liebes Kind, einen Besuch bei Madame Berthier d'Eyzelles zu machen. Du weißt, sie ist sehr empfindlich.«
Thérèse gab keine Antwort. Während er seine gelblichen Finger in eine Schale mit Wasser tauchte, erhob er den Kopf, und als er sah, wie müde und verstört sie aussah, wagte er kein Wort mehr zu sagen. Er fühlte, daß er hier vor einem Geheimnis stand, das er nicht wissen wollte, vor einem Herzenskummer, der auf ein einziges Wort hin zum Ausbruch kommen konnte. Und das erfüllte ihn mit Unruhe, mit Furcht, ja beinahe mit Ehrfurcht.
So warf er seine Serviette hin und sagte nur: »Entschuldige mich, Liebste.« Damit ging er hinaus.
Sie versuchte etwas zu essen, aber sie brachte nichts hinunter. Sie empfand einen unüberwindlichen Ekel vor allem.
Gegen zwei Uhr ging sie wieder zu Jacques. Sie traf ihn in seinem Zimmer. Er rauchte seine kurze Pfeife, und eine beinah geleerte Kaffeetasse stand vor ihm. Er sah sie mit einem so harten Blick an, daß es sie wie ein eisiger Schauder überlief. Sie wagte nichts zu sagen, denn sie fühlte, daß jedes Wort ihn nur noch mehr kränken und verletzen würde, ja daß, selbst wenn sie schwiege, ihr bloßer Anblick seinen Zorn von neuem erregte.
Er hatte gewußt, daß sie wiederkommen würde, und er erwartete sie mit der ganzen Ungeduld des Hasses und dabei doch mit derselben Unruhe im Herzen wie einst in der Via Alfieri. Das wurde ihr jetzt plötzlich klar, und sie fühlte, daß sie lieber nicht hätte kommen sollen. Solange sie nicht da war, hätte er sich nach ihr gesehnt, sie herbeigewünscht, vielleicht sogar gerufen. Aber es war zu spät, und sie wollte auch nicht klug sein.
So sagte sie: »Du siehst, ich bin wiedergekommen, ich konnte nicht anders. Und dann war es ja auch ganz selbstverständlich, denn ich liebe dich. Du weißt es.«
Sie hatte gewußt, daß alles, was sie sagte, ihn nur noch mehr irritieren würde. Er fragte, ob sie in der Rue Spontini ebenso zu reden pflege.
Tieftraurig sah sie ihn an: »Jacques, du hast mir manchmal gesagt, daß du im Grunde deiner Seele ein Gefühl von Haß und Zorn gegen mich empfändest. Es macht dir Freude, mich zu quälen, das sehe ich jetzt.« Und mit nimmermüder Geduld sprach sie lange und eindringlich mit ihm. Sie erzählte ihm noch einmal ihr ganzes Leben, wie wenig alles gewesen war und wie trostlos. Und wie sie nur noch durch ihn und in ihm gelebt hätte, seit sie ihn kannte.
Ihre Worte waren so klar wie ihre Augen. Sie saß dicht neben ihm, dann und wann streifte sie ihn scheu mit den Händen, und ihr heißer Atem strich über sein Gesicht. Er hörte ihr mit böser Begier zu, und grausam gegen sich selbst, wollte er alles wissen, von dem letzten Rendezvous mit jenem andern und wie sie dann mit ihm gebrochen hatte.
Getreulich berichtete sie ihm alles, was im Hotel d'Angleterre vorgefallen war, nur verlegte sie die Szene in eine Allee im Stadtpark von Florenz, aus Angst, das Bild jener letzten traurigen Zusammenkunft in einem verschlossenen Zimmer möchte ihn noch mehr empören. Dann erklärte sie ihm das Zusammentreffen an der Bahn. Sie hatte einen leidenschaftlichen Menschen in seinem Schmerz nicht zur Verzweiflung bringen wollen. Seitdem hatte sie nichts wieder von ihm gehört, bis zu dem Tage, an dem er sie in der Avenue Mac-Mahon angeredet hatte. Sie wiederholte, was er damals gesagt hatte. Zwei Tage später war er dann während der Oper in ihre Loge gekommen. Sie hatte ihn ganz gewiß nicht dazu ermutigt. Das war die Wahrheit.
Ja, es war die Wahrheit. Aber das Gift, das sich schon seit langer Zeit in ihm angesammelt hatte, brannte in seinen Adern. Durch ihre Geständnisse beschwor sie die Vergangenheit – die Vergangenheit, die nie wiedergutgemacht werden konnte, wieder vor ihm herauf. Und er sah lauter quälende Bilder vor sich.
Dann sagte er: »Ich glaube dir nicht, und selbst wenn ich dir glaubte, könnte ich dich nicht wiedersehen, wenn ich nur daran denke, daß dieser Mann dich besessen hat. Ich habe dir das schon gesagt und geschrieben – als du in Dinard warst, du erinnerst dich. – – Wenn es nur nicht gerade der gewesen wäre. Und seitdem – –«
Als er innehielt, sagte sie: »Du weißt es wohl, daß seitdem nichts mehr zwischen ihm und mir bestanden hat.«
Aber mit dumpfer Hartnäckigkeit fuhr er fort: »Seitdem habe ich ihn gesehen.«
Lange Zeit schwiegen sie beide. Endlich sagte sie klagend und in tiefem Staunen: »Aber, mein Freund, du konntest dir doch denken, so wie alles liegt – mein Temperament und meine Ehe ... Wie oft sieht man Frauen, die viel mehr an ihrer Vergangenheit zu tragen haben als ich und die dennoch geliebt werden. Ach Gott, meine Vergangenheit – wie wenig das gewesen ist.«
»Ich weiß, was du zu geben vermagst. Dir kann man nicht verzeihen, was man einer andern verzeihen würde.«
»Aber, Jacques, ich bin doch ebenso wie die andern.«
»Nein, das bist du nicht, dir kann man nicht verzeihen.«
Er sprach mit geschlossenem Mund, seine Zähne preßten sich fest aufeinander vor Haß. Und seine Augen, die sie einst so groß und in mildem Glanz gesehen hatte, blickten jetzt hart und kalt auf sie, mit einem fremden Blick zwischen den zusammengekniffenen Lidern. Sie erschrak vor ihm. Dann setzte sie sich auf einen Stuhl im Hintergrund des Zimmers. Das Herz war ihr schwer, und sie bebte von unterdrücktem Schluchzen, während sie mit großen Augen um sich blickte wie ein erschrockenes Kind. Schließlich fing sie an zu weinen.
»Warum habe ich dich gekannt?« seufzte er.
Und unter Tränen antwortete sie: »Ich bereue es nicht, dich gekannt zu haben. Ich gehe daran zugrunde, aber ich bereue nichts. Ich habe doch einmal geliebt.«
Er fühlte selbst, daß es schlecht von ihm war, aber er konnte es sich nicht versagen, sie noch mehr zu quälen.
»Ja, es ist schon möglich, daß du auch mich geliebt hast – trotz alledem.«
Und sie, mit sanfter Bitterkeit: »Ich habe nur dich geliebt, ich habe dich zu sehr geliebt, und dafür strafst du mich jetzt. Oh, und du bist imstande zu denken, daß ich mit einem andern so gewesen bin wie mit dir.«
»Warum nicht?«
Kraftlos sah sie ihn an, und der Mut verließ sie. »Sag, ist es denn wirklich wahr, daß du mir nicht glaubst?« und ganz leise fügte sie hinzu: »Würdest du mir glauben, wenn ich mich tötete?«
»Nein, ich würde dir auch dann nicht glauben.«
Sie trocknete sich die Augen und hob den tränenfeuchten Blick auf ihm auf:
»Dann ist also alles vorbei.«
Sie stand auf und blickte sich noch einmal im Zimmer um. Sie sah die tausend Dinge, mit denen sie in lachender, wollustatmender Vertraulichkeit zusammengelebt, die ihr gehört hatten und die jetzt auf einmal nichts mehr für sie bedeuteten und sie fremd und feindlich ansahen. Sie sah die nackte Frauengestalt wieder, deren Gebärde er ihr nicht gedeutet hatte, die Medaillons aus Florenz, die sie an die seligen Stunden in Fiesole erinnerten, und die kleine Skizze von Dechartre – diesen lachenden Mädchenkopf mit den hübschen, etwas kränklichen Zügen. Einen Augenblick blieb sie so stehen und blickte von Sympathie erfüllt auf das kleine Zeitungsmädchen, das auch hierhergekommen und dann wieder verschwunden war, untergetaucht in dem unheimlichen, gewaltigen Strom des Lebens.
Sie sagte noch einmal: »Dann ist also alles vorbei?« Er schwieg.
Die Dämmerung begann allmählich die Formen der Gegenstände zu verwischen. Thérèese sagte: »Was soll aus mir werden?«
»Und was aus mir?« antwortete er.
Sie sahen sich voller Mitleid an, denn jeder fühlte Mitleid mit sich selbst.
Dann sagte Thérèse noch: »Und ich, die sich davor fürchtete, älter zu werden, um deinet- und um meinetwillen, damit unsere schöne Liebe niemals ein Ende nehmen sollte! Besser wäre es, nie geboren zu sein. Ja, mir wäre besser, wenn ich nie geboren wäre. Welch Vorgefühl meines Schicksals hatte ich doch, als ich als kleines Mädchen unter den Linden von Joinville, vor den Marmornymphen bei der großen Fontäne, mich danach sehnte zu sterben!«
Mit herabhängenden Armen und gefalteten Händen stand sie da und hob ihre tränenfeuchten Augen, die durch die Dämmerung leuchteten, zu ihm empor.
»Gibt es denn nichts, wodurch ich das Gefühl in dir erwecken könnte, daß ich die Wahrheit gesagt habe? Daß niemals, seit ich dir gehöre – – niemals – niemals ... Wie hätte ich es denn tun können? Der bloße Gedanke kommt mir wahnsinnig und entsetzlich vor. Kennst du mich denn so wenig?«
Er schüttelte traurig den Kopf: »Nein, ich kenne dich nicht.«
Noch einmal warf sie einen fragenden Blick auf all die Dinge, die hier in diesem Zimmer Zeugen ihrer Liebe gewesen waren.
»Dann war also alles umsonst, was wir einander gewesen sind ... alles umsonst ... alles nichts! Man zerbricht aneinander, aber man wird doch niemals eins!«
Sie lehnte sich dagegen auf. Es war ja nicht möglich. Er mußte fühlen, was er für sie war.
Und mit der ganzen Glut ihrer zerrissenen Liebe warf sie sich auf ihn und bedeckte ihn mit Küssen und Tränen. Sie schrie laut auf und preßte ihre Zähne in sein Fleisch.
Und er vergaß alles, er nahm sie in seine Arme, so wie sie war – leidermattet und glücklich, und drückte sie mit wildem, rasendem Verlangen an sich. Schon lag ihr Haupt zurückgeworfen auf dem Kissen, und sie lächelte unter Tränen. Aber dann riß er sich schnell von ihr los: »Ich sehe dich nicht mehr allein – ich sehe immer den andern neben dir – immer!«
Stumm, empört und verzweifelt sah sie ihn an. Dann erhob sie sich und brachte mit einem Gefühl von Scham, wie sie es nie empfunden hatte, ihr Kleid und ihre Haare in Ordnung.
Jetzt fühlte sie, daß wirklich alles vorbei war. Noch einmal blickte sie wie erstaunt um sich, aber ihre Augen sahen nichts mehr.
Dann ging sie langsam hinaus.
FIN