Original:
Charles Dickens(1812-1870) veröffentlichte seinen Roman »Dombey und Sohn« 1848.
Im Zentrum steht der wohlhabende und angesehene Londoner Geschäftsmann Paul Dombey. Dessen autoritäre und hochmütige Haltung anderen Menschen gegenüber führt zum Tod seines Sohn, zum Zerwürfnis mit seiner Tochter und lässt schließlich auch die Ehe mit seiner zweiten Frau zerbrechen. Erstarrt in seiner Arroganz erkennt Dombey auch nicht, dass ihn sein Manager James Carker betrügt und die Firma an den Rand des Abgrunds führt.
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Einleitung.
Den Roman »Dombey und Sohn« schuf Dickens in den Jahren 1846 bis 1848, also nach den »Weihnachtserzählungen« und vor »David Copperfield«. Der damals etwa Fünfunddreißigjährige, auf der Höhe seines Schaffens stehend, beschäftigt sich auch hier wieder, wie schon in seinen früheren Arbeiten, mit den »moralischen Problemen« des Lebens, wenn man sich so ausdrücken darf. Die Probleme laufen alle auf die eine Hauptfrage hinaus: Wie ist das Leben recht zu gestalten, so daß wir nicht im Unmaß verhärten? Das rechte Maßhalten bedingt den schönen, wahren und guten Menschen. Aber alles Unmaß ist Sünde und führt ins Verderben. Unmaß im Besitz führt zur Habgier und zum Geiz und zu der Vereinsamung, wie sie Scrooge im »Weihnachtsabend« an sich erfahren hat. Unmaß im Selbstbewußtsein aber leiten zu Hochmut und Stolz und zu jener selbstgewählten grausam marternden Einsamkeit, unter deren Auswirkungen die Kinder des reichen Kaufherrn Dombey so schwer leiden.
Das ganze Werk ist eine großartige psychologische Darstellung der Geschichte eines solchen stolzen, eisernen Herzens, das sich mit Hochmut umpanzert, bis die Katastrophe hereinbricht: Wehe dem Wesen, das nicht zu lieben gelernt hat! Es mag die ganze Welt gewinnen, sie bleibt äußerer Glanz und erwärmt nicht sein Inneres. Es mag zuzeiten stolz und unnahbar dastehen und glauben, die liebende Demut sei Torheit und überflüssig. Aber es wird erfahren, daß zuletzt aller Hochmut aushöhlt, die Seele leer läßt und sie in der Einöde der Heimatlosigkeit frieren läßt, bis sie zu spät ihre Armseligkeit erkennt.
Für all das bietet der stolze Dombey das erschütternde Beispiel. Sein Ehrgeiz läßt ihn überall auf falsche Karten setzen. So verliert er den sorgfältig geschützten und gehegten Sohn Paul, den er nicht um des Kindes selbst willen, sondern um der Firma, des Geschäfts, des äußeren Ansehens willen liebt. So jagt er, den Verlust seiner ersten, wirklich guten Frau gar nicht empfindend, einer blendend schönen Erscheinung nach, der unglückseligen Edith, deren Mutter eine ränkevolle elegante Kupplerin ist. Durch die Verbindung mit dieser äußeren Schönheit, die er nicht liebt, sondern sich durch reiche Ausstattung erkauft, glaubt er sein Ansehen in der Welt erhöhen zu können. Aber Edith betrügt ihn mit seinem Geschäftsführer, und der äußerlich vornehme, dünkelhafte Dombey wird seelisch in den völligen Bankerott gestürzt, den er sich selbst verdient hat. Das Schicksal, das er erlebt, ist zugleich strenge Gerechtigkeit.
Aber wundervoll ist es nun zu beobachten, wie Dickens es versteht, neben dieser Welt der Kälte, der Berechnung, der lieblosen Hoffahrt eine Welt der Liebe, Hilfsbereitschaft und Güte aufblühen zu lassen. Neben der Gerechtigkeit waltet nun die Gnade und das erlösende Erbarmen, das die Eisesstarre des stolzen Herzens der Dombey-Welt schmilzt und einen Lebensfrühling schließlich heraufzaubert im Sinne von: Ende gut, alles gut! Ohne diese Losung, ohne diesen Glauben an die schließliche Siegeskraft des Guten in der Welt, hat Dickens, wie wir es schon aus den früheren Bänden dieser Ausgabe wissen, überhaupt keinen Roman schreiben und zum Abschluß bringen können. Diese Welt der Liebe blüht auf in den von Dombey verachteten Gestalten, die ihn später retten: in einer lieblichen Tochter, Florence, in der der Dichter ein Idealbild reiner Mädchenhaftigkeit und Weiblichkeit gezeichnet hat, in den originellen Käuzen, wie dem alten Instrumentenmacher Gills und dem wackeren Kapitän Cuttle, einem braven Seebären von rührend-komischer Unbeholfenheit, aber dem treuesten Herzen, das es auf der Welt geben kann. Dickens zeigt hier, wie echtes Gold sich oft unter unscheinbar rauher Außenhülle verbirgt. Endlich in dem prächtigen Walter, dem frischen Jungen, der sich in schweren Sturmesnöten zum gutgearteten Jüngling entwickelt. In den liebenden Mächten, die diese Gestalten verkörpern, läßt der Dichter den Titelhelden seines Romans die Rettung aus dem Zusammenbruch finden.
Außer den immer bleibenden menschlichen Wahrheiten, die sich in diesem Werke herausheben, bietet das Buch ein schon kulturhistorisch interessantes Spiegelbild der damaligen englischen Gesellschaft. Wir sind geneigt, über manche altmodische Umständlichkeiten jener empfindsameren Zeit, als die unsere ist, zu lächeln. Aber wer weiß: werden nicht auch unsere Enkel wieder lächeln über manche Torheiten unserer heutigen Gesellschaft, über Torheiten, die wir heute noch gar nicht als solche empfinden? Man muß Dickens mit Zeit und Behagen lesen, wie wir schon in der Einleitung zu den »Pickwickiern« ausführten. Dann wird man gerade aus dem zeitlichen Kolorit manchen erkenntniswerten Schatz auch für unsere moderne Zeit mitnehmen.
Die Durcharbeitung dieses Werkes fiel für den Herausgeber in eine Zeit, da er selbst durch Amtsgeschäfte und berufliche Tätigkeit sehr in Anspruch genommen war. Um so dankbarer ist er daher seiner bisherigen treuen Helferin an diesem Unternehmen, Frau Clara Weinberg, für die geleistete Unterstützung.
Dombey und Sohn. Charles Dickens
Band 1
Erstes Kapitel. DOMBEY UND SOHN.
Dombey saß in der Ecke des abgedunkelten Zimmers in dem großen Lehnstuhl neben dem Bett, und Sohn lag, warm eingewickelt, in einem Korbnestchen, das unmittelbar vor dem Feuer auf einem niedrigen Schemel stand und der Glut sich so nah befand, als ob die Konstitution des jungen Herrleins Ähnlichkeit habe mit der einer Semmel, die braun geröstet werden muß, solange sie noch frisch ist.
Dombey war ungefähr achtundvierzig Jahre alt, Sohn etwa achtundvierzig Minuten. Dombey war etwas kahl, ziemlich rot und, obschon sonst ein wohlproportionierter Mann, doch zu ernst und zu pomphaft in seinem Äußern, um durch dieses sonderlich anzusprechen, während Sohn sehr kahl, sehr rot und, wenn auch unleugbar ein sehr schönes Kind, im allgemeinen vorderhand etwas zerdrückt und verbeult aussah. Auf Dombeys Stirn hatten Zeit und Sorge, wie an einem Baum, der bald zum Fällen reif ist, allerlei Merkmale eingegraben: denn besagte beiden Schwestern schreiten schonungslos durch die Menschenforsten und lassen überall die Zeichen ihres Dagewesenseins zurück. Das Gesicht von Sohn aber war von tausend kleinen Furchen gekreuzt, die dieselbe hinterlistige Zeit mit dem flachen Teil ihrer Sense auszuglätten bestimmt war – eine Vorbereitung für die tieferen Eindrücke späterer Jahre.
Überglücklich ob der langersehnten Ereignisse klimperte und klimperte Dombey mit der schweren goldenen Uhrkette, die unter dem eleganten blauen Frack hervorblitzte, während die Knöpfe des erwähnten Kleidungsstückes in den matten Strahlen des fernen Feuers phosphorisch funkelten. Sohn dagegen reckte seine Händchen in die Höhe, ballte sie zu Fäustchen und schien mit dem Dasein, in das es so unerwartet getreten war, Händel anfangen zu wollen.
»Mrs. Dombey«, begann Mr. Dombey, »das Haus wird fortan nicht bloß der Firma nach, sondern nun auch wieder in der Tat Dombey und Sohn sein. Dombey und Sohn!«
Diese Worte übten einen so starken Einfluß aus, daß der Sprecher (freilich nicht ohne einiges Zögern, da er an dergleichen nicht gewöhnt zu sein schien) dem Namen der Mrs. Dombey einen Ausdruck der Zärtlichkeit beifügte, er sagte nämlich:
»Mrs. Dombey, meine – meine Liebe,«
Ein flüchtiges Rot, das Merkzeichen einer kleinen Überraschung, glitt über da« Antlitz der Wöchnerin, als sie ihre Blicke zu Mr. Dombey erhob.
»Er wird in der Taufe den Namen Paul erhalten, meine Mrs. Dombey, – natürlich.«
Sie wiederholte matt das »natürlich«, oder schien es wenigstens durch die Bewegung ihrer Lippen tun zu wollen; dann aber schloß sie die Augen wieder.
»Seines Vaters Name, Mrs. Dombey, und seines Großvaters! Wollte Gott, sein Großvater hätte diesen Tag erlebt.«
Und abermals fügte er – genau in demselben Ton wie früher – bei:
»Dombey und Sohn!«
Diese drei Worte umfaßten die einzige Idee von Mr. Dombeys Leben. Die Erde war nur da, damit Dombey und Sohn Geschäfte darin machen konnten, und Sonne und Mond hatten bloß die Bestimmung, für Dombey und Sohn zu scheinen, Flüsse und Meere waren da, um die Schiffe der Firma zu tragen; die Regenbogen versprachen nur ihr schönes Wetter; Sterne und Planeten liefen in ihren Kreisen, um unabänderlich einem System zu folgen, von dem Dombey und Sohn den Mittelpunkt bildete. Gewöhnliche Abkürzungen erhielten in seinen Augen ganz neue Bedeutungen, die bloß auf seine Firma Bezug hatten, und A. D. lautete in seiner Zeitrechnung nicht als Annus Domini, sondern als Annus Dombei – und Sohn.
Er hatte sich, wie vor ihm sein Vater, im Laufe der Zeit vom Sohn zu Dombey heraufgearbeitet und fast zwanzig Jahre lang die Firma als alleiniger Repräsentant vertreten. Die Hälfte dieser Periode war ihm im Ehestand entschwunden – wie einige sagen, mit einer Dame, die ihm nicht ihr Herz zur Morgengabe brachte, sondern ihr Glück in der Vergangenheit suchte und sich darin fügen mußte, den gebrochenen Geist an das ergebungsvolle Dulden der Gegenwart zu fesseln. Dergleichen Gerede kam übrigens nicht leicht Mr. Dombey zu Ohren, wie sehr er auch dabei beteiligt war, und wenn es je auch so weit gekommen wäre, so würde er zu allerletzt daran geglaubt haben. Dombey und Sohn hatten zwar schon oft in Häuten, nie aber in Herzen Geschäfte gemacht, denn letztere waren ein Geschäftszweig, den sie gerne jungen Burschen und Mädchen, den Kostschülern und den Bücherschreibern überließen. Mr. Dombey pflegte zu sagen, daß ein Ehebund mit ihm an und für sich jedem auch nur mit gewöhnlichem Verstand begabten Frauenzimmer sehr wünschenswert und ehrenvoll sein müsse, und die Hoffnung, einem solchen Hause einen neuen Associé zu geben, könne nicht fehlen, in der anspruchslosesten Weiberbrust ein Gefühl des glühendsten Ehrgeizes zu wecken. Mrs. Dombey habe mit ihm diesen sozialen Ehevertrag eingegangen, der ihr, selbst eine Bezugnahme auf die Fortpflanzung der Familienfirma, fast notwendig die Teilnahme an einer gentilen und wohlhabenden Stellung sicherte, und alle diese Vorteile vollkommen eingesehen, ja noch außerdem durch tägliche Erfahrung sich überzeugen können, welche Stellung er in der Gesellschaft einnehme; sie habe stets an seiner Tafel obenan gesessen, und habe die Honneurs seines Hauses nicht nur in geziemender Weise, sondern auch mit dem Anstand einer seinen Dame gemacht; sie müsse daher notwendig glücklich sein, ob sie nun wolle oder nicht. Oder jedenfalls lag ihr dabei nur ein einziger Hemmstein im Wege. Ja. Dies würde er zugegeben haben. Nur ein einziger, der aber zuverlässig viel in sich faßte. Sie waren zehn Jahre verheiratet gewesen, ohne bis auf die Stunde, in welcher Mr. Dombey auf dem Lehnstuhl neben dem Bette mit der goldenen Uhrkette klimperte, einen Sprößling erzielt zu haben.
Daß ich's recht sage, wenigstens keinen erheblichen. Vor etwa sechs Jahren war zwar ein Mädchen geboren, und das Kind, das sich eben erst unbemerkt ins Gemach gestohlen hatte, duckte sich jetzt schüchtern in eine Ecke, von der aus es seiner Mutter ins Gesicht sehen konnte. Aber was war ein Mädchen für Dombey und Sohn! In dem Kapitel des Firmanamens und der Firmawürde erschien ein solches Kind nur wie eine falsche Münze, die nirgends angelegt werden konnte – ein mißratenes Ding, weiter nichts.
Im gegenwärtigen Augenblick war übrigens Mr. Dombeys Wonnebecher so zum Überquellen angefüllt, daß er fühlte, er könne wohl einige Tröpflein des Inhalts missen, um den Staub auf dem Nebenpfade seiner kleinen Tochter damit zu benetzen. Er sagte daher:
»Florence, du kannst hingehen und dein Brüderlein ansehen, denn ich denke mir, daß dies dein Wunsch ist. Aber rühre es beileibe nicht an.«
Die Kleine warf einen lebhaften Blick auf den blauen Frack und die steife weiße Halsbinde, welche nebst ein Paar knarrenden Stiefeln und einer laut tickenden Taschenuhr ihre Idee von einem Vater verkörperten; aber ihre Augen kehrten unmittelbar darauf wieder zu dem Gesicht ihrer Mutter zurück, und sie rührte sich nicht von der Stelle, während sie zugleich ihre Lippen geschlossen hielt.
Im nächsten Moment öffnete die Dame ihre Augen und wurde des Kindes ansichtig. Die Kleine eilte auf sie zu, stand auf die Zehen, um ihr Gesichtchen besser an dem mütterlichen Busen verbergen zu können, und klammerte sich an die Wöchnerin mit einer so verzweifelten Innigkeit, wie man sie in ihren Jahren nicht erwartet hätte.
»O Gott behüte mich!« sagte Mr. Dombey, indem er ärgerlich aufstand. »Wahrhaftig, dies ist ein sehr unbesonnenes Benehmen und wird das Fieber nur steigern. Es ist wohl am besten, ich frage bei Doktor Peps an, ob er nicht vielleicht die Güte haben will, noch einmal heraufzukommen. Ich will hinunter gehen. Es wird nicht nötig sein, daß ich Euch erst bitte«, fügte er bei, während er bei der Chaiselongue vor dem Feuer einen Augenblick stehen blieb, »auf diesen jungen Gentleman ganz besondere Sorgfalt zu verwenden, Mrs. –«
»Blockitt, Sir?« ergänzte die Wärterin, ein jungferliches Stückchen verblichener Geziertheit, das sich nicht erdreistete, seinen Namen als Tatsache hinzustellen, sondern ihn nur in der Form einer milden Frage andeuten wollte. »Auf diesen jungen Gentleman, Mrs. Blockitt.«
»Nein, Sir, gewiß nicht. Ich erinnere mich, als Miß Florence geboren wurde –«
»Ja, ja, schon gut«, entgegnete Mr. Dombey, indem er sich über das Korbbettchen beugte und zu gleicher Zeit die Stirne runzelte, »Bei Miß Florence war es schon recht, aber hier ist der Fall anders. Dieser junge Gentleman hat eine Bestimmung zu erfüllen. Eine Bestimmung, kleiner Bursch!«
Während dieser Anrede erhob er eines von den Händchen des Knaben an seine Lippen und küßte es: dann aber schien er sich zu besinnen, daß diese Handlung seiner Würde Abbruch getan haben könnte, und er verließ deshalb etwas verlegen das Gemach.
Doktor Parker Peps, einer der Hofärzte und ein Mann, der wegen seiner Kunst in der Beihilfe zur Vergrößerung bedeutender Familien sich eines hohen Rufs erfreute, ging mit auf dem Rücken gekreuzten Händen im Besuchzimmer auf und ab, zur unaussprechlichen Bewunderung des Hausarztes, der schon seit sechs Wochen unter allen seinen Patienten, Freunden und Bekannten den Fall als einen solchen ausposaunt hatte, der ihm keinen Augenblick Ruhe lasse, weil er Tag und Nacht jede Stunde gewärtig sein müsse, in Gemeinschaft mit Doktor Parker Peps beigezogen zu werden.
»Habt Ihr gefunden, Sir«, begann Doktor Parker Peps mit tiefer, klangreicher Stimme, die übrigens gleich dem Türklopfer für den gegenwärtigen Anlaß gedämpft war, »daß Eure teure Gemahlin durch Euren Besuch aufgeregt wurde?«
»Stimuliert, sozusagen?« fügte der Hausarzt leise bei und verbeugte sich sodann gegen den Doktor, als wollte er sagen: »Entschuldigt, daß ich ein Wörtchen einflocht, aber es handelt sich hier um eine wertvolle Kundschaft.«
Mr. Dombey war sehr betroffen ob dieser Frage, denn er hatte so wenig an die Patientin gedacht, daß er nichts darauf zu antworten wußte. Seine Erwiderung lautete dahin, daß es ihm zur Beruhigung gereichen werde, wenn Doktor Peps noch einmal oben einen Besuch machen wolle.
»Gut. Wir dürfen es Euch nicht verbergen, Sir«, sagte Doktor Peps, »daß der Mangel an Kräften bei Ihren Gnaden, der Frau Herzogin – bitt' um Verzeihung, ich verwechsle die Namen: wollte sagen, bei Eurer liebenswürdigen Gemahlin sehr groß ist. Wir haben es mit einem gewissen Grad von languor zu tun, mit einer allgemeinen Abwesenheit von Elastizität, die wir lieber – nicht –«
»Sehen möchten«, setzte der Hausarzt mit einer abermaligen Kopfverbeugung hinzu.
»Ganz richtig«, entgegnete Doktor Parker Peps: »die wir lieber nicht sehen möchten. Es kommt mir vor, als ob dieses System der Lady Cankaby – entschuldigt, ich meinte, der Mrs. Dombey: ich verwechsle die Namen der Fälle –«
»Sie kommen so gar häufig vor«, murmelte der Hausarzt, »daß sich in der Tat nichts anderes erwarten läßt. Wäre es ein Wunder, wenn's nicht so sei, bei der großen Praxis, die Doktor Parker Peps im Westend hat –«
»Danke, vollkommen richtig bemerkt«, versetzte der Doktor. »Es kommt mir vor, als habe das System unserer Patientin einen Stoß erlitten, von dem sie nur durch eine große, kräftige und –«
»Nachdrückliche«, murmelte der Hausarzt.
»Ganz recht«, pflichtete der Doktor bei – »durch eine nachdrückliche Kraftanstrengung sich wird erholen können. Mr. Pilkins hier, der vermöge seiner Stellung als Hausarzt dieser Familie – ich muß sagen, ich kenne niemand, der eines solchen Vertrauens würdiger wäre –«
»O!« murmelte der Hausarzt. »Lob von Sir Hubert Stanley!«
»Ihr seid allzu gütig«, erwiderte Doktor Parker Peps. »Mr. Pilkins, der kann sein Fach am besten ausfüllen, der mit der Konstitution der Patientin im normalen Zustand bekannt ist – und ein solches Wissen ist für uns bei der Bildung unserer Ansichten über solche Fälle von hoher Wichtigkeit – teilt mein Dafürhalten, daß die Natur zu einer vollen Widerstandsfähigkeit veranlaßt werden muß, und wenn unsere interessante Freundin, die Gräfin von Dombey – ich bitte wieder um Verzeihung – Mrs. Dombey – nicht imstande –«
»Sein sollte«, ergänzte der Hausarzt.
»Diese erfolgreich zu überstehen«, fuhr Doktor Parker Peps fort, »so dürfte es wohl zu einer Krisis kommen, die wir beide aufrichtig beklagen würden.«
Hierauf blieben sie einige Minuten stehen und sahen zu Boden; dann aber gingen sie auf einen stummen Wink des Doktor Parker in das obere Gemach. Der Hausarzt öffnete seinem beruflich höher stehenden Kollegen die Tür und folgte ihm voll der unterwürfigsten Höflichkeit.
Wenn wir sagen wollten, Dombey sei durch die Worte der Arzte nicht nach seiner Art ergriffen worden, so würden wir ihm Unrecht tun. Er war allerdings nicht der Mann, der einer Erschütterung im eigentlichen Sinne zugänglich war, trug aber doch ein gewisses Bewußtsein in sich, daß es ihm sehr leid tun würde, wenn seine Gattin ernstlich erkrankte und stürbe, da ihm dann für sein Silberzeug, seine Möbel und die Hausgerätschaften etwas fehlte, was wohl zu ihnen gehörte. Aber ohne Zweifel hätte seine Trauer einen gewissen ruhigen, gentlemanischen, geschäftsmäßigen und gefaßten Charakter behauptet.
Seine Betrachtungen über diesen Gegenstand wurden aber bald durch das Rauschen von Kleidern auf der Treppe und dann durch das plötzliche Hereinstürzen einer Dame unterbrochen, die, obwohl sie in den mittleren Jahren stand, sich aber, was die Enge des Korsetts betraf, sehr jugendlich trug. Sie eilte mit einem gewissen verschraubten Wesen in Gesicht und Haltung auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und rief mit erstickter Stimme:
»Mein teurer Paul, er ist ganz ein Dombey!«
»O, schon gut!« entgegnete ihr Bruder – denn dies war Mr. Dombey – »ich denke selbst auch, daß er den Familienzug trägt. Aber sei nicht so ungestüm, Louisa.« »Es ist sehr töricht von mir«, sagte Louisa, indem sie Platz nahm und ihr Taschentuch herauszog, »aber er – er ist ein so vollkommener Dombey! In meinem Leben habe ich nie etwas Ähnlicheres gesehen!«
»Aber wie steht es mit Fanny selbst?« fragte Mr. Dombey. »Was hältst du von ihrem Zustand?«
»Mein lieber Paul, es ist durchaus nichts«, antwortete Louisa – »mein Wort dafür, durchaus nichts. Allerdings ist sie erschöpft, aber lang nicht in dem Grade, wie bei mir, als ich mit George oder Frederik Wöchnerin war. Man muß ihr wieder zu Kräften verhelfen, das ist alles. Wenn die liebe Fanny eine Dombey wäre! Trotzdem, ich stehe dafür, sie wird sich machen: ich zweifle nicht daran, daß sie sich noch machen wird. Mein lieber Paul, ich weiß, es ist sehr schwach und töricht von mir, daß ich vom Kopf bis zu den Füßen so zittere: aber es ist mir so seltsam, daß ich dich um ein Glas Wein und um einen Bissen von diesem Kuchen bitten muß. Ich meinte, ich müsse zum Treppenfenster hinausstürzen, als ich von meinem Besuch bei Fanny und bei dem kleinen Schnäbelchen herunterkam.«
Die letzten Worte hatten ihren Ursprung in einer plötzlichen lebhaften Erinnerung an den Neugeborenen. Sie hatte aber kaum ausgesprochen, als sich an der Tür ein leises Pochen vernehmen ließ.
»Mrs. Chick«, sagte draußen eine sehr sanfte weibliche Stimme, »wie geht es Euch jetzt, meine liebe Freundin?«
»Mein teurer Paul«, nahm Louisa leise das Wort, indem sie sich zugleich von ihrem Sitze erhob, »es ist Miß Tox – das wohlwollendste Geschöpf. Ohne sie hätte ich nicht herauskommen können. Miß Tox, mein Bruder Mr. Dombey. Lieber Paul, meine ganz besondere Freundin, Miß Tox.«
Die so speziell vorgestellte Dame war ein langes mageres Frauenzimmer von so verblichener Außenseite, daß es den Anschein hatte, als sei sie, wie es die Modewarenhändler nennen, von Haus aus nicht »echtfarbig« gewesen, und deshalb in der Wäsche allmählich ganz und gar verschossen. Außerdem aber hätte man sie als die wahre Blume von Sanftmut und Höflichkeit bezeichnen können. Infolge ihrer langen Gewohnheit, allem, was in ihrer Gegenwart gesprochen wurde, ein bewunderndes Ohr zu schenken, wobei sie die Redenden anzusehen pflegte, als sei sie innerlich beschäftigt, die Bilder derselben in ihre Seele aufzunehmen und sich nur mit dem Leben von ihnen zu trennen, hatte sich ihr Kopf völlig nach der einen Seite verschoben. An ihren Händen bemerkte man stets ein krampfhaftes Zucken, sich wie in unwillkürlicher Bewunderung aus eignem Antrieb zu erheben, und ihre Augen waren einer ähnlichen Manier unterworfen. Sie hatte die weichste Stimme, die man nur hören kann, und ihre erstaunlich sperberartige Nase war in der Mitte oder am Schlußsteine des Rückens mit einem kleinen Knauf versehen, der gegen ihr Gesicht abwärts lief, wie in unüberwindlicher Entschlossenheit, nie ein Aufwerfen des gedachten Gesichtsvorsprungs zu gestatten.
Obschon ihr Kleid vollkommen nett und gut war, drückte sich doch eine gewisse Eckigkeit und Knappheit darin aus. In ihren Hüten und Hauben pflegte sie wunderliche, unkrautartige Blümchen zu tragen, und in ihrem Haar bemerkte man bisweilen seltsame Gräser: auch konnte jeder, der sich dafür interessierte, an ihren Kragen, Rüschen, Manschetten und sonstigem Spitzenzeug – kurz an allem, was an ihrem Kleid die Bestimmung hatte, sich zu vereinigen, die Wahrnehmung machen, daß die beiden Enden nie auf freundschaftlichem Fuß miteinander standen, sondern stets eine große Neigung verrieten, die Verbindung nicht ohne Kampf vollziehen zu lassen. Für ihren Winterputz hatte sie Pelzkragen, Boas und Muffe, die stets in herausfordernder Weise auf der einen Seite standen und wild ihre Haare sträubten; auch besaß sie die Liebhaberei, stets kleine Beutel mit Federschlössern bei sich zu führen, die, wenn sie geöffnet werden sollten, wie kleine Pistolen losgingen, und sooft sie sich in vollem Putz zeigte, prunkte an ihrem Hals das geschmackloseste aller Schlösser mit einem alten, glotzenden Auge, in dem auch nicht eine Spur von Sinn lag. Diese und andere ähnliche Merkmale dienten dazu, die Ansicht zu verbreiten, Miß Tor sei eine Dame von zwar beschränkten, aber doch unabhängigen Mitteln, die sie im besten Lichte erscheinen ließ. Möglich, daß ihr trippelnder Gang diesen Glauben ermutigte, weil man daraus entnehmen konnte, der Umstand, daß sie einen gewöhnlichen Schritt in drei abteilte, habe notwendig seinen Ursprung in der Gewohnheit, alles aufs beste zu tun.
»In der Tat,« sagte Miß Tor mit einem bewundernswürdigen Knix, »die Ehre, Mr. Dombey vorgestellt zu werden, ist eine Auszeichnung, nach der ich mich längst gesehnt habe, obschon ich sie in diesem Augenblicke nicht erwartet hätte. Meine teure Mrs. Chick – darf ich sagen, Louisa?«
Mrs. Chick nahm die Hand der Freundin in die ihrige, setzte den Fuß ihres Weinglases darauf, unterdrückte eine Träne und sprach mit gedämpfter Stimme:
»Gott behüte, wozu auch diese Frage?«
»Meine teure Louisa also«, versetzte Miß Tor, »meine süße Freundin, wie geht es Euch jetzt?«
»Besser«, erwiderte Mrs. Chick. »Darf ich Euch etwas Wein anbieten? Ihr seid fast ebenso in Sorge gewesen wie ich, und habt es daher wohl verdient.«
Mr. Dombey schenkte ihr ein.
»Miß Tor, Paul«, fuhr Mrs. Chick fort, indem sie noch immer die Hand ihrer Freundin festhielt, »war Zeuge, wie sehr ich mich im voraus auf das Ereignis des heutigen Tage« freute, und hat daher eine kleine Gabe für Fanny angefertigt, die ich ihr zu überreichen versprach. Es ist nur ein Nadelkissen für den Toilettentisch, Paul, aber ich sage und werde stets sagen, ja, ich muß sagen, daß Miß Tor ihre freundliche Gesinnung der Gelegenheit allerliebst angepaßt hat. Den Gruß: ›zum Willkomm des kleinen Dombeylein‹ muß ich Poesie nennen.«
»Lautet so die Inschrift?« fragte ihr Bruder.
»So lautet die Inschrift«, antwortete Louisa.
»Um mir übrigens Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, meine teure Louisa«, bemerkte Miß Tox in einem leise bittenden Ton, »müßt Ihr hinzusetzen, daß nichts als die – ich weiß nicht recht, wie ich mich ausdrücken soll – die Unsicherheit über die Frage des Resultats mich zu einer so großen Freiheit veranlaßt hat: denn eher könnt Ihr Euch denken, daß die Fassung: ›zum Willkomm des Master Dombey‹ – meinen Gefühlen besser entsprochen hätte. Freilich weiß man bei solchen kleinen Engelchen nie vorher, wie man mit ihnen daran ist, und ich hoffe, diese Unsicherheit wird einem Ausdruck zur Entschuldigung dienen, der sonst als eine nicht zu rechtfertigende Vertraulichkeit erscheinen könnte.«
Miß Tox machte während dieses Vortrags gegen Mr. Dombey eine anmutige Verbeugung, die von dem Gentleman in gnädiger Weise erwidert wurde. Sogar die Art der Anerkennung von Dombey und Sohn, wie sie bisher im Gespräche sich kundgegeben, hatte für ihn etwas so Behagliches, daß seine Schwester, Mrs. Chick, – obschon er tat, als halte er sie für eine gute schwache Frau – vielleicht mehr Einfluß auf ihn üben konnte, als irgend jemand anders.
»Nun«, sagte Mrs. Chick mit einem süßen Lächeln, »nach diesem vergebe ich Fanny alles!«
Das war eine christliche Erklärung, und Mrs. Chick fühlte sich im Innern sehr dadurch erleichtert. Nicht, daß sie ihrer Schwägerin etwas Besonderes – oder überhaupt etwas zu vergeben gehabt hätte, wenn es nicht etwa die an sich schon starke Vermessenheit war, ihren Bruder zu heiraten und ihn sodann im Lauf der Zeit statt eines Knaben mit einem Mädchen zu beschenken. Letzteres war, wie Mrs. Chick oft bemerkte, nicht ganz das, was sie von ihr erwartet hatte, und überhaupt ein schlechter Dank für die Aufmerksamkeit und Auszeichnung, die ihr zuteil geworden.
In diesem Augenblick wurde Mr. Dombey hastig aus dem Zimmer gerufen, und die beiden Damen blieben allein beisammen. Miß Tox geriet in dem Moment in Exaltation.
»Ich wußte es ja, daß Ihr meinen Bruder bewundern würdet, und habe es Euch im voraus gesagt, meine Liebe«, bemerkte Louisa.
Die Hände und die Augen von Miß Tox bekundeten, in wie hohem Grade das geschah.
»Und was sein Vermögen betrifft, meine Liebe!«
»Ah!« entgegnete Miß Tox mit tiefem Gefühl.
»Un – ermeßlich!«
»Aber, sein Benehmen, meine teure Louisa!« sagte Miß Tox. »Sein Anstand! Seine Würde! Kein Porträt habe ich je von irgend jemand gesehen, das auch nur annähernd diese Eigenschaften in sich schließt. Ihr wißt, etwas so Stattliches, Unnahbares – die breite Brust und die aufrechte Haltung. Ein pekuniärer Herzog von York, meine Liebe – kein Haar weniger! So und nicht anders kann ich ihn bezeichnen«, sagte Miß Tox.
»Ei, mein lieber Paul!« rief die Schwester, als er zurückkehrte, »du siehst so blaß aus! Es ist doch nichts vorgefallen?«
»Leider muß ich dir mitteilen, Louisa, daß man mir sagt, Fanny sei –«
»Ach, mein lieber Paul, glaube nur kein Wort davon«, entgegnete die Schwester, indem sie sich von ihrem Sitz erhob. »Wenn du mir in meiner Erfahrung nur etwas vertrauen wolltest, Paul, so kannst du versichert sein, daß es sich hier um nichts handelt, als um eine Anstrengung Fannys. Man muß sie« – fügte sie hinzu, indem sie ihren Hut aufsetzte und in geschäftsmäßiger Weise Haube und Handschuh zurechtstrich – »zu dieser Anstrengung ermutigen, ja, im Notfalle sogar dazu zwingen. Komm nur mit mir die Treppe hinauf, mein lieber Paul.«
Abgesehen von dem vorerwähnten Einflusse, den Mrs. Chick auf ihren Bruder ausübte, hatte Mr. Dombey in der Tat ein sehr großes Vertrauen zu ihr, als zu einer erfahrenen, rührigen Frau, weshalb er sich beruhigte und er ihr ohne zu zögern in das Krankenzimmer folgte.
Die Kranke lag, wie er sie verlassen hatte, auf dem Bette und hielt den Kopf ihres Töchterchens an die Brust gedrückt. Das Kleine klammerte sich mit der größten Innigkeit an die Mutter an, ohne das Haupt zu erheben oder die weiche Wange von dem Antlitz derselben zu lösen. Sie hatte keinen Blick für die Umstehenden, und mit ihrem tränenlosen Auge und der stummen Lippe glich sie eher einer regungslosen Statue, als einem lebenden Wesen.
»Sie hatte keine Ruhe ohne das kleine Mädchen«, flüsterte der Doktor Mr. Dombey zu, »und so hielten wir es für das beste, es ihr zu lassen.«
Um das Bett her herrschte eine feierliche Stille, und die beiden Herren über Leben und Tod blickten mit so viel Mitleid und so wenig Hoffnung auf die regungslose Gestalt, daß Mrs. Chick für eine Weile ihres Vorhabens vergaß. Sie faßte übrigens bald wieder Mut, nahm ihre Geistesgegenwart, wie sie's nannte, zusammen, setzte sich ans Krankenlager und sprach in dem gedämpften Ton einer Person, die jemand aus dem Schlaf zu wecken bemüht ist:
»Fanny! Fanny!«
Keine andere Antwort darauf, als das laute Ticken von Mr. Dombeys Uhr und Doktor Parker Peps' Uhr, die in dem tiefen Schweigen einen Wettlauf zu machen schienen.
»Fanny, meine Liebe«, sagte Mrs. Chick mit erkünstelter Sorglosigkeit, »Dombey ist hier, um nach Euch zu sehen. Wollt Ihr nicht mit ihm sprechen? Man will Euer Kind – das kleine Söhnchen – Ihr wißt ja, Fanny, Ihr habt ihn kaum gesehen – zu Bett legen, kann's aber nicht tun, ehe Ihr Euch ein wenig aufgerafft habt. Glaubt Ihr nicht auch, es sei Zeit, daß Ihr Euch ein wenig anstrengt? Eh?«
Sie neigte ihr Ohr gegen das Bett und lauschte, während sie zu gleicher Zeit nach den Umstehenden blickte und den Finger erhob.
»Eh?« wiederholte sie. »Was habt Ihr gesagt, Fanny? Ich Habe Euch nicht verstanden.«
Kein Wort, kein Laut zur Erwiderung. Nur Mr. Dombeys Uhr und die des Doktor Parker Peps schienen schneller zu laufen.
»In der Tat, meine liebe Fanny«, fuhr die Schwägerin fort, indem sie ihre Stellung änderte und dabei unwillkürlich mit weniger Zuversicht, dagegen aber mit größerer Strenge sprach, »ich muß böse auf Euch werden, wenn Ihr Euch nicht aufrafft. Ein Kraftaufwand ist für Euch nötig, wie beschwerlich oder schmerzlich er auch sein mag: aber Ihr wißt ja, wir leben in einer Welt des Kämpfens, Fanny, und wir dürfen nicht nachgeben, wenn so viel von uns selbst abhängt. Kommt! Versucht es! Ich muß wahrhaftig mit Euch zanken, wenn Ihr's nicht tut!«
Das Rennen der Uhren in der darauffolgenden Pause war wild und wütend. Sie schienen gegeneinander anzustoßen und sich auf die Fersen zu treten.
»Fanny!« sagte Louisa, mit steigender Unruhe umherschauend. »Seht mich nur an. öffnet doch die Äugen, um mir anzudeuten, daß Ihr mich hört und versteht – wollt Ihr nicht? Gütiger Himmel, Gentlemen, was ist da anzufangen?«
Die beiden Ärzte wechselten über dem Bett weg einen Blick, und Doktor Parker Pep beugte sich sodann zu dem Kinde nieder, dem er etwas ins Ohr flüsterte. Das kleine Wesen, das die Worte des Arztes nicht verstanden hatte, wandte ihm das farblose Gesicht mit den tiefschwarzen Augen zu, ohne jedoch die Mutter auch nur im mindesten loszulassen.
Das Geflüster wurde wiederholt.
»Mama!« sagte die Kleine.
Die schwache Stimme des heißgeliebten Wesens weckte selbst bei dieser tiefen Ebbe eine Spur von Besinnung. Einen Moment zitterten die geschlossenen Augenlider, die Nasenflügel bewegten sich, und man bemerkte den matten Schatten eines Lächelns.
»Mama!« rief das Kind, laut schluchzend. »O liebe Mama! o liebe Mama!«
Der Doktor streifte sanft die wirren Locken der Kleinen von dem Gesicht und Mund der Mutter. Ach, wie ruhig sie dort lagen! Wie schwach der Atem, der sie nicht in Bewegung zu setzen vermochte!
So entschwebte, den schwachen Mast fest mit ihren Armen umschlingend, die Mutter – hinaus in das dunkle, unbekannte Meer, das die ganze Welt umfließt.
Zweites Kapitel. IN WELCHEM ZEITIGE VORSORGE FÜR EINEN FALL GETROFFEN WIRD, DER BISWEILEN IN DEN GEORDNETSTEN FAMILIEN VORKOMMT.
»Mein Leben lang will ich mich glücklich schätzen«, sagte Mrs. Chick, »daß ich mich aussprach, als ich nicht entfernt daran dachte, was uns bevorstand – in der Tat; es war, wie wenn ich durch eine höhere Fügung geleitet würde, als ich Fanny alles vergab. Was nun auch kommen mag, das wird mir stets ein Trost bleiben!«
Mrs. Chick sprach in diesen eindrucksvollen Worten, als sie vom Frauenschneider, der in einem oberen Zimmer mit der Anfertigung von Trauergewändern beschäftigt war, wieder nach dem Besuchszimmer zurückkam. Ihre Worte galten Mr. Chick, einem beleibten, kahlköpfigen Gentleman mit sehr breitem Gesicht, der seine Hände stets in den Taschen trug und einen natürlichen Hang besaß, Arien vor sich hin zu pfeifen oder zu summen. Dies war nun freilich in einem Hause der Trauer nicht sehr angebracht und er fühlte es auch: aber es kostete ihn nicht geringe Anstrengung, seine Liebhaberei zu unterlassen.
»Strenge dich doch nicht allzusehr an, Frau«, sagte Mr. Chick, »denn du wirst sonst sehen, daß du deine Krämpfe kriegst. Tra-la-la-la! Behüt' mich – wie ich mich vergesse. Wir sind übernächtig – heute rot, morgen tot.«
Mrs. Chick begnügte sich mit einem Blick des Vorwurfs und nahm sodann den Faden ihres Gesprächs wieder auf.
»Ich hoffe in der Tat«, sagte sie, »dieses herzzerreißende Ereignis wird für uns alle eine Warnung sein. Wir müssen uns daran gewöhnen, Anstrengungen durchzumachen für die Zeit, wenn wir es nötig haben. Alles führt eine Lehre mit sich, wenn wir sie nur benutzen wollen, und es ist bloß unsere Schuld, wenn wir nicht auf diesen einen wichtigen Wink achtgeben.«
Mr. Chick störte das auf diese Bemerkung folgende ernste Schweigen durch die auffallend unpassende Arie: ›Ein Schlosser hat en G'sellen g'habt‹, unterbrach sich aber schnell mit einiger Verwirrung und erklärte sodann, es sei ohne Zweifel unser eigenes Verschulden, wenn wir so ein trauriges Geschick wie das gegenwärtige uns nicht zur Lehre machten.
»Sie sollten zu was Besserem Anlaß geben, meine ich, Mr. Chick«, erwiderte seine zweite Hälfte nach einer kurzen Pause, »als zu Schelmenliedern oder zu der ebenso nichtssagenden und gefühllosen Bemerkung des ›Rumpditty bau wau wau!‹« In dieser hatte sich nämlich Mr. Chick in halblautem Tone wirklich ergangen, und seine Frau Gemahlin ahmte ihn spottend nach.
»Nur eine Gewohnheit, meine Liebe«, entschuldigte sich Mr. Chick.
»Unsinn! Gewohnheit!« entgegnete die Dame. »Wenn du ein vernünftiger Mensch bist, so komm' mir bitte nicht mit solchen lächerlichen Ausreden. Gewohnheit! Wenn ich mir die Gewohnheit, wie du's nennst, aneignen wollte, wie die Fliegen an der Zimmerdecke spazieren zu gehen, so würde ich's wahrscheinlich oft genug zu hören bekommen.«
Aller Wahrscheinlichkeit nach hätte eine derartige Gewohnheit sehr auffallen müssen, und auch Mr. Chick mochte dies einsehen, denn er verriet nicht die kleinste Neigung, zu widersprechen.
»Und wie geht's dem Bübchen, Frau?« fragte Mr. Chick, um der peinlichen Stimmung auszuweichen.
»Was für ein Bübchen meinst du?« fragte Mrs. Chick. »Ich habe heute morgen im Speisezimmer drunten eine solche Menge von Bübchen gehabt, daß man seinen Sinnen kaum glauben sollte.«
»Eine Menge von Bübchen?« wiederholte Mr. Chick, indem er mit dem Ausdruck größter Unruhe umherblickte.
»Den meisten Menschen würde es sicherlich eingefallen sein«, entgegnete Mrs. Chick, »nach dem Hinscheiden der armen Fanny für eine Amme zu sorgen.«
»O! Ah!« versetzte Mr. Chick – »Turolt – so ist das Leben, wollte ich sagen. Ich hoffe, du hast das Richtige gefunden, meine Liebe.«
»In der Tat, nein«, sagte Mrs. Chick, »und das wird auch nicht so schnell gehen, so weit ich die Dinge übersehen kann. Inzwischen wird natürlich das Kind –«
»Zum Teufel fahren«, versetzte Mr. Chick gedankenvoll. »Natürlich.«
Die Entrüstung, die sich bei der Idee, daß ein Dombey eine solche Reise antreten könnte, in Mrs. Chicks Gesicht ausdrückte, belehrte ihn jedoch, daß er eine Ungeschicklichkeit begangen habe, weshalb er, um sein Vergehen wieder gut zu machen, in wohlmeinender Absicht beifügte:
»Könnte nicht vorderhand der Teetopf Abhilfe leisten?«
Wenn es wirklich in seiner Absicht lag, die Sache zu einem schnellen Schluß zu führen, so hätte es nicht wirksamer geschehen können. Die Dame sah einige Momente in stummer Resignation nach ihm hin und ging dann, durch das Gerassel von Rädern angelockt, majestätisch nach dem Fenster, um durch die Jalousien auf die Straße hinunter zu sehen. Mr. Chick, welcher fand, daß zurzeit sein Geschick gegen ihn war, sagte nichts mehr und entfernte sich.
Aber nicht immer befand sich Mr. Chick in dieser Situation: denn sein eigener Stern war oft im Aufsteigen, und zu solchen Zeiten strafte er Louise rund ab. Mit einem Wort, sie waren im ganzen bei ihren ehelichen Zänkereien ein gut zusammenpassendes Paar, das sich gegenseitig das Gleichgewicht hielt und bald austeilte, bald einnahm, so daß es in der Regel schwer wurde, auf den gewinnenden Teil eine Wette zu parieren. Ja, selbst wenn Mr. Chick geschlagen schien, pflegte er oft einen plötzlichen Ausfall zu machen, indem er den Stiel umdrehte und ihn um Mrs. Chicks Ohren sausen ließ, so daß alles vor ihm weglief. Da er übrigens selbst auch ähnlichen unvorhergesehenen Überfällen von seiten der Mrs. Chick ausgesetzt war, so hatten ihre kleinen Zwiste einen gewissen Charakter von Wandelbarkeit, der ihrem ehelichen Verhältnis viel Lebhaftigkeit verlieh.
Das Fuhrwerk, das wir vorhin erwähnt haben, brachte Miß Tox mit sich, die jetzt in einem atemlosen Zustand auf das Zimmer gelaufen kam.
»Meine teure Louisa«, sagte Miß Tox, »ist die Stelle noch nicht besetzt?«
»O, die gute Seele, nein«, entgegnete Mrs. Chick.
»Dann, meine teure Louisa«, erwiderte Miß Tox, »hoffe und glaube ich – – doch, meine Teure, gleich will ich Euch die Partie selbst vorgestellt haben.«
Miß Tox ging sofort mit derselben Eile, mit der sie die Treppe heraufgekommen war, wieder hinunter, holte die Partie aus der Mietkutsche und brachte das ganze Gefolge mit sich.
Es stellte sich nun heraus, daß das Wort Partie nicht in der juridischen oder geschäftsmäßigen Bedeutung, in der bloß ein Individuum bezeichnet werden will, sondern in seinem Kollektivbegriff gebraucht worden war: denn das Gefolge der Miß Tox bestand aus einem wohlgenährten, rosenwangigen, gesunden, apfelgesichtigen jungen Weibe, das ein Kind auf ihren Armen trug, aus einer jüngeren, nicht so derben, aber gleichfalls apfelgesichtigen Frauensperson, die an jeder Hand ein stämmiges, apfelgesichtiges Kind führte, aus einem derben, gleichfalls apfelgesichtigen Jungen, der allein ging, und schließlich aus einem stämmigen, apfelgesichtigen Mann, der auf seinen Armen noch einen derben, apfelgesichtigen Knaben trug, ihn aber alsbald auf den Boden stellte und ihm mit heiserem Ton die Ermahnung zuflüsterte, er solle sich an seinem Bruder Johnny festhalten.
»Meine teure Louisa«, begann Miß Tox, »da ich wußte, wie sehr Ihr in Sorgen seid, so bewog mich der Wunsch, sie Euch abzunehmen, nach der Entbindungsanstalt ›Königin Charlotte‹ für verheiratete Frauen zu eilen – Ihr wißt, daß Ihr jene Anstalt vergessen habt – und dort anzufragen, ob nicht jemand da sei, den man für passend halte. Die Antwort lautete nein. Ich kann Euch versichern, daß ich, als ich diese Erwiderung vernahm, um Euretwillen fast in Verzweiflung geriet. Es fügte sich aber, daß eine von den verheirateten Frauen der Anstalt, die die Anfrage hörte, die Vorsteherin an eine andere erinnerte, die bereits nach Hause gegangen sei und, wie sie meinte, wahrscheinlich den Anforderungen genügen dürfte. Sobald ich das und noch obendrein von seiten der Vorsteherin die Bekräftigung vernahm – vortreffliche Zeugnisse und unanfechtbare Empfehlung – ließ ich mir die Adresse geben und machte mich augenblicklich wieder auf den Weg.«
»Das sieht meiner lieben guten Tox ähnlich«, versetzte Louisa.
»Durchaus nicht«, entgegnete Miß Tox. »Sprecht nicht so. Als ich in dem Hause anlangte, – alles blitzsauber, meine Liebe, man könnte das Mittagessen auf dem Fußboden einnehmen, traf ich die ganze Familie bei Tisch: und da ich mich überzeugt fühlte, keine Berichterstattung darüber könne für Euch und Mr. Dombey nur halb so befriedigend sein, als wenn Ihr sie alle miteinander sehen würdet, so brachte ich sie mit. Dieser Gentleman«, fügte Miß Tox bei, indem sie auf einen Mann mit einem Apfelgesicht zeigte, »ist der Vater. Wollt Ihr so gut sein, ein wenig näher zu treten, Sir?«
Der Mann kam der Aufforderung augenblicklich nach und pflanzte sich kichernd und grinsend als Vorderster in der Reihe auf.
»Das ist natürlich seine Frau«, fuhr Miß Tox fort und zeigte auf die junge Frau mit dem Wickelkinde. »Wie geht es Euch, Polly?«
»Ziemlich gut – ich danke schön, Ma'am«, versetzte Polly.
Um sie zu ermutigen, hatte Miß Tox ihre Frage in dem herablassenden Ton einer alten Bekannten gestellt, so etwa, wie wenn man sich einige Wochen nicht mehr gesehen hat.
»Es freut mich, das zu hören«, erwiderte Miß Tox. »Die andere junge Frau ist ihre unverheiratete Schwester; sie wohnt bei ihr und könnte solange für die Kinder sorgen. Ihr Name ist Jemima. Wie gehts Euch, Jemima?«
»Ziemlich gut – ich danke schön, Ma'am«, entgegnete Jemima.
»Freut mich in der Tat sehr, das zu hören«, sagte Miß Tox. »Ich hoffe, es wird Bestand haben. Fünf Kinder. Das jüngste sechs Wochen. Der schöne kleine Knabe mit der Blase auf seiner Nase ist der älteste. Die Blase, hoffe ich«, fügte Miß Tox hinzu, indem sie ihre Augen über die Familie gleiten ließ, »ist nicht erblich, sondern zufällig?«
Der Mann mit dem Apfelgesicht brummte etwas wie Bügeleisen vor sich hin.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Miß Tox, »was sagtet Ihr –?«
»Bügeleisen«, wiederholte er.
»O ja«, sagte Miß Tox. »Ja! Ganz richtig. Ich vergaß es. Die kleine Kreatur hat in Abwesenheit der Mutter an einem heißen Bügeleisen gerochen. Ist es nicht so, Sir? Als wir an der Tür unten anlangten, hattet Ihr die Güte, mir mitzuteilen. Ihr seiet von Gewerbe ein –«
»Schürer«, sagte der Mann.
»Ein Spürer?« entgegnete Miß Tox erstaunt.
»Schürer«, wiederholte der Mann. »Dampfmaschine.«
»O – h! ja!« versetzte Miß Tox, indem sie ihn gedankenvoll und mit einer Miene ansah, als habe sie noch nicht recht verstanden, was er sagen wolle. »Und wie gefällt es Euch, Sir?«
»Was, Ma'am?« fragte der Mann.
»Das«, erwiderte Miß Tox. »Euer Gewerbe.«
»O, schon recht, Ma'am. Die Asche kommt bisweilen hier herein«, er griff bei diesen Worten nach seiner Brust, »und ist Schuld daran, daß man, wie eben jetzt, ein bißchen rauh spricht. Es ist übrigens nur die Asche, Ma'am, keine Grobheit.«
Miß Tox schien es trotz dieser Erwiderung sehr schwer zu fallen, den Gegenstand weiter zu verfolgen. Mrs. Chick kam ihr jedoch zu Hilfe, dadurch daß sie ein genaues Privatverhör über Polly, ihre Kinder, ihr Ehestandszertifikat, ihre Zeugnisse usw. begann. Polly bestand diese Ordalie glücklich, worauf Mrs. Chick sich mit ihrem Rapport nach dem Zimmer ihres Bruders begab und zu nachdrücklicherer Bekräftigung desselben die zwei rosigsten kleinen Toodles mit sich nahm. Toodle war nämlich der Geschlechtsname der apfelgesichtigen Familie.
Mr. Dombey war seit dem Tode seiner Gattin auf seinem Zimmer geblieben und hatte Träume über die Jugend, die Erziehung und die seines neugeborenen Söhnleins gesponnen. Auf dem Grunde seines kalten Herzens lag etwas, kälter und schwerer, als sonst; aber es betraf mehr den Verlust des Kindes, als seinen eigenen – ein Gefühl, das sich fast zu einem ärgerlichen Leide steigerte. Sollte Leben und Gedeihen dessen, auf welchen er so große Hoffnung setzte, schon zu Beginn durch gemeinen Nahrungsmangel gefährdet werden? Der Gedanke, daß Sein und Nichtsein von Dombey und Sohn in den Händen einer Amme lag, war für ihn eine empfindliche Demütigung. Bei seiner stolzen Eifersucht war ihm der Gedanke furchtbar, gleich beim allerersten Schritt zur Erreichung seines heißersehnten Herzenswunsches auf eine gemietete Dienerin angewiesen zu sein, die – wenigstens vorläufig – dem Kinde alles das werden mußte, wozu sogar seine Gattin nur durch die Verbindung mit ihm gelangt war; er erfüllte ihn mit solcher Bitterkeit, daß ihm jede neue Verwerfung einer Bewerberin geheime Freude machte. Doch war jetzt die Zeit gekommen, die von ihm die Zurücksetzung dieser widerstreitenden Gefühle forderte, um so mehr, als ihm seine Schwester die Vorzüge von Polly Toodle unter vielen Lobeserhebungen auf die unermüdliche Freundschaft der Miß Tox aufs wärmste schilderte.
»Die Kinder sehen gesund aus«, sagte Mr. Dombey. »Aber wenn ich daran denke, daß sie eines Tages eine Art Verwandtschaft zu Paul geltend machen könnten! Nimm sie mit fort, Louisa! Ich will die Frau und ihren Mann sehen.«
Mrs. Chick entfernte das zartere Toodlespaar und kehrte bald mit dem derberen, dessen Erscheinen ihr Bruder gewünscht hatte, zurück.
»Meine gute Frau«, begann Mr. Dombey, indem er sich auf seinem Lehnstuhl wie eine Maschine und nicht wie ein Mann mit Gliedern und Gelenken drehte, »wie ich höre, seid Ihr arm und wünscht Geld zu verdienen durch die Pflege des kleinen Knaben, meines Sohnes, der so frühzeitig einen unersetzlichen Verlust erlitten hat. Ich habe nichts dagegen, daß Ihr die Einkünfte Eurer Familie auf diese Weise erhöhen wollt, und soviel ich sehen kann, scheint Ihr mir eine anständige Person zu sein; aber ehe Ihr in der gedachten Eigenschaft in mein Haus tretet, muß ich Euch eine oder zwei Bedingungen ans Herz legen. So lange Ihr Euch hier aufhaltet, müßt Ihr Euch den Namen – Richards beilegen; er ist gewöhnlich und passend. Habt Ihr etwas dagegen, Euch Richards nennen zu lassen? Es wird gut sein, wenn Ihr Euch mit Eurem Manne darüber beratet.«
Da ihr Mann aber fortwährend kicherte und grinste und sich beständig mit der rechten Hand über den Mund fuhr, um die Handfläche anzufeuchten, so machte Mrs. Toodle, nachdem sie ihn zwei- oder dreimal vergeblich mit dem Ellbogen angestoßen hatte, einen Knix und erwiderte, »wenn sie um ihren ehrlichen Namen kommen solle, so ließe sich dieser Umstand durch die Höhe ihres Lohnes vielleicht ausgleichen.«
»Das versteht sich«, entgegnete Mr. Dombey. »Ich wünsche sogar, danach den Lohn festzusetzen. Wohlan also, Richards, wenn Ihr mein mutterloses Kind verpflegen wollt, so dürft Ihr diese Bedingung nie vergessen. Ihr werdet ein anständiges Gehalt erhalten als Belohnung für die gewissenhafte Erfüllung Eurer Pflichten; ich wünsche übrigens noch, daß Ihr so wenig als möglich mit Eurer Familie zusammenkommt. Habt Ihr Eure Obliegenheiten erfüllt, so hört mit Zahlung des Gehalts jede weitere Beziehung zwischen uns auf. Versteht Ihr mich?«
Mrs. Toodle schien hierüber nicht ganz mit sich im klaren zu sein; bei ihrem Mann konnte davon aber nicht die Rede sein, da er mit seinen Sinnen ganz wo anders war.
»Ihr habt eigene Kinder«, sagte Mr. Dombey. »Zu unserm Vertrag gehört es durchaus nicht, daß Ihr Anhänglichkeit für mein Kind beweist, oder daß mein Kind sich an Euch gewöhnt. Ich erwarte oder wünsche nichts dergleichen, sondern das Gegenteil. Sobald Ihr dieses Haus wieder verlaßt, werden alle Beziehungen zwischen uns, die sich notgedrungen aus dem Vertrage ergeben werden, augenblicklich erledigt sein. Ihr werdet dann einfach wegbleiben. Das Kind hört dann von selbst auf, sich Eurer zu erinnern, und Ihr werdet so gut sein, Euch das Kind aus dem Sinn zu schlagen.«
Mit etwas mehr Rot auf ihren Wangen, als zuvor, erwiderte Mrs. Toodle, sie hoffe ihre Stellung zu kennen.
»Ich hoffe das auch, Richards«, sagte Mr. Dombey. »Ich zweifle nicht daran, daß Ihr sie sehr gut kennt. Überhaupt liegt die Sache so einfach, daß es gar nicht anders sein kann. Louisa, meine Liebe, bringe mit Richards die Geldfrage in Ordnung; der Lohn soll ihr bezahlt werden, wann und wie sie will, Mr. –, wie ist Euer Name – ein Wort mit Euch, wenn ich bitten darf!«
Als Toodle so angeredet, angehalten wurde, als er bereits auf der Schwelle stand, um seinem Weibe, das das Zimmer verließ, zu folgen, kehrte er wieder um und stand nun Mr. Dombey allein gegenüber. Er war ein kräftiger, rundschultriger, robuster, rauhborstiger Bursche, an dem die Kleider nur nachlässig saßen und dessen dichter Haar- und Bartwuchs vielleicht durch Rauch und Kohlenstaub noch dunkler gefärbt worden war. Er hatte harte, knorrige Hände und eine breite Stirne, deren grobe Haut sich mit der Rinde der Eiche vergleichen ließ – in jeder Beziehung ein schreiender Gegensatz zu Mr. Dombey, der unter die glattrasierten, geschniegelten Geldmänner gehörte, unter die Leute, die so frisch und glänzend sind, wie neue Banknoten, und die künstlich gestählt und gefestet zu sein scheinen – gleichsam durch die stimulierende Aktion goldener Schauerbäder.
»Ihr habt einen Sohn, glaube ich?« fragte Mr. Dombey.
»Ihrer vier, Sir. Vier Er und eine Sie. Alle am Leben!«
»Es fällt Euch gewiß schwer, alle zu ernähren?« sagte Mr. Dombey.
»Es wird mir oft sehr schwer; aber es gibt doch noch etwas in der Welt, was mir noch schwerer fiele, Sir.«
»Und das wäre?«
»Sie zu verlieren, Sir.«
»Könnt Ihr lesen?« fragte Mr. Dombey.
»Nicht besonders, Sir.«
»Schreiben?«
»Mit Kreide, Sir?«
»Überhaupt.«
»Mit der Kreide könnte ich, glaub' ich, ein bißchen zurecht kommen, wenn es sein müßte«, sagte Toodle nach kurzer Überlegung.
»Und doch müßt Ihr schon zwei- oder dreiunddreißig sein, sollte ich meinen«, sagte Mr. Dombey.
»Ich bin sogar noch älter«, antwortete Toodle nach weiterem Nachdenken.
»Warum lernt Ihr es nicht?« fragte Mr. Dombey.
»Das habe ich im Sinn, Sir. Einer von meinen kleinen Jungen soll es mich lehren, wenn er alt genug ist und selbst in der Schule etwas gelernt hat.«
»Gut!« sagte Mr. Dombey, indem er den Mann, der dastand und sich im Zimmer umsah (wobei er hauptsächlich der Decke seine Aufmerksamkeit schenkte und noch immer mit der Hand vor dem Munde hin und her fuhr), ziemlich ungnädig ins Auge faßte. »Ihr habt gehört, was ich eben Eurer Frau gesagt habe.«
»Polly hat es gehört«, versetzte Toodle, indem er mit der Miene der vollkommensten Zuversicht zu seiner bessern Hälfte den Hut über die Schultern nach der Richtung der Tür hinstieß. »Es ist alles recht so!«
»Es scheint, Ihr wollt das Ganze ihr überlassen«, erwiderte Mr. Dombey, als er bemerkte, wie sehr er sich verrechnet hatte, wenn er seine Meinung dem Gatten als dem kräftigeren Charakter noch nachdrücklicher ans Herz legen wollte. »Da nützt es wohl nichts, wenn ich mich weiter mit Euch einlasse.«
»Ist durchaus nicht nötig«, sagte Toodle. »Polly hat es gehört. Sie merkt sich alles gut, Sir.«
»So will ich Euch nicht länger aufhalten«, entgegnete Mr. Dombey verdrießlich. »Wo habt Ihr Euer Leben über gearbeitet?«
»Meist unter der Erde, Sir, bis ich heiratete. Dann kam ich auf den Boden. Ich will mich nach einer Stellung bei einer der hiesigen Eisenbahnen umsehen, sobald sie ihren Betrieb vergrößern.«
Wie ein Strohhalm schließlich genügt, um ein beladenes Kamel zusammenbrechen zu lassen, so ließ die Erwähnung seiner unterirdischen Beschäftigung Mr. Dombey völlig verstummen. Er öffnete dem Nährvater seines Kindes einfach die Tür, und dieser entfernte sich keineswegs ungern. Dann drehte Mr. Dombey den Schlüssel um und schritt in einsamem Jammer durch seine Zimmer auf und ab. Trotz seiner steifen, undurchdringlichen Würde und Fassung wischte er sich doch zuweilen eine Träne aus den Augen, und oft entquollen ihm in einer Erregung, für die er um die ganze Welt keinen Zeugen gehabt haben möchte, die Worte:
»Das arme Würmlein!«
Es war vielleicht eine charakteristische Eigenschaft von Mr. Dombeys Stolz, daß er sich selbst in dem Kinde beklagte. Nicht das arme Ich, nicht den armen Witwer, der sich gezwungenermaßen dem Weib eines unwissenden Knechts anvertrauen mußte – eines Kerls, der sein Lebenlang »meist unter Grund« gearbeitet, dessen Tür der Tod noch immer mit seinem Pochen verschont hatte und an dessen armem Tische täglich vier Söhne saßen – nein, nur das arme Würmchen!
Während diese Worte noch auf seinen Lippen schwebten, fiel ihm ein, – und es ist ein Beweis von der starken Anziehung, die seine Hoffnungen, seine Besorgnisse und alle seine Gedanken um einen Punkt kreisen ließ – daß diese Frau in große Versuchung geraten könnte. Ihr Säugling war gleichfalls ein Knabe. War es nicht möglich, daß sie die Kinder einfach auswechselte?
Obgleich er nach kurzer Zeit diese Vorstellung als romantisch und unwahrscheinlich – freilich blieb sie immerhin möglich – verwarf, konnte er doch nicht umhin, sich ein Bild seiner Lage zu machen, in der er sich befinden würde, wenn er in seinem Alter einen derartigen Betrug entdeckte. Ob ein Mann wie er imstande sein würde, die Frucht eines so vieljährigen Umgangs, Vertrauens und Glaubens einem Betrüger zu entreißen, um einen Fremden damit zu beglücken?
Als die ungewöhnliche Aufregung sich gelegt hatte, schwanden allmählich auch derartige Bedenken. Er beschloß jedoch die Richards ganz unauffällig auf das sorgfältigste zu beobachten. Nachdem er diesen Entschluß gefaßt hatte, legte sich seine Erregung allmählich. Er sah in der Stellung, die die Frau einnehmen sollte, jetzt eher einen vorteilhaften Umstand, der den Abstand zwischen ihr und dem Kind erweitern mußte. Dadurch würde sich auch ihre Trennung leicht und natürlich bewerkstelligen lassen.
Mittlerweile hatte Mrs. Chick unter dem Beistande der Miß Tox die Bedingungen mit Richards festgelegt, und nachdem der letzteren mit vieler Förmlichkeit, als handle es sich um die Erteilung eines Ordens, der Dombey-Säugling übertragen worden war, gab sie ihren eigenen unter vielen Tränen und Küssen an Jemima ab. Dann wurden Gläser mit Wein gefüllt, um die Trauer von der Familie zu verscheuchen.
»Ihr nehmt doch auch ein Glas, Sir?« sagte Miß Tox, als Toodle eintrat.
»Danke, Ma'am«, versetzte Toodle: »wenn Ihr es durchaus haben wollt.«
»Und es freut Euch, daß Ihr Euer liebes gutes Weib in einem so anständigen Hause zurücklassen könnt – oder nicht, Sir?« sagte Miß Tox, indem sie ihm verstohlen einen blinzelnden Wink zusandte.
»Nein, Ma'am«, versetzte Toodle. »Ich möchte sie wohl wieder zurück haben.«
»Hierauf weinte Polly mehr als je, und Mrs. Chick, die ihre matronenhaften Bedenken hatte, ein solches Übermaß von Leid könnte dem kleinen Dombey schaden (»angreifend«, flüsterte sie Miß Tox zu), beeilte sich, Polly auf andere Gedanken zu bringen.
»Euer kleines Kind wird bei Eurer Schwester Jemima trefflich gedeihen, Richards«, sagte Mrs. Chick, »und Ihr braucht Euch nur Mühe zu geben – Ihr wißt, Richards, dies ist eine Welt voll Mühe –, um in der Tat sehr glücklich zu sein. Es ist Euch doch schon bereits Maß für die Trauerkleidung genommen worden, nicht wahr?«
»J–a, Ma'am«, schluchzte Polly.
»Und ich weiß, sie wird Euch trefflich passen«, sagte Mrs. Chick, »denn die junge Schneiderin hat mir schon viele Kleider gemacht. Dazu noch der allerbeste Stoff.«
»Du meine Güte, wie werdet Ihr schmuck aussehen«, pflichtete Miß Tox bei; »so schmuck, daß Euch Euer eigener Mann nicht mehr kennen wird, oder meint Ihr, Sir?«
»Ich werde sie erkennen«, sagte Toodle, »wie und wo es auch sein mag.«
Toodle war augenscheinlich nicht herumzukriegen.
»Was nun die Beköstigung betrifft, Richards, so wißt Ihr ja«, fuhr Mrs. Chick fort; »das Allerbeste von allem steht Euch zur Verfügung. Ihr könnt jeden Tag Euer kleines Mittagessen selbst bestellen, und worauf Ihr auch Appetit habt, ich bin überzeugt, es wird Euch so bereitwillig aufgetischt werden, als ob Ihr eine vornehme Dame wäret.«
»Ja, es soll Euch an nichts fehlen!« sagte Miß Tox, die den Ball mit großer Sympathie auffing. »Und was den Porter betrifft – so viel Ihr nur wünscht; oder nicht, Louisa?«
»O, gewiß!« erwiderte Mrs. Chick in dem gleichen Tone. »Nur mit einigen Ausnahmen – Ihr wißt, meine Liebe – im Punkte der Gemüse.«
»Und des Pökelfleisches vielleicht«, ergänzte Miß Tox.
»Mit solchen Ausnahmen«, erwiderte Louisa, »steht ihr die Wahl ganz frei, und es soll ihr in keiner Weise Zwang angetan werden, meine Liebe.«
»Und dann wißt Ihr natürlich«, sagte Miß Tox, »wie sehr sie auch ihr eigenes kleines Kind lieben mag – und ich bin überzeugt, Louisa, Ihr macht ihr deshalb keinen Vorwurf?«
»O nein!« rief Mrs. Chick in wohlwollendem Tone.
»Gleichwohl«, fuhr Miß Tox fort, »muß sie natürlich Interesse für ihren jungen Pflegling haben, und es als ein hohes Vorrecht betrachten, daß sie Zeuge sein kann, wie ein kleiner Cherub, der in so enger Beziehung steht zu den oberen Klassen, von Tag zu Tag sich allmählich an einer gemeinsamen Quelle entfaltet. Ist es nicht so, Louisa?«
»Ganz gewiß!« sagte Mrs. Chick. »Ihr seht, meine Liebe, sie ist bereits ganz zufrieden und getröstet; sie gedenkt jetzt, ihrer Schwester Jemima, ihren Kleinen und ihrem guten, ehrlichen Manne mit leichtem Herzen und mit einem Lächeln Lebewohl zu sagen – nicht wahr, meine Liebe?«
»O ja!« rief Miß Tox. »Sie wird es tun!«
Dessenungeachtet umarmte die arme Polly alle der Reihe nach in großer Betrübnis, und eilte zuletzt hinweg, um ein weiteres einzelnes Verabschieden von den Kindern zu vermeiden. Aber diese Kriegslist gelang ihr nicht so gut, als sie erwartet haben mochte; denn der zweitjüngste Knabe, welcher ihre Absicht ahnen mochte, begann augenblicklich auf Händen und Füßen ihr die Treppe hinauf nachzuklettern, während der älteste (zur Erinnerung an das Bügeleisen in der Familie unter dem Namen »der Sieder« bekannt) zum Ausdrucke seines Grams mit den Stiefeln einen dämonischen Zapfenstreich begann, in welchen die ganze übrige Familie einfiel.
Eine Menge Orangen und Halbpence, die ohne Unterschied jedem der jungen Toodles zugesteckt wurden, zügelte das erste Ungestüm ihres Schmerzes, und die Familie wurde schleunigst in die Droschke, welche noch immer vor dem Hause wartete, gepackt und nach Hause gesandt. Unter der Obhut Jemimas verbarrikadierten die Kinder mit ihren Köpfen das Droschkenfenster und ließen während des ganzen Weges ihre Orangen und Halbpence hinausfallen. Mr. Toodle zog es vor, zwischen den Spitzen des Kutschenbretts zu sitzen, weil er diese Fahrweise gewohnt war.
Drittes Kapitel. IN WELCHEM SICH MR. DOMBEY ALS MANN UND VATER AN DER SPITZE SEINES HAUSWESENS ZEIGT.
Das Begräbnis der verstorbenen Frau war vorüber – zur völligen Zufriedenheit des Bestatters sowohl, als auch der Nachbarschaft im allgemeinen, die in derartigen Punkten sehr eigen ist und gar gerne an jedem Unterlassungs- oder Verkürzungsfall der Feierlichkeiten Anstoß nimmt; die verschiedenen Glieder von Mr. Dombeys Hauswesen konnten also ihre Plätze wieder einnehmen. Eine solche kleine Welt ist, ebenso wie die große draußen, geeignet, ihre Toten gar bald zu vergessen, und nachdem die Köchin die Selige für eine gute Dame erklärt, die Haushälterin ihre Meinung dahin abgegeben, daß Sterben das gemeinsame Los sei, der Kellermeister sich gewundert und gefragt, wer das auch gedacht hätte, die Hausmagd erklärt, daß sie es kaum glauben könne, und der Diener gesagt hatte, der Vorfall komme ihm wie ein Traum vor, war der Gegenstand für sie einstweilen erledigt, und sie dachten daran, daß die Trauer zuletzt langweilig werden würde.
Für Richards, die wie eine ehrenwerte Gefangene eine Treppe hoch einquartiert worden war, begann der nächste Morgen kalt und grau. Mr. Dombeys großes Haus stand auf der Schattenseite einer langen, düsteren, traurig vornehmen Straße in der Gegend zwischen Portland-Place und Bryanstone-Square. Es war ein Eckhaus, hatte große weite Höfe, Keller mit vergitterten Fenstern und schielte einen durch schiefäugige Türen an, die zu Staubbehältern führten. Es war ein unheimliches, mit einer halbkreisförmigen Hinterseite versehenes Haus, und die Besuchzimmer gingen auf einen Kieshof hinaus, wo zwei hagere Bäume mit geschwärzten Stämmen und Zweigen standen, deren vom Rauch ausgetrocknete Blätter eher rasselten als rauschten. Die Mittagssonne sandte ihre Strahlen nie in diese Straße, sondern kam nur morgens um die Frühstückszeit mit den Wasserkarren, den Kleidertrödlern, den Blumenverkäufern, den Schirmflickern und dem Mann, der während seiner Wanderung die Schwarzwälderuhr schlagen ließ, war aber bald wieder verschwunden, um sich an diesem Tage nicht mehr blicken zu lassen. Die Musikbanden und die Puppenspieler zogen ihr nach, um den Platz den unheimlichen Drehorgeln und den weißen Mäusen, hin und wieder auch zur Abwechslung einem Stachelschweine als Beute zu überlassen, bis die Diener, deren Familien auswärts speisten, im Zwielicht unter die Haustüren traten und der Laternenanzünder jeden Abend einen vergeblichen Versuch machte, die Straßen durch Gaslicht zu erhellen.
Innen war das Haus ebenso öde wie außen. Nachdem das Begräbnis vorüber war, erteilte Mr. Dombey Befehl, alle Möbel zu verhüllen – vielleicht, um sie für den Sohn, an den sich alle seine Pläne knüpften, aufzubewahren – und aus den Zimmern, mit Ausnahme derjenigen, die er im Erdgeschoß selbst bewohnen wollte, alle Ziergegenstände zu entfernen. Tische und Stühle, die mitten im Zimmer einfach zusammengehäuft und mit großen Tüchern bedeckt wurden, nahmen geheimnisvolle Formen an. Die Klingelhandgriffe, die Jalousien und die Spiegel erhielten eine Umhüllung aus Zeitungspapier, in denen sich fragmentarische Berichte über Todesfälle und schreckliche Mordtaten unwillkürlich dem Beschauer aufdrängten. Sämtliche Kronleuchter sahen, in Leinwand gehüllt, wie ungeheure Tränen aus, die von der Decke herabhingen. Aus den Kaminen drangen Gerüche wie aus Gewölben und feuchten Plätzen hervor. Die tote und begrabene Dame blickte unheimlich aus einem Bilderrahmen, der eine geisterhafte Umhüllung erhalten hatte, nieder. Jeder Windstoß wirbelte aus den benachbarten Pferdeställen um die Ecke herum etwas von dem Stroh, das man vor das Haus gestreut hatte, als sie noch krank war, und das noch immer in verwitterten Überresten an den Pflastersteinen der Nachbarschaft klebte. Diese Überbleibsel wurden nun stets vermöge einer unsichtbaren Anziehung nach der Schwelle des Hauses, das unmittelbar gegenüber zu vermieten war, geweht, und richteten ihre unheimliche Beredsamkeit gegen Mr. Dombeys Fenster.
Die Gemächer, die Mr. Dombey sich für den eigenen Gebrauch vorbehalten hatte, waren alle von der Halle aus zu betreten und bestanden aus einem Wohnzimmer, aus einer sogenannten Bibliothek, die aber in Wirklichkeit ein Ankleidezimmer war, so daß sich der Geruch von heißgepreßtem Papier, Pergament, Maroquin und Juchten mit dem Geruch mehrerer Stiefelpaare stritt, und einer Art Speisekammer oder einem kleinen verglasten Frühstückszimmer jenseits, das eine Aussicht auf die vorerwähnten Bäume und in der Regel auch auf etliche herumschleichende Katzen bot. Diese drei Zimmer gingen ineinander. Morgens, wenn Mr. Dombey in einem der beiden zuerst genannten Gemächer beim Frühstück saß, oder nachmittags, wenn er zum Diner nach Hause kam, wurde eine Klingel gezogen, die Richards nach dem verglasten Gemach rief, wo sie mit ihrem jungen Pflegling auf und ab gehen mußte. Aus den Blicken, die sie zu solchen Zeiten nach Mr. Dombey hingleiten ließ, der hinten im Zimmer saß und hinter einem der dunkeln, schwerfälligen Möbel hervor nach dem Kinde sah – das Haus war vor Jahren von seinem Vater bewohnt worden, und manche Gegenstände machten einen geradezu finsteren und altmodischen Eindruck –, begann sie sich Vorstellungen über seinen einsamen Zustand zu machen, und es kam ihr vor, als sei er ein einsamer Gefangener in einer Zelle, oder eine seltsame Erscheinung, die nicht angeredet oder näher betrachtet werden durfte.
Die Amme des kleinen Paul Dombey hatte schon mehrere Wochen ihr einsames Leben geführt und ihren Paul umhergetragen. Eines Tages war sie nach einem melancholischen Spaziergang durch die traurigen Prunkgemächer (sie ging nämlich nie ohne Mrs. Chick aus, die, gewöhnlich vom Miß Tox begleitet, an schönen Vormittagen vorzusprechen pflegte, um sie und ihren Säugling an die Luft zu führen, oder mit andern Worten, sie wie eine wandelnde Trauer gravitätisch auf dem Pflaster hin und her traben zu lassen) nach ihrem obern Stübchen zurückgekehrt und hatte gerade Platz genommen, als die Tür sich langsam öffnete und ein schwarzäugiges kleines Mädchen hereinsah.
»Ohne Zweifel ist es Miß Florence, die von ihrer Tante nach Haus zurückgekommen ist«, dachte Richards, die das Kind nie zuvor gesehen hatte. »Freut mich, Euch wohl zu sehen, Miß.«
»Ist das mein Bruder?« fragte das Kind und zeigte auf den Säugling.
»Ja, mein Töchterchen«, antwortete Richards. »Kommt her und küßt ihn.«
Statt aber näher heranzutreten, sah ihr das Kind ernst ins Gesicht und sagte:
»Was habt Ihr mit meiner Mama gemacht?«
»Gott segne das kleine Geschöpf!« rief Richards, »welch betrübte Frage! Was ich mit Eurer Mama gemacht habe? Nichts, Miß.«
»Was hat man mit meiner Mama angefangen?« fragte das Kind.
»In meinem Leben hat mich noch nichts so ergriffen«, sagte Richards, die sich natürlich an Stelle dieses Kindes eines ihrer eigenen dachte, das unter ähnlichen Umständen nach ihr fragte. »Kommt nur näher heran, meine teure Miß! Ihr braucht Euch nicht vor mir zu fürchten.«
»Ich fürchte mich nicht vor Euch«, sagte das Kind, näher tretend. »Aber ich möchte wissen, was man mit meiner Mama angefangen hat.«
»Mein Herzchen«, entgegnete Richards, »Ihr tragt dieses hübsche schwarze Kleidchen zur Erinnerung an Eure Mama.«
»Ich kann mich in jedem Kleide an meine Mama erinnern«, erwiderte das Kind und Tränen traten ihm in die Augen.
»Aber die Leute kleiden sich schwarz zum Gedächtnis der Personen, die dahingegangen sind.«
»Wohin gegangen?« fragte das Kind.
»Kommt und setzt Euch zu mir«, sagte Richards, »ich will Euch dann ein Geschichtchen erzählen.«
In der Hoffnung, sie werde Auskunft erhalten, über das, wonach sie gefragt hatte, legte die kleine Florence ihr Hütchen, das sie bisher in der Hand gehalten hatte, bei Seite und setzte sich hurtig auf einen Schemel zu den Füßen der Amme, und sah ihr ins Gesicht.
»Es war einmal eine Frau«, begann Richards – »eine sehr gute Frau, und ihr Töchterlein liebte sie sehr.«
»Eine sehr gute Frau und ihr Töchterlein liebte sie sehr«, wiederholte das Kind.
»Da dachte Gott, es sei recht, daß es so sein sollte; und sie wurde krank und starb.«
Das Kind schauderte.
»Starb, um nie wieder von jemand auf Erden gesehen zu werden, und wurde begraben in der Erde, wo die Bäume wachsen.«
»In der kalten Erde«, versetzte das Kind, abermals schaudernd.
»Nein, der warmen Erde«, erwiderte Polly, ihren Vorteil erfassend, »wo die kleinen Samenkörner sich in schöne Blumen verwandeln, und in Gras, und in Korn und was weiß ich alles. Wo gute Menschen zu schönen Engeln werden und nach dem Himmel hinauf fliegen!«
Das Kind, welches das Köpfchen gesenkt hatte, erhob es jetzt wieder und blickte die Erzählerin aufmerksam an.
»So – laßt mich sehen«, fuhr Polly fort, die durch diese ernste Musterung, ihren Wunsch, das Kind zu trösten, ihren plötzlichen Erfolg und das geringe Vertrauen in ihre eigenen Kräfte ein wenig in Verwirrung geriet. »Ja, so ist es – als diese Dame starb, ging sie zu Gott, wohin immer man sie auch genommen haben mag; und sie betete zu ihm. – Ja, das tat sie«, sagte sie in großer Erregung, da es ihr Ernst war, »er möge ihr Töchterlein lehren, daß es diese Überzeugung immer fest in seinem Herzen trage, und ihm kund tun, daß sie im Himmel glücklich sei, und ihr Kind noch immer liebe. Es solle daher hoffen und alle seine Kräfte aufbieten – ja, das ganze Leben lang –, daß es eines Tages dort wieder mit ihr zusammentreffe, um nie, nie, nie wieder von ihr getrennt zu werden.«
»Das war meine Mutter!« rief das Kind aufspringend und schlang seine Arme um den Nacken der Amme.
»Und das Herz des Kindes«, sagte Polly, sie an ihre Brust ziehend, »das Herz der kleinen Tochter war so voll von dieser Wahrheit, daß sie, selbst als sie sie von einer fremden Amme erzählen hörte, die es nicht mal recht erzählen konnte, sondern selbst weiter nichts als eine arme Mutter war, einen Trost darin fand. Sie fühlte sich nicht mehr so einsam – sie schluchzte und weinte an ihrem Busen – und sie liebte das kleine Kindlein, das in ihrem Schoß lag und – da, da, da!« fügte Polly bei, indem sie die Locken des Kindes zurückstrich, auf welche ihre Tränen niederfielen, »das arme Herzchen!«
»So, das ist ja schön, Miß Floy! Und wird Euer Pa nicht wieder zornig werden?« rief von der Tür her eine schrille Stimme, die aus dem Munde eines kleinen, braunen, altklugen Mädchens von vierzehn Jahren mit einer Mopsnase und pechschwarzen Augen kam. »Hat er doch ausdrücklich befohlen, Ihr sollt nicht zu der Amme gehen und sie belästigen?«
»Aber sie belästigt mich durchaus nicht«, erwiderte Polly überrascht. »Ich habe die Kinder gerne.«
»O, ich bitte um Verzeihung, Mrs. Richards; doch Ihr müßt wissen, daß es darauf nicht ankommt«, versetzte das schwarzäugige Mädchen, das so verzweifelt scharf und beißend war, daß es wie eine Zwiebel einem das Wasser in die Augen bringen konnte. »Ich esse auch gerne Penny-Semmeln, Mrs. Richards, aber daraus folgt noch nicht, daß ich sie statt des Tees erhalte.«
»Na, das macht nichts«, sagte Polly.
»O, danke schön, Mrs. Richards – meint Ihr?«, entgegnete das schnippische Mädchen. »Vergeßt übrigens nicht, wenn Ihr so gut sein wollt, daß Miß Floy unter meiner Obhut steht und Master Paul unter der Eurigen.«
»Deswegen brauchen wir uns ja nicht zu zanken«, sagte Polly.
»O nein, Mrs. Richards«, erwiderte der kleine Sprühteufel. »Durchaus nicht, ich wünsche das auch nicht, denn wir stehen nicht auf solchem Fuße miteinander. Miß Floy ist ein dauernder Pflegling, Master Paul nur ein vorübergehender.« Sprühteufel bediente sich keiner andern als Kommapausen, und alles, was sie zu sagen hatte, strömte womöglich in einem einzigen Satze, in einem Atem heraus.
»Miß Florence ist eben erst nach Hause gekommen, nicht wahr?« fragte Polly.
»Ja, Mrs. Richards, eben erst nach Hause gekommen, und kaum daß Ihr eine Viertelstunde hier seid, Miß Floy, geht Ihr schon hin und beschmiert mit Eurem feuchten Gesicht das teure Trauerkleid, das Mrs. Richards für Eure Ma trägt.«
Nach dieser Vorhaltung riß der junge Sprühteufel, deren eigentlicher Name Susanna Nipper war, mit einem Ruck die Kleine von ihrer neuen Freundin los, als ob sie ein fauler Zahn wäre. Doch schien sie es mehr aus übergroßem Diensteifer, als aus überlegter Lieblosigkeit zu tun.
»Sie freut sich so, daß sie wieder zu Hause ist«, sagte Polly, indem sie Florence mit einem ermutigenden Lächeln zunickte, »und wird sich noch mehr freuen, wenn sie heute abend ihren lieben Papa zu sehen bekommt.«
»Du meine Güte, Mrs. Richards!« rief Miß Nipper, ihr rasch ins Wort fallend, »sprecht nicht so. Ihr meint doch ihren lieben Papa sehen! So etwas möchte ich wohl auch mal erleben!«
»Wird sie es denn nicht?« fragte Polly.
»Du meine Güte, Mrs. Richards, nein, ihr Papa ist viel zu sehr auf jemand anders versessen, und schon ehe dieser jemand anders da war, war sie nie sonderlich beliebt. Mädchen gelten in diesem Hause nichts, Mrs. Richards, kann ich Euch versichern.«
Die Kleine sah hastig von der einen Pflegerin auf die andere, als ob sie fühlte und verstünde, was gesprochen wurde.
»Ihr setzt mich in Erstaunen!« rief Polly. »Hat Mr. Dombey nie nach ihr gefragt, seit –«
»Nein«, unterbrach sie Susanna Nipper. »Nicht ein einziges Mal, und seit Jahr und Tag hat er sie kaum mit einem Auge angesehen, und ich glaube, er würde in ihr sein eigenes Kind nicht erkennen, wenn er sie auf der Straße getroffen hätte, oder er würde sie nicht als eigenes Kind erkennen, wenn er ihr morgen auf der Straße begegnete, Mrs. Richards. Was mich betrifft«, fügte Sprühteufel mit einem Kichern hinzu, »so zweifle ich, ob er überhaupt von meinem Dasein etwas weiß.«
»Liebes Herz«, sagte Richards, meinte aber damit nicht Miß Nipper, sondern die kleine Florence.
»O, nicht weit von hier, wo wir jetzt sprechen, ist ein Tatar, kann ich Euch sagen, Mrs. Richards, Anwesende natürlich immer ausgenommen«, bemerkte Susanna Nipper; »wünsche Euch guten Morgen, Mrs. Richards, nun, Miß Floy, kommt jetzt mit mir und bleibt nicht zurück wie ein garstiges unartiges Kind, das nicht verständig sein will.«
Trotz dieser Beschwörung und ungeachtet eines Rucks von seiten der Susanna Nipper, der recht wohl eine Verrenkung der Schulter hätte zur Folge haben können, riß die kleine Florence sich los und küßte ihre neue Freundin mit Innigkeit.
»Lebt wohl!« sagte das Kind. »Gott behüte Euch! Ich komme bald wieder zu Euch, und Ihr werdet mich doch auch besuchen? Susanna wird es schon zugeben. Nicht wahr, Susanna?«
Sprühteufel schien von Natur aus ein gutmütiges Geschöpf zu sein, obschon sie in jener Schule gebildet worden war, in der man sich mit der neuen Idee trägt, die Jugend müsse wie das Geld tüchtig geschüttelt und gerüttelt werden, um blank zu bleiben. Bei dieser durch liebkosende Gebärden unterstützten Berufung faltete sie ihre kleinen Arme, schüttelte den Kopf und legte einen mildernden Ausdruck in ihre weit offenen schwarzen Augen.
»Es ist nicht recht von Euch, das zu verlangen, Miß Floy, denn Ihr wißt, ich kann Euch nichts abschlagen. Aber Mrs. Richards und ich, wir wollen sehen, was sich tun läßt, wenn Mrs. Richards gerne eine Fahrt nach Chaney macht, aber ich weiß vielleicht nicht, wie ich aus den London Docks kommen soll.«
Richards ging auf diesen Vorschlag ein.
»In diesem Hause geht es gerade nicht so lustig her«, fuhr Miß Nipper fort, »daß man gerne noch einsamer sein möchte, als man ohnehin schon ist. Die Toxes und Chickes können mir zwar meine beiden Vorderzähne ausziehen, Mrs. Richards, aber das ist noch kein Grund für mich, ihnen die ganze Reihe anzubieten.«
Diese Ansicht fand als sehr vernünftig bei Richards gleichermaßen Beifall.
»Es ist mir wahrhaftig ganz angenehm«, sagte Susanna Nipper, »mit Euch in Freundschaft zu leben, Mrs. Richards, solang Master Paul unter Euren Händen bleibt, und wenn es sich so einrichten läßt, daß nicht offen gegen die Befehle gehandelt wird, – aber du meine Güte, Miß Floy, Ihr habt Eure Sachen noch nicht gehabt, Ihr garstiges Kind, nein, Ihr habt nicht, so kommt mit!«
Mit diesen Worten unternahm Susanne Nipper einen gewaltigen Angriff auf ihren jungen Schützling und fegte mit Florence zur Tür hinaus.
In ihrem Kummer und in ihrer Vernachlässigung war die Kleine so sanft, so ruhig und klaglos; sie besaß so viel Anhänglichkeit, um die sich niemand zu kümmern schien, und aus ihrer wehmütigen Stimmung machte man sich so gar nichts, daß Polly das Herz sehr schwer wurde, als sie sich wieder allein befand. Durch den einfachen Vorgang, der zwischen ihr und dem mutterlosen kleinen Mädchen stattgefunden hatte, war ihr Gemüt nicht weniger ergriffen worden, als das des Kindes, und sie fühlte gleich dem Kinde, daß in diesem Augenblicke eine Grundlage des Vertrauens und der Teilnahme zwischen ihnen gelegt worden war.
So großes Vertrauen Mr. Toodle auch zu Polly hatte, stand sie vielleicht im Punkte erworbener Vorzüge nur sehr wenig über ihm; sie war indes ein gutes einfaches Pröbchen jener Natur, die man bei Frauen in untergeordneter Stellung stets besser, treuer, edler, zartfühlender und aufopferungsvoller findet, als bei den Männern. So wenig Schulbildung sie auch genossen, hätte sie doch vielleicht jetzt schon eine Art dämmernder Erkenntnis in Mr. Dombeys Haus bringen können und es würde den Gebieter desselben jetzt noch nicht so wie es zuletzt doch geschah, gleich einem Blitze getroffen haben.
Doch das führt uns von der Hauptsache ab. Polly dachte damals nur daran, wie sie die Geneigtheit der Miß Nipper benützen und ein oder das andere Mittel ersinnen könne, um auf gesetzlichem Wege und ohne Rebellion die kleine Florence auf ihre Seite zu bringen. Eine Einleitung dazu bot sich schon am selben Abend.
Die Klingel hatte sie wie gewöhnlich nach dem verglasten Gemache hinunter berufen, und sie ging lange mit ihrem Säugling in dem Arme auf und ab, als plötzlich zu ihrem großen Erstaunen und Entsetzen Mr. Dombey herauskam und vor sie hintrat.
»Guten Abend, Richards.«
Ganz der nämliche strenge, steife Gentleman, wie er ihr am ersten Tage erschienen war. Ein Herr mit einem so scharfen Blicke, daß sie unwillkürlich die Augen senkte und einen Knix machte.
»Wie geht es Master Paul, Richards?«
»Er ist wohl und gedeiht vortrefflich, Sir.«
»Er sieht so aus«, versetzte Mr. Dombey mit großem Interesse das Gesichtchen betrachtend, das sie mit scheinbarer Sorglosigkeit zur Beschauung enthüllte. »Hoffentlich gibt man Euch doch alles, was Ihr braucht.«
»O ja, ich danke Euch, Sir.«
Dieser Antwort folgte aber plötzlich ein so augenfälliges Stocken, daß Mr. Dombey, der sich bereits abgewendet hatte, stehen blieb und sich fragend umwandte.
»Ich glaube, nichts ist so geeignet, Kinder lebhaft und heiter zu machen, Sir, als wenn sie andere Kinder um sich spielen sehen«, bemerkte Polly, allen ihren Mut zusammennehmend.
»Ich denke, Richards«, versetzte Mr. Dombey mit einem Stirnrunzeln, »ich habe Euch schon bei Eurem Hierherkommen gesagt, daß ich von Eurer Familie so wenig als möglich zu sehen wünsche. Ihr könnt jetzt Euren Spaziergang wieder fortsetzen.«
Mit diesen Worten zog er sich wieder in das Innere seines Zimmers zurück. Für Polly war es eine gewisse Genugtuung, zu wissen, daß er sie durchaus mißverstanden hatte, doch fühlte sie zugleich, daß sie in Ungnade gefallen war, ohne ihren Zweck auch nur im mindesten gefördert zu haben.
Als sie am nächsten Abend wieder herunter kam, ging Mr. Dombey in dem Konservatorium hin und her. Durch diesen ungewohnten Anblick eingeschüchtert, blieb sie an der Tür stehen; ihrer Ungewißheit aber, ob sie vortreten oder sich zurückziehen sollte, machte der Hausherr selbst ein Ende, indem er sie hereinrief.
»Wenn Ihr wirklich glaubt, daß diese Art von Gesellschaft gut für das Kind sei«, sagte er in herbem Tone und als ob zwischen dem Vorschlage und seiner jetzigen Erwiderung gar kein Zwischenraum liege, »wo ist Miß Florence?«
»Gerade an Miß Florence dachte ich, Sir«, versetzte Polly hastig; »aber ich habe von ihrer kleinen Jungfer gehört, daß sie nicht dürften –«
Mr. Dombey zog die Klingel und ging im Zimmer auf und ab, bis jemand erschien.
»Ich befehle hiermit ein- für allemal, daß Miß Florence zu Richards darf, so oft sie will; auch kann sie mit ihr ausgehen und dergleichen. Ich will, daß man die Kinder zusammen lasse, so oft Richards es wünscht.«
Das Eisen war jetzt heiß und Richards schmiedete tapfer darauf los – handelte es sich doch um eine gute Sache, und das gab ihr Mut, obschon sie sich instinktiv vor Mr. Dombey fürchtete. So stellte sie nun das Gesuch, man möchte Miß Florence hin und wieder herunterschicken, damit sie sich mit ihrem kleinen Bruder befreunden könne. Als der Diener sich mit dieser Weisung entfernte, stellte sie sich, als spiele sie mit dem Kinde; indes glaubte sie zu bemerken, daß Mr. Dombeys Farbe sich veränderte, daß der Ausdruck seines Gesichtes ganz anders wurde, und daß er sich hastig abwendete, als möchte er gerne seine, ihre oder beider Worte widerrufen, wenn ihn nicht die Scham davon abhielte.
Und sie hatte recht. Er hatte sein vernachlässigtes Kind zum letztenmal gesehen, wie es in der schmerzlichen Umarmung seiner sterbenden Mutter lag, und dieser Rückblick war für ihn mit einem Male eine Enthüllung sowohl als ein Vorwurf. Mochte er, so sehr er wollte, von dem Sohn in Anspruch genommen sein, auf den er so hohe Hoffnungen baute, diese Schlußszene konnte er nicht vergessen, und stets mußte sich ihm die Erinnerung aufdrängen, daß er keinen Teil daran gehabt hatte. Sie war so voll tiefer, klarer Innigkeit und Wahrheit gewesen; die beiden Gestalten hatten sich mit ihren Armen umschlungen, während er, ganz ausgeschlossen davon, von einer kleinen Erhöhung aus als bloßer Zuschauer, fremd und kalt auf sie herabsah.
Er konnte diese Dinge nicht aus seinem Gedächtnis verdrängen und seinen Geist nicht frei halten von den unvollkommenen Gestalten, die sich zur Läuterung der Wahrheit ihm aufdrangen, als wollten sie gewaltsam durch den Nebel seines Stolzes brechen. Seine frühere Gleichgültigkeit gegen die kleine Florence ging in ein ganz außergewöhnliches Unbehagen über, und es kam ihm fast vor, als ob das Kind ihn bewache und Mißtrauen in ihn setze – als habe es den Schlüssel zu einem Geheimnis in seiner Brust, dessen Wesenheit er selbst kaum kannte, – als erschaue es instinktartig eine schrille mißtönende Saite in seiner Seele, die es schon durch seinen Atem zum Vibrieren bringen könne.
Seine Gefühle gegen die Kleine waren schon von ihrer Geburt an bloß negativ gewesen. An eine Abneigung dachte er nie, denn diese hätte der Zeit und Mühe nicht verlohnt. Sie war ihm nie ein entschieden unangenehmer Gegenstand gewesen, aber jetzt fühlte er sich um ihretwillen beunruhigt. Sie störte seinen Frieden. Wie gerne hätte er die Gedanken an sie ganz und gar beseitigt, wenn er nur gewußt hätte, wie er es angreifen sollte. Vielleicht fürchtete er sich – wer vermag in solche Mysterien einzudringen? – daß er zuletzt so weit kommen könnte, sie zu hassen.
Als die kleine Florence schüchtern eintrat, unterbrach Mr. Dombey sein Hin- und Hergehen, um sie ins Auge zu fassen. Würde er sie mit größerer Teilnahme und mit dem Auge eines Vaters betrachtet haben, so hätte er in ihrem scharfen Blicke die Gründe und die Besorgnisse, unter denen sie erbebte, erfassen können – den leidenschaftlichen Wunsch, auf ihn zuzueilen, ihr Antlitz an seiner Brust zu verbergen und ihm zuzurufen: »O Vater, versuche es, mich zu lieben! Es ist ja kein fremdes, es ist dein eigenes Kind!« – die Furcht vor einer Zurückweisung, die Scheu, als zu dreist zu erscheinen und ihm Anstoß zu geben, die Hoffnung auf irgendeine Ermutigung oder Beruhigung. Ach, das arme, schwer bedrückte junge Herz sehnte sich nach einem natürlichen Ruheplatz für sein Leid, für seine Innigkeit.
Aber er sah nichts von alledem – nur daß sie unschlüssig an der Tür stand und ihn ansah, weiter nichts.
»Nur herein«, sagte er; »komm herein. Wovor fürchtet sich denn das Kind?«
Sie trat ein, und nachdem sie sich einen Augenblick mit unsicherer Miene umgesehen hatte, blieb sie in der Nähe der Tür stehen und preßte ihre Händchen fest zusammen.
»Komm her, Florence«, sagte der Vater kalt. »Weißt du, wer ich bin?«
»Ja, Papa.«
Die Tränen, die an ihren Wimpern hingen, als sie ihre Augen rasch zu seinem Antlitz erhob, erstarrten ob dem Ausdruck, den sie daselbst wahrnahm. Sie sah wieder zur Erde und streckte die zitternde Hand aus.
Mr. Dombey nahm sie leicht zwischen seine Hände und blickte einen Moment auf das Kind nieder, als wisse er ebensowenig als Florence, was er sagen oder tun sollte.
»So! Sei ein gutes Mädchen«, sagte er, ihr den Kopf streichelnd und gewissermaßen mit einem verstohlenen, unruhigen und zweifelhaften Blick auf sie niederschauend. »Geh zu Richards! Geh!«
Die Kleine zögerte noch einen Augenblick, als möchte sie noch immer sich an ihm festhalten oder als habe sie doch wenigstens die Hoffnung, er könne sie auf seine Arme nehmen und sie küssen. Abermals blickte sie zu seinem Gesicht auf. Da kam ihm der Gedanke, wie sehr der Ausdruck ihres Antlitzes dem gleiche, den er bemerkt hatte, als sie sich in jener Nacht nach dem Doktor umsah. Instinktiv ließ er ihre Hand fallen und wandte sich ab.
Man konnte leicht bemerken, daß sich Florence in Gegenwart ihres Vaters sehr unfrei benahm. Nicht nur auf dem Geiste des Kindes, sondern auch auf der natürlichen Anmut und Freiheit ihrer Bewegungen lag ein unnatürlicher Zwang. Gleichwohl freute sich Polly über diese Szene und setzte, da sie Mr. Dombey nach sich selbst beurteilte, ein großes Vertrauen in die stumme Berufung, die sich in dem Trauerkleide der armen kleinen Florence aussprach. »'s ist in der Tat hart«, dachte Polly, »daß er nur an das eine mutterlose Kindlein denkt, während er doch ein anderes und dazu noch ein Mädchen vor seinen Augen hat.«
Und so hielt sie denn Florence so lang als sie nur konnte vor seinen Augen und wußte es mit dem kleinen Paul so einzurichten, daß auch der Vater sehen mußte, das Brüderchen sei nur um so lebhafter und munterer, wenn ihm die Schwester Gesellschaft leiste. Als es Zeit war, wieder hinaufzugehen, hätte sie gar gerne die Kleine in das innere Zimmer geschickt, damit sie ihrem Vater gute Nacht sage; aber das Kind war zu schüchtern und wollte nicht. Als sie aufs neue in Florence drang, verhüllte diese die Augen mit ihren Händchen, als wollte sie sich ihre eigene Unwürdigkeit verbergen, und rief:
»O nein, nein! Er will nichts von mir. Er will nichts von mir!«
Der kleine Wortstreit hatte Mr. Dombeys Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Er fragte vom Tische her, wo er bei seinem Weine saß, was es gebe.
»Miß Florence ist besorgt, Euch zu stören, Sir, wenn sie hineinkäme, um Euch gute Nacht zu sagen«, versetzte Richards.
»Tut nichts«, entgegnete Mr. Dombey. »Ihr könnt sie kommen und gehen lassen, ohne daß sie auf mich zu achten braucht.«
Als das Kind das hörte, erbebte es und war fort, ehe ihre bescheidene Freundin wieder sich nach ihr umsehen konnte.
Gleichwohl triumphierte Polly nicht wenig über den Erfolg ihres wohlangelegten Planes und über die Gewandtheit, die sie dabei zutage gefördert hatte. Als sie wieder wohlbehalten in ihrem oberen Stübchen angelangt war, machte sie dem Sprühteufel eine ausführliche Mitteilung davon. Miß Nipper nahm diesen Beweis ihres Vertrauens und die Aussicht auf einen freieren Verkehr für die Zukunft etwas kalt auf und zeigte sich durchaus nicht enthusiastisch in ihren Freudenbezeugungen.
»Ich hätte geglaubt, Ihr würdet Euch darüber freuen«, sagte Polly.
»O ja, Mrs. Richards, ich freue mich recht sehr darüber, danke Euch«, entgegnete Susanne, die plötzlich so kerzengerade geworden war, daß es den Anschein hatte, als habe sie ihrem Schnürleib ein neues Fischbein einverleibt.
»Ihr zeigt es aber nicht«, sagte Polly.
»O, da ich ja nur eine permanente Person bin, so kann von mir nicht erwartet werden, daß ich mich dabei wie eine temporäre benehme«, versetzte Susanna Nipper. »Temporäre greifen hier rasch durch, finde ich, aber obgleich eine treffliche Scheidewand zwischen diesem Haus und dem nächsten ist, möchte ich mich doch nicht gerade dort einquartieren, Mrs. Richards.«
Viertes Kapitel. IN DEM EINIGE WEITERE ERSTE ANZEICHEN IN BETREFF DES SCHAUPLATZES DIESER ABENTEUER AUFTRETEN.
Obgleich die Geschäftsräume von Dombey und Sohn im Freibann der City von London und in Hörweite der Bow Bells lagen, wenn das Geläute derselben nicht durch den Aufruhr in den Straßen ertränkt wurde, ließen sich doch in einigen der benachbarten Gegenstände Hindeutungen auf eine abenteuerliche und romantische Geschichte wahrnehmen. In einer Entfernung von etlichen hundert Schritten hielten Gog und Magog ihren Hofstaat; die königliche Börse befand sich dicht in der Nähe, und auch die Bank von England mit ihren Gewölben voll Gold und Silber »drunten bei den Toten unter der Erde« war eine großartige Nachbarin. Gleich um die Ecke stand das reiche East India House, angefüllt mit Mustern von kostbaren Stoffen und Steinen, Tigern, Elefanten, Howdahs, Huhkahs, Sonnenschirmen, Palmbäumen, Palankins und prachtvollen Prinzen von brauner Farbe, die mit an den Zehen sehr aufwärts gedrehten Pantoffeln auf Teppichen saßen. Überall in der unmittelbaren Nachbarschaft konnte man Bilder von Schiffen sehen, die in voller Eile nach allen Teilen der Welt segelten – Ausstattungs-Magazine, die bereit waren, jedermann zu bedienen und in einer halben Stunde vollständig auszurüsten; auch fehlte es nicht an kleinen hölzernen Midshipmen in abgetragenen Flottenuniformen, die vor den Ladentüren der Verfertiger nautischer Instrumente Beobachtungen über die Mietkutschen machten.
Der alleinige Herr und Eigentümer eines dieser Abbilder, das man im Vertrauen wohl als das hölzernste hätte bezeichnen können, – es trat nämlich, den rechten Fuß voran, mit ganz unerträglicher Anmut auf das Pflaster heraus, hatte Schuhschnallen und eine Pattenweste, die sich am allerwenigsten mit der menschlichen Vernunft in Einklang bringen ließen, und trug an seinem rechten Auge das anstößigste, unverhältnismäßigste Stück Maschinerie –, alleiniger Herr und Eigentümer dieses Midshipmans, der noch obendrein stolz auf ihn war, war ein ältlicher Gentleman in einer welschen Perücke, der seine Hausmiete, seine Taxen, Steuern und Gebühren schon mehr Jahre bezahlt hatte, als mancher ausgewachsene Midshipman von Fleisch und Blut in seinem Leben zählte, obschon es in der englischen Flotte nicht an Midshipmen fehlt, die ein hübsch grünes Alter auf dem Rücken tragen.
Der Handelsvorrat dieses Gentlemans bestand aus Chronometern, Barometern, Kompassen, Land-, See- und Himmelskarten, Sextanten, Quadranten und Exemplaren von Instrumenten aller Art, die zur Ausarbeitung eines Schiffskurses, zur Führung der Gissung oder zur Verfolgung der Entdeckung eines Schiffes erforderlich sind. Gegenstände von Messing und Glas befanden sich in Schubladen oder auf Gesimsen, deren obere Seite wohl kein Uneingeweihter gefunden, oder deren Nutzen wohl niemand erraten haben würde; ja wer auch einmal Einsicht davon genommen hatte, konnte sicherlich nie wieder ohne Beistand in ihre Mahagoninester zurückkommen. Alles war in die knappsten Gehäuse eingezwängt in den engsten Ecken angebracht, hinten durch die ungebührlichsten Kissen verschanzt und in den schärfsten Winkeln eingeschraubt, um zu verhindern, daß die philosophische Ruhe nicht durch das Rollen der See gestört werde. Diese außerordentlichen Vorsichtsmaßregeln hatten allenthalben den Zweck der Raumersparnis und der gedrängten Aufbewahrung; auch war in jedem Behälter – mochte dieser nun aus einem einfachen Schalbrett bestehen, wie es bei einigen, oder aus einem Mittelding zwischen einem Eckenhut und einem Sternfisch, wie es bei andern der Fall war (und diese gehörten in Vergleichung mit den übrigen zu den ganz milden und bescheidenen Schachteln) – so viel von der praktischen Schiffsmannskunst eingezwängt, daß sich der Laden, der die allgemeine Ansteckung teilte, fast wie ein knappes, seefertiges Schiff ausnahm, dem es für den Fall eines unerwarteten Vom-Stapel-Gehens nur an gutem Seeraum fehlte, um seinen Weg sicher und nach jeder wüsten Insel in der Welt zu finden.
Aus dieser Liebhaberei fanden viele kleinere Vorfälle in dem häuslichen Leben des Schiffsinstrumentenmachers, der auf seinen kleinen Midshipman so stolz war, Vorschub und Unterstützung. Da er seine Bekanntschaft hauptsächlich unter den Schiffslieferanten usw. hatte, so war sein Tisch stets reichlich mit echtem Schiffszwieback besetzt; auch verrieten die Zungen, Schinken, Speckschwarten und dergleichen einen ganz außerordentlichen Geruch nach Schiffstauen. Ferner zeigten sich auf seiner Tafel große Krüge mit Eingepökeltem, die die Firmen von Schiffsproviantierern aller Art zur Schau trugen; auch wurden die geistigen Getränke in massigen Flaschen ohne Hals aufgetragen. An den Wänden hingen eingerahmte alte Kupferstiche von Schiffen mit alphabetischem Verzeichnis für ihre verschiedenen Geheimnisse; auf dem Zinngeschirr sah man die Tatar-Fregatte unter Segel; ausländische Muscheln, Seegräser und Seemoose zierten den Kaminsims, und das kleine vertäfelte Hinterstübchen war gleich einer Kajüte durch ein Oberlicht erhellt.
Hier wohnte er nun nach Seemannsart allein mit seinem Neffen Walter, einem Knaben von vierzehn Jahren, der eben genug wie ein Midshipman aussah, um der vorherrschenden Idee des Alten zur Unterstützung zu dienen. Hiermit war es übrigens zu Ende, denn Solomon Gills selbst, den man allgemein den alten Sol nannte, hatte durchaus kein seemännisches Aussehen. Abgesehen von der welschen Perücke, die eine so einfache und rauhborstige Perücke war, wie nur je eine getragen wurde, und in der er nicht die geringste Ähnlichkeit mit einem Seeräuber hatte, war er ein langsamer, bedächtiger alter Knabe, mit so roten Augen, als wären sie ein Paar kleine Sonnen, die durch einen Nebel blickten. Eine seltsame Art das, und man konnte dabei auf den Gedanken kommen, er habe sie sich dadurch angeeignet, daß er drei oder vier Tage lang der Reihe nach durch jedes optische Instrument seines Ladens guckte und dann plötzlich wieder auf die Welt zurück, um nun zu finden, daß sie grün sei. Die einzige Veränderung, die man je an seinem äußeren Menschen wahrnahm, war ein vollständiger kaffeebrauner Anzug von sehr eckigem Schnitt, mit grell blinkenden Knöpfen, und dasselbe Kaffeebraun mit Ausnahme der Unaussprechlichen, die in letzterem Falle aus blassem Nanking bestanden. Er trug einen sehr sorgfältig gefalteten Busenstreifen, eine Brille bester Qualität auf seiner Stirne und einen ungeheuren Chronometer in seiner Uhrtasche – ein Instrument, auf welches er so große Stücke hielt, daß er eher geglaubt hätte, alle Turm- und Taschenuhren der Stadt, ja sogar die Sonne selbst stünden gegen sein Kleinod in Verschwörung, ehe er demselben einen Irrtum zugetraut hätte. So war nun dieser Mann, und war Jahr um Jahr so in der Werkstätte und dem Wohnstübchen hinter dem kleinen Midshipman gewesen; auch pflegte er sich regelmäßig jede Nacht nach einem luftigen Dachstübchen zurückzuziehen, welches so weit entfernt war von den übrigen Hausbewohnern, daß es daselbst oft in grobem Geschütz blies, wenn die Gentlemen von England, die gemächlich weiter unten lebten, nur eine geringe oder gar keine Ahnung von dem Zustande des Wetters hatten.
Es ist ein Herbstabend, ungefähr halb sechs Uhr, da der Leser mit Solomon Gills bekannt wird. Solomon ist eben im Begriffe, seinen unanfechtbaren Chronometer zu Rate zu ziehen. Schon vor einer Stunde oder mehr hat die gewöhnliche tägliche Räumung der City stattgefunden, und die menschliche Flut rollt noch immer gen Westen. Die Straßen haben sich sehr gelichtet, wie Mr. Gills zu sagen pflegt. Die Nacht droht mit Regenwetter. Alle Barometer in dem Laden sind kleinmütig, und auf dem Eckenhut des hölzernen Midshipmans lassen sich bereits Tropfen erkennen.
»Möchte nur wissen, wo Walter ist«, sagte Solomon Gills, nachdem er seine Uhr sorgfältig wieder verwahrt hatte. »Das Essen ist schon eine halbe Stunde bereit und immer noch kein Walter.«
Er drehte sich auf seinem Stuhle hinter dem Werktisch und schaute durch die Instrumente hinter dem Fenster hinaus, um zu sehen, ob sein Neffe nicht über die Straße komme. Nein. Er war nicht unter den auftauchenden Schirmen, und sicherlich durfte er ihn nicht in dem Zeitungsjungen mit der Wachstuchkappe suchen, der sich langsam an dem Messingschild außen weiter arbeitete und die Gelegenheit benutzte, um mit dem Zeigefinger seinen Namen über Mister Gills' Namen zu schreiben.
»Wenn ich nicht wüßte, daß er mich zu sehr liebt, um auszureißen und gegen meine Wünsche an Bord eines Schiffs zu gehen, so müßte ich wohl unruhig werden«, sagte Mr. Gills, indem er mit seinen Fingerknöcheln an zwei oder drei Wettergläser klopfte. »Ja, das müßte ich wahrhaftig.«
»Alle drunten, he? Es gibt viel Feuchtigkeit! Nun ja, man hat's brauchen können.«
»Ich glaube«, fuhr Mr. Gills fort, und blies den Staub von dem Deckelglase eines Kompasses, »du zeigst nicht richtiger und unmittelbarer nach dem hintern Wohnstübchen, als sich der Knabe dahin gezogen fühlt. Und das Wohnstübchen könnte gleichfalls nicht besser liegen. Genau nach Norden. Nicht den zwanzigsten Teil eines Striches Abweichung.«
»Holla, Onkel Sol!«
»Holla! mein Junge!« rief der Instrumentenmacher, indem er sich rasch umwandte. »Wie, du bist wirklich da?«
Ein fröhlich aussehender heiterer Junge, frisch vom Nachhauserennen im Regen – ein hübsches Gesicht, glänzende Augen und krause Haare.
»Nun, Onkel, wie seid Ihr heute den ganzen Tag zurechtgekommen ohne mich? Ist das Essen fertig? Ich bin so hungrig.«
»Was das Zurechtkommen betrifft«, sagte Solomon in gutmütigem Scherze, »so müßt' es kurios zugehen, wenn ich das ohne einen solchen jungen Schlingel, wie du bist, nicht weit besser könnte, als mit dir. Na, das Essen ist fertig und wartet schon eine halbe Stunde auf dich. Und was das Hungrigsein anbelangt, so bin ich es auch.«
»Nun, so kommt denn Onkel!« rief der Knabe. »Ein Hurra dem Admiral!«
»Zum Henker mit dem Admiral!« entgegnete Solomon Gills. »Du meinst den Lord-Mayor.«
»Nein, den meine ich nicht«, entgegnete der Junge. »Ein Hurra für den Admiral! Hurra dem Admiral. Vor – wärts!«
Durch dieses Kommandowort sah sich die welsche Perücke und ihr Träger unwiderstehlich nach dem Hinterstübchen gezogen, als ständen beide an der Spitze einer Enterpartie von fünfhundert Mann; auch waren Onkel Sol und sein Neffe bald aufs eifrigste beschäftigt mit einer gebratenen Meersole, der ein appetitliches Beefsteak folgen sollte.
»Der Lord-Mayor, Wally«, sagte Solomon – »für immer! Keine Admiräle mehr. Der Lord-Mayor ist dein Admiral.«
»O, meint Ihr?« versetzte der Knabe, den Kopf schüttelnd. »Nein, der Schwertträger ist mir lieber, als er. Dieser zieht doch bisweilen vom Leder.«
»Und machte eine saubere Figur damit«, erwiderte der Onkel. »Höre mich an, Wally. Höre mich an. Sieh nach dem Kaminsims.«
»Ei, wer hat meinen silbernen Becher dort an den Nagel gehängt?« rief der Knabe.
»Ich«, sagte der Onkel. »Jetzt keine Becher mehr. Wir müssen von heute an aus Gläsern trinken, Walter. Wir sind Geschäftsleute. Wir gehören zu der City. Wir sind heute morgen ins Leben eingetreten.«
»Nun, Onkel«, entgegnete der Knabe, »ich will aus allem trinken, was Ihr haben wollt, solange ich Euch zutrinken kann. Eure Gesundheit, Onkel Sol, und ein Hurra für den –«
»Lord-Mayor«, unterbrach ihn der alte Mann.
»Für den Lord-Mayor, die Sheriffs, den Gemeinderat und seinen ganzen Anhang«, sagte der Knabe. »Mögen sie sich eines langen Lebens erfreuen.«
Der Onkel nickte sehr zufrieden mit dem Kopf.
»Und nun«, sagte er, »laß mich etwas von der Firma hören.«
»O, über die Firma ist nicht viel zu sagen, Onkel«, versetzte der Knabe mit Messer und Gabel spielend. »Es ist eine köstliche Reihe finsterer Geschäftsräume, und in dem Zimmer, in dem ich sitze, befindet sich ein hohes Gitter, eine eiserne Kiste, einige Karten über Schiffe, die aussegeln sollen, ein Kalender, einige Schreibpulte nebst Schemeln, eine Tintenflasche, ein paar Bücher und etliche Schubladen, von denen eine just über meinem Kopf mit Spinnweben angefüllt ist; da steckt denn eine eingeschrumpfte blaue Fliege darin, welche aussieht, als ob sie schon eine Ewigkeit da so hinge.«
»Sonst nichts?« fragte der Onkel.
»Nein, sonst nichts, als ein alter Vogelkäfig – ich möchte nur wissen, wie das dahin gekommen ist – und ein Kohlenkorb.«
»Keine Bankbücher, Wechselbücher, Kassenanweisungen oder sonstige Zeichen von Reichtümern, die Tag für Tag einlaufen?« fragte der alte Sol, aus dem Nebel, der ihn stets zu umschweben schien, bedächtig seinen Neffen anschauend und auf jedes seiner Worte einen salbungsvollen Nachdruck legend.
»O ja, davon gibt es, glaube ich, genug«, entgegnete der Neffe gleichgültig; »aber dergleichen Dinge sind in dem Zimmer des Mr. Carker, des Mr. Morfin oder des Mr. Dombey.«
»Ist Mr. Dombey heute da gewesen?« fragte der Onkel.
»O ja, er lief den ganzen Tag ein und aus.«
»Vermutlich hat er auf dich nicht geachtet?«
»O freilich. Er kam zu meinem Sitze her – wenn er nur nicht so steif und feierlich wäre, Onkel – und sagte: ›Ah, Ihr seid der Sohn von Mr. Gills, dem Schiffsinstrumentenmacher?‹ ›Neffe, Sir‹, versetzte ich. ›Ich sagte Neffe, junger Mensch‹, entgegnete er. Aber ich könnte einen Eid darauf ablegen, Onkel, daß er Sohn sagte.«
»Du hast ihn vermutlich nicht recht verstanden. Das macht aber nichts.«
»Nein, es macht wohl nichts, aber er hätte, sollte ich meinen, nicht nötig gehabt, so scharf zu sein. Etwas Unrechtes war es ja nicht, wenn er den Ausdruck Sohn brauchte. Dann sagte er mir, Ihr hättet wegen meiner mit ihm gesprochen, und er habe mir deshalb Beschäftigung im Hause gegeben; dagegen erwarte er aber auch, daß ich aufmerksam und pünktlich sei. Dann ging er weg. Es kam mir vor, als ob er keinen besonderen Gefallen an mir fand.«
»Du willst vermutlich sagen«, bemerkte der Instrumentenmacher, »daß du keinen besonderen Gefallen an ihm hast.«
»Ei, Onkel«, erwiderte der Knabe lachend, »vielleicht ist es so. Daran habe ich noch gar nicht gedacht.«
Nachdem die Mahlzeit beendigt war, nahm Solomon eine etwas ernstere Miene an und blickte von Zeit zu Zeit nach dem heiteren Gesicht des Knaben hin. Das Mahl war aus einem benachbarten Speisehaus herbeigeschafft worden; er räumte das Tischtuch beiseite, zündete eine Kerze an, und stieg in einen kleinen Keller hinunter, während sein Neffe pflichtschuldigst auf der moderigen Treppe stehen blieb und leuchtete. Nachdem der alte Gentleman eine kleine Weile hin und her getastet hatte, kehrte er mit einer sehr altertümlichen von Sand und Staub bedeckten Flasche zurück.
»Ei, Onkel Sol«, sagte der Knabe, »was wollt Ihr? Das ist ja der herrliche Madeira. Wir haben außer dieser hier doch nur noch eine einzige Flasche.«
Onkel Sol nickte mit dem Kopf, um dadurch anzudeuten, daß er wohl wisse, woran er sei. Er zog den Kork unter feierlichem Schweigen, füllte die beiden Gläser und setzte die Flasche nebst einem dritten leeren Glas auf den Tisch.
»Du sollst die andere Flasche trinken, Wally«, sagte er, »wenn du einmal dein Glück gemacht hast – wenn du ein angesehener Mann in einem guten Geschäfte bist – wenn der heutige Anlauf im Leben (wie mein tägliches Gebet zum Himmel lautet) dich einmal in ein schönes ebenes Geleise gebracht hat, mein Kind. Meine Liebe zu dir!«
Etwas von dem Nebel, der den alten Sol umflorte, schien ihm in die Kehle geraten zu sein, denn seine Stimme war heiser geworden. Auch seine Hand zitterte, als er mit seinem Neffen anstieß. Sobald er aber das Weinglas an die Lippen gebracht hatte, leerte er es wie ein Mann und schmatzte hinterher.
»Lieber Onkel«, sagte der Knabe mit erkünstelter Leichtherzigkeit, obschon ihm zu gleicher Zeit Tränen in den Augen standen: »für die Ehre, die Ihr mir angetan habt, et cetera, et cetera. Ich bitte nun um die Erlaubnis, den Toast auszubringen – Herr Solomon Gills hoch – dreimal hoch und noch einmal hoch! Hurra! Und Ihr werdet es erwidern, Onkel, wenn wir die letzte Flasche miteinander trinken – meint Ihr nicht?«
Sie stießen abermals mit den Gläsern an. Walter, der seinen Wein sparte, schlürfte nur davon, und hielt dann das Glas mit einer so kritischen Miene, wie er sie nur annehmen konnte, vor das Auge.
Sein Onkel sah ihm eine Weile schweigend zu, und als ihre Augen sich endlich wieder begegneten, begann er ohne weiteres das Thema, das seine Gedanken beschäftigt hatte, laut fortzuspinnen, als ob er die ganze Zeit über gesprochen hätte.
»Du siehst, Walter«, sagte er, »mein Geschäft ist mir tatsächlich zur bloßen Gewohnheit geworden. Ich habe mich so daran gewöhnt, daß ich kaum mehr leben könnte, wenn ich es aufgeben müßte; aber es gibt nichts zu tun, nichts zu tun. Als jene Uniform noch getragen wurde«, er deutete nach dem kleinen Midshipman hinaus, »damals konnte man sich in der Tat noch ein Vermögen machen und hat es auch gemacht. Aber die Konkurrenz, die Konkurrenz – neue Erfindungen, neue Erfindungen – Abänderungen, Veränderungen – die Welt ist an mir vorbeigegangen. Ich weiß kaum mehr, wo ich selbst bin, geschweige denn, wo meine Kunden sind.«
»Kümmert Euch nicht um sie, Onkel!«
»So zum Beispiel – seit du von deiner Wochenkostschule zu Peckham zurückkamst – und das ist jetzt zehn Tage her«, sagte Solomon, »erinnere ich mich nicht, daß mehr als eine einzige Person in den Laden kam.«
»Besinnt Euch doch, Onkel, – es waren zwei. Der Mann, der ein Goldstück wechseln lassen wollte –«
»Das ist der einzige«, versetzte Solomon.
»Ei, Onkel, ist die Frau nicht auch jemand, die hereinkam, um nach dem Schlagbaum von Mile-End zu fragen?«
»O, es ist wahr«, sagte Solomon. »Ich habe sie vergessen. Zwei Personen.«
»Freilich haben sie nichts gekauft«, entgegnete der Knabe.
»Nein, sie haben nichts gekauft«, entgegnete Solomon ruhig.
»Und auch nichts gebraucht«, rief der Knabe.
»Nein. Wenn das der Fall gewesen wäre, hätten sie sich nach einem andern Laden umgesehen«, sagte Solomon in dem gleichen Tone.
»Aber doch sind es ihrer zwei gewesen, Onkel«, rief der Knabe, als sei das ein großer Triumph. »Ihr spracht nur von einer einzigen Person.«
»Ei, Wally«, nahm der alte Mann nach einer kurzen Pause das Gespräch wieder auf: »da wir nicht wie die Wilden sind, die auf Robinson Crusoes Insel kamen, so können wir nicht leben von einem Mann, der ein Goldstück wechseln, und von einer Frau, die sich den Weg nach dem Schlagbaum von Mile-End weisen lassen will. Wie ich schon eben gesagt habe, die Welt ist an mir vorbeigegangen. Ich kann ihr damit keinen Vorwurf machen, aber soviel steht fest, ich verstehe sie nicht mehr. Die Handelsleute sind nicht mehr wie sonst, die Lehrlinge auch nicht, das Geschäft ist anders geworden, und die Waren sind gleichfalls nicht mehr dieselben. Sieben Achtel von meinen Verkaufsgegenständen sind Ladenhüter. Ich bin ein altmodischer Mann in einem altmodischen Laden und wohne in einer Straße, die nicht mehr dieselbe ist, wie ich mich ihrer erinnere. Ich bin hinter der Zeit zurückgeblieben, und das Alter lastet zu schwer auf mir, als daß ich sie wieder einholen könnte. Sogar der Lärm, den sie weit von mir entfernt draußen macht, verwirrt mich.«
Walter wollte etwas erwidern; aber sein Onkel hielt die Hand hoch.
»Eben deshalb, Wally – eben deshalb war es mir so sehr darum zu tun, daß du früh in die geschäftige Welt und in ihr Geleise hineinkommst. Ich bin nur noch der Geist des Geschäfts – seine Wesenheit ist längst entschwunden, und wenn ich sterbe, wird der Geist erlöst sein. Da natürlich mein Gewerbe keine Erbschaft für dich ist, so habe ich es für das beste gehalten, in deinem Interesse fast den einzigen Überrest alter Bekanntschaft, der mir von alter Zeit her zu Gebot stand, zu benutzen. Einige Leute halten mich für reich. Ich wünschte um deinetwillen, daß sie recht hätten. Aber was ich auch zurücklasse, oder was immer ich dir geben kann, in einem Hause, wie in dem des Mr. Dombey, kannst du es gut benutzen und auf das vorteilhafteste verwenden. Gib dir Mühe – lerne deinen Beruf lieben, mein lieber Junge, – arbeite nach Kräften, um dir eine unabhängige Stellung zu sichern, und möge das Glück dir günstig sein.«
»Ich will tun, was ich kann, Onkel, um Eure Liebe zu verdienen. Ja, wahrhaftig, das will ich«, sagte der Knabe mit Eifer.
»Ich weiß es«, sagte Solomon. »Ich bin davon überzeugt.« Und er machte sich nun mit erhöhtem Behagen an ein zweites Glas des alten Madeira. »Was die See betrifft«, fuhr er fort, »so ist sie ganz schön in der Poesie, Wally, aber in der Wirklichkeit paßt sie nicht – durchaus nicht. Ich finde es ganz natürlich, daß du an sie denkst und die Vorstellungen von so vielen vertrauten Dingen damit in Verbindung bringst; aber es geht einmal nicht – es geht nicht.«
Mit der Miene stillen Wohlbehagens rieb Solomon Gills die Hände, denn er sprach gerne von der See und sah dabei mit unaussprechlichem Wohlbehagen auf die Seemannsgerätschaften, die im Zimmer umherstanden.
»Denke dir z.B. nur diesen Wein«, sagte der alte Sol. »Er hat, ich weiß nicht wie oft, den Weg nach Ostindien und wieder zurückgemacht – ja, er ist sogar einmal um die ganze Welt gesegelt. Denke an die pechfinstern Nächte, an den tosenden Wind und an die rollenden Wogen.«
»An Donner und Blitz, Regen, Hagel und Unwetter aller Art«, sagte der Knabe.
»Natürlich«, sagte Solomon; »alles das hat der Wein da mit durchgemacht. Denk' an das Ächzen und Krachen des Gebälks und der Masten – das Heulen und Toben des Sturms durch Tau- und Takelwerk –«
»Das Aufwärtsklettern der Matrosen, die miteinander wetteifern, um zuerst auf die Rahen hinauszukommen und die eisstarren Segel zu beschlagen, während das Schiff wie toll hin und her rollt!« rief der Neffe.
»Ganz richtig«, sagte Solomon. »Alles das hat das alte Faß erlebt, das diesen Wein enthielt. Ja, als die bezaubernde Sally unterging in dem –«
»In dem Baltischen Meer, mitten in der Nacht, fünfundzwanzig Minuten nach zwölf, als dem Kapitän die Uhr in der Tasche stehen blieb. Er lag tot an den Hauptmast gelehnt – am vierzehnten Februar siebzehnhundertneunundvierzig!« rief Walter mit großer Lebhaftigkeit.
»Ja freilich!« rief der alte Sol, »ganz richtig. Damals waren fünfhundert Fässer solchen Weins an Bord, und alle Mannschaft (mit Ausnahme des ersten Maaten, der ersten Leutnants, zwei Matrosen und einer Dame, die sich in einem lecken Boote retteten), machte sich daran, die Dauben der Fässer einzuschlagen und sich zu betrinken. Trunken starben sie unter dem Gesange ›Rule Britannia‹, als das Schiff in den Wellen untersank und sein Ende mit einem einzigen schauerlichen Chorruf feierte.«
»Aber als der Georg II. am vierten März einundsiebzig zwei Stunden vor Tagesanbruch in einer unheimlichen Bö an der Küste von Cornwallis scheiterte, Onkel, hatte er fast zweihundert Pferde an Bord; und die Pferde rissen sich schon zu Anfang des Sturmes unten los, trampelten hin und her, traten sich zu Tode, machten einen solchen Lärm, und ächzten so ganz menschlich, daß die Mannschaft meinte, das Schiff sei voll von Teufeln. Sogar die besten Matrosen verloren darüber Herz und Kopf, sprangen verzweifelt über Bord, und nur zwei davon blieben am Leben, um die Geschichte zu erzählen.«
»Und als der Polyphemus –« griff der alte Sol wieder auf –
»Privatwestindienfahrer, Last dreihundertundfünfzig Tonnen, Kapitän John Brown von Deptfort, Eigentümer Wiggs und Kompanie«, rief Walter.
»Derselbe«, sagte Sol. »Als er nach viertägiger Fahrt unter günstigem Wind vom Jamaikahafen aus nachts Feuer fing –«
»Waren zwei Brüder an Bord«, unterbrach ihn sein Neffe sehr schnell und laut sprechend, »und es war nicht Raum genug für beide in dem kleinen Boot, das nicht mit versunken war. Keiner von ihnen wollte gehen, bis der ältere den jüngeren um den Leib faßte und ihn hinein warf. Und dann der jüngere, der sich im Boot aufrichtete und rief: ›Lieber Edward, denk' an deine Braut in der Heimat. Ich bin nur ein Knabe, zu Hause wartet niemand auf mich. Nimm meinen Platz ein!‹ Und mit diesen Worten sprang er in die See!«
Das leuchtende Auge und das höhere Rot auf dem Antlitz des Knaben, der sich im Feuer seiner Begeisterung von seinem Sitz erhoben hatte, schienen den alten Sol an etwas zu erinnern, was er vergessen oder in dem ihn umkreisenden Nebel bisher nicht bemerkt hatte. Statt sich auf weitere Histörchen einzulassen, wie er augenscheinlich noch einen Moment vorher beabsichtigt hatte, erging er sich in einen kurzen trockenen Husten und sagte: »Na, ich denke, wir wollen auf einen andern Gegenstand übergehen.«
Die Sache verhielt sich nämlich so, daß der einfache Onkel in seiner geheimen Neigung zu dem Wunderbaren und Abenteuerlichen, zu dem er einigermaßen durch sein Gewerbe in entfernter Beziehung stand, dieselbe Liebhaberei im Neffen geweckt hatte, und alles, was er dem Knaben vorzuhalten pflegte, um ihn von einem Leben voll Gefahr abzuschrecken, mußte an diesem die gewöhnliche unerklärliche Wirkung üben, seinen Geschmack dafür nur zu steigern. So geht's unabänderlich, und es scheint, als sei nie in der ausdrücklichen Absicht, Knaben am Land zu halten, ein Buch geschrieben oder eine Geschichte erzählt worden, wodurch sie nicht, wie durch einen Zauber, nach dem Meere verlockt worden wären.
Die kleine Gesellschaft erhielt übrigens jetzt einen Zuwachs, denn es trat ein Gentleman mit sehr buschigen, schwarzen Augenbrauen in einem weiten blauen Anzug herein, dem statt der Hand am rechten Handgelenk ein Haken angeschraubt war, und der in der Linken einen dicken Stock, so knotig wie seine Nase, trug. Um den Hals hatte er ein loses, schwarzseidenes Halstuch, das über einen großen groben Hemdkragen, einem kleinen Segel vergleichbar, geschlungen war. Augenscheinlich hatte das dritte Weinglas die Bestimmung, diesem Herrn zu dienen, und er schien es zu wissen; denn nachdem er seinen rauhen Überrock abgelegt und an einem besonderen Nagel hinter der Tür einen so steif gewichsten Hut aufgehängt hatte, daß eine empfindsame Person schon vom Anblick Kopfweh bekommen konnte, da er auf der Stirne seines Trägers einen roten Streifen zurückließ, als hätte daselbst ein knapp anliegendes Zinnbecken gesessen, brachte er einen Stuhl in die Nähe des leeren Glases und setzte sich hinter diesem nieder. Dieser Gast wurde gewöhnlich mit Kapitän angeredet; er war Lotse, Schiffer oder Kapermatrose gewesen, hatte vielleicht gar in allen diesen drei Eigenschaften gedient und sah in der Tat ganz wie ein Seemann aus.
Sein Gesicht, das sich durch eine merkwürdige braune Solidität auszeichnete, klärte sich auf, als er dem Neffen die Hand reichte; er schien übrigens von sehr lakonischer Art zu sein, da er bloß sagte:
»Wie geht's?«
»Alles gut«, versetzte Mr. Gills, indem er ihm die Flasche zuschob.
Er nahm sie auf, betrachtete sie, roch daran und sagte mit einem außerordentlichen Ausdruck:
» Der?«
» Der«, entgegnete der Instrumentenmacher.
Hierauf füllte er pfeifend sein Glas und schien zu denken, daß sie sich heute tatsächlich einen Feiertag machten.
»Wal'r«, sagte er, indem er sich das dünne Haar mit dem Haken zurecht strich und dann auf den Instrumentenmacher deutete, »seht ihn an! Lieben – ehren – und gehorchen! Schlagt in Eurem Katechismus nach, bis Ihr diese Stelle findet, und wenn Ihr sie gefunden habt, knickt die Ecke um. Gut Glück, mein Junge!«
Er war mit seiner Zitation sowohl, als mit der Anwendung derselben so sehr zufrieden, daß er sich nicht versagen konnte, mit gedämpfter Stimme die Worte zu wiederholen und dabei zu bemerken, »er habe sie schon seit vierzig Jahren vergessen gehabt.«
»Aber ich habe nie in meinem Leben zwei oder drei Worte gebraucht, ohne daß ich wußte, wo ich sie fassen sollte, Gills«, bemerkte er. »Es kommt eben daher, daß ich meine Reden nicht verschwende, wie manche es tun.«
Die Erwägung erinnerte ihn vielleicht daran, daß es besser sei, gleich dem Vater des jungen Norvall »seinen Vorrat zu vergrößern.« Jedenfalls wurde er jetzt schweigsam, und blieb es, bis der alte Sol in den Laden hinausging, um dort die Lichter anzuzünden. Da wandte er sich an Walter und sagte ohne irgendeine einleitende Bemerkung:
»Ich glaube, er könnte auch eine Turmuhr machen, wenn er es versuchte?«
»Es sollte mich nicht wundern, Kapitän Cuttle«, entgegnete der Knabe.
»Und sie würde gehen!« sagte der Kapitän Cuttle, mit seinem Haken eine Art Schlange in die Luft beschreibend. »Herr, wie diese Uhr gehen würde!«
Für einige Augenblicke schien er ganz in der Betrachtung der Bewegung dieses idealen Zeitmessers vertieft zu sein und sah dabei den Knaben an, als ob dessen Gesicht das Zifferblatt wäre.
»Er besitzt ein überaus großes Wissen«, bemerkte er, seinen Haken gegen die Ladenvorräte schwenkend. »Schaut nur her! Eine ganze Sammlung davon. Erde, Luft oder Wasser. Es ist alles das gleiche. Ihr braucht bloß zu sagen, was Ihr haben wollt. Hinauf in einem Ballon? Steht zu Diensten. Nieder in einer Taucherglocke? Steht zu Diensten. Wollt Ihr das Gewicht des Polarsterns in einer Wagschale untersuchen? Er wird es für Euch besorgen.«
Aus diesen Bemerkungen kann man entnehmen, daß Kapitän Cuttles Verehrung vor dem Instrumentenvorrat sehr groß war, daß aber seine Philosophie nicht so weit reichte, um sich den Unterschied des Verkaufens und des Erfindens derselben genau zu vergegenwärtigen.
»Ah«, sagte er mit einem Seufzer, »es ist was Schönes, wenn man es versteht. Und doch ist es auch was Schönes, wenn man es nicht versteht. Ich weiß kaum, welches von beiden das Beste ist. Es wird einem so behaglich, wenn man dasitzt und fühlt, daß man gewogen, gemessen, magnifiert, elektrisiert, polarisiert und wie das Teufelszeug sonst heißen mag, werden kann, ohne daß man weiß wie.«
Nichts Geringeres als der herrliche Madeira in Verbindung mit der Gelegenheit, die so gut dazu paßte, Walters Geist zu erleuchten und zu erweitern, wäre je imstande gewesen, die Zunge des alten Gentleman zu einem so wunderbaren Redeerguß zu lösen. Er schien selbst erstaunt zu sein über die Art, in der sich seine Lippen öffneten, um die Quellen des stummen Entzückens zu rühmen, die sich bei Gelegenheit von Sonntagsmahlzeiten seit zehn Jahren in diesem Stübchen für ihn ergossen hatten. Er fühlte, daß er mit der zunehmenden Weisheit auch schwermütiger wurde, und schwieg fortan in tiefem Nachsinnen.
»Na«, rief der zurückkehrende Gegenstand seiner Bewunderung, »ehe wir zum Grog schreiten, Ned, müssen wir die Flasche zu Ende bringen.«
»Ich halte mit«, sagte Ned, sein Glas füllend: »gebt dem Burschen auch noch etwas.«
»Nicht mehr – ich danke, Onkel!«
»Ja, ja, noch ein bißchen«, sagte Sol. »Wir leeren die Flasche auf das Haus, Ned – auf Walters Haus. Warum könnte es nicht eines Tages wenigstens teilweise seins werden? Wer weiß! Sir Richard Whittington heiratete die Tochter seines Prinzipals.«
»›Kehrum, Whittington, Lord-Mayor von London, und wenn du alt bist, wirst du nie mehr draus weichen‹«, fiel der Kapitän ein. »Wal'r, lies das Buch, mein Junge.«
»Und obgleich Mr. Dombey keine Tochter hat,« begann Sol –
»Ja, ja, er hat eine, Onkel«, sagte der Knabe lachend und errötete.
»Wirklich?« rief der alte Mann. »In der Tat, ich glaube, du hast recht.«
»O, ich weiß es gewiß«, sagte der Knabe. »Man hat heut' im Bureau davon gesprochen. Auch sagt man, Onkel und Kapitän Cuttle«, er dämpfte dabei seine Stimme – »daß er eine Abneigung gegen sie habe und daß sie unbeachtet bei dem Gesinde aufwachse; sein Sinn sei so ganz und gar von dem Sohn, den er jetzt im Haus habe, in Anspruch genommen, daß er, obschon dieser noch ein Säugling sei, die Bilanzen weit öfter ziehe, als früher – daß die Bücher weit strenger geprüft würden, und daß man ihn schon gesehn habe (freilich ohne daß er es merkte), wie er nach dem Hafen ging, um seine Schiffe, sein Eigentum und all dies zu betrachten, als freue er sich über das, was er und sein Sohn zusammen besitzen werden. So sagt man – ich kann das natürlich nicht beurteilen.«
»Ihr seht, er weiß schon alles von ihr«, sagte der Instrumentenmacher.
»Aber ich bitte dich, Onkel«, rief der Junge noch immer in knabenhaftem Erröten und Lachen. »Ich muß es doch wohl hören, wenn man mir etwas erzählt?«
»Ich fürchte, Ned, der Sohn ist uns zurzeit ein wenig im Weg«, sagte der alte Mann, den Scherz heiter weiter verfolgend.
»Und ob!« versetzte der Kapitän.
»Trotzdem wollen wir auf sein Wohl trinken«, fuhr Sol fort. »Es gilt also für Dombey und Sohn!«
»O, ganz schön, Onkel«, rief der Knabe lustig. »Und weil Ihr das Mädchen erwähntet und mich mit ihr in Verbindung gebracht habt, indem Ihr sagtet, daß ich alles von ihr wisse, so will ich mir erlauben, den Toast zu verbessern. Dombey und Sohn – und Tochter!«
Fünftes Kapitel. PAULS GEDEIHEN UND TAUFE.
Der kleine Paul, der von dem Blute der Toodles keinen Unglimpf erlitt, wurde mit jedem Tage stärker und kräftiger. Auch hätschelte ihn Miß Tox mit jedem Tage immer leidenschaftlicher, so daß schließlich Mr. Dombey ihre Anhänglichkeit an das Kind einigermaßen zu würdigen begann. Er sah sie nämlich allmählich als Frauensperson von gutem natürlichen Verstand an, deren Gefühle ihr Ehre machten und wohl eine Aufmunterung verdienten. Er ging sogar in seiner Herablassung so weit, daß er sich bei verschiedenen Anlässen nicht nur in ganz besonderer Weise gegen sie verneigte, sondern auch seine Schwester mit manchen stattlichen Grüßen an sie beauftragte. Zum Beispiel sagte er ihr: »Ich bitte dich, deiner Freundin, Louisa, zu bemerken, daß sie sehr gütig ist«, oder »sage Miß Tox, Louisa, daß ich ihr sehr zu Dank verpflichtet bin«, – Besonderheiten, die auf die in solcher Weise ausgezeichnete Dame einen tiefen Eindruck machten.
Miß Tox pflegte Mrs. Chick oft zu versichern, daß »ihr nichts über die Teilnahme an allem gehe, was mit der Entwicklung dieses süßen Kindes im Zusammenhang stünde«, und wer Miß Tox genauer beobachtete, mußte aus ihrer Art sich zu geben selbstverständlich diesen Schluß ziehen, ohne daß es einer erklärenden Bestätigung bedurft hätte. So konnte sie z.B. mit unaussprechlicher Selbstzufriedenheit und fast mit einer Miene, als teile sie mit Richards das Glück der Ernährung, während der unschuldigen Labungen des jungen Erben den Vorsitz führen. Bei den kleinen Zeremonien des Bads und der Toilette leistete sie begeisterte Beihilfe. Die Anwendung kindlicher Dosen von Arzneimitteln weckte all die tätige Sympathie ihres Charakters, und einmal, als Mr. Dombey, von seiner Schwester begleitet, nach der Kinderstube kam, um nachzusehen, wie man seinen Sohn zu Bette legen wollte, der in seinem kurzen luftigen Jäckchen mit den Beinen an Richards' Kleidern hinaufstrampelte – sah ich Miß Tox, die vorher aus lauter Bescheidenheit in einen Geschirrschrank gekrochen war, so über die alberne Gegenwart hinausgerissen, daß sie nicht imstande war, sich des Ausrufs zu erwehren: »Ist er nicht schön, Mr. Dombey! Ist er nicht ein Liebesgott, Sir!« Dann aber brach sie, vor lauter Verwirrung und Erröten, hinter der Schranktür fast zusammen.
»Louisa«, sagte Mr. Dombey eines Tags zu seiner Schwester, »ich glaube wirklich, ich muß deine Freundin bei Gelegenheit von Pauls Taufe mit einem kleinen Andenken erfreuen. Sie hat sich von Anfang an so warm des Kindes angenommen und scheint ihre Aufgabe so durchaus zu verstehen – leider ein gar seltenes Verdienst in dieser Welt – daß ich ihr gerne eine Aufmerksamkeit erweisen möchte.«
Wir wollen den Vorzügen der Miß Tox keinen Abbruch tun, wenn wir andeuten, daß in den Augen Mr. Dombeys, wie in denen so mancher anderen, die man gelegentlich zu sehen kriegt, nur diejenigen zu jenem gewaltigen Stück Kenntnis, dem Verstehen ihrer eigenen Stellung gelangt waren, die der seinigen eine passende Verehrung zollten. Die Überzeugung, daß sie sich selbst kannten, hatte bei ihm lange nicht die hohe Bedeutung, als das Bewußtsein, daß sie ihn kannten und sich tief vor ihm verbeugten.
»Mein lieber Paul«, erwiderte seine Schwester, »du läßt Miß Tox nur Gerechtigkeit widerfahren, wie das von einem Manne mit deinem Scharfblick zu erwarten ist. Ich glaube, wenn es drei Worte in der englischen Sprache gibt, vor denen sie eine Achtung hat, die sich fast zur Verehrung steigert, so sind diese Worte Dombey und Sohn.«
»Nun, ich glaube es«, versetzte Mr. Dombey. »Es macht Miß Tox Ehre.«
»Und was das Andenken betrifft, von dem du gesprochen hast, mein lieber Paul«, fuhr seine Schwester fort, »so kann ich mit voller Überzeugung behaupten, daß alles, mit dem du Miß Tox zu bedenken beabsichtigst, wie eine Reliquie aufbewahrt und geschätzt werden wird. Es gibt übrigens eine Art, mein lieber Paul, ihr deine Anerkennung für ihre Freundlichkeit in noch schmeichelhafterer Weise zu bekunden, falls du dazu geneigt sein solltest.«
»Und das wäre?« fragte Mr. Dombey.
»Paten sind natürlich im Punkte der Bekanntschaft und des Einflusses von großer Wichtigkeit«, fuhr Mrs. Chick fort.
»Ich sehe nicht ein, welchen Wert sie für meinen Sohn haben könnten«, versetzte Mr. Dombey kalt.
»Ganz richtig, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick mit außerordentlicher Lebhaftigkeit, um das Plötzliche ihrer Bekehrung zu bemänteln, »und sehr würdig gesprochen. Ich hätte nichts anderes von dir erwarten sollen und zuvor schon wissen können, daß das deine Ansicht ist. Aber vielleicht ist gerade das«, fügte Mrs. Chick etwas zögernd hinzu, als ob sie sich bei der Sache nicht ganz behaglich fühle – »vielleicht ist das eben ein Grund, warum du weniger dagegen einzuwenden haben dürftest, wenn Miß Tox bei dem lieben Ding zu Gevatter steht, wäre es auch nur als Stellvertreterin für jemand anders. Ich brauche nicht zu sagen, mein lieber Paul, daß eine solche Erlaubnis als eine große Ehre und Auszeichnung aufgenommen werden würde.«
»Louisa«, sagte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, »man glaubt doch nicht –«
»Gewiß nicht«, rief Mrs. Chick, welche sich beeilte, der Abweisung zuvorzukommen; »ich habe in meinem Leben nie daran gedacht.«
Mr. Dombey sah sie ungeduldig an.
»Bringe mich nicht in Verwirrung, mein lieber Paul«, sagte seine Schwester, »denn das richtet mich zugrunde. Ich fühle mich überhaupt sehr angegriffen und bin nicht mehr ich selbst gewesen, seit die arme liebe Fanny heimgegangen ist.«
Mr. Dombey schaute nach dem Taschentuch, das seine Schwester nach ihren Augen führte, und sprach weiter:
»Ich sage, man werde doch nicht glauben –«
»Und ich sage«, murmelte Mrs. Chick, »daß ich in meinem Leben nie daran gedacht habe.«
»Gütiger Gott, Louisa!« sagte Mr. Dombey.
»Nein, mein lieber Paul«, erwiderte sie mit tränenvoller Würde, »du mußt mir schon erlauben zu sprechen. Ich bin nicht so gewandt, so raisonierend, so beredt oder überhaupt etwas der Art, wie du. Ich weiß das recht wohl. Um so schlimmer für mich. Aber wenn es die letzten Worte wären, die von meinen Lippen kämen – und nach dem Heimgang der armen teuren Fanny sollten letzte Worte für dich und mich sehr feierlich sein, mein lieber Paul – so würde ich doch noch immer sagen, daß ich nie daran dachte. Und was noch mehr ist«, fügte Mrs. Chick mit zunehmender Würde hinzu, als ob sie das gewichtigste Argument bis zuletzt aufgespart hätte, »ich habe nie daran gedacht.«
Mr. Dombey ging nach dem Fenster und wieder zurück.
»Man darf nicht glauben, Louisa«, sagte er (Mrs. Chick hatte ihre Flagge an den Mast genagelt und wiederholte: Ich weiß es wohl! aber er nahm keine Notiz davon, sondern fuhr fort), »daß es nicht viele Personen gebe, die, angenommen, daß ich in irgendeinem solchen Fall überhaupt Ansprüche anerkenne, weit höhere Berechtigung an mich haben, als Miß Tox. Aber wie gesagt, ich erkenne nichts dergleichen an. Wenn einmal die Zeit kommt, so werden Paul und ich imstande sein, unser Eigentum zusammenzuhalten – oder mit andern Worten, das Haus wird für sich selbst und ohne dergleichen gemeine Beihilfen sich und sein Eigentum erhalten können. Die Art fremder Hilfe, welche man gewöhnlich für Kinder sucht, kann ich wohl entbehren, da ich hoffentlich darüber weg bin. Sofern Pauls Kindheit und Jugend nur gut verläuft – und er sich ohne Zeitverlust für die Laufbahn, für die ich ihn bestimmt habe, qualifiziert, so bin ich zufrieden. Im spätern Leben kann er sich nach Belieben mächtige Freunde suchen, wenn er nach Kräften die Würde und den Kredit der Firma aufrecht erhält, ja, wenn möglich, sie sogar noch ausdehnt. Bis dahin bin ich vielleicht genug für ihn und alles in allem. Ich wünsche nicht, daß jemand zwischen uns trete. Viel lieber möchte ich deshalb einer so verdienstvollen Person, wie deine Freundin ist, meine Anerkennung für ihr verbindliches Benehmen zeigen. Sei es darum, wie du gesagt hast. Dein Gatte und ich, wir beide werden dann wohl als übrige Paten ausreichen.«
Im Verlauf dieser Bemerkungen, die mit viel Majestät und Großartigkeit vorgetragen wurden, hatte Mr. Dombey die geheimen Gefühle seines Innern enthüllt. Ein unbeschreibliches Mißtrauen vor jedermann, der sich zwischen ihn und seinen Sohn stellen könnte, eine hochmütige Furcht, in der Achtung und in dem Gehorsam des Knaben einen Nebenbuhler oder Teilnehmer zu haben, eine peinigende Ahnung, welche erst kürzlich in ihm aufgestiegen war, daß seine Macht, den menschlichen Willen zu binden und zu beugen, zweifelhaft sei, und eine nicht minder quälende Besorgnis über irgendeinen zweiten Hemmstein oder Querstrich – waren damals die Haupttasten seiner Seele. In seinem ganzen Leben hatte er sich nie einen Freund erworben, da sein kaltes abgemessenes Wesen weder Freunde suchte, noch gewinnen konnte. Und nun, während diese Natur ihre ganze Gewalt so kräftig auf einen Lieblingsplan der väterlichen Teilnahme und des Ehrgeizes konzentrierte, schien es, als ob ihr eisiger Strom, statt durch solchen Einfluß frei zu werden und klar zu laufen, nur für einen Augenblick aufgetaut sei, um die Last aufzunehmen und dann wieder zu einer einzigen, unnachgiebigen Masse zu gefrieren.
Kraft ihrer Unbedeutsamkeit war Miß Tox von Stund' an zur Patin des kleinen Paul erkoren, und Mr. Dombey deutete noch an, es sei ihm lieb, wenn die bereits schon so lang verschobene Zeremonie ohne weitere Verzögerung stattfinde. Seine Schwester, die einen so ausgezeichneten Erfolg nicht entfernt geahnt hatte, entfernte sich in möglichster Eile, um das erzielte Resultat der besten ihrer Freundinnen mitzuteilen, und Mr. Dombey blieb in seinem Bibliothekzimmer allein.
In dem Kinderzimmer sah es nichts weniger als einsam aus, denn Mrs. Chick und Miß Tox erfreuten sich daselbst eines geselligen Abends – sehr zum Verdruß der Miß Susanna Nipper, die jede Gelegenheit ergriff, um hinter der Tür schiefe Gesichter zu machen. Die Gefühle dieser jungen Dame waren so aufgeregt, daß sie es für unerläßlich fand, ihnen diese Erleichterung zu verschaffen, selbst ohne daß sie dabei den Trost irgendeines Auditoriums oder irgendeiner Sympathie hatte. Wie vor alters die fahrenden Ritter ihr Gemüt dadurch erleichterten, daß sie in Wildnissen, Wüsten und andern verlassenen Plätzen, wohin aller Wahrscheinlichkeit nach gewiß nie jemand zum Lesen kam, die Namen ihrer Gebieterinnen dem Gestein oder den Baumrinden anvertrauten, so rümpfte Miß Susanne Nipper ihre Mopsnase in Schubladen oder Kleiderkästen, warf verächtliche Schielblicke in Wandkästen, sandte ihr spottendes Blinzeln in steinerne Krüge und schimpfte aus Leibeskräften draußen auf dem Flurplatz.
Die beiden anstößigen Personen aber, die sich hinsichtlich der Gefühle der jungen Dame in glücklicher Unwissenheit befanden, sahen zu, wie der kleine Paul wohlbehalten alle Stadien des Entkleidens, Entlüftens, des Nachtessens und des Zubettgebrachtwerdens durchmachte; worauf sie sich vor dem Feuer zum Tee niedersetzten. Infolge der guten Dienste, die Polly geleistet hatte, schliefen jetzt die beiden Kinder in einem Zimmer, und erst als die Damen an ihrem Teetisch beisammensaßen, fügte es sich, als sie zufällig nach den kleinen Betten hinübersahen, daß sie an Florence dachten.
»Wie gesund sie schläft!« sagte Miß Tox.
»Na, Ihr wißt ja, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick, »daß sie sich den ganzen Tag über viel Bewegung macht und um den kleinen Paul herumspielt.«
»Sie ist ein artiges Kind«, sagte Miß Tox.
»Meine Liebe«, erwiderte Mrs. Chick in gedämpfter Stimme, »ganz und gar ihre Mama!«
»Wirklich!« sagte Miß Tox. »Ach du mein Himmel!«
Miß Tox hatte das im Tone des außerordentlichsten Mitleids gesprochen; obgleich sie keine bestimmte Idee von dem Grunde hatte, sondern sich nur etwa dachte, daß das von ihr erwartet werde.
»Florence wird nie, nie und nimmermehr eine Dombey sein«, sagte Mrs. Chick, »und wenn sie tausend Jahre alt würde.«
Miß Tox zog ihre Augenbrauen empor und machte abermals eine Miene des Bedauerns.
»Ich härme mich unaufhörlich ab um ihretwillen«, fuhr Mrs. Chick mit einem Seufzer bescheidenen Verdienstes fort. »Wahrhaftig, ich sehe nicht ein, was aus ihr werden soll, oder welche Stellung sie einnehmen kann, wenn sie älter wird. Ihren Papa weiß sie gar nicht für sich zu gewinnen. Und wie ließe sich das auch erwarten, da sie den Dombeys so ganz unähnlich ist?«
Miß Tox machte ein Gesicht, als sehe sie durchaus kein Mittel, einem so zwingenden Argumente auszuweichen.
»Und das Kind, seht Ihr«, nahm Mrs. Chick im Tone besonderen Vertrauens wieder auf, »hat ganz die Natur der armen lieben Fanny. Ich stehe dafür, sie wird in ihrem ganzen spätern Leben nie eine Anstrengung machen. Nie! Sie wird es nicht versuchen, sich um das Herz ihres Papas zu schlingen und zu winden, wie –«
»Wie der Efeu«, ergänzte Miß Tox.
»Wie der Efeu«, pflichtete Mrs. Chick bei. »Nie! Sie wird nie hineinschlüpfen und sich ein Nestchen bauen in dem Busen der väterlichen Liebe, wie das –«
»Wie das aufgeschreckte Reh?« ergänzte Miß Tox.
»Wie das aufgeschreckte Reh«, sagte Mrs. Chick. »Nie! Die arme Fanny! Und doch, wie lieb ist sie mir gewesen!«
»Ihr müßt Euch nicht selbst betrüben, meine Liebe«, tröstete Miß Tox im Tone der Beschwichtigung. »In der Tat habt Ihr viel zu viel Gefühl.«
»Wir haben alle unsere Schwächen«, versetzte Mrs. Chick weinend und den Kopf schüttelnd, »das darf ich wohl sagen. Ich bin nie blind gegen die ihrigen gewesen und habe das auch nie behauptet. Gerade im Gegenteil. Und doch, wie sehr liebte ich sie!«
Welche Beruhigung war es für Mrs. Chick – eine ganz gewöhnliche, törichte Person, gegen die ihre Schwägerin ein wahrer Engel von weiblicher Einsicht und Zartheit gewesen – das Andenken dieser Dame zu patronisieren und dabei zärtlich zu tun, geradeso, wie sie es bei Lebzeiten der Lady getan hatte. Dabei setzte sie vollkommenen Glauben in sich, lobte sich und tat sich auf das Übermaß ihrer Duldung ungemein zugute! In wie hohem Grade lieblich muß die Tugend der Duldsamkeit sein, wo wir recht haben, wenn sie schon im entgegengesetzten Falle und unter Umständen so angenehm wirkt, wo man sich durchaus nicht erklären kann, wie wir zu dem Vorrecht, sie zu üben, gekommen sind.
Mrs. Chick trocknete sich noch die Augen und schüttelte den Kopf, als sich Richards die Freiheit nahm, ihr anzudeuten, daß Miß Florence wache und in ihrem Bette aufrecht sitze. Sie hatte sich, wie die Amme sagte, erhoben, und die Wimpern ihrer Augen waren naß von Tränen. Aber niemand sah sie glänzen, als Polly. Niemand anders beugte sich zu ihr hin, um ihr beruhigende Worte zuzuflüstern, oder war nahe genug, um das laute Klopfen ihres Herzens zu hören.
»O, liebe Wärterin«, sagte das Kind angelegentlich zu ihrem Gesicht aufblickend, »laßt mich bei meinem Bruder liegen!«
»Warum, mein Schätzchen?« fragte Richards.
»O, ich denke, er liebt mich«, rief das Kind ungestüm. »Laßt mich bei ihm liegen. Ich bitte, tut es!«
Mrs. Chick legte sich mit einigen mütterlichen Worten ins Mittel und sprach davon, die Kleine solle schlafen wie ein liebes Kind; aber Florence wiederholte ihre Bitte mit erschreckter Miene und mit einer durch Schluchzen und Tränen unterbrochenen Stimme.
»Ich will ihn gewiß nicht aufwecken«, sagt sie, indem sie ihr Gesicht bedeckte und ihr Köpfchen hängen ließ. »Ich will ihn gern nur mit der Hand berühren und schlafen. O ich bitte, bitte, laßt mich heute nacht bei meinem Bruder liegen, denn ich glaube, daß er mich liebt.«
Richards nahm sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, heraus, trug sie nach dem Bettchen, in welchem das Knäbchen schlief, und legte sie an seiner Seite nieder. Sie schmiegte sich so nahe an Paul an, als sie nur konnte, ohne seine Ruhe zu stören, streckte einen ihrer Arme so aus, daß er schüchtern seinen Hals umschlang, verbarg ihr Gesicht mit dem andern, über den das feuchte wirre Haar lose niederfiel, und blieb regungslos liegen.
»Das arme Ding«, sagte Miß Tox. »Wahrscheinlich hat sie geträumt.«
Dieser unbedeutende Vorfall hatte den Faden der Unterhaltung so sehr unterbrochen, daß es schwer wurde ihn wieder aufzunehmen. Außerdem fühlte sich Mrs. Chick von der Betrachtung ihres eigenen toleranten Wesens so angegriffen, daß sie durchaus nicht bei Stimmung war. Die beiden Freundinnen tummelten sich daher, um mit ihrem Tee zu Ende zu kommen, und dann wurde ein Diener abgesandt, um für Miß Tox eine Mietkutsche herbeizuholen. Miß Tox hatte in Betracht der Mietkutsche große Erfahrung, und ihr Fortkommen brauchte in der Regel einige Zeit, da sie umfangreiche Vorbereitungsmaßregeln traf.
»Wenn ich bitten darf, Towlinson«, sagte Miß Tox, »habt vor allem die Güte, Feder und Tinte herauszuholen und die Nummer deutlich niederzuschreiben.«
»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.
»Dann möcht' ich Euch auch um die Gefälligkeit bitten, Towlinson«, fuhr Miß Tox fort, »das Polster umzudrehen. Es ist in der Regel feucht, meine Liebe«, fügte sie, sich nach Mrs. Chick umdrehend, hinzu.
»Ja, Miß«, versetzte Towlinson.
»Auch möchte ich Euch, wenn Ihr die Güte haben wollt, Towlinson, mit dieser Karte und diesem Schilling bemühen«, sagte Miß Tox. »Er soll nach der auf dieser Karte angegebenen Adresse fahren, und es versteht sich von selbst, daß er um keinen Preis mehr als den Schilling erhält.«
»Nein, Miß«, versetzte Towlinson.
»Und – es tut mir leid, Euch so viele Mühe zu machen, Towlinson« – sagte Miß Tor, sinnend nach ihm hinschauend.
»Ist durchaus nicht nötig, Miß«, versetzte Towlinson.
»So habt denn die Güte, Towlinson, dem Mann zu sagen«, sagte Miß Tor, »daß der Onkel der Dame eine Magistratsperson sei und er schrecklich bestraft werde, wenn er ihr mit einer von seinen Unverschämtheiten kommt. Wenn Ihr so gut sein wollt, könnt Ihr so tun, als sagtet Ihr ihm das bloß in freundschaftlicher Weise und weil Ihr wüßtet, daß es einem andern Manne, der jetzt zu den Toten zählt, so ergangen sei.«
»Soll nicht fehlen, Miß«, versetzte Towlinson.
»Und nun gute Nacht, mein süßes, süßes, süßes Patchen«, sagte Miß Tor, indem sie jede Wiederholung des Adjektivs mit einem sanften Schauer von Küssen begleitete. »Und Louisa, meine liebe Freundin, versprecht mir, daß Ihr vor dem Schlafengehen noch etwas Warmes nehmen und Euch nicht unnötigen Kummer machen wollt!«
Bei dieser Krise kam es die schwarzäugige Miß Nipper, die aufmerksam zusah, außerordentlich schwer an, sich zusammenzunehmen, obschon die peinliche Selbstbeherrschung fortdauern mußte, bis sich Mrs. Chick entfernt hatte. Sobald aber endlich die Kinderstube frei von Besuchern war, hielt sie sich für den erlittenen Zwang einigermaßen schadlos.
»Ihr könnt mich sechs Wochen in eine Zwangsjacke stecken«, sagte Nipper, »und wenn ich los bin, würde ich nur noch ärgerlicher sein, wer hat je so was von zwei Greisinnen gehört, Mrs. Richards?«
»Und dann zu sagen, das arme Ding habe geträumt!« entgegnete Polly.
»O ihr Schönheiten!« rief Susanna Nipper, und tat so, als werfe sie der Tür, durch welche sich die Damen entfernt hatten, ein Kußhändchen zu. »Sie wird also nie eine Dombey sein, es ist nie von ihr zu hoffen, wir brauchen keine solche mehr, wir haben an einer genug.«
»Weckt die Kinder nicht auf, liebe Susanna«, sagte Polly.
»Ich bin Euch sehr verbunden, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna, die in ihrer Wut durchaus keinen Unterschied machte, »und es ist mir geradeso, als ob ich es mir zur Ehre rechnen müßte, Eure Befehle entgegenzunehmen, da ich Eure Sklavin und eine Mulattin bin. Mrs. Richards, wenn Ihr mir noch andere Aufträge erteilen wollt, so bitte ich, es ohne weiteres zu tun.«
»Unsinn – wer spricht von Aufträgen!« sagte Polly.
»O, Gott behüte Euch, Mrs. Richards«, rief Susanna, »die Temporären wollen hier immer den Permanenten kommandieren, habt Ihr dies nicht gewußt, ei, wo seid Ihr denn geboren, Mrs. Richards? Aber wo immer Ihr auch geboren sein mögt, Mrs. Richards«, fuhr Sprühteufel fort, indem sie entschlossen den Kopf schüttelte, »und wann immer und wie immer (was Ihr selbst wohl am besten wissen werdet), so seid so gut, Euch zu erinnern, daß es etwas anderes ist, Befehle zu erteilen und etwas anderes, sie auszuführen. Eine Person kann zu einer andern Person sagen, sie soll kopfüber von einer Brücke fünfundvierzig Fuß tief ins Wasser hinunter springen, Mrs. Richards, aber es kann der Person einfallen, es recht hübsch bleiben zu lassen.«
»Ich weiß schon«, sagte Polly, »Ihr seid zornig, weil Ihr ein gutes kleines Ding seid und Miß Florence gerne habt; da wollt Ihr jetzt Eure Wut an mir auslassen, weil niemand anders da ist.«
»Es ist sehr leicht für manche, bei guter Stimmung und sanften Worten zu bleiben, Mrs. Richards«, entgegnete Susanna einigermaßen beruhigt, »wenn man aus ihrem Kind so viel macht, wie aus einem Prinzen, und wenn man es hätschelt und pätschelt, bis es seine Freunde weit weg wünscht, aber wenn eine süße junge hübsche Unschuld, zu der man nie ein häßliches Wort sagen sollte, mit Füßen getreten wird, so ist das natürlich ein ganz anderer Fall. Du gütiger, barmherziger Himmel, Miß Floy, Ihr garstiges sündhaftes Kind, wenn Ihr nicht augenblicklich Eure Augen schließt, so rufe ich die Kobolde herein, die sich in der Dachkammer droben herumtreiben, damit sie Euch lebendig auffressen!«
Hier stimmte Miß Nipper ein schreckliches Geheul an, um die Kleine glauben zu machen, es komme von einem gewissenhaften Kobold aus der Ochsenspezies her, der ungeduldig sei, das grausame Amt seiner Stellung zu erfüllen. Nachdem sie noch weiter ihren jungen Pflegling dadurch, daß sie ihm den Kopf mit Bettüchern zudeckte, zur Ruhe gebracht und dem Kissen drei oder vier zornige Klapse gegeben hatte, kreuzte sie die Arme, warf die Lippen auf, setzte sich vor den Kamin und sah für den Rest des Abends ins Feuer hinein.
Obschon der kleine Paul, wie es in der Ammensprache lautete, »für sein Alter schon sehr aufpaßte«, so nahm er doch von all dem, wie auch von den Vorbereitungen, die am übernächsten Tage zu seiner Taufe getroffen wurden, sehr wenig Notiz. Doch ging alles, was seiner Schwester und der beiden Wärterinnen persönlichen Putz betraf, mit großer Regsamkeit vor sich. Als endlich der wichtige Morgen anbrach, zeigte er durchaus keinen Sinn für die Wichtigkeit dessen, was nun stattfinden sollte, da er im Gegenteil ungewöhnlich zum Schlafen geneigt und gegen diejenigen, die ihn ankleiden wollten, über die Maßen widerwärtig war.
Es war ein eisengrauer Herbsttag mit einem unfreundlichen Ostwind – ein Tag, der mit den Vorgängen im Einklang stand. Mr. Dombey repräsentierte in seiner Person den Wind, den Schatten und den Herbst des Taufakts. Er stand so hart und kalt wie das Wetter in seiner Bibliothek, um die Gesellschaft zu empfangen, und als er durch das verglaste Zimmer nach den Bäumen in dem kleinen Garten hinaussah, flatterten die braunen und gelben Blätter nieder, als habe sein Anblick sie zum Fallen gebracht. Huh – die Zimmer waren düster und kalt! Sie schienen gleich den Insassen des Hauses Trauer angelegt zu haben. Die Bücher, alle von gleicher Größe und gleich Soldaten in einer Linie aufgestellt, sahen in ihren kalten, harten, schlüpfrigen Uniformen aus, als hätten sie nur eine Aufgabe zu erfüllen – die des Gefrierens. Der verschlossene und mit Glastüren versehene Bücherschrank wies jede Vertraulichkeit zurück.
Obendrauf stand Mr. Pitt in Bronze, ohne eine Spur seines himmlischen Ursprungs in sich zu tragen, und hütete den unzugänglichen Schatz wie ein verzauberter Mohr. An jeder Ecke des Schranks predigte eine staubige Urne, aus altertümlichen Gräbern geholt, wie von zwei Kanzeln herunter Verödung und Hinfälligkeit, während der Spiegel über dem Kaminsims, der Mr. Dombey und sein Porträt mit einem Male reflektierte, sich in den melancholischsten Betrachtungen zu ergehen schien.
Die steifen, starren Feuereisen schienen vor allem übrigen die nächste Verwandtschaft mit Mr. Dombey ansprechen zu können, der in zugeknöpftem Frack, weißer Krawatte, knarrenden Stiefeln und mit einer schweren goldenen Uhrkette dastand. So verharrte er bis zur Ankunft von Mr. und Mrs. Chick, seinen gesetzmäßigen Verwandten, die sich bald nachher einstellten.
»Mein lieber Paul«, murmelte Mrs. Chick, als sie ihn umarmte, »hoffentlich der Anfang von vielen erfreulichen Tagen.«
»Danke dir, Louisa«, versetzte Mr. Dombey grämlich. »Wie geht es Euch, Mr. John?«
»Wie befindet Ihr Euch, Sir?« versetzte Chick.
Er reichte Mr. Dombey die Hand in einer Weise, als fürchte er, sie könnte ihn elektrisieren; Mr. Dombey aber nahm sie entgegen, als sei sie ein Fisch, ein Seeschwamm oder eine derartige schleimige Substanz, und ließ sie sogleich mit gesteigerter Höflichkeit wieder los.
»Vielleicht würdest du ein Feuer vorgezogen haben, Louisa?« bemerkte Mr. Dombey, seinen Kopf leicht in der Krawatte drehend, als bewege er sich in einem Scharnier.
»O, mein lieber Paul, nein«, versetzte Mrs. Chick, welche Mühe hatte, sich des Zähneklapperns zu erwehren; »um meinethalben ist es nicht nötig.«
»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, »Ihr neigt doch nicht zur Erkältung?«
Mr. John, der bereits seine beiden Hände bis über die Handgelenke in die Taschen gesteckt hatte und gerade im Begriff war, denselben hundeartigen Chorus anzustimmen, der bei einer früheren Gelegenheit Mrs. Chick so viel Anstoß gegeben, versicherte, daß er es hier vollkommen behaglich finde.
Er fügte in gedämpfter Stimme bei, »mit dem Tiddle Tol Turull«, wurde aber glücklicherweise von Towlinson unterbrochen, der die Meldung machte:
»Miß Tor!«
Die holde Zauberin trat ein mit blauer Nase und einem unbeschreiblich frostigen Gesicht, das sie dem Umstand verdankte, daß sie sich zu Ehren der Feierlichkeit in luftige und flatternde Fähnchen gehüllt hatte.
»Wie geht es Euch, Miß Tor?« sagte Mr. Dombey.
Miß Tor verbeugte sich inmitten des sie umgebenden Flitters sehr tief, so daß sie den Eindruck eines sich schließenden Opernglases erweckte. Sie knixte nämlich deshalb so tief, um Mr. Dombey für die Auszeichnung zu danken, daß er ihr ein paar Schritte entgegenkam.
»Ich kann diese Gelegenheit nie vergessen«, sagte Miß Tor mit weicher Stimme. »Das ist unmöglich! Meine teure Louisa, ich kann kaum dem Zeugnis meiner Sinne trauen.«
Wenn Miß Tor dem Zeugnis eines ihrer Sinne Glauben schenken konnte, so war es zuverlässig ein sehr kalter Tag. Das lag klar auf der Hand. Um die Zirkulation des Blutes in ihrer Nasenspitze zu fördern, rieb sie diese heimlich mit dem Taschentuch, damit sie den Säugling nicht zu sehr erschrecke, falls sie ihn küssen würde.
Der Kleine wurde bald nachher in großer Glorie von Richards hereingebracht, während Florence unter der Obhut der Susanna Nipper, die einer diensthabenden Polizistin glich, die Nachhut bildete. Obgleich sie jetzt alle leichtere Trauerkleidung trugen, lag doch noch genug im Äußeren der mutterlosen Kinder, um das Drückende des Tages hervortreten zu lassen. Auch der Säugling – vielleicht war die Nase der Miß Tor daran schuld gewesen – begann zu schreien und hinderte dadurch gefälligerweise Mr. Chick an der linkischen Erfüllung eines sehr wohlgemeinten Vorhabens, da er nämlich beabsichtigt hatte, viel aus Florence zu machen. Denn dieser Gentleman, der nichts von den überlegenen Ansprüchen einer vollkommenen Dombey wußte – vielleicht weil er selbst die Ehre hatte, mit einer Dombey vereinigt zu sein und deshalb mit Vortrefflichkeit vertraut war – liebte die Kleine wirklich, und war eben im Begriff, dieses in seiner eigenen Weise zu zeigen, als Paul zu schreien anfing und sich unverzüglich darauf sein teures Ehegemahl ins Mittel legte.
»Nun Florence, Kind?« sagte die Tante rasch. »Was treibst du, meine Liebe? Zeig dich ihm. Beschäftige seine Aufmerksamkeit!«
Die Atmosphäre wurde kälter und kälter oder hätte es wenigstens werden können, als Mr. Dombey so eisig dastand und seiner kleinen Tochter zusah, die ihre Händchen zusammenschlug, sich vor dem Thron seines Sohnes und Erben auf die Zehenspitzen stellte und ihm schmeichelte, daß er sich aus seiner Erhabenheit herabließ und sie ansah. Mrs. Richards hatte wohl die richtige Art, mit dem Kleinen umzugehen, denn er sah verklärt auf Florence herab und blieb jetzt ruhig. Als nun seine Schwester sich hinter der Amme versteckte, folgte er ihr mit seinen Augen, und als sie mit einem heiteren Zuruf wieder hervorguckte, streckte er sich, schrie lustig hinaus und lachte hell auf, als sie auf ihn zueilte. Er schien mit seinen kleinen Händchen ihre Locken liebhaben zu wollen, während sie ihn mit Küssen fast erstickte.
War Mr. Dombey wohl über diesen Anblick erfreut? Er bekundete wenigstens nicht durch das mindeste Muskelzucken ein Wohlbehagen. Aber äußere Merkmale irgendwelcher Gefühle waren bei ihm etwas Ungewöhnliches. Wenn sich je ein Sonnenstrahl in das Zimmer stahl, um die Kinder bei ihren Spielen zu beleuchten, so erreichte er nie sein Gesicht. Er sah so starr und kalt zu, daß das warme Licht sogar aus den lachenden Augen der kleinen Florence verschwand, als sie endlich zufällig den seinen begegnete.
Es war in der Tat ein trüber, grauer Herbsttag, und in der kurzen stummen Pause, die nun folgte, fielen die Blätter in Menge nieder.
»Mr. John«, sagte Mr. Dombey, nachdem er auf seine Uhr und nach seinem Hut und seinen Handschuhen griff, »Seid so gut, Euch meiner Schwester anzunehmen: mein Arm gehört heute Miß Tor. Es wird am besten sein, Richards, wenn Ihr mit Master Paul vorausgeht. Gebt aber wohl acht auf ihn.«
In Mr. Dombeys Wagen saßen Dombey und Sohn, Miß Tor, Mrs. Chick, Richards und Florence, während in einem kleineren Gefährt der Eigentümer desselben, Mr. Chick und Susanna Nipper folgten. Susanna sah ohne Unterlaß zum Kutschenschlag hinaus, um sich Erleichterung in der Verlegenheit zu verschaffen, dem breiten Gesichte dieses Gentleman gegenüber zu sitzen; dabei dachte sie, so oft sie etwas rauschen hörte, daß er ein anständiges klingendes Kompliment für sie in Papier einwickle.
Als sie sich auf dem Wege nach der Kirche befanden, klopfte Mr. Dombey zur Unterhaltung seines Sohnes in die Hände – ein Pröbchen seiner väterlichen Freude, über das Miß Tor ganz entzückt war. Aber abgesehen von diesem Vorfall bestand der Hauptunterschied zwischen der Taufpartie und einer Gesellschaft in einer Trauerkutsche nur in den Farben der Equipage und der Pferde.
An den Treppenstufen der Kirche angelangt, wurden sie von einem stattlichen Kirchendiener in Empfang genommen. Mr. Dombey verließ den Wagen zuerst, um den Damen herauszuhelfen, und sah, da er sich neben dem andern an dem Kutschenschlag aufpflanzte, wie ein zweiter Kirchendiener aus – als Büttel zwar weniger prunkhaft, aber schrecklicher, der Büttel des Privatlebens, der Büttel unserer Geschichte und unserer Herzen.
Die Hand der Miß Tor zitterte, als sie sie in Mr. Dombeys Arm legte und sich so die Treppe hinauf geleitet sah, voraus einen Eckenhut und einen babylonischen Kragen. Es kam ihr für einen Augenblick eine andere Feierlichkeit in den Sinn. »Willst du diesen Mann haben, Lukretia?« »Ja, ich will.«
»Wenn Ihr so gut sein wollt, so bringt das Kind hurtig aus der scharfen Luft herein«, flüsterte der Kirchendiener, indem er die innere Tür des Gotteshauses offen hielt.
Der Platz war so frostig und erdig, daß der kleine Paul mit Hamlet hätte fragen können: »In mein Grab?« Die hohe, verhüllte Kanzel und das Lesepult, die traurige Perspektive von leeren Stühlen, Mrs. Richards hatte wohl die richtige Art, mit dem Kleinen umzugehen, denn er sah verklärt auf Florence herab und blieb jetzt ruhig. die sich unter den Galerien hin erstreckten, und leere Bänke, die bis zu dem Dach hinaufstiegen und sich im Schatten der großen finsteren Orgel verloren, der staubige Teppich und die kalten Fliesensteine, die grauen freien Sitze in den Gängen und die feuchte Ecke bei dem Glockenseil, wo die schwarzen Schragen für die Leichenbegängnisse nebst einigen Schaufeln, Körben und ein paar unheimlich aussehenden Tauringen aufbewahrt waren, der befremdliche, ungewöhnliche und unbehagliche Geruch, die leichenhafte Erhellung – alles das stand im Einklang mit der kalten, unheimlichen Szene.
»Es geht eben eine Trauung vor, Sir«, sagte der Kirchendiener; »sie wird aber gleich vorüber sein. Wollt Ihr vielleicht inzwischen in die Sakristei hereinkommen?«
Ehe er sich wieder umwandte, um voranzugehen, verbeugte er sich vor Mr. Dombey mit einem halben Lächeln des Wiedererkennens, um ihm damit anzudeuten, daß er schon beim Begräbnis seiner Gemahlin das Vergnügen hatte ihn zu sehen, und er hoffte, es sei ihm, Mr. Dombey, inzwischen gut gegangen.
Auch die Hochzeitspartie sah sehr trübselig aus, als sie vor dem Altar vorbeiging. Die Braut war zu alt und der Bräutigam zu jung, die Hochzeitszeugen schauderten, und ein hoch in Jahren stehender Beau mit einem Auge, der das fehlende durch ein Augenglas ersetzte, führte die Dame hinweg. In der Sakristei rauchte das Feuer, und ein wohlbetagter, abgearbeiteter und schlecht bezahlter Attorny-Schreiber, der etwas suchte, ließ seine Zeigefinger über die Pergamentseiten eines ungeheuren Registers, aus einer langen Reihe ähnlicher Bände genommen, die gleichfalls mit Begräbnisaufzeichnungen vollgepfropft waren, herunterlaufen. Über dem Kamin befand sich ein Plan von den Grabgewölben unter der Kirche, und Mr. Chick, der, um die Gesellschaft zu beleben, den literarischen Teil davon laut zum besten gab, las die Hindeutung auf Mrs. Dombeys Ruhestätte vollständig, ehe er sich Einhalt zu tun vermochte.
Nach einem abermaligen kalten Zeitraume bot eine kleine magere Stuhlschließerin mit einem Asthma, das wohl auf den Kirchhof, aber nicht auf die Kirche hindeutete, die Gesellschaft nach dem Taufsteine auf. Hier warteten sie eine kleine Weile, während der die Hochzeitsgesellschaft sich in Reih und Glied setzte; die asthmatische Stuhlschließerin aber humpelte – teilweise infolge ihrer Gebrechlichkeit, aber auch um der Hochzeitsgesellschaft ihre Person in Erinnerung zu bringen – in dem Gebäude umher und hustete wie ein Nordkaper. Bald darauf erschien der Küster (hier der einzige heiter aussehende Gegenstand, obschon er zugleich Leichenbestatter war) mit einem Krug warmen Wassers, goß davon in den Taufkessel und sagte dabei etwas von möglicher Erkältung des Kindes, die bei dem gegenwärtigen Anlaß durch Millionen Eimer heißen Wassers nicht hätte vermieden werden können. Dann kam der Geistliche, ein angenehmer, mild aussehender junger Vikar, vor dem sich aber augenscheinlich das Kind fürchtete, gleich der Hauptfigur einer Geistergeschichte – »eine hohe, weiße Gestalt«. Wie Paul seiner ansichtig wurde, erfüllte er die Luft mit seinem Geschrei und ließ nicht ab davon, bis er ganz schwarzblau im Gesicht war.
Ja selbst als es endlich zur großen Beruhigung von jedermann so weit gekommen war, hörte man ihn noch während des Restes der Zeremonie unter dem Portikus bald schwächer, bald lauter, bald gedämpft, bald aufs neue wieder losbrechen aus dem unwiderstehlichen Gefühl des an ihm begangenen Unrechts. Das verwirrte die Aufmerksamkeit der beiden Damen dermaßen, daß Mrs. Chick unaufhörlich nach dem mittleren Gang hinging, um durch die Stuhlschließerin etwas zu bestellen, während Miß Tox ihr Gebetbuch bei der Schießpulververschwörung offen hielt und gelegentlich aus diesem Kapitel ihre Antworten ablas.
Während dieses ganzen Vorgangs blieb Mr. Dombey so teilnahmslos und gentlemanisch, wie nur je; vielleicht verursachte seine Anwesenheit die Kälte, welche dazu Anlaß gab, daß dem jungen Vikar beim Lesen jeder Hauch seines Mundes dampfte. Nur einmal bemerkte man eine Veränderung in seiner Miene, und das geschah, als der Geistliche in einfachem Vortrag seine Schlußermahnung an die Paten des Kindes hielt und dabei sein Auge auf Mr. Chick ruhen ließ. Mr. Dombeys Miene war bei dieser Gelegenheit so majestätisch, daß sich deutlich darin ausdrückte, »ich möchte doch sehen, ob es dieser je nötig hat, solchen Verpflichtungen nachzukommen«.
Es dürfte für Mr. Dombey gut gewesen sein, wenn er ein bißchen weniger an seine eigene Würde und mehr an den hohen Ursprung und an den Zweck der Feierlichkeit gedacht hätte, bei der er eine so förmliche und steife Rolle spielte. Seine Anmaßung bildete einen befremdlichen Gegensatz zu der Geschichte der heiligen Handlung.
Nachdem alles vorüber war, gab er Miß Tox abermals seinen Arm und führte sie nach der Sakristei, wo er dem Geistlichen mitteilte, es würde ihm ein großes Vergnügen gemacht haben, wenn er sich zum Diner die Ehre seiner Gesellschaft hätte erbitten können; hierauf müsse er aber wegen des unglücklichen Zustandes seiner häuslichen Angelegenheiten verzichten. Die Eintragungen wurden gemacht, die Gebühr bezahlt und weder die Stuhlschließerin, deren Husten wieder sehr schlimm geworden war, noch der Kirchendiener oder der Küster, der wie zufällig in der Tür, die zur Treppe führte, stand und mit großem Interesse das Wetter betrachtete, vergessen. Dann stiegen sie wieder in den Wagen und fuhren in derselben kalten Geselligkeit nach Hause.
Dort war Mr. Pitt, der die Nase über einen kalten Imbiß rümpfte, der in kaltem Pomp von Glas und Silber aufgetragen war und eher einem toten Diner auf dem Paradebette, als einer sozialen Erfrischung glich. Bei ihrer Ankunft brachte Miß Tox einen Becher für ihr Patchen zum Vorschein, und Mr. Chick beschenkte es mit Messer, Gabel und Löffel in einem andern Futteral. Auch Mr. Dombey hatte sich mit einem Armband für Miß Tox versehen, und beim Empfang dieses Andenkens entwickelte besagte Dame eine große Rührung.
»Mr. John«, sagte Dombey, »wollt Ihr die Güte haben, unten am Tisch Platz zu nehmen? Was steht vor Euch, Mr. John?«
»Kalter Nierenbraten, Sir«, entgegnete Mr. Chick, die steifen Hände hart gegeneinander reibend. »Was habt Ihr dort, Sir?«
»Das«, versetzte Mr. Dombey, »ist, glaube ich, irgendein kaltes Präparat von Kalbskopf. Ich sehe noch kaltes Geflügel – Schinken – Pastetchen – Salat – Hummern. »Miß Tox, wollt Ihr mir die Ehre erweisen, etwas Wein anzunehmen? Champagner für Miß Tox.«
Lauter zahnwehmachende Dinge. Der Wein war so grimmig kalt, daß Miß Tox einen leichten Schrei ausstieß, und sie hatte große Mühe, ihn zu einem »hem« umzuwandeln. Der Nierenbraten kam aus einer so luftigen Speisekammer, daß der erste Bissen auf Mr. Chick den Eindruck machte, als ränne ihm kaltes Blei bis an die Zehenspitzen. Nur Mr. Dombey blieb unbewegt. Man hätte ihn auf einem russischen Jahrmarkt als Probe eines erfrorenen Gentlemans zum Verkauf aushängen können.
Der vorherrschende Eindruck war sogar für seine Schwester zu viel. Sie gab sich sogar keine Mühe, ihre sonstigen Schmeicheleien und ihre Redseligkeiten anzubringen, sondern richtete alle ihre Anstrengungen darauf hin, so warm, als sie nur konnte, auszusehen.
»Na, Sir«, sagte Mr. Chick, nach langem Schweigen einen verzweifelten Anlauf nehmend und sich dazu ein Glas Xeres füllend; »mit Eurer Erlaubnis, Sir, will ich ein Hoch auf den kleinen Paul ausbringen.«
»Gott segne ihn!« murmelte Miß Tox, von ihrem Weine schlürfend.
»Der liebe kleine Dombey!« flüsterte Mrs. Chick.
»Mr. John«, sagte Mr. Dombey mit ernster Gravität, »wenn mein Sohn die Gunst, die Ihr ihm erwiesen habt, zu würdigen wüßte, so würde er sich ohne Zweifel sehr verpflichtet fühlen und Euch seinen Dank ausdrücken. Doch ich hoffe zuversichtlich, er wird mit der Zeit den Beweis liefern, daß er jeder Verantwortlichkeit gewachsen ist, welche ihm die Verbindlichkeit seiner Verwandten und Freunde im Privatleben oder die beschwerliche Beschaffenheit unserer Stellung im öffentlichen auferlegen kann.«
Der Ton, in dem das gesprochen wurde, gab nichts Weiterem Raum, und Mr. Chick verfiel wieder in ein trübseliges Schweigen. Nicht so Miß Tox, welche Mr. Dombey sogar mit emphatischerer Aufmerksamkeit als gewöhnlich und mit einer ausdrucksvolleren Neigung ihres Kopfes auf die eine Seite zugehört hatte. Sie lehnte sich jetzt quer über den Tisch und sagte mit leiser Stimme zu Mr. Chick:
»Louisa!«
»Meine Liebe«, versetzte Mrs. Chick.
»Die beschwerliche Beschäftigung unserer Stellung im öffentlichen ihm – ich habe den Ausdruck wieder vergessen.«
»Zulegen könnte«, sagte Mrs. Chick.
»Verzeiht, meine Liebe«, erwiderte Miß Tox. »Ich glaube nicht. Er war gerundeter und fließender. Die Verbindlichkeit seiner Verwandten und Freunde im Privatleben oder die beschwerliche Beschaffenheit der Stellung im öffentlichen – ihm – auflegen könnte?«
»Natürlich ihm auflegen könnte«, sagte Mrs. Chick.
Miß Tox schlug triumphierend, aber doch nur leicht ihre zarten Hände zusammen und fügte mit einem aufwärts gerichteten Blick hinein: »In der Tat Beredsamkeit!«
Mittlerweile hatte Mr. Dombey Befehl erteilt, daß die Richards herbeigerufen werden sollte, und diese trat jetzt mit Verbeugungen, aber ohne Bübchen, herein, da Paul nach den Anstrengungen des Morgens schläfrig geworden war. Mr. Dombey überreichte dieser Vasallin ein Glas Wein und redete sie mit nachstehenden Worten an, nachdem zuvor Miß Tox ihren Kopf zur Seite geneigt und alle übrigen Vorbereitungen getroffen hatte, sie in den Tiefen ihrer Seele einzugraben.
»Während der sechs Monate oder so, Richards, welche Ihr eine Insassin dieses Hauses gewesen seid, habt Ihr Eure Pflicht getan. Es war daher mein Wunsch, Euch bei dieser Gelegenheit einen kleinen Dienst zu erweisen. Ich habe darüber nachgedacht, wie ich das am besten könnte, und befragte deshalb meine Schwester, Mistreß –«
»Chick«, flocht der Gentleman dieses Namens ein.
»O, seht, wenn ich bitten darf!« sagte Miß Tox.
»Ich wollte Euch sagen, Richards«, nahm Mr. Dombey mit einem streng zurechtweisenden Blick gegen Mr. John wieder auf, »daß meinen Entschluß die Erinnerung an ein Gespräch unterstützte, das ich mit Eurem Gatten in diesem Zimmer hatte, zur Zeit, als Ihr gemietet wurdet. Er entdeckte mir damals den traurigen Umstand, daß Eure Familie, ihn selbst, das Haupt, nicht ausgenommen, tief in Unwissenheit versunken sei.«
Richards bebte unter der Großartigkeit dieses Vorwurfs.
»Ich bin zwar durchaus kein Freund von dem«, fuhr Mr. Dombey fort, »was von den aufdringlichen Gleichmachern allgemein Erziehung genannt wird; aber es ist immerhin nötig, daß die unteren Klassen fortwährend unterrichtet werden, wie sie ihre Stellung erkennen und sich demgemäß gebührend aufführen müssen. Insoweit haben die Schulen meinen Beifall. Da es nun in meiner Macht steht, für eine alte Anstalt, die von einer verehrungswerten Gesellschaft den Namen der barmherzigen Schleifer erhalten hat, ein Kind zu nominieren – die Schüler erhalten dort nicht nur eine gesunde Erziehung, sondern auch einen mit dem Abzeichen des Instituts versehenen Anzug – so habe ich, nachdem ich zuerst durch Mrs. Chick mit Eurer Familie Rücksprache nehmen ließ, Euren ältesten Sohn für eine erledigte Stelle bezeichnet, und wie ich höre, trägt er schon heute die Montierung. Die Nummer ihres Sohnes«, fügte Mr. Dombey gegen seine Schwester bei, als ob er nicht von einem Kinde, sondern von einer Mietkutsche spreche – »ist, wie ich glaube, hundertsiebenundvierzig. Louisa, du kannst es ihr sagen.«
»Hundertsiebenundvierzig«, bekräftigte Mrs. Chick. »Die Montierung, Richards, besteht aus einem netten, warmen blauwollenen Fräcklein, einer Mütze mit orangefarbigem Band, rotwollenen Strümpfen und sehr starken Lederhosen. Man könnte die Sachen selbst tragen«, fügte Mrs. Chick mit Enthusiasmus hinzu, »und Gott dafür danken.«
»So, Richards!« sagte Miß Tox. »Nun dürft Ihr in der Tat stolz sein. Die barmherzigen Schleifer!«
»Ich bin Euch gewiß sehr verbunden, Sir«, entgegnete Richards kleinlaut, »und weiß es sehr zu schätzen, daß Ihr meiner Kleinen gedenkt.«
Wie sie aber zu gleicher Zeit sich den Sieder als barmherzigen Schleifer dachte und sich seine sehr kleinen Beine in der dauerhaften Kleidung, wie sie Mrs. Chick beschrieben hatte, vergegenwärtigte, schwamm es ihr vor den Augen, so daß sie ganz feucht wurden.
»Es freut mich, zu bemerken, daß Ihr soviel Gefühl habt, Richards«, sagte Miß Tox.
»Ja wahrhaftig, es läßt einen fast hoffen«, sagte Mrs. Chick, die sonst sehr darauf hielt, die menschliche Natur durch das Auge des Argwohns zu betrachten, »daß vielleicht noch ein kleiner Funke von Dankbarkeit und richtigem Gefühl in der Welt übrig geblieben ist.«
Richards erwiderte diese Komplimente nur mit Knixen und gemurmelten Dankesäußerungen. Da es ihr aber unmöglich war, sich von der Verwirrung zu befreien, in welche sie das Bild ihres Sohnes mit der vorzeitigen Beinbekleidung versetzt hatte, so näherte sie sich allmählich der Tür und schätzte sich glücklich, durch dieselbe entkommen zu können.
Solche vorübergehende Anzeichen eines teilweisen Auftauens, die mit ihr aufgetaucht waren, verschwanden mit ihrer Entfernung wieder, und der Frost trat aufs neue so kalt und hart ein, wie nur je. Unten am Tisch hörte man zwar etliche Male Mr. Chick eine Arie summen, aber stets war es nur ein Bruchstück aus dem Totenmarsch im Saul. Die Gesellschaft schien kälter und kälter zu werden, ja zuletzt sich in einen gefrorenen und festen Zustand zu versetzen, gleich dem Imbiß, um den sie sich versammelt hatte. Endlich sah Mrs. Chick nach Miß Tox hin, und Miß Tox erwiderte den Blick; dann erhoben sich beide und sagten, daß es wahrhaftig Zeit sei, aufzubrechen. Mr. Dombey nahm diese Ankündigung mit völligem Gleichmut entgegen; die Anwesenden verabschiedeten sich von diesem Gentleman und entfernten sich ohne Zögerung unter dem Schutze des Mr. Chick, der, sobald sie dem Hause den Rücken gekehrt und den Gebieter desselben in seinem gewöhnlichen einsamen Zustande zurückgelassen hatten, die Hände in seine Taschen steckte, sich in den Wagen zurückwarf und ein »mit dem Heidideldumdidum!« ganz durchpfiff. Dabei legte er in sein Gesicht einen Ausdruck so voll düsteren und schrecklichen Trotzes, daß es Mrs. Chick nicht wagte, zu protestieren oder in irgendeiner Weise ihn zu belästigen.
Obgleich Richards den kleinen Paul auf ihrem Schoß hatte, konnte sie doch ihren eigenen Erstgeborenen nicht vergessen. Sie fühlte zwar wohl, daß sie undankbar war; aber der Einfluß des Tages fiel sogar auf die barmherzigen Schleifer, und sie konnte sich kaum erwehren, das zinnerne Abzeichen mit Nummer hundertundsiebenundvierzig in irgendeiner Weise als einen Teil seiner Förmlichkeit und Kälte zu betrachten. Auch sprach sie in der Kinderstube von seinen »gesegneten Beinen«, und aufs neue fühlte sie sich durch sein Abbild in Uniform beunruhigt.
»Ich weiß nicht, was ich darum geben würde«, sagte Polly, »wenn ich den armen lieben Kleinen sehen könnte, ehe er sich daran gewöhnt hat.«
»Ei, so will ich Euch etwas sagen, Mrs. Richards«, entgegnete Nipper, die ins Vertrauen gezogen worden war, »besucht ihn, damit Ihr Euch darüber beruhigen könnt.«
»Mr. Dombey wird es nicht gerne haben«, sagte Polly.
»Warum nicht gar, Mrs, Richards«, erwiderte Nipper; »im Gegenteil, ich glaube, er würde sich freuen, wenn er darum gebeten würde.«
»Vermutlich würdet Ihr ihn nicht darum bitten wollen?« sagte Polly.
»Nein, Mrs. Richards, ganz im Gegenteil, und da, wie ich sie heute sagen hörte, jene zwei Inspektorinnen, Tox und Chick, morgen nicht Dienst zu tun gedenken, so wollen ich und Miß Floy morgen früh mit Euch gehen, recht gerne, Mrs. Richards, wenn es Euch recht ist, denn wir können dort so gut die Straße auf und ab spazieren, als anderswo, ja noch besser.«
Polly wies diesen Gedanken anfänglich ziemlich standhaft zurück; aber allmählich begann sie sich daran zu gewöhnen, um so mehr, da die verbotenen Bilder ihrer Kinder und ihrer Heimat ihr immer lebhafter vor die Seele traten. Endlich kam sie zu dem Schlusse, es schade ja nichts, wenn sie einen Augenblick an der Tür anspreche, und dieser Grund bewog sie, auf Klippers Vorschläge einzugehen.
Nachdem die Sache in dieser Weise beschlossen war, begann der kleine Paul kläglich zu schreien, als habe er eine Vorahnung, daß nichts Gutes dabei herauskommen würde.
»Was ist mit dem Kinde?« fragte Susanna.
»Es wird ihn frieren, denke ich«, entgegnete Polly, und ging mit ihm hin und her, um ihn zum Schweigen zu bringen.
Es war in der Tat ein frostiger Herbstnachmittag, und als sie, ihren Pflegling pätschelnd, hin und her ging, ihn fester an ihre Brust drückte und durch die traurigen Fenster hinausschaute, fielen die welken Blätter mit Macht nieder.
Sechstes Kapitel. PAULS ZWEITE VERWAISUNG.
Am Morgen kamen Polly so allerlei Bedenken, daß sie ohne das unaufhörliche Drängen ihrer schwarzäugigen Gefährtin alle Gedanken an den Ausflug aufgegeben und förmlich um die Erlaubnis gebeten haben würde, Nummer 147 unter dem unheimlichen Schatten von Mr. Dombeys Dach zu sehen. Aber Susanna, die persönlich auf den Spaziergang erpicht war, konnte es durchaus nicht ertragen, wenn ihre eigenen Erwartungen getäuscht würden, wie standhaft sie sich auch bei den fehlgeschlagenen Hoffnungen anderer zu benehmen wußte. Sie brachte gegen diesen späteren Gedanken so viele scharfsinnige Zweifel, dann wieder so viele sinnreiche Gründe für die ursprüngliche Absicht zum Vorschein, daß Mr. Dombey seinem Hause kaum den stattlichen Rücken gedreht hatte, um seinen täglichen Gang nach der City zu machen, als sich sein nichtsahnender Sohn schon auf dem Wege nach Staggs Gärten befand.
Die vielverheißende Lokalität lag in einer Vorstadt, die bei den Bewohnern von Staggs Gärten unter dem Namen Camberling Town bekannt war – eine Bezeichnung, die die Fremdenkarte von London, die zwecks angenehmer und bequemer Benutzung auf Taschentücher gedruckt ist, mit einigem Schein von Grund in Cambden Town zusammengezogen hat. Dahin nun lenkten die zwei Wärterinnen, von ihren Pfleglingen begleitet, ihre Schritte. Richards trug natürlich den kleinen Paul, und Susanna, die Florence an der Hand führte, versetzte ihrer Mündel von Zeit zu Zeit so viele Rucke und Stöße, als ihr zweckdienlich schienen.
Der erste Stoß eines großen Erdbebens hatte eben damals diese ganze Gegend bis in ihren Mittelpunkt auseinander gerissen. Spuren seines Verlaufs waren noch zu jeder Seite sichtbar. Man bemerkte eingestürzte Häuser, zerrissene Straßen, tiefe Furchen und Gruben in dem Boden, Aufwürfe von Erde und Lehm, unterminierte Häuser, die wankend dastanden und durch schweres Holzgebälk abgestützt wurden. Hier lag ein Chaos von übereinander gestürzten Karren unten an einem steilen unnatürlichen Hügel, dort sah man Schätze von Eisen eingeweicht und rostend an einer Stelle, die zufälligerweise ein Teich geworden war. Überall befanden sich Brücken, die nirgends hinführten, völlig unpassierbare Straßen, babylonische Türme von Schornsteinen, die die Hälfte ihrer Höhe verloren hatten, zackige Holzhütten und Verzäunungen in den unwahrscheinlichsten Lagen, Gerippe von zerrissenen Baracken, Bruchstücke unvollendeter Mauern und Bogen, Schichten von Gerüsten, eine wahre Wildnis von Backsteinen, riesige Formen von Kranen und Dreifüßen, die über nichts ihre Beine breiteten. Hunderttausend unvollendete Formen und Substanzen, wild untereinander gemengt, das Unterste zu oberst gekehrt, bald in die Erde tauchend, bald in die Luft hinausstrebend oder im Wasser modernd, zeigten sich allenthalben wie die unverständlichen Bilder eines Traumes. Heiße Quellen und feurige Eruptionen, die gewöhnlichen Begleiter von Erdbeben, trugen dazu bei, die Verwirrung der Szene zu erhöhen. Kochendes Wasser zischte und prudelte in verfallenen Mauern, aus denen auch der Glanz und das Getöse von Flammen hervorging. Aschenhaufen benahmen den Straßen ihre Rechte und veränderten ganz und gar den gewohnten regelmäßigen Gang in der Umgegend. Mit einem Worte, die noch uneröffnete und unvollendete Eisenbahn nahm ihren Fortgang, aus dem Herzen aller dieser wilden Unordnung glatt sich weiterstreckend im mächtigen Lauf der Zivilisation und des Fortschritts.
Aber bis jetzt war die Umgegend noch schüchtern und wagte es nicht, die Eisenbahn sich zuzueignen. Ein paar kecke Spekulanten hatten Straßen projektiert, einer davon sogar ein wenig gebaut, unter dem Schmutz und der Asche aber innegehalten, um sich noch eines weiteren zu besinnen. Eine Schenke, die noch nach Mörtel roch und ohne Bewurf war, hatte sich das Eisenbahn-Wappen zum Schild gewählt; die Unternehmung war vielleicht voreilig – indes stand doch zu hoffen, daß die Bahnarbeiter trinken wollten. So war eine Bierkneipe zum Zuspruchshaus für Grabarbeiter und die alte Garküche zum Eisenbahn-Speisehaus geworden, wo man täglich gebratene Schweinshaxen haben konnte; auch gab es noch weitere Umwandlungen aus eigennützigen Motiven einer ähnlich plötzlichen und populären Art. Die Vermieter von Zimmern und Schlafstätten zeigten sich ebenso wohlwollend, fanden aber aus den gleichen Gründen kein sonderliches Vertrauen, da man im allgemeinen noch nicht recht an das Ganze glaubte. Da sah man muffige Felder, Kuhställe, Dünger- und Kehrichthaufen, Gräben, Gärten und Plätze zum Teppichausklopfen sozusagen an der Tür der Eisenbahn. Zur Austernzeit Hügel von Austernschalen, oder zur Hummerzeit Berge von Hummernscheren, stets aber zerbrochenes Töpfergeschirr und welke Kohlblätter türmten sich an den hohen Plätzen auf. Pfosten, Geländer, alte Warnungstafeln für unberufene Personen, Hinterseiten von schlechten Häusern und Striche verkümmerter Vegetation stierten grimmig nach der Bahn hin; nichts war durch sie gebessert worden oder wollte um ihrerwillen besser sein. Wenn der jämmerliche Grund in der Nähe hätte lachen können, so würde er, wie so viele von den armseligen Nachbarn, seine Verachtung in dieser Weise ausgedrückt haben.
Staggs Gärten waren über die Maßen merkwürdig. Sie bestanden aus einer kleinen Reihe von Häusern mit kleinen, schmutzigen Plätzen davor, die mit alten Türen, Faßdauben, Fetzen von Teerleinwand oder abgestorbenen Hecken verzäunt waren, während die Lücken durch bodenlose Blechkessel und ausgediente eiserne Kaminschirme ausgefüllt wurden. Da zogen die Staggs-Gärtner Feuerbohnen, hielten Vögel und Kaninchen, bauten morsche Gartenhäuschen (eines aus einem alten Boot), trockneten Wäsche und rauchten Pfeifen. Einige waren der Ansicht, die Staggs-Gärten führten den Namen von einem verstorbenen Kapitalisten, einem gewissen Mr. Staggs, der sie zu seinem Vergnügen angelegt hätte. Andere von mehr ländlichem Geschmack meinten, die Bezeichnung rühre aus jenen Zeiten her, als die mit Geweihen versehene Herde, unter dem Namen Stags (Hirsche) bekannt, diese schattigen Räume besucht habe. Sei dem nun wie ihm wolle, die dortige Bevölkerung betrachtete Staggs Gärten als einen geheiligten Hain, der nicht durch Eisenbahnen verderbt werden sollte, und lebte der völligen Überzeugung, sie würden alle derartige lächerliche Erfindungen lang überleben. Ja, der Hauptkaminfeger an der Ecke, der zugestandenermaßen der erste unter den Lokal-Politikern in den Gärten war, hatte öffentlich erklärt, am Tage der Eröffnung der Eisenbahn, wenn diese je stattfinde, müßten zwei von seinen Burschen auf die Schornsteine seines Hauses steigen und von dort aus das Fehlschlagen der Unternehmung mit Spott und Hohn begrüßen.
Nach diesem ungeheiligten Platz also, dessen Namen sogar Mrs. Chicks ihrem Bruder sorgfältig verschwiegen hatte, wurde jetzt der kleine Paul vom Fatum und von Richards getragen.
»Dort ist mein Haus, Susanna«, sagte Polly, und zeigte mit dem Finger darauf.
»Das ist es wirklich, Mrs. Richards?« versetzte Susanna herablassend.
»Und wahrhaftig, ich sehe meine Schwester Jemima an der Tür,« rief Polly, »mit meinem süßen köstlichen Bübchen auf den Armen!«
Dieser Anblick beflügelte Pollys Ungeduld, so daß sie ihre Schritte zu einem eigentlichen Rennen beschleunigte. Sie stürzte auf Jemima zu und hatte im Nu die beiden Kleinen ausgewechselt – zum unaussprechlichen Erstaunen der jungen Dame, auf welche der Erbe der Dombeys wie aus den Wolken herabgefallen zu sein schien.
»Ei, Polly!« rief Jemima. »Du! Was hast du da für eine Verwechslung vorgenommen? Wer hätte das je gedacht! Komm mit herein, Polly. Und wie gut du aussiehst! Die Kinder werden ganz außer sich geraten, wenn sie dich sehen, Polly.«
Und so war es auch, wenn anders man einen Schluß ziehen durfte aus dem Geschrei, das sie jetzt anfingen, und aus der Art, wie sie auf Polly zustürzten, um sie nach einem Schemel in der Kaminecke zu zerren, wo ihr Apfelgesicht plötzlich der Mittelpunkt eines Häufleins von Borsdorferäpfeln wurde, die ihre rosigen Wangen dicht daran schmiegten – alle augenscheinlich Erzeugnisse desselben Baumes. Was Polly betraf, so war sie ebenso laut und ungestüm, wie die Kinder, und in dieser Verwirrung trat erst eine Pause ein, als sie kaum noch zu Atem kommen konnte, ihr Haar zerzaust um das glühende Gesicht hing und ihr neues Taufkleid schon recht sehr zerknittert war. Aber auch dann noch blieb der zweitjüngste Toodle auf ihrem Schoß, ihren Hals mit seinen Armen fest umfassend, während der nächst ältere Toodle auf die Stuhllehne stieg und, das eine Bein in die Luft streckend, verzweifelte Anstrengungen machte, seine Mutter um die Ecke herum zu küssen.
»Seht, da ist eine hübsche kleine Dame zu euch auf Besuch gekommen«, sagte Polly. »Und wie ruhig sie ist! Ist es nicht ein hübsches Mädchen?«
Diese Hindeutung auf Florence, die von der Tür aus der Szene zugesehen hatte, wandte die Aufmerksamkeit der jüngeren Toodles ihr zu und übte in gleicher Weise die glückliche Wirkung, eine förmliche Begrüßung der Miß Nipper herbeizuführen, die es schon wurmte, daß sie so vernachlässigt wurde.
»O kommt doch herein und nehmt ein Weilchen Platz, Susanna, ich bitte«, sagte Polly. »Das hier ist meine Schwester Jemima. Jemima, ich wüßte nicht, was ich je mit mir selbst anfangen sollte, wenn Susanna Nipper nicht wäre; ohne sie würde ich jetzt nicht hier sein.«
»O, so nehmt doch Platz, Miß Nipper, wenn ich bitten darf«, ergriff jetzt Jemima das Wort.
Susanna setzte sich mit stattlicher und zeremoniöser Miene auf das äußerste Ende eines Stuhls.
»In meinem Leben bin ich nie so erfreut gewesen, jemand zu sehen; ja wahrhaftig nicht. Miß Nipper«, sagte Jemima.
Susanna erweichte sich ein wenig, rückte auf ihrem Stuhl etwas weiter herauf und lächelte in Gnaden.
»Nehmt doch Euern Hut ab und tut, als ob Ihr zu Hause wäret. Miß Nipper«, bat Jemima. »Leider ist es nur ein armes Haus, und Ihr seid an dergleichen nicht gewöhnt; aber ich bin überzeugt, daß Ihr Nachsicht haben werdet.«
Durch dieses unterwürfige Benehmen wurde die Schwarzäugige so erweicht, daß sie die kleine Miß Toodle, welche an ihr vorbeiging, beim Händchen faßte und sie unverweilt nach Banbury-Croß führte.
»Aber wo ist mein netter Junge?« fragte Polly. »Mein armer Knabe? Ich bin hierher gekommen, um zu sehen, wie er sich in seinen neuen Kleidern ausnimmt.«
»Ach, wie schade!« rief Jemima. »Es wird ihm das Herz brechen, wenn er hört, daß seine Mutter hier war. Er ist in der Schule, Polly.«
»Schon angefangen?«
»Ja. Gestern ging er zum ersten Male hin, weil er fürchtete, von dem Lernen etwas zu verlieren. Aber es ist ein halber Vakanztag, Polly; wenn du nur hier bleiben könntest, bis er nach Hause kommt – du und Miß Nipper«, fügte Jemima bei, sich noch rechtzeitig der Würde der Schwarzäugigen erinnernd.
»Und wie sieht er aus, Jemima? Gott segne ihn!« stotterte Polly.
»Nun, er sieht wahrhaftig nicht so schlimm aus, als du wohl glauben magst«, erwiderte Jemima.
»Ah!« sagte Polly bewegt, »ich weiß, seine Beine müssen zu kurz sein.«
»Seine Beine sind freilich kurz«, erwiderte Jemima, »namentlich hinten; aber sie werden mit jedem Tag länger, Polly.«
Das war eine Art Trost von langsamer Aussicht, aber die Heiterkeit und Laune, mit welcher er angebracht ward, verlieh ihm einen Wert, den er dem Wesen nach nicht besaß. Nach einem kurzen Schweigen fragte Polly etwas aufgeräumter:
»Und wo ist der Vater, liebe Jemima?« – denn unter dieser patriarchalischen Bezeichnung wurde in der Familie Mr. Toodle verstanden.
»Da haben wir es wieder!« sagte Jemima. »Wie schade! Der Vater hat heute morgen sein Mittagessen mitgenommen und kommt vor Nacht nicht nach Hause. Aber er spricht immer von dir, Polly, und erzählt den Kindern von dir. Er ist die friedliebendste, geduldigste und frohherzigste Seele auf der Welt, wie er es stets war und sein wird!«
»Ich danke dir, Jemima«, rief die einfache Polly, erfreut über diese Mitteilung, wie sehr ihr auch seine Abwesenheit leid tat.
»O, du brauchst mir nicht zu danken, Polly«, versetzte ihre Schwester, indem sie ihr einen schallenden Kuß auf die Wangen drückte und dann wohlgemut mit dem kleinen Paul umhertanzte. »Ich sage bisweilen das nämliche auch von dir, und es kommt mir von Herzen.«
Trotz der zweifachen getäuschten Erwartung war es unmöglich, einen Besuch, der solche Aufnahme gefunden hatte, im Lichte eines Fehlgangs zu betrachten. Die Schwestern sprachen daher voll Hoffnung über Familienangelegenheiten, über Sieder und über alle seine Brüder und Schwestern, während die Schwarzäugige, nachdem sie mehrere Gänge nach Banbury-Croß und zurück gemacht hatte, das Möbelwerk, die Schwarzwälderuhr, den Wandschrank, das Schloß auf dem Kaminsims mit seinen roten und grünen Fenstern, die das Licht einer innen angezündeten Kerze durchstrahlen lassen konnten, und die paar kleinen schwarzen Samtkätzchen musterte, von denen jedes einen Damenbeutel im Munde hatte. Die letzteren Stücke galten unter den Staggs Gärtnern als wahre Wunderwerke der nachahmenden Kunst. Da die Unterhaltung bald allgemein wurde, damit der Schwarzäugigen auch ihr Anteil zukommen möchte, so erzählte diese junge Dame in sarkastischer Weise Jemima alles, was sie von Mr. Dombey, seinen Aussichten, seiner Familie, seinem Treiben und Charakter wußte. Dann ging sie auf ein genaues Inventar ihrer eigenen Garderobe und auf eine Aufzählung ihrer hauptsächlichsten Verwandten und Freundinnen über. Nachdem sie in dieser Weise ihr Herz erleichtert hatte, nahm sie teil an den Garnelen und dem Porter, und befand sich in der Stimmung, ewige Freundschaft zu schwören.
Die kleine Florence versäumte gleichfalls nicht, diese Gelegenheit zu benützen; denn nachdem sie unter der Führung der beiden jungen Toodles einige Hexenschirme und andere Merkwürdigkeiten der Gärten inspiziert hatte, ließ sie sich mit ihnen wohlgemut auf die Herstellung eines zeitweiligen Damms durch eine kleine grüne Lache ein, die sich in einer Ecke gesammelt hatte. Sie war noch eifrig in diesem Geschäft begriffen, als sie von Susanna gesucht und aufgefunden wurde. Letztere hatte selbst unter dem humanisierenden Einfluß der Garnelen ihre Pflicht nicht vergessen und ergoß sich jetzt unter vielen Daumenstößen in eine moralische Rede über ihre entartete Natur, indem sie ihr zugleich Gesicht und Hände wusch und die Prophezeiung beifügte, sie werde die grauen Haare ihrer ganzen Familie mit Leidwesen ins Grab bringen. Nach einiger Verzögerung, die ihren Grund in einem vertraulichen Gespräch zwischen Polly und Jemima über Geldangelegenheiten hatte (natürlich wurde das eine Treppe weiter oben abgemacht), fand wieder ein Austausch der Säuglinge statt, da Polly die ganze Zeit über ihr eigenes Kind für sich behalten und den kleinen Paul Jemima überlassen hatte. Dann verabschiedeten sich die Gäste.
Die jungen Toodles waren zuvor als Opfer einer frommen List insgesamt nach dem Laden eines benachbarten Spezereihändlers geschickt worden, unter dem ostensibeln Vorwand, sich für einen Penny etwas zu kaufen. Sobald die Küste frei war, flüchtete sich Polly. Jemima rief ihr noch nach, daß sie, wenn sie auf dem Rückwege die Citystraße einschlagen würden, sicher den von der Schule zurückkommenden Sieder treffen würden.
»Glaubt Ihr, wir haben noch Zeit, den kleinen Umweg in dieser Richtung zu machen, Susanna?« fragte Polly, als sie haltmachten, um Atem zu schöpfen.
»Warum nicht, Mrs. Richards?« entgegnete Susanna.
»Ihr wißt, es ist bald Mittagessenszeit«, sagte Polly.
Aber das bereits eingenommene Lunch machte ihre Begleiterin mehr als gleichgültig gegen diese gewichtige Rücksicht; sie nahm die Sache auf die leichte Achsel, und so wurde denn der Beschluß gefaßt, sich an dem kleinen Umwege nicht zu stoßen.
Des armen Sleders Leben war seit dem gestrigen Morgen durch den Umstand, daß er das Kostüm der barmherzigen Schleifer trug, sehr leidig geworden, da die Straßenjugend gewaltigen Anstoß daran nahm. Kein junger Galgenstrick konnte den Anblick desselben auch nur einen Moment aushalten, ohne sich auf den harmlosen Träger zu stürzen und ihm einen Possen zu spielen. Seine soziale Existenz glich mehr der eines Christen aus den ersten Zeiten, als der eines unschuldigen Kindes aus dem neunzehnten Jahrhundert. In den Straßen hatte man ihn gesteinigt, man warf ihn in die Gossen, besudelte ihn mit Kot oder drückte ihn ungestüm an die Eckpfosten. Wildfremde Jungen hatten ihm seine gelbe Kappe vom Kopf gerissen und sie in die Luft geworfen. Seine Beine mußten sich nicht nur Verbal-Kritiken und Schmähungen gefallen lassen, sondern wurden auch handgreiflich behandelt und gezwickt. Schon am Morgen hatte er auf seinem Wege nach der Anstalt der Schleifer ein vollkommen unerbetenes blaues Auge davongetragen und war deshalb von dem Schulmeister, einem hochbetagten alten Schleifer von wilder Gemütsart, den man zum Lehrer ernannt hatte, weil er nichts wußte, zu nichts taugte und mit seinem grausamen Rohr alle rundbäckigen kleinen Jungen in beharrlichem Schrecken erhalten konnte – in Strafe genommen worden.
So kam es denn, daß Sieder auf dem Heimwege die unbegangensten Pfade aufsuchte und durch enge Wege und Hintergassen schlich, um seinen Quälgeistern auszuweichen. Als er endlich in die Hauptstraße einbiegen mußte, führte ihn sein Mißgeschick unter einen Bubenhaufen, der unter der Anführung eines wilden Metzgerlehrlings auf der Lauer lag, ob sich nichts ergebe, wodurch sie sich eine angenehme Aufregung verschaffen könnten. Da sie nun plötzlich einen barmherzigen Schleifer mitten unter sich sahen – sozusagen unerklärlicherweise ihren Händen überantwortet – stimmten sie ein allgemeines Gejohl an und stürzten auf ihn los.
Zu gleicher Zeit fügte es sich, daß Polly des Wegs kam. Sie war bereits eine gute Stunde gegangen und hatte hoffnungslos die Straße vor sich hinaufgesehen, so daß sie schon meinte, es nütze nichts, weiter zu gehen, als sie plötzlich diese Szene gewahr wurde. Kaum hatte sie ihren Knaben erkannt, als sie einen hastigen Schrei ausstieß, Master Dombey der Schwarzäugigen aufdrang und unter den Haufen stürzte, um ihren unglücklichen Sohn zu retten.
Überraschungen kommen gleich dem Unglück selten allein. Die erstaunte Susanna Nipper und ihre beiden jungen Pflegebefohlenen mußten, noch ehe sie wußten, was um sie vorging, von den Umstehenden vor den Rädern eines vorbeifahrenden Wagens weggerissen werden, und im gleichen Augenblick (es war Markttag) ließ sich der donnernde Lärmruf »ein wütender Ochse!« vernehmen.
Die wilde Verwirrung vor sich, Leute, die schreiend auf und ab rannten, Räder, die sie überfahren wollten, sich balgende Knaben, heranjagende tolle Stiere und die Amme, welche inmitten dieser Gefahren fast in Stücke gerissen wurde – alles das war zuviel für Florence; sie fing an zu schreien und lief davon. Sie lief fort, bis sie nicht mehr konnte, und drängte Susanna, dasselbe zu tun; als sie aber endlich haltmachte und daran dachte, daß sie die andere Amme zurückgelassen hatte, machte sie unter Händeringen und mit einem Schrecken, der sich nicht beschreiben läßt, die Entdeckung, daß sie ganz allein war.
»Susanna! Susanna!« rief sie, im Übermaß ihrer Angst die Händchen zusammenschlagend. »O, wo sind sie! wo sind sie!«
»Wo sie sind?« sagte ein altes Weib, die von der andern Seite des Weges humpelnd auf sie zukam. »Warum bist du ihnen entlaufen?«
»Ich fürchtete mich«, antwortete Florence. »Ich wußte nicht, was ich tat. Ich meinte, sie seien bei mir. Wo sind sie?«
Die Alte nahm sie bei der Hand und sagte:
»Ich will es dir zeigen,«
Es war ein sehr häßliches altes Weib mit roten Augenrändern und einem Munde, der immer mummelnde Bewegungen machte, auch wenn sie nicht sprach. Ihr Anzug war erbärmlich, und sie trug einige Felle über dem Arm. Allem Anschein nach war sie, wenigstens eine Strecke weit, Florence nachgegangen, denn sie konnte fast kaum zu Atem kommen. Ihr Schnauben machte sie noch häßlicher, und ihr welkes gelbes Gesicht samt dem Halse verzog sich dabei zu allen Arten von Verzerrungen.
»Du brauchst dich jetzt nicht mehr zu fürchten«, sagte die Alte, sie fest am Handgelenk haltend, »Komm nur mit mir.«
»Ich – ich kenne Euch ja nicht. Wie heißt Ihr?« fragte Florence.
»Mistreß Brown«, sagte die Alte. »Die gute Mrs. Brown.«
»Wohnt Ihr in der Nähe?« fragte Florence, die sich wegführen ließ.
»Susanna ist nicht weit«, sagte die gute Mrs. Brown; »und die andern kommen gleich hinterher.«
»Ist jemand verletzt worden?« fragte Florence.
»O, nicht im geringsten«, entgegnete die gute Mrs. Brown.
Als die Kleine das hörte, vergoß sie Freudentränen und folgte der Alten bereitwillig, obschon sie nicht umhin konnte, im Weitergehen nach dem Gesicht und namentlich nach dem geschäftigen Mund der Alten aufzusehen, wobei sie sich Gedanken machte, ob die böse Mrs. Brown, wenn es anders eine solche Person gab, wohl eine Ähnlichkeit mit ihr haben könne.
Ihr Weg führte sie nicht sehr weit, wohl aber an manchen sehr unbequemen Plätzen, z. B. an Backsteinlagern und Ziegeleien vorbei; dann aber bog die Alte seitwärts in eine schmutzige Straße ein, wo der Kot in der Mitte des Wegs tiefe schwarze Fahrrinnen bildete. Sie machte halt vor einem schäbigen Häuschen, das so dicht verschlossen war, als es eine Hütte von Rissen und Spalten nur sein konnte. Nachdem sie mit einem Schlüssel, den sie aus ihrem Hut genommen, die Tür geöffnet hatte, schob sie das Kind vor sich her nach einem Hinterstübchen, wo ein großer Haufen von verschiedenfarbigen Lumpen auf dem Boden lag, daneben ein Berg von Knochen und ein Haufen Asche oder gesiebten Staubes. Möbelwerk war nirgends zu sehen, und Decke sowohl als Wände hatten eine völlig schwarze Farbe.
Die Kleine war so erschrocken, daß sie nicht zu sprechen vermochte und einer Ohnmacht nahe war.
»Na, sei kein Gänslein«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sie durch ein tüchtiges Rütteln wieder zum Leben brachte. »Ich will dir ja nichts tun. Setze dich auf die Lumpen dort.«
Florence gehorchte und streckte in stummer Bitte die gefalteten Hände aus.
»Ich will dich nicht dabehalten, nein, nicht einmal eine Stunde«, sagte Mrs. Brown. »Hast du mich verstanden?«
Mit großer Mühe konnte das Kind nur ein einfaches Ja herausbringen.
»Dann bring' mich nicht in Ärger«, sagte die gute Mrs. Brown, indem sie sich auf den Knochenhaufen niedersetzte. »Ich sage dir, wenn du mich nicht reizest, soll dir nichts geschehen; tust du das aber, so bring' ich dich um. Ich kann dich umbringen zu jeder Zeit – ja selbst wenn du zu Haus in deinem Bette liegst. Jetzt laß hören, wer du bist, was du bist und dergleichen.«
Das Drohen und die Versprechungen der Alten, die Furcht, ihr Anstoß zu geben, und die bei einem Kind so selten vorkommende, aber bei Florence fast natürliche Gewohnheit, sich ruhig zu verhalten und ihre Gefühle, die der Furcht sowohl als die der Hoffnung, zu unterdrücken, setzten die Kleine in den Stand, der Aufforderung zu entsprechen und ihre kurze Geschichte, so weit sie ihr selbst bekannt war, vorzutragen. Mrs. Brown hörte ihr aufmerksam zu, bis sie zu Ende gekommen war.
»Du heißt also Dombey, he?« fragte Mrs. Brown.
»Ja, Madame.«
»Ich brauche dieses kleine hübsche Röcklein, Miß Dombey«, sagte Mrs. Brown, »dieses kleine Hütlein, ein paar Unterröckchen und alles was du entbehren kannst. Tummle dich! Leg' ab!«
Florence gehorchte so schnell, als ihre zitternden Hände es gestatten wollten, und hielt dabei stets ihre furchtsamen Blicke auf Mrs. Brown gerichtet. Nachdem sie sich all der von der alten Dame bezeichneten Kleidungsstücke entledigt hatte, ließ sich Mrs. Brown Zeit zu einer gemächlichen Musterung des Erworbenen und schien mit der Qualität und dem Wert der Sachen ganz zufrieden zu sein.
»Hum!« sagte sie, und ließ ihre Augen über die schmächtige Gestalt des Mädchens hingleiten. »Ich sehe sonst nichts mehr, als die Schuhe. Ich muß die Schuhe haben, Miß Dombey.«
Die arme kleine Florence nahm sie mit der gleichen Behendigkeit ab und schätzte sich überglücklich, noch einige Mittel zu besitzen, um ihre Gesellschafterin freundlich zu stimmen. Die Alte klaubte sodann aus dem Lumpenhaufen verschiedene erbärmliche Ersatzstücke heraus, dazu noch ein ganz abgetragenes und sehr altes Kindermäntelchen, nebst den zerknitterten Überresten eines Hutes, der wahrscheinlich aus einem Graben oder von einem Düngerhaufen aufgelesen war. Dann befahl sie Florence, sich in diese appetitlichen Sachen zu hüllen, und die Kleine willfahrte der Aufforderung, womöglich mit noch größerer Bereitwilligkeit, weil sie ein Vorspiel ihrer Befreiung darin sah.
Als sie hastig den Hut, der eher wie ein Bausch zum Tragen von Lasten aussah, aufsetzte, verfing sich derselbe in ihrem wallenden Haar und konnte nicht gleich wieder losgemacht werden. Die gute Mrs. Brown zog eine Schere heraus und geriet in einen unerklärlichen Zustand von Aufregung.
»Warum konntest du mich nicht gehen lassen, du kleine Närrin, nachdem ich zufrieden war?« sagte Mrs. Brown.
»Verzeiht mir«, keuchte Florence; »ich weiß ja nicht, was ich getan habe, und konnte nicht dafür.«
»Konntest du nicht dafür?« rief Mrs. Brown. »Und weshalb glaubst du, daß ich dafür kann? Ach Himmel!« sagte die Alte, indem sie mit wütender Lust die Locken der Kleinen durchwühlte, »jedermann außer mir würde es zuerst auf sie abgesehen haben.«
Florence fühlte sich erleichtert, als sie fand, daß Mrs. Brown nur nach ihrem Haar, nicht nach ihrem Kopf verlangte; sie ließ sich darum alles ohne Widerstand oder Bitte gefallen und richtete bloß ihre unschuldigen Augen zu dem Gesicht der guten Seele auf.
»Wenn ich nicht selbst einmal ein Mädel gehabt hätte – jetzt weit über dem Meer drüben – das auf ihr Haar stolz war«, sagte Mrs. Brown, »so müßte jedes Löckchen mir gehören. Sie ist weit weg! Oho! oho!«
Der Ausruf von Mrs. Brown war nicht melodisch; sie warf aber dabei voll leidenschaftlichen Grams ihre abgezehrten Arme in die Höhe, und das ging Florence so zu Herzen, daß sie sich mehr als je fürchtete. Vielleicht lag hierin auch der Grund, daß ihre Locken geschont wurden; denn nachdem Mrs. Brown sie einige Augenblicke gleich einer neuen Art von Schmetterling mit ihrer Schere umschwebt hatte, befahl sie ihr, sich den Kopf mit dem Hut zu bedecken und keine Spur von ihren Haaren blicken zu lassen, damit sie nicht in weitere Versuchung geführt werde. Nach diesem Sieg über sich selbst setzte sich die Alte wieder auf die Knochen nieder und rauchte mummelnd eine kurze schwarze Pfeife mit einer Gier, als ob sie das Rohr essen wolle.
Sobald die Pfeife ausgeraucht war, gab sie der Kleinen eine Kaninchenhaut über den Arm, damit sie sich wie ihre gewöhnliche Begleiterin ausnehmen möchte, und bedeutete ihr sodann, sie wolle sie jetzt nach einer Hauptstraße hinführen, wo sie sich nach dem Weg zu ihren Freunden erkundigen könne. Zugleich aber warnte sie Florence unter Drohungen summarischer und tödlicher Rache für den Fall eines Ungehorsams und verbot ihr, ja keine Fremden anzureden oder sich nach ihrem eigenen Hause zu begeben, das vielleicht für Mrs. Browns Bequemlichkeit zu nahe lag, sondern das Geschäftslokal ihres Vaters in der City aufzusuchen. Ferner sollte sie an der Straßenecke, wohin sie gebracht würde, warten, bis die Uhr drei geschlagen hätte. Diesen Weisungen gab Mrs. Brown noch größeren Nachdruck durch die Versicherung, daß sie mächtige Augen und Ohren im Dienst habe, die alles Tun und Treiben des Mädchens genau beobachten würden, und Florence versprach, allem, was ihr geboten worden, treu und eifrig nachzukommen.
Endlich brach Mrs. Brown auf und führte ihre so umgewandelte und zerlumpte kleine Freundin durch ein Labyrinth von engen Straßen, Gassen und Gäßchen, bis sie nach langer Zeit in einen Stallhof mit einer Einfahrt gelangten, in welchem das Getümmel einer belebten Hauptstraße hörbar war. Hier tat die Alte noch einen Abschiedsgriff nach den Locken des Kindes – ganz unwillkürlich und aus unbewältigbarem Impulse, wie es schien – deutete aber dann nach dem Tore hin und teilte Florence mit, wenn es drei geschlagen habe, solle sie sich nach links wenden; sie wisse jetzt, was sie zu tun habe, und solle danach handeln, aber dabei nicht vergessen, daß sie aufs schärfste beobachtet werde.
Mit leichterm Herzen, aber noch immer in großer Angst fühlte sich Florence nun befreit und eilte nach der Ecke hin. Dort angelangt schaute sie zurück und bemerkte noch den Kopf der guten Mrs. Brown, der zu dem niedrigen hölzernen Gang heraussah, wo die Abschiedseinschärfungen erteilt worden waren, zugleich aber auch die Faust, mit der die gute Mrs. Brown ihr drohte. Sooft sie aber auch später wieder zurückschaute – und sie tat das in ihrer erschreckten Erinnerung an die Alte jede Minute – konnte sie nichts mehr von ihr entdecken.
Florence blieb, wo sie war, und schaute in das Gewühl auf der Straße, durch das sie immer noch mehr verwirrt wurde. Mittlerweile schienen die Glocken darauf versessen zu sein, nie und nimmermehr drei Uhr zu schlagen. Endlich klang es von dem Kirchturme herab – einer davon war ganz in der Nähe, und es konnte keine Täuschung obwalten. Die Kleine schaute oft über ihre Schulter zurück, ging oft ein Streckchen weit und kam ebensooft wieder nach der alten Stelle, damit die allgewaltigen Spione der Mrs. Brown keinen Anstoß nehmen sollten; dann aber eilte sie, so schnell es in ihren Schlappschuhen möglich war, mit ihrem Kaninchenfell in der Hand weiter.
Von den Geschäftslokalen ihres Vaters wußte sie weiter nichts, als daß sie Dombey und Sohn gehörten und daß diese Firma eine große zur City gehörige Macht war. Sie konnte daher nur nach Dombey und Sohn in der City fragen und erhielt, da sie sich hauptsächlich mit ihren Erkundigungen an Kinder wendete, weil sie sich scheute, erwachsene Personen um Auskunft zu bitten, sehr ungenügende Erwiderungen. Es gelang ihr aber doch durch ihre Nachfragen, die sie vorderhand nur auf den Weg nach der City beschränkte, allmählich dem Herzen jener großen Region näher zu kommen, die durch den schrecklichen Lord-Mayor beherrscht wird.
Müde vom Gehen, allenthalben hin und her gestoßen, betäubt von dem Lärm und der Verwirrung, voll Angst um ihren Bruder und die Wärterinnen, erschreckt durch das Vorgefallene und durch die Aussicht, ihrem zornigen Vater in einem so veränderten Zustand entgegenzutreten, wankte Florence mit tränenvollen Augen auf ihrem Wege weiter und konnte sich's nicht erwehren, ein- oder zweimal haltzumachen, um ihr übervolles Herz durch ein bitterliches Weinen zu erleichtern. Aber in dem Gewande, das sie trug, achteten bei solchen Gelegenheiten nur wenige Leute auf sie, oder wenn es auch geschah, so glaubte man, sie sei dazu angehalten, um Mitleid zu erregen, und ging weiter. Doch bot die Kleine all die Festigkeit und Selbstzuversicht eines Charakters, der durch traurige Erfahrungen frühzeitig geprüft und gereift ist, auf und strebte stetig dem Ziele zu, das sie im Auge hatte.
Volle zwei Stunden später, nachdem sie ihren letzten abenteuerlichen Gang angetreten, gelangte sie aus dem Lärm einer engen Straße voller Karren und Frachtwagen nach einer Art Werft oder einem Landungsplatz an der Flußseite, wo viel Gepäck, Fässer und Kisten umherlagen. Neben einer großen hölzernen Wage stand ein kleines Bretterhaus auf Rädern, vor dem ein stämmiger Mann pfeifend, die Feder hinter dem Ohr und die Hände in der Tasche, als ob sein Tagwerk bald zu Ende sei, nach den benachbarten Masten und Booten hinsah.
»Was willst du?« sagte der Mann, der sich zufällig nach ihr umdrehte. »Wir haben nichts für dich, Mädchen. Mach', daß du fortkommst!«
»Mit Erlaubnis, ist hier die City?« fragte die zitternde Tochter der Dombeys.
»Ja, freilich ist es die City, aber ich denke mir, du weißt das ebenso gut. Marsch da! Wir haben nichts für dich.«
»Ich verlange nichts, danke Euch«, lautete die schüchterne Antwort. »Ich möchte nur den Weg zu Dombey und Sohn wissen.«
Der Mann, der sorglos auf sie zugegangen war, schien über diese Antwort in Staunen zu geraten; er sah ihr aufmerksam ins Gesicht und erwiderte:
»Der Tausend, was kannst du von Dombey und Sohn wollen?«
»Nur den Weg dahin, wenn ich bitten darf.«
Der Mann sah sie noch neugieriger an und rieb sich vor Verwunderung den Hinterkopf so eifrig, daß ihm der Hut herunterflog.
»Joe!« rief er einem andern Manne, einem Arbeiter zu, während er seine Kopfbedeckung aufhob und sie wieder aufsetzte.
»Was verlangt Ihr von Joe?« versetzte der Angerufene.
»Wo ist denn der junge Bursch von Dombey, der die Aufsicht über die Einschiffung der Güter hat?«
»Eben nach dem andern Tore gegangen«, sagte Joe.
»Ruft ihn auf einen Augenblick zurück.«
Joe lief rufend einen Bogenweg hinauf und kehrte mit einem blühend aussehenden Knaben zurück.
»Ihr seid Dombeys Jockei, nicht wahr?« fragte der erste Mann.
»Ich bin in Dombeys Haus, Mr. Clark«, entgegnete der Knabe.
»So seht dahin«, sagte Mr. Clark.
Der Andeutung von Mr. Clarks Hand entsprechend, ging der Knabe auf Florence zu, wie man sich denken kann, sehr verwundert, was er mit dem Geschöpfe wohl zu schaffen haben könnte. Sie aber, sobald sie gehört hatte, was vorging, und daraus die Beruhigung entnehmen konnte, plötzlich wohlbehalten am Ziel ihrer Reise angelangt zu sein, fühlte sich über die Maßen ermutigt durch das lebhafte jugendliche Gesicht und das Benehmen des Knaben; sie eilte hastig auf ihn zu, wobei einer ihrer Schlappschuhe auf dem Boden zurückblieb, und ergriff mit ihren beiden Händchen seine Hand.
»Ich habe mich verirrt«, sagte Florence.
»Verirrt!« rief der Knabe.
»Ja; ich hab' mich heute mittag, weit weg von hier, verirrt. Man hat mich meiner Kleider beraubt, und diese Lumpen gehören nicht mir. Ich heiße Florence Dombey und bin die Schwester meines kleinen Bruders – und, ach Gott, nehmt Euch meiner an, seid so gütig!« schluchzte Florence, indem sie ihren so lang unterdrückten kindlichen Gefühlen in vollem Maße Luft machte und in Tränen ausbrach. Zu gleicher Zeit war ihr erbärmlicher Hut abgefallen, so daß die Locken ihr über das Gesicht niederwallten – welch' ein Gegenstand für die sprachlose Bewunderung und das Mitleid des jungen Walters, des Neffen von Solomon Gills, dem Schiffsinstrumentenmacher.
Mr. Clark stand im größten Erstaunen da und bemerkte halblaut vor sich hin, daß ihm auf dieser Werft nie zuvor etwas Ähnliches vorgekommen sei. Walter hob den verlorenen Schuh auf und paßte ihn dem kleinen Fuß an, wie es etwa der Prinz in dem Märchen Aschenbrödel getan haben mochte. Er hing das Kaninchenfell über seinen linken Arm, gab den rechten Florence und fühlte sich dabei, ich will nicht sagen wie Richard Whittington, denn das wäre nur ein matter Vergleich, sondern wie der heilige Georg von England, als der Drache tot zu seinen Füßen lag.
»Weint nicht, Miß Dombey«, sagte Walter im Übermaß seiner Begeisterung. »Eine wunderbare Fügung ist es, daß ich gerade hier bin. Ihr seid jetzt so sicher, als stündet Ihr unter dem Geleite einer ganzen Bootsmannschaft, der besten, die man von einem Kriegsschiff auswählen kann. O, weint nicht.«
»Ich will nicht mehr weinen«, versetzte Florence. »Ich habe es nur aus Freude getan.«
»Vor Freude geweint!« dachte Walter. »Und ich bin die Ursache davon! Kommt mit, Miß Dombey. Jetzt ist der andere Schuh auch abgefallen! Nehmt meine, Miß Dombey.«
»Nein, nein, nein«, entgegnete Florence, ihn abhaltend, als er eben im größten Eifer seine Schuhe ausziehen wollte. »Diese sind schon gut; ich komme ganz gut darin weiter.«
»Ei freilich«, erwiderte Walter, indem er seinen Fuß ansah, »meine sind um eine Meile zu groß. Was denke ich auch! Ihr könntet nie in meinen Schuhen gehen! Doch kommt mit, Miß Dombey. Wir wollen den Schurken sehen, der sich erdreisten wird. Euch jetzt zu belästigen.«
Bei diesen Worten schaute Walter mit unendlich wilder Miene umher und führte in der seligsten Stimmung Florence weiter. Sie gingen Arm in Arm ihrer Straße, ohne sich um das Erstaunen zu kümmern, das ihr Aussehen bei den Vorübergehenden erregte oder doch zu erregen imstande war.
Es wurde nachgerade dunkel, neblig, und am Ende fing es gar an zu regnen; aber sie kümmerten sich nicht darum. Beide waren zu sehr in die kürzlichen Abenteuer vertieft, welche Florence mit der unschuldigen Vertraulichkeit und Zuversicht ihrer Jahre erzählte, während ihr Walter zuhörte, als ergingen sie sich fern von dem Kot und Unflat der Themsestraße, allein unter den breiten Blättern und hohen Bäumen irgendeiner verlassenen Tropeninsel – ja es ist sehr gut möglich, daß er sich in diesem Augenblick sogar ein derartiges Bild vergegenwärtigte.
»Haben wir noch weit zu gehen?« fragte Florence endlich, die Augen zu dem Gesicht ihres Begleiters erhebend.
»Ah! beiläufig«, sagte Walter stehenbleibend, »laß mich sehen, wo wir sind. O! ich kenne mich aus. Aber die Geschäftslokale sind jetzt geschlossen, Miß Dombey. Es ist niemand dort. Mr. Dombey ist längst nach Hause gegangen. Vermutlich müssen wir auch nach Hause gehen – oder halt! Gesetzt, ich brächte Euch zu meinem Onkel, bei dem ich lebe – es ist ganz in der Nähe hier – und ließe mich in einer Kutsche nach Eurer Wohnung fahren, um dort zu sagen, daß Ihr wohlbehalten seid, und holte für Euch Kleider? Wäre nicht das das beste?«
»Ich denke so«, antwortete Florence. »Meint Ihr nicht? Was haltet Ihr davon?«
Während sie noch überlegend auf der Straße standen, kam ein Mann an ihnen vorbei, der Walter einen raschen Blick zuwarf, als ob er ihn erkannt hätte; er schien jedoch den ersten Eindruck für einen Irrtum zu halten und ging sogleich wieder weiter.
»Ei, ist das nicht Mr. Carter gewesen?« sagte Walter. »Carter in unserm Hause. Nicht Carter der Magazinverwalter, Miß Dombey – der andere Carter, der jüngere. – He, Mr. Carter!«
»Seid Ihr es wirklich, Walter Gay«, entgegnete der andere, indem er haltmachte und wieder umkehrte. »Ich habe es nicht glauben können, Ihr seid in so seltsamer Gesellschaft.«
Er hörte mit Erstaunen Walters hastiger Auseinandersetzung zu, und da er gerade unter einer Straßenlaterne stand, so bot er einen merkwürdigen Gegensatz zu den beiden jugendlichen Gestalten, die Arm in Arm neben ihm standen. Er war nicht alt, aber sein Haar war weiß und sein Körper gebeugt wie unter der Last einer schweren Sorge; auch zeigten sich in seinem hagern melancholischen Gesichte tiefe Linien. Das Feuer seiner Augen, der Ausdruck seiner Züge und sogar die Stimme, mit der er sprach – alles war gedämpft und erloschen, als läge der ihm inwohnende Geist in Asche. Er trug eine anständige, obgleich sehr einfache schwarze Kleidung, aber die einzelnen Teile derselben, nach dem allgemeinen Charakter seiner Figur geformt, schienen auf ihm zusammenzuschrumpfen und sich der bekümmerten Bitte anzuschließen, die der ganze Mann vom Kopf bis zu den Füßen ausdrückte – man möchte seiner nicht achten und ihn gehen lassen in seiner Geringfügigkeit.
Und doch war sein Interesse an der Jugend und den Hoffnungsvollen nicht mit den übrigen Funken seiner Seele erloschen, denn er beobachtete das eifrige Gesicht des Sprechers mit ungewöhnlicher Sympathie, zugleich aber auch mit einer nicht erklärbaren Miene von Sorge und Mitleid, wie sehr er sich auch Mühe gab, diese Äußerungen zu unterdrücken. Als Walter zum Schluß ihm die Frage vorlegte, die er eben mit Florence beraten hatte, blieb Carter noch immer stehen und sah ihn mit dem gleichen Ausdruck an, als lese er in dessen Gesichte ein Schicksal, traurig genug und nicht im Einklang mit der Heiterkeit des Augenblicks.
»Was ratet Ihr mir, Mr. Carter?« fragte Walter lächelnd. »Ihr wißt, so oft Ihr mit mir sprecht, gebt Ihr mir stets einen guten Rat, obschon es freilich nicht oft geschieht.«
»Ich denke, Euer Gedanke ist der beste«, antwortete er, von Florence auf Walter und dann wieder auf Florence zurückblickend.
»Mr. Carter«, sagte Walter, in welchem ein großmütiger Gedanke auflebte, »hier bietet sich eine Gelegenheit für Euch. Geht Ihr zu Mr. Dombey und werdet so der Bote einer guten Kunde. Es kann Euch nützlich werden, Sir. Ich will zu Hause bleiben. Geht Ihr.«
»Ich?« versetzte der andere.
»Ja. Warum nicht, Mr. Carter?« fragte der Knabe.
Er drückte ihm bloß die Hand zur Antwort, obschon es den Anschein hatte, als schäme und scheue er sich, auch nur dieses zu tun. Dann wünschte er ihm gute Nacht, riet ihm, sich zu beeilen, und ging weiter.
»Kommt, Miß Dombey«, sagte Walter, ihm im Weitergehen nachsehend, »wir wollen uns beeilen, daß wir schnell zu meinem Onkel kommen. Habt Ihr je Mr. Dombey von dem jüngeren Mr. Carter sprechen hören, Miß Florence?«
»Nein«, erwiderte das Kind sanft; »ich höre den Papa nicht oft sprechen.«
»Ach ja, es ist wahr; um so mehr Schande für ihn«, dachte Walter. Nach einer kurzen Pause, während welcher er auf das sanfte, geduldige Antlitz an seiner Seite niedergesehen hatte, bemühte er sich mit seiner gewohnten knabenhaften Lebhaftigkeit und Unruhe, den Gesprächsgegenstand zu ändern; und da ganz gelegen jetzt wieder einer von den unglücklichen Schuhen zurückblieb, machte er Florence den Vorschlag, er wolle sie auf den Armen nach dem Hause seines Onkels tragen. Trotz ihrer Ermüdung lehnte die Kleine lachend den Vorschlag ab, weil er sie fallen lassen könnte. Sie waren dem hölzernen Midshipman schon ziemlich nahe, und da Walter fortfuhr, verschiedene Vorgänge bei Schiffskatastrophen und andern ergreifenden Vorfällen zu erzählen, wo jüngere Knaben als er viel ältere Mädchen als Florence gerettet und triumphierend davongetragen hätten, so befanden sie sich noch in voller Unterhaltung darüber, als sie an der Tür der Instrumentenmacherswohnung anlangten.
»Holla, Onkel Sol!« rief Walter, in den Laden hineinstürzend und von dieser Zeit an für den ganzen übrigen Abend sehr unzusammenhängend und außer Atem redend. »Wir haben da ein wundervolles Abenteuer! Mr. Dombeys Tochter hier hat sich in den Straßen verirrt und ist durch eine alte Hexe von einem Weibsbild ihrer Kleider beraubt worden. Ich habe sie gefunden – nach unserm Hause gebracht, damit sie hier ausruhe – schaut her!«
»Gütiger Himmel!« rief Onkel Sol, gegen seinen Lieblingskompaß zurückprallend. »Es kann nicht sein! Na, das –«
»Nein, weder Ihr, noch jemand anders«, fiel ihm Walter ins Wort, dem begonnenen Satze vorgreifend. »Ihr wißt, niemand würde oder hätte es können. So! Wollt Ihr so gut sein, Onkel Sol, mir das kleine Sofa in die Nähe des Feuers rücken zu helfen? – Habt acht auf die Teller – richtet ihr etwas zum Essen her, wollt Ihr, Onkel? – werft diese Schuhe unter den Rost, Miß Florence – setzt Eure Füße zum Trocknen auf die Kaminstange – wie feucht sie sind! – ist das nicht ein Abenteuer, Onkel? Gott behüte mich, wie heiß es mir ist!«
Und Solomon Gills war es eben so heiß geworden, infolge seiner Teilnahme sowohl, als seiner großen Verwirrung. Er streichelte Florence den Kopf, drängte sie zum Essen, nötigte ihr Trinken auf, rieb die Sohlen ihrer Füße mit seinem am Feuer gewärmten Taschentuch, folgte seinem beweglichen Neffen mit Augen und Ohren, und hatte von nichts eine klare Vorstellung, ausgenommen, daß er unaufhörlich gegen diesen aufgeregten jungen Gentleman anprallte oder über ihn stolperte, wenn derselbe im Zimmer umherschoß und zwanzig Dinge auf einmal auszuführen versuchte, ohne überhaupt mit einem einzigen zustande zu kommen.
»Wartet eine Minute, Onkel«, fuhr er fort und zündete ein Licht an, »bis ich die Treppe hinaufgeeilt bin und eine andere Jacke angezogen habe; dann will ich mich sogleich auf den Weg machen. Was meint Ihr, Onkel, ist das nicht ein Abenteuer?«
»Mein lieber Junge«, sagte Solomon, der mit seiner Brille auf der Stirne und dem großen Chronometer in der Tasche unaufhörlich zwischen Florence auf dem Sofa und seinem Neffen in allen Teilen des Zimmers hin und her oszillierte, »es ist das Alleraußerordentlichste –«
»Nein, Onkel, aber eßt jetzt – und eßt auch Ihr, Miß Florence – Ihr wißt, Onkel.«
»Ja, ja«, rief Solomon, indem er unverzüglich von einer Hammelkeule ein Stück abschnitt, als müßte er einen Riesen verproviantieren. »Ich will Sorge für sie tragen, Wally! Ich verstehe das liebe Herz – natürlich ganz ausgehungert. Und du, geh jetzt und mache dich fertig. Gott behüte mich. Sir Richard Whittington, dreimal Lord-Mayor von London!«
Walter brauchte nicht lange, um nach seinem luftigen Dachstübchen hinaufzueilen und wieder herunterzukommen; aber inzwischen war Florence, von Müdigkeit überwältigt, vor dem Feuer eingeschlummert. Der kurze Zwischenraum von Ruhe, obschon er nur einige Minuten dauerte, setzte Solomon Gills in den Stand, sich so weit zu sammeln, daß er für die Bequemlichkeit seines Gasts einige kleine Vorbereitungen treffen, das Zimmer verdunkeln und den Ofenschirm zum Schutz gegen die Feuerhitze vorschieben konnte. Als der Knabe wieder zurückkehrte, lag sie in ruhigem Schlafe.
»Das ist vortrefflich!« flüsterte er, indem er Solomon in einer Weise umarmte, daß diesem ein neuer Ausdruck in sein Gesicht gepreßt wurde. »Jetzt will ich fort. Gebt mir nur noch ein Brotkrüstchen mit auf den Weg, denn ich bin sehr hungrig – und – weckt sie nicht auf, Onkel Sol.«
»Nein, nein«, entgegnete Solomon. »Das hübsche Kind.«
»Jawohl, hübsch!« erwiderte Walter. »In meinem Leben habe ich noch nie ein solches Gesicht gesehen, Onkel Sol. Jetzt geh ich.«
»Recht so«, sagte Solomon, in hohem Grade erleichtert.
»He, Onkel Sol«, rief Walter, und steckte den Kopf wieder zur Tür herein.
»Da ist er schon wieder«, sagte Solomon.
»Wie sieht sie jetzt aus?«
»Ganz glücklich«, antwortete Solomon.
»Das ist herrlich! Jetzt flugs fort.«
»Hoffentlich ist es einmal an dem«, sagte Solomon zu sich selbst.
»He, Onkel Sol«, rief Walter, wieder zur Tür hereinschauend.
»Da haben wir ihn schon wieder!« sagte Solomon.
»Wir haben Mr. Carter, den Jüngeren, auf der Straße getroffen; er sah seltsamer aus als je. Er sagte mir Adieu, kam aber hinter uns drein – das ist doch kurios! – denn als wir die Haustür erreichten, schaute ich zurück und sah, daß er ruhig wegging, wie ein Diener, der mich auf dem Wege nach Hause beaufsichtigen wollte, oder wie ein treuer Hund. Wie sieht sie jetzt aus, Onkel?«
»So ziemlich wie vorhin, Wally«, versetzte Onkel Sol.
»Das ist recht. So, jetzt gehe ich!«
Diesmal hielt er auch richtig Wort, und Solomon Gills, dem der Appetit zum Essen vergangen war, setzte sich auf die andere Seite des Ofens, und wenn man ihn so im Schatten und in der Umgebung aller seiner Instrumente sah, nahm er sich wie ein in eine welsche Perücke und in einen kaffeebraunen Anzug verkleideter Magier aus, der das Kind in einem Zauberschlaf erhielt.
Mittlerweile fuhr Walter in einem Trabe, wie ihn selten ein Droschkengaul vom Stande weg zu erreichen vermag, nach Mr. Dombeys Haus, steckte aber dabei alle zwei oder drei Minuten den Kopf zum Fenster hinaus, um dem Kutscher ungeduldige Vorhaltungen zu machen. Am Ziel seiner Fahrt angelangt, sprang er hinaus, teilte atemlos einem Diener den Zweck seiner Ankunft mit und folgte ihm geradeswegs nach dem Bibliothekzimmer, wo Mr. Dombey, seine Schwester, Miß Tox, Richards und Nipper unter gewaltigem Zungenlärm versammelt waren.
»O, ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Walter, auf Mr. Dombey zueilend, »aber ich bin so glücklich, Euch sagen zu können, daß alles gut ist, Sir. Miß Dombey ist gefunden!«
Der Knabe mit seinem offenen Gesicht, dem wallenden Haar und den funkelnden Augen, während er vor Freude und Aufregung fast nicht zu Atem kommen konnte, bot einen wunderbaren Gegensatz zu Mr. Dombey, der in seinem Bibliothekstuhle saß.
»Ich sagte dir ja, Louisa, sie werde sich sicherlich finden«, bemerkte Mr. Dombey, indem er leicht über die Achsel nach dieser Dame hinsah, die gemeinsam mit Miß Tox weinte. »Bedeutet den Dienstboten, daß keine weiteren Schritte nötig sind. Der Knabe, der uns Nachricht bringt, ist der junge Gay aus dem Bureau. Wie ist meine Tochter gefunden worden, Sir? Ich weiß, wie sie verlorenging.« Dabei warf er einen geradezu majestätischen Blick auf Richards. »Aber wie wurde sie gefunden? Wer fand sie?«
»Je nun, ich glaube, daß ich Miß Dombey gefunden habe, Sir«, versetzte Walter bescheiden. »Freilich weiß ich nicht, ob ich Anspruch auf das Verdienst erheben kann, sie wirklich gefunden zu haben, Sir, aber ich war das glückliche Werkzeug –«
»Was meint Ihr damit, Sir«, unterbrach ihn Mr. Dombey, die Freude und den augenscheinlichen Stolz des Knaben auf seinen Anteil an dem Vorfall mit instinktartigem Widerwillen betrachtend, »wenn Ihr sagt, Ihr habet meine Tochter nicht gerade gefunden, sondern seiet nur ein glückliches Werkzeug gewesen? Faßt Euch einfach und zusammenhängend, wenn ich bitten darf.«
Aber es war zuviel gefordert, wenn man von Walter verlangte, er solle zusammenhängend reden; er gab jedoch in seinem atemlosen Zustande die Aufklärung, so gut er konnte, und fügte hinzu, warum er allein gekommen sei.
»Ihr habt es gehört, Mädchen«, sagte Mr. Dombey mit einem finsteren Blick auf die Schwarzäugige. »Nehmt das Nötige und begleitet augenblicklich diesen jungen Menschen, um Miß Florence nach Haus zu holen. Gay, Ihr werdet morgen belohnt werden.«
»O, ich danke, Sir«, versetzte Walter. »Ihr seid sehr gütig. Aber ich habe nicht entfernt an eine Belohnung gedacht, Sir.«
»Ihr seid ein Knabe«, sagte Mr. Dombey gereizt und fast in grimmigem Tone, »und was Ihr denkt oder zu denken meint, hat wenig zu bedeuten. Ihr habt Euch ordentlich benommen, Sir – macht es nicht wieder zunichte. Louisa, sei so gut, gib dem Knaben etwas Wein.«
Als Walter Gay unter dem Geleite von Mrs. Chick das Zimmer verließ, folgte ihm Dombeys Blick mit großer Ungunst, und vielleicht sah ihm dessen geistiges Auge mit noch größerem Mißbehagen nach, als der Knabe mit Miß Susanna Nipper nach der Wohnung seines Onkels zurückfuhr.
Dort fanden sie Florence sehr erfrischt von ihrem Schlafe. Sie hatte mittlerweile gespeist und in der Bekanntschaft mit Solomon Gills, gegen den sie sich ganz vertraulich benahm, große Fortschritte gemacht. Die Schwarzäugige, die inzwischen so viel geweint hatte, daß man sie jetzt wohl die Rotäugige hätte nennen können, benahm sich sehr kleinlaut und niedergeschlagen. Sie umschlang die Wiedergefundene ohne ein Wort des Tadels oder Vorwurfs mit ihren Armen, so daß sich der Anblick recht rührend ausnahm; dann wurde die Wohnstube für den Augenblick in ein Privat-Ankleidezimmer umgewandelt. Miß Nipper putzte ihren Pflegling unter großer Sorgfalt mit passenden Bekleidungsstücken heraus und führte sie bald so ganz als eine Dombey vor, wie das bei ihren natürlichen schlechten Qualifikationen dafür nur möglich war.
»Gute Nacht!« sagte Florence, auf Solomon zueilend. »Ihr seid sehr gütig gegen mich gewesen.«
Der alte Sol war hierüber ganz entzückt und küßte sie, als wäre er ihr Großvater.
»Gute Nacht, Walter! Gott befohlen!« sagte Florence.
»Gott befohlen!« entgegnete Walter, indem er ihr beide Hände hinhielt.
»Ich werde Euch nie vergessen«, fuhr Florence fort. »Nein, gewiß nicht. Gott befohlen, Walter!«
In der Unschuld ihres dankbaren Herzens hob die Kleine ihr Gesichtchen zu seinem empor. Walter beugte sich zu ihr nieder, erhob aber sein Antlitz glühend rot und brennend wieder, mit einem einfältigen Gesicht nach Onkel Sol hinsehend.
»Wo ist Walter!« »Gute Nacht, Walter!« »Gott befohlen, Walter!« »Noch einmal Eure Hand, Walter!« So hörte man Florence noch rufen, als sie bereits mit ihrer kleinen Wärterin in der Kutsche saß. Und als die Kutsche endlich abfuhr, erwiderte Walter noch auf der Türschwelle das Schwenken ihres Taschentuches, während der hölzerne Midshipman hinter ihm gleichfalls nur auf diese eine Kutsche versessen zu sein und kein Auge für alle vorüberfahrenden Equipagen zu haben schien.
Nach kurzer Zeit war Mr. Dombeys Wohnung erreicht, und aus der Bibliothek erscholl abermals der Zungenlärm. Auch die Kutsche erhielt wiederholt die Weisung, zu warten – »für Mrs. Richards«, flüsterte eine von Susannas Mitdienerinnen bedeutungsvoll, als diese mit Florence an ihr vorbeikam.
Der Eintritt des verlorenen Kindes machte einiges Aufsehen, aber nicht viel. Mr. Dombey, der sie nie gefunden haben würde, küßte sie ein einziges Mal auf die Stirn und warnte sie, nicht wieder wegzulaufen oder mit treulosen Dienstboten umherzuziehen, Mrs. Chick hielt ein mit ihren Lamentationen über die Verderbnis der Menschennatur, selbst wenn sie durch einen barmherzigen Schleifer auf den Pfad der Tugend zurückgerufen würde, und bewillkommte Florence in einer Weise, beinahe so, als wäre sie eine vollkommene Dombey. Miß Tox regulierte ihre Gefühle nach den Vorbildern, die sie vor sich hatte, und empfing sie mit einem Willkomm, der jedenfalls nicht so war, wie ihn eine vollkommene Dombey verdient haben würde. Nur Richards, die schuldige Richards, ergoß ihr Herz in gebrochenen Worten herzlicher Begrüßung und beugte sich über die Kleine nieder, als ob sie dieselbe wirklich lieb habe.
»Ach, Richards«, sagte Mrs. Chick mit einem Seufzer, »es wäre für Euch weit ziemender und für diejenigen, die von ihrem Nebenmenschen eine gute Meinung haben möchten, viel befriedigender gewesen, wenn Ihr zu rechter Zeit ein passendes Gefühl gezeigt hättet für das kleine Kind, das jetzt nur allzu früh seiner natürlichen Nahrung beraubt werden soll.«
»Abgeschnitten«, fügte Miß Tox in bedauerndem Flüstern bei, »von einer gemeinsamen Quelle.«
»Wenn ich mich eines solchen Falls von Undank schuldig gemacht hätte«, fuhr Mrs. Chick feierlich fort, »und ich an Eurer Stelle wäre, Richards, so wäre es mir immer, als ob die Tracht der barmherzigen Schleifer mein Kind verzehren und die Erziehung es ersticken müßte.«
Was das betraf – aber freilich wußte Mrs. Chick nichts davon – war der Knabe um des Anzugs willen jedenfalls schon sehr zerzaust worden, und vielleicht übte mit der Zeit auch die Erziehung die eben erwähnte vergeltende Wirkung, da sie aus nichts anderem als aus einem Sturm von Schlägen und Schmerzrufen bestand.
»Louisa!« sagte Mr. Dombey. »Es ist nicht nötig, dies Thema weiter zu verfolgen. Das Weib ist entlassen und bezahlt. Ihr verlaßt dieses Haus, Richards, weil Ihr meinen Sohn – meinen Sohn«, fügte Mr. Dombey mit erhöhtem Nachdruck der beiden letzten Worte hinzu – »in Spelunken und in eine Gesellschaft gebracht habt, an die man nicht ohne Schauder denken kann. Was den Unfall anbelangt, der heute morgen Miß Florence zustieß, so betrachte ich denselben in einem gewissen sehr bedeutungsvollen Sinn als einen glücklichen Umstand, insofern ich ohne denselben nie, und noch obendrein nicht von Euren eigenen Lippen erfahren haben würde, wessen Ihr Euch schuldig gemacht habt. Ich denke, Louisa, daß die andere Wärterin, die eine junge Person ist« – hier fing Miß Nipper an, laut zu schluchzen – »und sich deshalb natürlich von Pauls Amme verleiten ließ, im Hause bleiben kann. Sei so gut, dem Kutscher die Weisung zu erteilen, daß der Wagen für dieses Weib bezahlt ist nach –« Herr Dombey stockte und konnte das Wort fast nicht über die Lippen bringen – »nach den Staggs Gärten.«
Polly wandte sich nach der Tür; aber Florence hielt sich weinend an ihren Kleidern fest und bat sie auf das flehendlichste, nicht fortzugehen. Es war ein Dolchstoß für das Herz des hochmütigen Vaters und ein Pfeil in sein Gehirn, daß er sehen mußte, wie das Fleisch und Blut, das er sein eigen nennen mußte, in seiner Gegenwart sich an diese niedrige Fremde anklammerte. Nicht, weil er sich darum kümmerte, wen seine Tochter liebte oder mied. Das Schmerzgefühl, das ihn durchzuckte, haftete an dem Gedanken, was möglicherweise sein Sohn tun könnte.
Jedenfalls weinte sein Sohn die ganze Nacht hindurch mit Macht. In Wahrheit gesprochen, der arme Paul hatte einen weit besseren Grund für seine Tränen, als das bei Söhnen von ähnlichem Alter oft der Fall ist, denn ihm war seine zweite Mutter genommen worden – die erste, die er kannte – und zwar durch einen ebenso plötzlichen Streich, als es derjenige gewesen war, der das Band der natürlichen Liebe bei Beginn seines Lebens löste. Und in demselben Augenblicke hatte auch seine Schwester, die gleichfalls nur unter schmerzlichen Tränen ihren Schlummer fand, eine gute treue Freundin verloren. Doch das ist von gar geringem Belang; verlieren wir deshalb keine Worte mehr darüber.
Siebentes Kapitel. VOGELPERSPEKTIVE VON MIß TORS WOHNUNG UND IHRE LIEBHABEREIEN.
Miß Tor bewohnte ein dunkles Häuschen, das sich in einer früheren Periode der englischen Geschichte mitten hinein in eine fashionable Umgebung des Westendes von London gezwängt hatte, wo es wie eine arme Verwandte der um die Ecke herum liegenden großen Straße im Schatten stand und von den mächtigen Nachbarhäusern nur über die Achsel angesehen wurde. Es stand nicht gerade in einem Hof, wohl aber in einer der langweiligsten Sackgassen, die noch beängstigender und hagerer wurde durch die fernen Doppelschläge. Dieser abgeschiedene Ort, wo zwischen den Pflastersteinen das Gras in die Höhe schoß, hieß der Prinzessinnenplatz, und auf dem Prinzessinnenplatz befand sich eine Prinzessinnenkapelle mit einer gellenden Glocke, in der sich bisweilen ein paar Dutzend Personen zum Sonntagsgottesdienst versammelten. Ferner sah man hier ein Wappen der Prinzessinnen, das häufig von Dienern in funkelnden Livreen besucht wurde, und innerhalb des Geländers vor den Wappen der Prinzessinnen stand eine Sänfte, die aber seit Menschengedenken nie herausgekommen war. An schönen Morgen waren die Spitzen sämtlicher Geländerstangen (ihrer Zahl nach 48, wie sich Miß Tor oft aus eigener Zählung überzeugt hatte) mit Zinnkrügen verziert. Auf dem Prinzessinnenplatz stand neben der Wohnung Miß Tor noch ein anderes Privathaus, dessen ungeheures Flügeltor, mit ein paar ungeheuren löwenköpfigen Klopfern daran, gar nicht erwähnt zu werden braucht, da es nie geöffnet wurde und vermutlich ein außer Brauch gekommener Eingang zu jemands Ställen war. Überhaupt herrschte auf dem Prinzessinnenplatz ein gewisser unverkennbarer Stallgeruch, und das hinten hinausgehende Schlafgemach der Miß Tor beherrschte eine Aussicht auf Ställe, wo stets Pferdeknechte mit irgendeiner Art Arbeit beschäftigt waren und sich dabei mit gewaltigem Geschrei unterhielten. Auch sah man dort die häuslichsten und vertraulichsten Kleider der Kutscher, ihrer Weiber und Familien, die gewöhnlich wie Macbeths Banner an den äußeren Mauern aufgehängt waren.
In dem andern Privathaus des Prinzessinnenplatzes, das von einem in Ruhestand getretenen und mit einer Wirtschafterin verehelichten Hausmeister bewohnt wurde, waren Gemächer an einen Junggesellen vermietet – nämlich an einen holzköpfigen, blaugesichtigen Major mit großen hervorquellenden Augen, in denen Miß Tor, wie sie sich selbst ausdrückte, »etwas so wahrhaft Militärisches« erkannte. Zwischen diesem Herrn und ihr fand ein gelegentlicher Austausch von Zeitungen und Flugschriften statt – ein platonisches Spiel, das durch einen schwarzen Diener des Majors vermittelt wurde. Miß Tor begnügte sich vollkommen damit, letzteren als einen »Eingeborenen« zu klassifizieren, ohne ihn mit irgendeiner geographischen Idee in Verbindung zu bringen.
Vielleicht hat es nie einen engeren Eingang und eine schmälere Treppe gegeben, als den Eingang und die Treppe von dem Hause der Miß Tor. Vielleicht war es im ganzen von oben bis unten genommen das unbequemste und verkrümmteste kleine Haus in ganz England; aber Miß Tor pflegte es mit den Worten zu entschuldigen – »aber die Lage!« Im Winter hatte man nur kurze Zeit ein wenig Tageslicht, und auch in den besten Zeiten war nie Sonnenlicht zu bekommen. Von der Luft ist bereits die Rede gewesen, und vom Verkehr war man ganz abgeschnitten. Dennoch sagte Miß Tor – »bedenkt nur, welch eine Lage!« Der blaugesichtige Major mit seinen Glotzaugen war damit einverstanden und tat sich viel auf den Prinzessinnenplatz zugut, da er ihm Gelegenheit gab, in seinem Klub immer wieder das Gespräch auf die vornehmen Leute und die große Straße um die Ecke zu bringen, nur um sich den Hochgenuß zu bereiten, daß er sagen konnte, sie seien seine Nachbarn.
Das finstere Haus, das Miß Tor bewohnte, war ihr Eigentum und ihr von dem verstorbenen Besitzer des fischigen Auges in dem Schlosse vermacht worden; auch befand sich ein Miniaturporträt desselben mit gepuderten Haaren und Zopf als Gegenstück zu dem Kesselhalter auf der andern Seite des Kamins im Wohnstübchen. Der größere Teil des Möbelwerks stammte gleichfalls aus der Zeit des Puders und der Zöpfe; namentlich zeichnete sich darunter ein Tellerwärmer, der stets seine vier abgezehrten, gebogenen Beine jemand in den Weg streckte, und ein abgenutztes Klavier aus, um das sich der Name des Instrumentenmachers mit einer gewaltigen Erbsengirlande herumzog.
Obschon Major Bagstok bei dem großen Meridian des Lebens, wie man es in der feinen Literatur nennt, angelangt war und seine Wanderung abwärts mit kaum einem Halse, einem sehr starren Paar Backenknochen, langen, hängenden Elefantenohren und Augen in dem bereits erwähnten Zustande künstlicher Aufregung weiter verfolgte, so ließ er es sich doch gewaltig angelegen sein, in Miß Tor ein Interesse für sich zu wecken, und so kitzelte er denn seine Eitelkeit mit der Vorstellung, daß sie eine herrliche Frauensperson sei, die ihr Auge auf ihn geworfen habe. Er hatte das auch mehrere Male in seinem Klub angedeutet, und manche kleine Scherze damit in Verbindung gebracht, in denen der alte Joe Bagstok, der alte Joey Bagstok, der alte J. Bagstok, der alte Josh Bagstok usw. das ewige Thema bildeten; es gehörte nämlich sozusagen zu dem Bollwerk von des Majors heiterem Humor, stets mit seinem eigenen Namen auf dem vertraulichsten Fuß zu stehen.
»Joey B., Sir«, konnte der Major mit einer Schwenkung seines Spazierstocks sagen, »ist so viel wert, wie ein Dutzend von Euch. Wenn Ihr einige mehr von der Bagstokzucht unter Euch hättet, Sir, so würdet Ihr dadurch nicht schlechter fahren. Auch jetzt noch, Sir, braucht der alte Joe nicht lange nach einem Weibe suchen, wenn es ihm darum zu tun ist; aber der Joe ist hartherzig, Sir – er ist zäh, Sir, zäh und verteufelt schlau!«
Nach einer solchen Erklärung konnte man pfeifende Töne hören, und das blaue Gesicht des Majors vertiefte sich zum Purpur, während seine Augen in wahrhaft konvulsivischem Zustande hervorquollen.
Ungeachtet des sehr freigebigen Eigenlobes war übrigens der Major ein selbstsüchtiger Mann. Wir möchten bezweifeln, ob es je eine Person mit einem selbstsüchtigeren Herzen oder – um mich eines bessern Ausdrucks zu bedienen – mit einem selbstsüchtigeren Magen gab, zumal da man zugeben muß, daß er mit letzterem Organ entschieden reichlicher bedacht worden war, als mit dem ersteren. Es fiel ihm nicht entfernt ein, daß er übersehen oder gering geschätzt werden könnte, am wenigsten aber ließ er sich träumen, daß etwas Derartiges gar von Miß Tor ausgehen könnte.
Und doch gewann es den Anschein, als ob Miß Tor ihn vergessen habe – allmählich vergessen habe. Sie machte damit den Anfang bald nach dem Auffinden der Toodle-Familie, fuhr dann fort bis zu der Zeit der Kindstaufe, und nachher hatte ihr Interesse für ihn ganz und gar aufgehört. Ihre Teilnahme mußte durch irgend etwas oder irgend jemanden verdrängt worden sein.
»Guten Morgen, Ma›am«, sagte der Major, als er ihr einige Wochen nach den im vorigen Kapitel erwähnten Veränderungen auf dem Prinzessinnenplatze begegnete.
»Guten Morgen, Sir«, versetzte Miß Tor mit großer Kälte.
»Es ist schon geraume Zeit her, Ma›am«, bemerkte der Major mit seiner gewohnten Galanterie, »daß Joe Bagstok nicht das Glück hatte, Euch an Eurem Fenster sein Kompliment zu machen. Joe fühlt sich hart behandelt, Ma›am. Seine Sonne hat sich hinter einer Wolke versteckt.«
Miß Tor neigte ihr Haupt, aber in der Tat nur sehr kühl.
»Joes Sonne ist vielleicht über Land gewesen, Ma'am?« inquirierte der Major.
»Ich – über Land? o nein; ich bin nicht aus der Stadt gekommen«, versetzte Miß Tor. »Ich war in letzter Zeit viel in Anspruch genommen und muß fast jeden freien Augenblick einigen sehr vertrauten Freunden widmen. Ich fürchte, daß ich sogar jetzt mit meiner Zeit geizen muß. Guten Morgen, Sir!«
Miß Tor verschwand mit ihrer höchst bezaubernden Haltung von dem Prinzessinnenplatz, und der Major sah ihr mit einem Gesichte nach, das blauer war als je; dabei murmelte und brummte er etwas vor sich hin, was durchaus nicht wie ein Kompliment klang.
»Ei, verdammt Sir«, sagte der Major, seine Hummeraugen über den Prinzessinnenplatz hin und her rollen lassend und dessen würzige Luft anredend, »noch vor sechs Monaten würde dieses Weib den Boden geküßt haben, auf dem Josh Bagstok einhertrat. Was hat das nun zu bedeuten?«
Nach längerer Erwägung kam der Major zu dem Schluß, daß es sich hier um eine Männerfalle handle – um ein Ränkespiel, um das Legen einer Schlinge – mit einem Worte, daß Miß Tor Fallgruben herrichte. »Aber den Joe fangt Ihr nicht, Ma'am, – J. B. ist zäh. Zäh und verteufelt schlau.«
Diese Entdeckung beglückte ihn dermaßen, daß er den ganzen Tag über vor sich hinkicherte.
Aber es verging ein Tag nach dem andern, und es hatte durchaus nicht den Anschein, als ob Miß Tor überhaupt auf den Major achte oder an ihn denke. In früheren Zeiten war es ihre Gewohnheit gewesen, hin und wieder wie zufällig aus einem ihrer kleinen dunkeln Fenster hinauszusehen und errötend den Gruß des Majors zu erwidern; aber jetzt gab sie ihrem militärischen Nachbar nie mehr einen Anlaß dazu und kümmerte sich auch nicht darum, ob er über die Straße herübersah oder nicht. Es sollten auch noch andere Veränderungen vorgehen. Der Major konnte im Schatten seines eigenen Zimmers stehend die Wahrnehmung machen, daß die Wohnung der Miß Tor in letzter Zeit ein schmuckeres Aussehen gewonnen hatte. Für den alten kleinen Kanarienvogel war ein neuer Käfig mit vergoldeten Drähten angeschafft worden; verschiedener Zierat, aus Pappendeckel und Papier geschnitten, schien den Kaminsims und die Tische zu zieren; an den Fenstern waren plötzlich ein paar Pflänzlein aufgeschossen, und Miß Tor übte sich gelegentlich auf ihrem Klavier, dessen Erbsengirlande sich gar prunkhaft ausnahm und auf dem ein Notenheft mit einigen von Miß Tor selbst abgeschriebenen Walzern lag.
Vor allem war es jedoch der Umstand, daß sich Miß Tor längst mit ungewöhnlicher Sorgfalt und Eleganz in eine leichte Trauer gekleidet hatte. Das half dem Major mit einem Male aus all seiner Schwierigkeit, und er kam dadurch zu dem Schluß, daß ihr irgendein kleines Legat zugefallen und sie deshalb stolz geworden sei.
Schon am anderen Tage, nachdem sich der Major durch diese Folgerung das Gemüt erleichtert hatte, sah er, wie er eben bei seinem Frühstück saß, eine so erstaunliche und wundervolle Erscheinung in dem kleinen Wohnstübchen der Miß Tor, daß er geraume Zeit auf seinem Sessel wie angenagelt sitzenblieb; dann stürzte er in sein Nebenkabinett und kehrte mit einem doppelröhrigen Operngucker zurück, mit dem er die Erscheinung einige Minuten lang aufs angelegentlichste betrachtete.
»Ich wette fünfzigtausend Pfund, es ist ein kleines Kind, Sir«, sagte der Major, indem er das Augenglas wieder zusammendrückte.
Das konnte der Major nicht vergessen. Er pfiff in einem fort, und seine Augen quollen so furchtbar hervor, daß sie in dem Zustande, wie sie früher waren, eigentlich als tiefliegend und eingesunken betrachtet werden konnten. Tag um Tag, zwei-, drei-, viermal in der Woche machte das Wickelkind seinen Besuch. Der Major fuhr fort, zu glotzen und zu pfeifen. Aber was er auch treiben mochte, niemand achtete seiner auf dem Prinzessinnenplatze, denn Miß Tor hatte aufgehört, an seinem Tun und Lassen Anteil zu nehmen. Sein Blau hätte sich ebensogut in Schwarz verwandeln können, ohne daß es sie in irgendeiner Weise interessiert hätte.
Die Beharrlichkeit, mit der sie den Prinzessinnenplatz verließ, um das Wickelkind und seine Wärterin zu holen, mit ihnen zu kommen, zu gehen und beständige Wache über sie zu halten – die Ausdauer, mit der sie es selbst pflegte, nährte, durch Spielen unterhielt oder durch Arien auf ihrem Klavier in Todesängste versetzte, war ganz außerordentlich. Auch befiel sie um dieselbe Zeit eine große Leidenschaft, nach einem gewissen Armband zu sehen und den Mond zu betrachten, an dem sie oftmals von ihrem Kammerfenster aus lange Beobachtungen anstellte. Nach was sie übrigens auch sehen mochte, nach Sonne, Mond, Sternen oder Armbändern – für den Major hatte sie keinen Blick mehr. Und der Major, der vor Neugierde fast starb, pfiff, glotzte und düsselte in seinem Zimmer herum, ohne der Sache auf den Grund kommen zu können.
»Gewiß und wahrhaftig, Ihr werdet das Herz meines Bruders Paul noch ganz gewinnen«, sagte eines Tages Mrs. Chick.
Miß Tor erblaßte.
»Er wird mit jedem Tage Paul ähnlicher«, fuhr Mrs. Chick fort.
Miß Tox gab darauf keine andere Erwiderung, als daß sie den kleinen Paul in ihre Arme nahm und dessen Haubenband mit ihren Liebkosungen ganz zerknitterte.
»Ich habe die Bekanntschaft seiner Mutter erst durch Euch machen sollen, meine Liebe«, sagte Miß Tor. »Hat er überhaupt Ähnlichkeit mit ihr?«
»Nicht im geringsten«, entgegnete Louisa.
»Sie war – war hübsch, glaube ich?« stotterte Miß Tor.
»Nun ja, die liebe arme Fanny war interessant«, erwiderte Mrs. Chick nach längerem Bedenken. »Gewiß interessant. Sie besaß zwar nicht jene beherrschende Überlegenheit, die man fast als eine Sache, die sich von selbst versteht, an der Gattin meines Bruders zu finden erwartete, und ebensowenig die Kraft und Lebhaftigkeit des Geistes, die ein solcher Mann braucht.«
Miß Tor seufzte tief.
»Aber sie war angenehm«, fuhr Mrs. Chick fort, »sehr angenehm. Und sie meinte es gut – ach Himmel, wie gut meinte es nicht die arme Fanny!«
»Du Engel!« rief Miß Tor dem kleinen Paul zu. »Du treues Abbild deines Papas.«
Hätte der Major wissen können, wie viele Hoffnungen und Wagnisse, welche Menge von Plänen und Spekulationen sich an dieses kleine Kind knüpften – wäre es ihm möglich gewesen, Zeuge zu sein, wie sie in ihrer buntesten Verwirrung und Unordnung die zerdrückte Haube des nichts ahnenden kleinen Paul umschwebten, so würde er sicherlich allen Grund gehabt haben, die Augen aufzureißen. Er hätte nämlich unter dem Gewimmel einige ehrgeizige, ausschließlich Miß Tor angehörige Sonnenstäubchen und Strahlen erkennen können, und dann wäre ihm wahrscheinlich klar geworden, welche Beschaffenheit es mit der scheuen Teilnahme dieser Dame an der Firma Dombey hatte.
Hätte das Kind selbst in der Nacht geweckt werden können, damit es an den Vorhängen seiner Wiege die matten Reflexe von Träumen erschaue, die andere Leute an seine Person knüpften, so wäre es sicherlich aus guten Gründen vor Angst in Krämpfe gefallen. Aber Paul schlummerte sanft, ohne Ahnung von den liebevollen Absichten der Miß Tor, von der Verwunderung des Majors, von den frühen Leiden seiner Schwester und von den ernsteren Visionen seines Vaters; konnte er ja nicht dafür, daß irgendein Teil der Erde einen Dombey oder einen Sohn barg.
Achtes Kapitel. PAULS WEITERE FORTSCHRITTE – SEIN GEDEIHEN UND SEIN CHARAKTER.
Unter den wachsamen Augen der Zeit – so ganz anderen, als die des Majors waren – ging mit Pauls Schlummern allmählich eine Veränderung hervor. Es gewann mehr und mehr Licht, immer bestimmtere und bestimmtere Träume störten ihn, und eine Menge von Gegenständen und Eindrücken umschwärmten sein Lager. Er ging aus dem Alter der hilflosen Kindheit in das der regsameren über und wurde ein plaudernder, umhergehender, neugieriger Dombey.
Nach dem Sturz der Verbannung der Richards wurde die Kinderstube nur provisorisch versorgt, wie es zuweilen auch bei Ministerien zu sein pflegt, wenn sich kein individueller Atlas finden läßt, um sie zu tragen. Die provisorisch Betrauten waren natürlich Mrs. Chick und Miß Tor, die sich ihren Obliegenheiten mit so erstaunlichem Eifer hingaben, daß Major Bagstok mit jedem Tage neu an sein Vergessensein erinnert wurde, während Mr. Chick, der häuslichen Oberaufsicht beraubt, sich in die lustige Welt warf, in Klubs und Kaffeehäusern speiste, bei drei verschiedenen Gelegenheiten nach Tabak roch, allein ins Theater ging und – um es kurz zu sagen – sich jeder sozialen Pflicht und jeder moralischen Verbindlichkeit – wie ihm einmal von Mrs. Chick bedeutet wurde – als enthoben erachtete.
Aber trotz der früheren guten Aussichten und trotz aller dieser Wachsamkeit und Sorgfalt wollte der kleine Paul doch nicht recht gedeihen. Von Natur aus zart, nahm er nach der Entfernung seiner Amme sehr ab, und es hatte geraume Zeit den Anschein, als warte er nur auf eine Gelegenheit, seinen neuen Wärterinnen aus den Händen zu gleiten und seine verlorene Mutter zu suchen. Den gefährlichen Boden auf der Rennjagd zu dem reiferen Alter fand er sehr schwer durchzumachen, und er wurde im Laufe derselben von allen erdenklichen Hemmnissen hart bedrängt. Jeder Zahn wurde für ihn zu einer halsbrechenden Verzäunung, jeder Masernflecken zu einer steinernen Mauer. Jeder Anfall von Keuchhusten warf ihn aufs Krankenlager, und er mußte ein ganzes Feld kleiner Krankheiten, die sich auf den Fersen folgten, um ihn ja nicht zum Aufstehen kommen zu lassen, überqueren. Ja sogar die Hühner wurden wütend, wenn sie etwas mit der Kinderkrankheit zu tun hatten, der sie ihren Namen liehen, und quälten den armen Paul wie Tigerkatzen.
Vielleicht hatte auch die Kälte bei Pauls Taufe irgendeinen empfindsamen Teil seines Wesens berührt, so daß er sich in dem kalten Schatten seines Vaters nicht erholen konnte; so viel ist gewiß, daß er von diesem Tage an ein unglückliches Kind war. Mrs. Wickham sagte oft, sie habe nie ein so liebes Geschöpf so schwer heimgesucht gesehen.
Mrs. Wickham war die Frau eines Kellners – was etwa gleichbedeutend sein dürfte mit der Witwe eines jeden andern Mannes – und ihre Bewerbung um ein Unterkommen in Mr. Dombeys Dienst hatte unter Berücksichtigung des Umstandes, daß sie augenscheinlich keinen Anhang haben konnte, geneigte Aufnahme gefunden. Einige Tage später nach Pauls schneller Entwöhnung war sie zu dessen Wärterin bestellt worden. Mrs. Wickham war eine bescheidene Frau mit weißem Teint, stets emporgezogenen Augenbrauen und unablässig gesenktem Kopfe. Stets bereit, sich selbst zu bemitleiden, bemitleidet zu werden, oder jemand anders zu bemitleiden, hatte sie eine überraschende natürliche Gabe, alle Gegenstände in einem gänzlich verlorenen beklagenswerten Lichte zu betrachten, die schauerlichsten Vorgänge damit in Verbindung zu bringen und aus der Übung ihre« Talents die größten Tröstungen abzuleiten.
Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß kein Zug dieser ihrer Eigenschaft je zur Kenntnis des großmächtigen Mr. Dombey kam. Das wäre auch in der Tat merkwürdig gewesen, da es doch niemand im Haus – nicht einmal Mrs. Chick oder Miß Tor – je wagte, ihm bei irgendeiner Gelegenheit zuzuraunen, daß in Beziehung auf den kleinen Paul auch nur der mindeste Grund zur Unruhe vorhanden sei. Er hielt es für etwas Notwendiges, daß das Kind eine gewisse Reihe kleiner Krankheiten durchmachen müsse, und es sei nur um so besser, je früher das geschehe. Allerdings, wenn er imstande gewesen wäre, ihn loszukaufen oder einen Substituten an seine Stelle zu setzen, wie man das im Falle eines unglücklichen Zugs bei der Konskription zu tun pflegt, so würde er keine Geldausgabe gescheut haben; da das aber nicht möglich war, so wunderte er sich nur hin und wieder in seiner hochmütigen Weise, was denn die Natur damit bezwecke, und tröstete sich mit dem Gedanken, es sei wieder ein weiterer Meilenstein zurückgelegt und das große Ziel der Reise näher herangerückt. Das vorherrschendste Gefühl in seiner Seele, das sich immer mehr steigerte, je älter Paul wurde, war die Ungeduld – ein sehnsüchtiges Harren der Zeit, in welcher seine Träume von ihrer vereinten Bedeutsamkeit und Größe zur triumphierenden Wirklichkeit würden. Einige Philosophen sagen uns, daß unseren besten Neigungen immer die Selbstsucht zugrunde liege. Für Mr. Dombey war der kleine Paul von Anfang an als ein Teil seiner eigenen Größe oder – was damit gleichbedeutend ist – der Größe von Dombey und Sohn so entschieden wichtig, daß ohne Frage, wie mancher gute Oberbau eines unbescholtenen Rufs, seine väterliche Liebe sich leicht auf eine sehr niedrige Grundlage zurückführen ließ. Er liebte übrigens seinen Sohn mit aller Liebe, deren er fähig war. Wenn sich je in seinem frostigen Herzen ein warmer Winkel befand, so war dieser von dem Sohn in Anspruch genommen, und wenn die sehr harte Oberfläche desselben den Eindruck eines Bildes aufnehmen konnte, so war es das des Sohnes. Doch war es kaum das Bild des kindlichen oder knabenhaften, sondern vielmehr das des erwachsenen, des »Sohns« der Firma. Deshalb sah er so ungeduldig der Zukunft entgegen, deshalb wäre er so gern über die früheren Abschnitte der Entwicklung hinweggeeilt, und darum machte er sich, trotz seiner Liebe, nur so wenig oder gar keine Sorge darüber. Er schien der Überzeugung zu sein, der Knabe habe ein gefeites Leben und müsse notgedrungen der Mann werden, mit dem sich schon jetzt unaufhörlich seine Gedanken beschäftigten, und für den er, wie für eine existierende Wirklichkeit, jeden Tag neue Pläne schmiedete.
Paul war jetzt beinahe fünf Jahre alt. Er war ein hübsches Knäblein, hatte aber dabei ein so schmächtiges, tiefsinniges Gesichtchen, daß Mrs. Wickham oft bedeutungsvoll den Kopf schüttelte und tief dabei seufzte. Seine Gemütsart stellte in Aussicht, daß er im späteren Leben sehr gebieterisch werden dürfte; auch wußte er seine eigene Bedeutsamkeit und die Pflicht zur Unterwerfung allen andern Personen und Gegenständen so deutlich klar zu machen, als es das Herz nur wünschen konnte. Zuweilen war er kindlich und scherzhaft genug, da er überhaupt keinen störrischen Charakter besaß; aber zu andern Zeiten hatte er eine gar befremdliche altmodische, gedankenschwere Art an sich, wenn er brütend in seinem kleinen Sesselchen saß und dabei wie eines jener schrecklichen kleinen Wesen in den Feenmärchen aussah oder redete, die bei einem Alter von hundertundfünfzig oder zweihundert Jahren phantastisch die Kinder repräsentieren, mit denen sie vertauscht wurden. Droben in der Kinderstube wandelte ihn gar oft diese frühreife Stimmung an, und er konnte mit dem Ausruf, daß er müde sei, urplötzlich darin verfallen, selbst wenn er gerade mit Florence spielte oder Miß Tor als Pferd am Leitseil gehen ließ. Nie aber befiel ihn diese Laune so sicher, als wenn sein kleiner Stuhl nach dem Zimmer seines Vaters gebracht wurde und er dort nach der Mahlzeit neben seinem Erzeuger am Feuer sitzen mußte. Zu solcher Zeit waren sie das seltsamste Paar, das je vom Feuerlichte beschienen wurde. – Mr. Dombey, so aufrecht und feierlich in die Flamme schauend, sein kleines Ebenbild aber mit einem alten, alten Gesicht, mit der gespannten und verzückten Aufmerksamkeit eines Zauberers in die rote Perspektive blickend. Mr. Dombey unterhielt sich mit verwickelten weltlichen Entwürfen und Plänen, Sohn aber erging sich in weiß der Himmel was für wilden Phantasien, halbgeformten Gedanken und unsteten Spekulationen. Mr. Dombey saß da, steif von Stärke und Anmaßung, Sohn als sein echter Sprößling in unbewußter Nachahmung. Beide waren sich so sehr ähnlich und bildeten doch einen so schreienden Gegensatz.
Bei einer dieser Gelegenheiten waren beide geraume Zeit vollkommen ruhig dagesessen, und Mr. Dombey entnahm das Wachen des Kindes nur dem Umstände, daß ihn hin und wieder ein Blitz seines Auges traf, in dem das helle Feuer wie aus einem Diamant funkelte, als der kleine Paul das Schweigen in folgender Weise unterbrach:
»Papa, was ist Geld?«
Diese plötzliche Frage hatte eine so unmittelbare Beziehung zu Mr. Dombeys Gedanken, daß dieser ganz betroffen wurde.
»Was Geld ist, Paul?« entgegnete er. »Geld?«
»Ja«, sagte das Kind und legte die Hände auf die Lehnen seines kleinen Stuhls, während er zugleich das alte Gesicht Mr. Dombey zukehrte: »was ist Geld?«
Mr. Dombey sah sich in Verlegenheit. Er hätte ihm gerne eine Erklärung über die verschiedenen Bezeichnungen dieses Zirkulationsmittels, über Kurantmünze, nicht kursfähige Münze, Papier, Barren, Wechsel, den Marktwert der edlen Metalle usw. gegeben; als er aber auf den kleinen Stuhl niederblickte und dabei bemerkte, wie ferne noch ein gehöriges Verständnis des Gegenstandes lag, antwortete er:
»Gold, Silber und Kupfer, Guineen, Shillinge, Halbpence. Du weißt, was das ist?«
»O ja, das weiß ich wohl«, sagte Paul. »Das meine ich auch nicht, Papa. Ich möchte wissen, was Geld überhaupt ist.«
Himmel und Erde, wie alt sein Gesicht war, als er es abermals zu dem seines Vaters erhob!
»Was Geld überhaupt ist?« entgegnete Dombey, indem er seinen Stuhl ein wenig zurückschob, um in heller Verwunderung das anmaßende Atom, das eine solche Frage gestellt hatte, besser betrachten zu können.
»Ich meine Papa, was kann es ausrichten?« versetzte Paul, indem er die Arme kreuzte (sie waren kaum lang genug dazu) und seine Blicke zwischen dem Feuer und seinem Vater hin und her gleiten ließ.
Mr. Dombey rückte seinen Stuhl wieder an den früheren Platz und pätschelte Paul auf den Kopf.
»Du wirst es mit der Zeit erfahren, Bürschlein«, sagte er. »Geld, Paul, kann alles ausrichten.«
Er faßte dabei die kleine Hand des Knaben und klopfte leicht mit seiner darauf.
Aber Paul machte seine Hand los, sobald er konnte, rieb die Fläche derselben sachte auf der Stuhllehne hin und her, als ob sein Verstand darin sitze und er ihn schärfen wolle, schaute abermals ins Feuer, wie wenn ihm von diesem die Frage eingegeben worden sei, und wiederholte nach einer kurzen Pause:
»Alles Papa?«
»Ja, alles – beinahe«, sagte Mr. Dombey.
»Alles will soviel heißen, wie überhaupt alles – ist es nicht so, Papa?« fragte der Sohn, die Beschränkung entweder nicht bemerkend, oder vielleicht auch nicht verstehend.
»Ja«, versetzte Mr. Dombey.
»Warum hat Geld nicht meine Mama gerettet?« entgegnete das Kind – »es ist doch nicht grausam – oder?«
»Grausam!« sagte Mr. Dombey, indem er die Halsbinde zurechtrückte und sich über die Idee zu ärgern schien. »Nein. Etwas Gutes kann nicht grausam sein!«
»Wenn es etwas Gutes ist und alles kann«, sagte der kleine Bursche, nachdenklich wieder in das Feuer zurückschauend, »so wundere ich mich nur, warum es meine Mama nicht rettete.«
Er stellte diesmal seine Frage nicht an seinen Vater. Vielleicht hatte er mit kindlichem Scharfsinn erfaßt, daß sie seinen Vater bereits unruhig gemacht. Aber er wiederholte den Gedanken laut, als sei es etwas Altes, das ihn längst beunruhigt habe, und legte das Kinn auf die Hand, wie wenn er sinnend in dem Feuer die Erklärung suche.
Mr. Dombey erholte sich schnell von seiner Überraschung, um nicht zu sagen von seiner Unruhe – denn es war das erstemal, daß der Knabe mit ihm über die Mutter sprach, obschon er ihn jeden Abend in derselben Weise an seiner Seite sitzen hatte – und erklärte ihm nun, daß das Geld zwar ein sehr gewaltiger Geist sei, den man unter keinen Umständen je vergeuden dürfe, aber gleichwohl nicht vermöge, Leute, deren Sterbestündlein gekommen sei, am Leben zu erhalten; leider müßten alle Menschen sterben, sogar in der City, und wenn sie auch noch so reich seien. Das Geld bewirke übrigens, daß man geehrt, gefürchtet, geachtet, gesucht und bewundert werde; es mache mächtig und herrlich in den Augen aller Menschen und könne sehr oft für eine geraume Zeit sogar den Tod abhalten. Es habe z.B. seiner Mama die Dienste des Mr. Pilkins gesichert, die Paul selbst ja oft zustatten gekommen seien, ebenso die des großen Doktors Parker Peps, den er noch nicht kennengelernt habe. Es könne alles ausrichten, was überhaupt sich ausrichten lasse. Das und ähnliches flößte Mr. Dombey dem Geiste seines Sohnes ein, der aufmerksam zuhörte und den größten Teil dessen, was ihm gesagt wurde, zu verstehen schien.
»Aber es kann mich nicht kräftig oder ganz gesund machen, Papa – oder kann es?« fragte Paul nach kurzem Schweigen und rieb sich die kleinen Händchen.
»Ei, du bist ja kräftig und gesund«, entgegnete Dombey, »oder bist du es etwa nicht?«
O wie alt war der Ausdruck des Gesichts, das sich nun wieder mit halb melancholischem, halb schlauem Ausdruck erhob.
»Wie, bist du etwa nicht so kräftig und so gesund, wie kleine Leute es gewöhnlich sind?« fragte Mr. Dombey.
»Florence ist zwar älter als ich; aber ich weiß, ich bin nicht so stark und gesund wie Florence«, entgegnete das Kind, »und ich glaube, als Florence so klein war, wie ich, konnte sie viel länger in einem fort spielen, ohne müde zu werden. Ich bin oft so müde«, sagte der kleine Paul, indem er sich die Hände wärmte und durch das Kamingitter sah, als fände dort ein gespenstisches Puppenspiel statt, »und meine Knochen tun mir so weh – Wickham sagt wenigstens, es seien die Knochen – daß ich nicht weiß, was ich tun soll.«
»Nun ja; aber das ist abends«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl näher zu dem seines Sohnes rückte und seine Hand sanft auf dessen Rücken legte; »kleine Leute müssen abends müde sein, wenn sie gut schlafen wollen.«
»O, es ist nicht nur abends, Papa«, versetzte das Kind; »auch am Tage, wenn ich in Florences Schoß liege und sie mir etwas vorsingt. Nachts träume ich sonderbare, wunderliche Dinge!«
Und er fuhr fort, seine Hände zu wärmen und sich Gedanken darüber zu machen, wie ein alter Mann oder ein junger Kobold.
Mr. Dombey war erstaunt, fühlte sich unbehaglich und wußte ganz und gar nicht, wie er die Unterhaltung fortführen sollte, so daß er sitzenblieb und seinen Sohn beim Schein des Feuers ansah, die Hand noch immer auf dessen Rücken liegen lassend, als würde sie dort durch magnetische Anziehung festgehalten. Einmal brachte er auch die andere Hand näher und drehte für einen Moment das kleine nachdenkliche Gesicht seinem eigenen zu; sobald er es aber wieder losgelassen hatte, suchte es aufs neue das Feuer und schaute auf die sprühenden Funken, bis die Wärterin erschien, um ihren Pflegling zu Bett zu bringen.
»Florence soll mich holen«, sagte Paul.
»Wollt Ihr nicht mit Eurer armen Wärterin Wickham kommen, Master Paul?« fragte die Dienerin mit großem Pathos.
»Nein, ich mag nicht«, versetzte Paul, sich wieder in seinem Armstuhl festpflanzend, als sei er der Herr im Hause.
Mit einem Segenswunsche über die liebe Unschuld entfernte sich Mrs. Wickham, und bald darauf erschien statt ihrer Florence. Das Kind stand augenblicklich mit großer Bereitwilligkeit auf und machte dabei, als es seinem Vater gute Nacht sagte, ein so viel heitereres, jüngeres und kindlicheres Gesicht, daß Mr. Dombey ganz erstaunt darüber war, obschon er über den Wechsel sehr beruhigt war. Nachdem die beiden das Gemach verlassen hatten, war es ihm, als höre er eine sanfte Stimme singen; er wußte von Paul, daß ihm seine Schwester vorzusingen pflegte, weshalb er neugierig die Tür öffnete, um zu hören und ihnen nachzusehen. Sie hatte den Kleinen auf ihren Armen und trug ihn mühevoll die große, weite, leere Treppe hinauf; Pauls Kopf lag auf ihrer Schulter, und seine Arme waren nachlässig um ihren Hals geschlungen. So ging es mit großer Anstrengung vorwärts; das Mädchen sang die ganze Zeit über, und bisweilen mischte Paul eine schwache Begleitung darein. Mr. Dombey sah ihnen nach, bis sie – freilich nicht, ohne unterwegs anzuhalten – die oberste Treppenstufe erreicht hatten und dort seinen Blicken entschwanden; aber auch dann schaute er noch immer aufwärts, bis die matten Strahlen des Mondes, die in melancholischer Weise durch das trübe Oberlichtfenster schienen, ihn nach seinem eigenen Zimmer zurücksandten. Beim Diner des nächsten Tages mußten sich Mrs. Chick und Miß Tor zum Zweck einer Beratung einfinden, und sobald das Tafeltuch entfernt war, eröffnete Mr. Dombey ihnen den Gegenstand, indem er ohne Rückhalt fragte, was denn eigentlich mit Paul sei und was Doktor Pilkins über ihn sage.
»Das Kind ist kaum so kräftig, als ich es wünschen möchte«, fügte Mr. Dombey hinzu.
»Mein lieber Paul«, versetzte Mrs. Chick, »mit deinem gewohnten glücklichen Scharfblick hast du den Nagel auf den Kopf getroffen. Unser Liebling ist nicht so kräftig, als wir wünschen, und der Grund dafür liegt darin, daß der Geist zu übermächtig in ihm wird. Seine Seele ist viel zu groß für seinen Körper. Wenn man nur bedenkt, wie das liebe Kind spricht!« sagte Mrs. Chick ihren Kopf schüttelnd. »Niemand würde es glauben. Erst gestern seine Ausdrücke, Lukretia, über Leichenbegängnisse! –«
»Ich fürchte«, bemerkte Mr. Dombey, sie ärgerlich unterbrechend, »daß einige von den Personen droben das Kind mit unpassenden Gegenständen unterhalten. Erst gestern abend sprach er zu mir von seinen – von seinen Knochen«, sagte Mr. Dombey, einen gereizten Nachdruck auf das Wort legend. »Was in aller Welt hat man da mit den – mit den – Knochen meines Sohnes zu schaffen? Hoffentlich ist er doch kein lebendes Skelett!«
»Ganz im Gegenteil«, erwiderte Mrs. Chick mit einem nicht zu beschreibenden Ausdruck.
»Will's aber auch meinen«, versetzte ihr Bruder. »Dann wieder Leichenbegängnisse! Wer spricht mit dem Kinde von Leichenbegängnissen? Wir sind doch keine Leichenbestatter, Stumme oder Totengräber, sollt' ich meinen.«
»Gewiß nicht«, entgegnete Mrs. Chick mit demselben tiefen Ausdruck, wie früher.
»Wer setzt ihm aber solche Dinge in den Kopf?« fragte Mr. Dombey. »In der Tat, ich war gestern abend in hohem Grade erschüttert. Wer setzt ihm solche Dinge in den Kopf, Louisa?«
»Mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick nach einer kurzen Pause, »diese Frage ist unnütz. Wenn ich gegen dich aufrichtig sein soll, so glaube ich nicht, daß Wickham eine sehr aufgeräumte, heitere Person ist – eine, wie soll ich sagen –«
»Eine Tochter des Momus«, ergänzte Miß Tor mit sanfter Stimme.
»Ganz richtig«, sagte Mrs. Chick; »aber sie benimmt sich ungemein achtsam, macht sich nützlich, wo sie kann, und ist durchaus nicht anmaßend. Ich habe in der Tat nie eine dienstwilligere Frauensperson gesehen. Wenn das liebe Kind –« fuhr Mrs. Chick im Tone einer Person fort, die, statt alles zum erstenmal zu sagen, das zusammenfaßt, über was man vorläufig völlig ins reine gekommen ist – »durch den letzten Anfall ein wenig geschwächt wurde und nicht ganz so gesund ist, als wir es wohl wünschen könnten – wenn in seinem System sich eine vorübergehende Entkräftung bemerkbar macht und es hin und wieder den Anschein hat, als könne er augenblicklich nicht gebieten über den Gebrauch seiner –«
Nach Mr. Dombeys kürzlichem Protest gegen die Knochen scheute sich Mrs. Chick, von Beinen zu sprechen, und wartete daher auf eine Einflüsterung von Miß Tor, die, ihrem Amte getreu, aufs Geratewohl das Wort »Glieder« hinwarf.
»Glieder!« wiederholte Mr. Dombey.
»Ich glaube, der Herr Doktor sprach diesen Morgen von Beinen, Louisa, ist es nicht so?« fragte Miß Tor.
»Ei freilich tat er das, meine Liebe«, entgegnete Mrs. Chick mit mildem Vorwurf. »Wie könnt Ihr mich nur fragen, da Ihr es ja selbst gehört habt? Ich sage, wenn unser lieber Paul vorübergehend den Gebrauch seiner Beine verlieren sollte, so ist das nur eine Zufälligkeit, die bei vielen Kindern in seinem Älter oft vorkommt und sich weder durch Sorgfalt, noch durch Vorsicht verhindern läßt. Je eher du das einsiehst und zugestehst, Paul, desto besser ist es.«
»Zuverlässig weißt du, Louisa«, bemerkte Mr. Dombey, »daß ich deine natürliche Liebe und Achtung für das künftige Haupt meines Hauses nicht in Frage ziehe. Ich glaube, Mr. Pilkins ist heute morgen bei Paul gewesen?«
»Ja«, entgegnete die Schwester. »Miß Tor und ich, wir beide waren anwesend. Miß Tor und ich, wir fehlen nie bei solchen Gelegenheiten. Es ist für uns einfach Ehrensache. Mr. Pilkins kommt schon einige Zeit täglich ins Haus, und ich halte ihn für einen sehr gescheiten Mann. Er sagt, die Sache sei nicht der Rede wert, und ich kann dir diese Versicherung gehen, wenn du einen Trost darin findest; aber er empfahl heute Seeluft. Ich bin überzeugt, Paul, daß das ein sehr weiser Rat ist.«
»Seeluft?« wiederholte Mr. Dombey, seine Schwester ansehend.
»Es liegt durchaus nichts Beunruhigendes darin«, sagte Mrs. Chick. »Sie ist meinem George und meinem Friedrich, als sie ungefähr in gleichem Alter waren, ebenfalls verordnet worden, und auch ich selbst mußte mich ihrer oftmals bedienen. Ich bin ganz mit dir einverstanden, Paul, daß vielleicht droben unvorsichtigerweise Gegenstände vor ihm zur Sprache kommen, mit denen man seinen jungen Geist besser verschonen sollte; aber ich weiß in der Tat nicht, wie dem bei einem Kind von so rascher Auffassungsgabe abzuhelfen ist. Bei einem gewöhnlichen Kinde hätte es gar nichts auf sich. Ich muß daher sagen, daß ich die Ansicht der Miß Tor teile; eine kurze Abwesenheit von diesem Hause, die Luft von Brighton und die leibliche sowohl als die geistige Erziehung einer so verständigen Frau wie z.B. Mrs. Pipchin ist –«
»Wer ist Mrs. Pipchin, Louisa?« fragte Mr. Dombey, ganz entsetzt über die familiäre Erwähnung eines Namens, von dem er nie zuvor etwas gehört hatte.
»Mrs. Pipchin, mein lieber Paul«, entgegnete Mrs. Chick, »ist eine ältliche Dame – Miß Tor kennt ihre ganze Geschichte – die seit einiger Zeit mit bestem Erfolg die ganze Tätigkeit ihres Geistes dem Studium und der Erziehung der Jugend gewidmet hat; auch stammt sie aus guter Familie. Ihrem Gatten brach das Herz durch – wie habt Ihr gesagt, daß ihrem Gatten das Herz brach, meine Liebe? Ich habe die näheren Umstände vergessen.«
»Durch das Pumpen von Wasser aus den peruanischen Minen«, entgegnete Miß Tor.
»Er war natürlich nicht selbst Pompier«, sagte Mrs. Chick nach ihrem Bruder hinsehend; und es schien in der Tat nötig, eine solche Aufklärung zu geben, denn Miß Tor hatte von ihm gesprochen, als sei er an der Handhabung der Pumpe gestorben, »sondern hatte sein Geld bei der Spekulation angelegt, und diese schlug fehl. Ich glaube, daß Mrs. Pipchin die Kinder ganz erstaunlich zu behandeln versteht. In den Privatzirkeln, die ich besuchte, habe ich sie stets – und, o du meine Güte, wie hoch – preisen hören!«
Mrs. Chicks Auge wanderte am Bücherschrank hinauf bis zur Büste des Mr. Pitt, die ungefähr zehn Fuß vom Boden entfernt war.
»Vielleicht sollte ich, mein teurer Sir«, bemerkte Miß Tor mit einem edlen Erröten, »da eben so bestimmt davon die Rede ist, beifügen, daß die Lobeserhebungen, in welchen sich Eure teure Schwester eben über Mrs. Pipchin ergangen hat, wohl berechtigt sind. Viele Ladies und Gentlemen, die nun zu interessanten Mitgliedern der Gesellschaft herangewachsen sind, haben ihrer Pflege viel zu verdanken. Das bescheidene Individuum, das Euch anzureden sich erdreistet, stand selbst einmal unter ihrer Obhut. Ich glaube sogar, daß der jugendliche Adel ihrer Anstalt nicht fremd ist.«
»Habe ich das so zu verstehen, daß diese achtbare Matrone ein Institut unterhält, Miß Tor?« fragte Mr. Dombey herablassend.
»Ich weiß in der Tat nicht«, erwiderte Miß Tor, »ob ich es mit Recht so nennen kann. Jedenfalls ist es keine Vorbereitungsschule. Drücke ich mich vielleicht treffend aus«, fügte sie mit eigentümlicher Süßigkeit hinzu, »wenn ich es als eine Kinderbewahrungsanstalt von der auserlesensten Beschaffenheit bezeichne?«
»In ungemein beschränktem und ausschließendem Maßstabe«, ergänzte Mrs. Chick mit einem Blick auf ihren Bruder.
»O! die Ausschließlichkeit selbst!« sagte Miß Tor.
Hierin lag etwas. Der Umstand, daß Mrs. Pipchins Gatten ob den peruanischen Minen das Herz brach, war gut – er hatte einen reichen Klang. Außerdem befand sich Mr. Dombey in einem Zustande, der sich fast zur Bestürzung steigerte, wenn er daran dachte, Paul solle auch nur noch eine Stunde im Hause bleiben, nachdem seine Entfernung durch den Arzt empfohlen worden war. Es handelte sich hier um eine neue Verzögerung und ein Hindernis auf dem Wege, den das Kind im besten Falle langsam genug zurücklegen mußte, ehe das Ziel erreicht war. Die Empfehlung der Mrs. Pipchin hatte bei ihm großes Gewicht, denn er wußte, daß die beiden Damen auf jede Einmengung bei ihrem Pflegling eifersüchtig waren, und es fiel ihm dabei keinen Augenblick ein, mit in Betracht zu ziehen, daß sie vielleicht auch auf andere Schultern eine Verantwortlichkeit abzuladen wünschten, in betreff deren er, wie sich eben erst gezeigt hatte, seine festgewurzelten Ansichten hatte. »Das Herz gebrochen wegen den peruanischen Minen«, dachte Mr. Dombey. »Nun, eine sehr achtbare Art, aus der Welt zu kommen.«
»Wir wollen morgen Nachfrage halten«, sagte Mr. Dombey nach einigem Erwägen: »und angenommen, wir entscheiden uns dafür, Paul zu dieser Dame nach Brighton zu schicken, wer soll mit ihm gehen?«
»Ich glaube, wir dürfen vorderhand nicht daran denken, das Kind irgendwohin zu schicken, ohne Florence, mein lieber Paul«, versetzte seine Schwester stockend. »Er ist ganz vernarrt in sie. Du weißt, er ist noch so jung und hat seine Grillen.«
Mr. Dombey wandte den Kopf ab, ging langsam nach dem Bücherschranke, schloß ihn auf und langte ein Buch zum Lesen heraus.
»Wen sonst noch, Louisa?« fragte er, ohne aufzusehen in dem Buche blätternd.
»Natürlich die Wickham. Ich denke, Wickham genügt vollkommen«, entgegnete seine Schwester. »Wenn Paul in solchen Händen ist, wie bei Mrs. Pipchin, so kannst du kaum jemand mitschicken, der für sie nur ein weiteres Hindernis wäre. Natürlich machst du wenigstens einmal in der Woche einen Besuch dort.«
»Natürlich«, sagte Mr. Dombey und saß noch eine Stunde nachher immer vor derselben Seite seines Buches, ohne auch nur ein Wort gelesen zu haben.
Die gefeierte Mrs. Pipchin war eine wunderbar häßlich aussehende, mißlaunige alte Dame von gebeugter Haltung, mit einem Gesicht, so fleckig wie schlechter Marmor, einer Hakennase und einem harten grauen Auge, das aussah, als könnte es auf einem Amboß gehämmert werden, ohne dadurch Schaden zu nehmen. Wenigstens vierzig Jahre waren vergangen, seit die peruanischen Minen Mr. Pipchin den Tod gebracht hatten; aber seine Hinterlassene trug noch immer schwarzen Bombasin von so glanzlosem, tiefem, toten, düsteren Schatten, daß nach Eintritt der Dunkelheit sogar eine Gaslampe sie nicht aufzuhellen vermochte und ihre Gegenwart jede auch noch so große Anzahl von Kerzenlichtern zum Erblinden brachte. Sie galt im allgemeinen als eine Person, die sehr gut mit Kindern umzugehen wußte, und das Geheimnis ihrer Behandlung bestand darin, daß sie jedem gab, was ihm unlieb war, und nichts, was es gerne hatte; dadurch wurden denn ihre Charaktere sehr gezähmt. Sie war eine so bittere alte Dame, daß man sich wohl versucht fühlen konnte, zu glauben, in der Anwendung der peruanischen Maschinerie habe ein Irrtum stattgefunden, und es sei, statt des Wassers aus den Minen, alles Wasser der Heiterkeit und alle Milch der Menschenliebe völlig aus ihr herausgepumpt worden.
Das Kastell dieser Werwölfin und Kinderbändigerin stand an einer abschüssigen Stelle in einer Nebenstraße von Brighton. Der Boden war daselbst mehr als gewöhnlich kalkig, kieselig und unfruchtbar, und die Häuser zeigten ein gar schmächtiges, gebrechliches Aussehen. Die kleinen Gärten vorn besaßen die unerklärliche Eigentümlichkeit, nichts anderes als Ringelblumen hervorzubringen, was man sonst auch säen mochte, und die Schnecken klebten stets an den Haustüren und anderen öffentlichen Plätzen, wo sie wohl nicht als Zierde dienen konnten, mit der Beharrlichkeit von Schröpfköpfen. Winters konnte die Luft nicht aus dem Kastell heraus- und sommers nicht hineingebracht werden. Auch gab es darin einen so unaufhörlichen Widerhall des Windes, daß es überall stets wie eine große Muschel tönte, die die Insassen gleichsam Tag und Nacht an die Ohren halten mußten, ob sie nun wollten oder nicht. Natürlich konnte von einem frischen Geruch nicht die Rede sein, und vor dem Fenster des Vorderzimmers, das nie geöffnet wurde, unterhielt Mrs, Pipchin eine Sammlung von Topfpflanzen, die der ganzen Anstalt ihren eigenen erdigen Duft mitteilten.
Wie sorgsam gewählt auch in ihrer Art die Exemplare sein mochten, die Pflanzen standen jedenfalls in einem eigentümlichen Einklang mit dem ganzen Hause der Mrs. Pipchin. Da waren ein halb Dutzend Kaktusse, die sich wie haarige Schlangen um runde Stöcke wanden; ein anderes Gewächs derselben Art streckte breite Krallen hinaus, wie ein grüner Hummer, mehrere Kriechpflanzen hatten stechende klebrige Blätter, und ein einziger unfreundlicher Blumentopf, der von der Zimmerdecke herunterhing, schien durch Sieden übergelaufen zu sein und kitzelte jetzt die unter ihm befindlichen Personen mit seinen langen grünen Enden, die an eine Spinne erinnerten – eine Tiergattung, von der es in Mrs. Pipchins Wohnung wimmelte, obschon sie vielleicht zur geeigneten Jahreszeit von den Ohrwürmern noch überboten wurden.
Gleichwohl steigerten sich Mrs. Pipchins Anforderungen an alle, die es erschwingen konnten, sehr hoch, und da die Dame selten die gleichmäßige Schärfe ihres Wesens zugunsten irgendeines Pfleglings milderte, so galt sie als eine Frau von merkwürdiger Festigkeit, die in ihrer Behandlung des kindlichen Charakters ganz wissenschaftlich zu Werke gehe. Auf die Grundlage dieses Rufs und des gebrochenen Herzens ihres Gemahls hin gelang es ihr, nach dem Ableben des Mr. Pipchin Jahr für Jahr sich leidlich durchzuschlagen. Drei Tage, nachdem Mrs. Chick ihrer zum erstenmal Erwähnung getan hatte, erlebte die treffliche alte Dame die Freude, einer respektablen Erhöhung ihrer laufenden Einnahmen aus Mr. Dombeys Tasche entgegensehen zu können und Florence sowohl als deren kleinen Bruder Paul zu den Insassen des Kastells zählen zu dürfen.
Mrs. Chick und Miß Tor waren abends zuvor mit den Kleinen angelangt und hatten die Nacht in einem Gasthaus zugebracht. Nach Ablieferung ihrer Fracht fuhren sie wieder der Heimat zu, und Mrs. Pipchin musterte, ihren Rücken dem Feuer zugekehrt, die neuen Ankömmlinge wie ein alter Feldwebel. Eine ältliche Nichte der Dame, eine gutmütige, dienstbeflissene Sklavin, die aber eine sehr hagere, eisenfeste Außenseite besaß und viel von Schwären an der Nase zu leiden hatte, nahm eben dem Master Bitherstone den reinen Halskragen ab, den er bei der Parade getragen hatte. Miß Pankey, zurzeit die einzige weitere kleine Kostgängerin, war kurz zuvor nach dem Gefängnis des Kastells, einem leeren Hintergemach, das zu Korrektionszwecken dienen mußte, geschickt worden, weil sie in Anwesenheit der Gäste dreimal geschnüffelt hatte.
»Nun, Sir«, sagte Mrs. Pipchin zu Paul, »glaubt Ihr wohl, daß es Euch bei mir gefallen wird?«
»Ich denke nicht, daß es mir hier je gefallen kann«, versetzte Paul »Ich will wieder fort. Das hier ist nicht mein Haus.«
»Nein. Es gehört mir«, entgegnete Mrs. Pipchin.
»Es ist sehr garstig«, sagte Paul.
»Gleichwohl gibt es noch einen schlimmern Platz darin«, erwiderte Mrs. Pipchin, »wo wir unsere bösen Buben einsperren.«
»Ist der auch schon drinnen gewesen?« fragte Paul, auf Master Bitherstone deutend.
Mrs. Pipchin nickte bejahend, und Paul hatte für den Rest des Tags genug damit zu schaffen, indem er Master Bitherstone von Kopf bis zu Fuß musterte und die Bewegungen seines Gesichts mit dem vollen Interesse beobachtete, das ein Knabe mit geheimnisvollen und schrecklichen Erfahrungen einzuflößen imstande ist.
Ein Uhr war die Stunde des Mittagessens, das hauptsächlich aus Mehlspeisen und Gemüse bestand, und um diese Zeit wurde Miß Pankey (ein sanftes, blauäugiges kleines Mädchen) aus ihrem Gefängnis hervorgeholt. Die Werwölfin verrichtete dieses Amt in eigner Person und belehrte ihre kleine Pflegbefohlene, daß niemand, der vor den Gästen schnüffle, je in den Himmel komme. Nachdem ihr diese große Wahrheit gehörig ans Herz gelegt war, wurde sie mit Reis bewirtet und mußte dann die im Kastell herkömmliche Gebetformel vortragen, in der speziell die Klausel des Dankes gegen Mrs. Pipchin für das gute Essen eingeschlossen war. Mrs. Pipchins Nichte, Berinthia, erhielt kaltes Schweinefleisch, und Mrs. Pipchin, deren Konstitution warme Nahrung verlangte, setzte sich zu den Hammelrippchen, die zwischen zwei Platten ganz heiß hereingebracht wurden und sehr gut rochen.
Da sie wegen des Regens nach dem Mahl nicht an die Küste hinuntergehen konnten und Mrs. Pipchins Konstitution nach den Hammelrippchen der Ruhe bedurfte, so begaben sie sich mit Berry (sonst Berinthia) nach dem Gefängnis, einem leeren Zimmer, das nach einer gegipsten Wand und einem Wasserfaß hinaussah, keinen Ofen hatte und mit seinem zerrissenen Kamin einen sehr gespenstischen Eindruck machte. Wenn übrigens Geselligkeit Leben hineinbrachte, war hier am Ende der beste Platz; denn Berry spielte da mit den Kindern und schien an deren Ausgelassenheit eine ebenso große Freude zu haben, wie ihre Pfleglinge. Dies dauerte fort, bis Mrs. Pipchin, wie der wieder auflebende »schwarze Mann«, zornig an die Wand klopfte; dann ließen sie ab, und Berry erzählte ihnen im Flüsterton Märchen bis zur Abenddämmerung.
Statt des Tees war für die Kinder reichlich Milch und Wasser mit Butterbrot vorhanden. Nur für Mrs. Pipchin und Berry wurde ein kleiner schwarzer Teetopf nebst einer unbeschränkten Menge Röstschnitten mit Butter für Mrs. Pipchin aufgetragen, die ebenso heiß wie die Hammelrippchen ankamen. Obschon nun die Werwölfin infolge dieses Gerichts von außen sehr schmierig wurde, schien es sie doch von innen durchaus nicht geschmeidiger zu machen; denn sie blieb so wild wie immer, und das harte graue Auge wollte nichts von Weichheit wissen.
Nach dem Tee brachte Berry ein kleines Arbeits-Etui, auf dessen Deckel der königliche Pavillon zu sehen war, hervor und fing an, emsig zu arbeiten, während Mrs. Pipchin ihre Brille aufsetzte, ein großes, in grüne Leinwand gebundenes Buch herausnahm und zu nicken begann. Sooft aber Mrs. Pipchin sich darüber ertappte, daß sie gegen das Fenster vorbeugte und daran aufwachte, gab sie Master Bitherstone einen Nasenstüber, weil er gleichfalls genickt hatte.
Endlich war es für die Kinder Schlafenszeit, und nachdem sie ihr Gebet hergesagt hatten, wurden sie zu Bett gebracht. Da die kleine Miß Pankey sich fürchtete, allein im Dunkeln zu schlafen, so übernahm Mrs. Pipchin stets das Amt, sie in Person gleich einem Schaf die Treppe hinaufzutreiben; und es war gar erbaulich, mitanzuhören, wenn Miß Pankey noch lange hernach in der allerschlechtesten Kammer weinte und Mrs. Pipchin hin und wieder hineinging, um sie zu zausen. Um halb zehn Uhr brachte der Geruch von heißen Kalbsbrieslein (der Mrs. Pipchin gestattete ihre Konstitution nicht, ohne Kalbsbrieslein schlafen zu gehen) eine Abwechslung in die vorherrschenden Düfte des Hauses, die Mrs. Wickham als »Häusergeruch« bezeichnete, und bald nachher lag das ganze Kastell im Schlummer.
Am andern Morgen war das Frühstück wie der Tee am Abend vorher, nur mit der Ausnahme, daß Mrs. Pipchin statt der Röstschnitten eine Semmel verspeiste und nachher nur noch gereizter zu sein schien. Master Bitherstone las den übrigen laut einen Stammbaum aus der Genesis (von Mrs. Pipchin absichtlich ausgewählt) vor und kam über die Namen mit der Ruhe und Klarheit einer Person weg, die in einer Tretmühle arbeitete. Nachdem das geschehen war, wurde Miß Pankey fortgetragen, um gewaschen zu werden, und an Master Bitherstone nahm man etwas anderes mit Salzwasser vor, aus dem er stets sehr blau und niedergeschlagen zurückkehrte. Paul und Florence gingen inzwischen mit Wickham, die unaufhörlich in Tränen zerfloß, nach dem Gestade, und um die Mittagsstunde hielt Mrs. Pipchin abermals bei einer Vorlesung die Oberaufsicht. Es gehörte mit zu Mrs. Pipchins System, den kindlichen Geist sich nicht wie eine junge Blume entwickeln und ausbreiten zu lassen, sondern ihn mit Gewalt gleich einer Auster zu öffnen; denn die Moral solcher Vorlesungen trug gewöhnlich einen ungestümen und einschüchternden Charakter: der Held – ein böser Knabe – wurde in Mitte der Katastrophe selten durch etwas Geringeres als durch einen Löwen oder Bären abgetan.
So war das Leben bei Mrs. Pipchin. Am Sonnabend kam Mr. Dombey herunter – eine Gelegenheit, bei der Florence und Paul zu ihm nach seinem Hotel kommen durften und Tee erhielten. Auch den ganzen Sonntag blieben sie bei dem Vater und fuhren gewöhnlich vor dem Mittagessen mit ihm aus. Bei solchen Anlässen schien Mr. Dombey, gleich Falstaffs Feinden, sich sozusagen zu »multiplizieren« und aus einem einzelnen steifleinwandenen Menschen ein ganzes Dutzend zu werden. Sonntagabend war der trübseligste Abend in der Woche; denn zu solchen Zeiten schien Mrs. Pipchin es darauf abgesehen zu haben, besonders widerwärtig zu sein. Miß Pankey wurde in der Regel von einer Tante zu Rottendean in tiefer Betrübnis zurückgebracht, und Master Bitherstone, dessen Verwandte insgesamt in Indien waren, und der während der Gebete in aufrechter Haltung, den Kopf gegen die Zimmerwand gelehnt und ohne eine Hand oder einen Fuß zu rühren, dasitzen mußte, fühlte sich dabei in seinem jugendlichen Gemüt so niedergeschlagen, daß er eines Sonntags abends Florence fragte, ob sie ihm für den Rückweg nach Bengalen kein Mittel angeben könne.
Aber Mrs. Pipchin stand in dem Rufe, daß sie die Kinder systematisch zu behandeln wisse, und ohne Zweifel war das auch der Fall. Die wilden kamen zuverlässig zahm genug nach Haus, nachdem sie sich einige Monate unter ihrem wirtlichen Dache aufgehalten hatten. Auch sagte man sich allgemein, es machte Mrs. Pipchin große Ehre, daß sie, nachdem ihrem Mann durch die peruanischen Minen das Herz gebrochen war, sich dieser Lebensaufgabe gewidmet, ihre Gefühle zum Opfer gebracht und fortwährend gegen die Mühen ihrer Stellung so entschlossen standgehalten hatte.
Neben dieser exemplarischen alten Dame pflegte nun Paul in der Regel lange Zeit in seinem kleinen Armstuhl zu sitzen und ins Feuer zu schauen. Er schien nie zu wissen, was Müdigkeit war, so oft er einen festen Blick auf Mrs. Pipchin richtete. Zwar liebte er sie nicht und fürchtete sich auch nicht vor ihr. Aber in seinen wunderlichen alten Launen schien sie eine ganz eigentümliche Anziehung für ihn zu besitzen. Die Hände wärmend, schaute er nach ihr hin und schaute fort, daß sogar die Werwölfin bisweilen ganz verwirrt wurde. Als sie einmal allein waren, fragte sie ihn, an was er denke.
»An Euch«, versetzte Paul ohne den mindesten Rückhalt.
»Und was denkt Ihr von mir?« fragte Mrs. Pipchin.
»Ich mache mir Gedanken, wie alt Ihr wohl sein mögt«, sagte Paul.
»Von solchen Dingen müßt Ihr nicht sprechen, junger Gentleman«, versetzte die Dame. »Das schickt sich nicht.«
»Warum nicht?« sagte Paul.
»Weil es unhöflich ist«, versetzte Mrs. Pipchin schnippisch.
»Unhöflich?« fragte Paul.
»Ja.«
»Wickham sagt«, entgegnete Paul unschuldig, »es sei auch nicht höflich, alle Hammelrippchen und Röstschnitten allein zu essen.«
»Wickham«, erwiderte Mrs. Pipchin aufbrausend, »ist eine boshafte, unverschämte, dreiste Person.«
»Was soll das?« fragte Paul.
»Geht Euch nichts an, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Denkt an die Geschichte von dem kleinen Knaben, der von einem tollgewordenen Ochsen totgestoßen wurde, weil er Fragen stellte.«
»Wenn der Ochse toll war«, sagte Paul, »wie konnte er wissen, daß der Knabe Fragen stellte? Niemand kann hingehen und einem tollen Ochsen Geheimnisse hinterbringen. Ich glaube nicht an diese Geschichte.«
»Ihr glaubt nicht daran, Sir?« wiederholte Mrs. Pipchin erstaunt.
»Nein«, sagte Paul.
»Auch nicht, wenn es zufälligerweise ein zahmer Ochse gewesen wäre, Ihr kleiner Ungläubiger?« erwiderte Mrs. Pipchin.
Da Paul den Gegenstand noch nicht in diesem Licht betrachtet und seine Folgerungen bloß auf die angeführte Mondsüchtigkeit der Ochsen gebaut hatte, so mußte er sich für den Augenblick zufrieden geben. Aber er brütete über dem Thema mit einer so augenscheinlichen Absicht, Mrs. Pipchin gleich wieder zu fassen, daß sogar diese zähe Dame es für ratsam hielt, sich zurückzuziehen, bis der Gegenstand vergessen wäre.
Von dieser Zeit an schien Paul für Pipchin ebensoviel Anziehungskraft zu haben wie Pipchin für Paul. Statt ihn auf der andern Seite des Feuers sitzen zu lassen, rückte sie seinen Stuhl auf ihre Seite hinüber, und da blieb denn Paul in einer Ecke zwischen dem Kamin und Mrs. Pipchin, alles Licht seines kleinen Antlitzes in die schwarzen Kleiderfalten vertiefend, jede Linie und Runzel ihres Gesichts studierend und das harte graue Auge in einer Weise durchbohrend, daß es Mrs. Pipchin bisweilen schloß, als ob sie schlummere. Mrs. Pipchin hatte eine alte schwarze Katze, die in der Regel mitten vor dem Kamin lag, wo sie aus reinem Privatvergnügen schnurrte und nach dem Feuer hinblinzelte, bis die zusammengezogenen Pupillen ihrer Augen wie zwei Ausrufungszeichen aussahen. Wie sie so zusammen bei dem Feuer dasaßen, hätte man die gute alte Dame – wir verwahren uns gegen alle respektwidrige Deutung – für eine Hexe und Paul nebst der Katze für ihre zwei vertrauten Geister ansehen können. Auch hätte es völlig zu der Szene gepaßt, wenn die ganze Gesellschaft in einer windigen Nacht einen Ausflug durch den Schornstein gemacht hätte, um nie wieder zurückzukommen.
So weit kam es nun allerdings nicht, sondern nach Einbruch der Dunkelheit sah man die Katze, Paul und Mrs. Pipchin stets an ihren gewöhnlichen Plätzen, und Paul, der die Kameradschaft des Master Bitherstone gerne mied, machte Abend für Abend seine Studien an Mrs. Pipchin, an der Katze und an dem Feuer, als wären sie ein Zauberbuch in drei Bänden.
Mrs. Wickham hatte für Pauls Besonderheiten ihre eigene Deutung und leitete aus alledem die unheimlichsten Betrachtungen ab. In solchen Deutungen wurde sie durch eine wirre Aussicht auf Schornsteine von dem Zimmer aus, wo sie sich gewöhnlich aufhalten mußte, durch das Getöse des Windes und durch die Langeweile ihres gegenwärtigen Lebens (Gespenstigkeit lautet der starke Ausdruck der Mrs. Wickham) bestärkt. Es gehöre mit zu Mrs. Pipchins Politik, zu verhindern, daß ihr eigenes »junges Weibsbild« – dies war ihre stehende Bezeichnung eines jeden weiblichen Dienstboten – in Verkehr mit Mrs. Wickham kam. Darum verwandte sie viel Zeit darauf, sich hinter Türen zu verbergen und auf das arme Mädchen zuzuspringen, sooft sich dieses Mrs. Wickhams Zimmer näherte. Indessen stand es doch Berry frei, in diesem Quartier, soweit es sich mit der Besorgung der vielfältigen Obliegenheiten vertrug, an denen sie unablässig von Morgen bis in die Nacht arbeiten mußte, sich wenigstens zu unterhalten, und so erleichterte dann Mrs. Wickham gegen sie ihr Herz.
»Was er für ein hübscher Junge ist, wenn er schläft!« sagte Berry, vor Pauls Bett stehenbleibend, nachdem sie Mrs. Wickham ihr Nachtessen hinaufgetragen hatte.
»Ach«, seufzte Mrs. Wickham, »er hat es wohl nötig.«
»Nun, er ist auch nicht häßlich, wenn er wacht«, bemerkte Berry.
»Nein, Ma'am. O nein. Ebenso wenig wie meines Onkels Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham.
Berry machte eine Miene, als möchte sie gar gerne den Gedankenzusammenhang zwischen Paul Dombey und der Betsey Jane des Onkels von Mrs. Wickham erforschen.
»Meines Onkels Frau«, fuhr Mrs. Wickham fort, »starb genau wie seine Mama. Das Kind meines Onkels fing gerade so an, wie Master Paul, und den Leuten lief oft darob das Blut kalt durch die Adern.«
»Wieso?« fragte Berry.
»Ich hätte nicht eine ganze Nacht allein bei Betsey Jane aufbleiben mögen!« sagte Mrs. Wickham, »nein, und wenn man meinem Mann am andern Morgen ein eigenes Geschäft angetragen hätte. Es wäre mir rein unmöglich gewesen. Miß Berry.«
Miß Berry fragte natürlich nach dem Grund. Aber Mrs. Wickham verfolgte nach dem Brauch mancher Damen von ihrer Stellung die Sache in ihrer eigenen Weise, ohne sich verwirren zu lassen.
»Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, »war ein so süßes Kind, wie man nur eines zu sehen wünschen kann. Ich möchte mir kein lieberes wünschen. Betsey Jane überwand alles, was einem Kind an Krankheiten nur zustoßen kann. Die Masern waren bei ihr so leicht«, fügte Mrs. Wickham hinzu, »wie bei Euch das Hautjucken, Miß Berry.«
Miß Berry runzelte unwillkürlich die Nase.
»Aber der Betsey Jane«, sagte Mrs. Wickham, ihre Stimme dämpfend, indem sie zugleich im Zimmer umher und nach Pauls Bett hinsah, »ist ihre verstorbene Mutter in der Wiege erschienen. Ich kann nicht gerade sagen, wie oder wann, und ebenso wenig weiß ich, ob das liebe Kind davon wußte oder nicht. Aber Betsey Jane ist von ihrer Mutter bewacht worden, Miß Berry. Ihr sagt vielleicht, das sei Unsinn; ich nehme es nicht übel, Miß, und hoffe, ihr werdet imstande sein, mit gutem Gewissen zu glauben, daß es wirklich Unsinn sei. Euer Gemüt wird nur um so besser dabei fahren, da Ihr Euch an einem Platz befindet, der – Ihr werdet meine Freiheit entschuldigen – wie ein Begräbnisplatz aussieht und es wohl vermöchte, mich unter den Boden zu bringen. Master Paul ist ein wenig unruhig in seinem Schlaf. Klopft ihn auf den Rücken, wenn Ihr so gut sein wollt.«
»Natürlich glaubt Ihr«, sagte Berry, indem sie tat, was ihr aufgetragen wurde, »auch seine Mutter habe sich seiner angenommen?«
»Betsey Jane«, erwiderte Mrs. Wickham in feierlichstem Ton, »wurde aufgezogen wie dieses Kind da, und veränderte sich so sehr, wie sich Paul verändert hat. Ich habe oft und oft gesehen, wie sie dasaß – in Gedanken, in Gedanken, in Gedanken, ganz wie er. Oft und oft bemerkte ich, wie sie gerade so alt, alt, alt aussah wie er. Vielmal hörte ich sie geradeso reden, wie er redet, und ich bin der Meinung, daß dieses Kind und Betsey Jane ganz in der nämlichen Lage sind, Miß Berry.«
»Ist Eures Onkels Kind noch am Leben?« fragte Berry.
»Ja, Miß, sie lebt«, entgegnete Mrs. Wickham mit triumphierender Miene; denn es war augenscheinlich, daß Miß Berry das Gegenteil erwartete; »und ist an einen Silberarbeiter verheiratet. O ja. Miß, sie lebt«, sagte Mrs. Wickham, einen bedeutsamen Nachdruck auf das »sie« legend.
Es ging also klar daraus hervor, daß jemand tot war, und Mrs. Pipchins Nichte erkundigte sich nach der betreffenden Person.
»Ich möchte Euch nicht unruhig machen«, entgegnete Mrs. Wickham, in ihrem Nachtessen fortfahrend. »Fragt mich nicht danach.«
Das war jedenfalls das sicherste Mittel, eine zweite Frage herbeizuführen. Miß Berry wiederholte sie daher, und nach einigem widerstrebenden Zögern legte Mrs. Wickham das Messer nieder, um nach Pauls Nett hinzublicken.
»Sie faßte Zuneigungen zu Leuten«, antwortete sie, »darunter gar wunderliche Zuneigungen. Und andere gewannen sie lieb, wie man dieses wohl erwarten konnte, aber nur in höherem Grad als gewöhnlich. Sie sind alle gestorben.«
Das war so gar unverhofft und schrecklich für Mrs. Pipchins Nichte, daß sie sich aufrecht auf den harten Rand der Bettstatt niedersetzte, nur kurz aufatmete und die Sprecherin mit Blicken des unzweideutigsten Entsetzens ansah.
Mrs. Wickham schüttelte verstohlen ihren Zeigefinger gegen das Bett, wo Florence lag, senkte ihn dann abwärts und winkte mehrere Male bedeutungsvoll nach dem Boden. Unmittelbar darunter befand sich nämlich das Zimmer, in dem Mrs. Pipchin ihre Röstschnitten zu verzehren pflegte.
»Denkt an meine Worte, Miß Berry«, sagte Mrs. Wickham, »und dankt Gott, daß Master Paul nicht allzu große Stücke auf Euch hält. Ich wenigstens kann Euch versichern, bin froh, daß er mir nicht zuviel zugetan ist, obschon man in diesem Gefängnis von einem Haus – entschuldigt mich, daß ich das so frei sage – sich nicht sonderlich seines Lebens freuen sollte.«
Vielleicht hatte Miß Berry in ihrer Aufregung Paul zu hart geklopft, oder es kam vielleicht daher, daß in dieser einförmigen Beschwichtigung eine Pause stattgefunden hatte – genug, Paul drehte sich in demselben Augenblick im Bett um, erwachte und nahm eine sitzende Stellung ein. Seine Haare waren feucht von den Wirkungen eines kindischen Traumes. Er fragte nach Florence.
Bei dem ersten Ton seiner Stimme war sie aus ihrem Bettchen, beugte sich über sein Kissen nieder und sang ihn wieder in Schlaf. Mrs. Wickham schüttelte den Kopf, ließ einige Tränen fallen, machte Berry auf die kleine Gruppe aufmerksam und schlug ihre Augen zur Decke empor.
»Gute Nacht, Miß!« sagte Wickham leise. »Gute Nacht! Eure Tante ist eine alte Frau, Miß Berry, und Ihr habt einem solchen Ausgang oft schon entgegensehen müssen.«
Dieses tröstliche Lebewohl begleitete Mrs. Wickham mit einem Blick herzlich gefühlter Beklommenheit, und sobald sie mit den beiden Kindern allein war, erging sie sich, während der Wind draußen schauerlich blies, in dem wohlfeilsten und leicht erreichbaren Hochgenuß der Schwermut, bis sie vom Schlummer überwältigt wurde.
Obgleich Mrs. Pipchins Nichte, als sie die Treppe hinunterging, nicht gerade erwartete, den exemplarischen Hausdrachen auf dem Herdfries ausgestreckt zu finden, fühlte sie sich doch erleichtert, als sie bemerkte, daß die Dame ungewöhnlich zänkisch und herb war – mit einem Wort, in Aussicht stellte, als gedenke sie zur Freude aller, die sie kannten, noch recht lange zu leben. Auch zeigten sich im Lauf der nächsten Woche durchaus keine Merkmale von Hinfälligkeit, denn die ihrer Natur zusagenden Nährmittel verschwanden fortwährend in der regelmäßigen Reihenfolge, obgleich Paul sie so aufmerksam wie nur je studierte und mit unwandelbarer Beharrlichkeit seinen gewöhnlichen Sitz nahe den schwarzen Falten und dem Kaminvorsprung einnahm.
Da aber Paul nach Ablauf dieser Zeit nicht kräftiger geworden war, als er bei seiner Ankunft gewesen, obschon er im Gesicht viel gesünder aussah, so wurde für ihn ein Wägelchen besorgt, in dem er gemächlich mit seinem ABC und andern Elementarübungen liegen konnte, wenn man ihn nach der Küste hinunterführte. Konsequent in seinen wunderlichen Liebhabereien, verwarf der Knabe einen rotwangigen Jungen, der sich zum Wagenpferd erboten hatte, und wählte dafür dessen Großvater, einen schmächtigen, alten, sauertöpfischen Mann in einem schmierigen Anzug, der durch lange Salzwasserlauge zähe geworden war und einen Geruch wie moderiges Seegras zur Ebbezeit verbreitete.
Dieser denkwürdige Führer zog ihn jeden Tag nach dem Gestade des Ozeans hinunter, und Florence ging stets an seiner Seite her, während die schwermütige Wickham den Nachtrab bildete. Dort saß oder lag er nun stundenlang in seinem Wägelchen und fühlte sich nie übler gelaunt, als wenn ihm Kinder Gesellschaft leisten wollten – natürlich Florence stets ausgenommen.
»Sei so gut und geh weg«, konnte er zu einem Kinde sagen, das mit ihm Kameradschaft machen wollte. »Ich danke, aber ich brauche dich nicht.«
Fragte ihn wohl eine kleine Stimme in der Nähe, wie es ihm gehe, so pflegte er zu erwidern:
»Ich befinde mich recht gut, danke schön, aber es ist wohl am besten, wenn du zu deinem Spiel gehst. Tu mir den Gefallen.«
Dann drehte er den Kopf, um dem sich entfernenden Kinde nachzusehen, und sagte zu Florence:
»Nicht wahr, wir brauchen keine andern? Küsse mich, Floy.«
Zu solchen Zeiten konnte er auch die Wickham nicht leiden, und er freute sich, wenn sie wegging, was sie auch gewöhnlich tat, um Muscheln aufzulesen oder Bekanntschaften anzuknüpfen. Ein abgelegener Ort, weit weg von den gewöhnlichen Spaziergängen, war sein Lieblingsplatz, und Florence pflegte dann mit ihrer Arbeit an seiner Seite zu sitzen, ihm vorzulesen oder mit ihm zu plaudern. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und das Wasser schlug bis an die Räder seines beweglichen Bettes; mehr verlangte er nicht.
»Floy«, sagte er eines Tages, »wo ist Indien, der Aufenthalt der Verwandten jenes Knaben?«
»O, das ist weit, weit weg«, sagte Florence, die Augen von ihrer Arbeit erhebend.
»Wochen?« fragte Paul.
»Ja, mein Lieber. Man muß viele Wochen Tag und Nacht reisen.«
»Wenn du in Indien wärest, Floy«, sagte Paul, nachdem er eine Minute geschwiegen, »so würde ich – was war es, was die Mama tat? Ich habe es vergessen.«
»Mich lieben!« entgegnete Florence.
»Nein, nein. Liebe ich dich nicht jetzt schon, Floy? Was tat sie doch – ja sie starb. Wenn du in Indien wärest, Floy, so würde ich sterben.«
Sie legte hastig ihre Arbeit beiseite, senkte ihr Köpfchen auf sein Kissen nieder und überhäufte ihn mit Liebkosungen. Auch ihr würde es so ergehen, sagte sie, wenn er dort wäre. Es werde ihm übrigens bald besser ergehen.
»O, ich bin jetzt schon viel besser«, antwortete er. »Ich meine nicht dieses, sondern wollte nur sagen, ich würde sterben vor Betrübnis und Einsamkeit, Floy!«
Ein andermal schlummerte er an derselben Stelle ein und schlief geraume Zeit ruhig fort. Plötzlich erwachend, lauschte er, fuhr auf und setzte sich horchend hin.
Florence fragte ihn, was er zu hören glaube.
»Ich möchte wissen, was es sagt«, antwortete er, ihr fest ins Gesicht blickend. »Das Meer, Floy, was spricht es denn in einem fort?«
Sie entgegnete ihm, daß er nur das Getöse der rollenden Wellen höre.
»Ja, ja«, versetzte er. »Aber ich weiß, daß sie immer etwas sagen. Stets das nämliche. Was ist dort drüben für ein Ort?« Er richtete sich auf und schaute mit großer Spannung nach dem Horizont.
Sie sagte ihm, daß dort drüben ein anderes Land liege; aber er erwiderte, dieses meine er nicht, sondern weiter weg – weiter weg. Später konnte er sehr oft in Mitte ihres Gesprächs plötzlich abbrechen, um zu lauschen, was doch die Wellen immer sagten: dann erhob er sich von seinem Lager, um nach jener unsichtbaren Gegend hinzusehen – weit weg.
Neuntes Kapitel. IN WELCHEM DEN HÖLZERNEN MIDSHIPMAN ANGELEGENHEITEN TREFFEN.
Der Hang der Romantik und Liebe zum Wunderbaren hatte sich in ziemlich starker Menge in der Natur des jungen Walter angesammelt. Dieser Hang war unter der Obhut des alten Solomon Gills durch die Wasser einer ernsten praktischen Erfahrung nicht sonderlich geschwächt worden und veranlaßte, daß er für Florences Abenteuer mit der guten Mrs. Brown ein ungewöhnliches, begeistertes Interesse hegte. Er bewahrte es treulich in seinem Gedächtnis, namentlich all das, woran er selbst mitgewirkt hatte, und trug es so mit sich herum, bis es das verderbte, eigensinnige Kind seiner Phantasie wurde, das ganz nach eigener Laune handelte.
Die Erinnerung an diese Vorfälle und seine eigene Beteiligung dabei wurde vielleicht noch bezaubernder durch die wöchentlichen Träume des alten Sol und des Kapitän Cuttle, wenn sie an Sonntagen beisammen saßen. Kaum verging einer von diesen Anlässen, ohne daß der eine oder der andere dieser würdigen Kumpane geheimnisvolle Anspielungen auf Richard Whittington machte. Der Kapitän war sogar so weit gegangen, eine Ballade von beträchtlichem Altertum zu kaufen, die lange unter andern poetischen Seemannsergießungen an einer Mauer der Trödlerstraße geflattert hatte. Die dichterische Leistung behandelte die Werbung und die Hochzeit eines hoffnungsvollen jungen Köhlers mit einer gewissen »lieblichen Peg«, einer mit allen Vorzügen ausgestatteten Tochter des Meisters und Miteigentümers eines Newcastler Kohlenschiffes. In dieser aufregenden Geschichte entdeckte Kapitän Cuttle eine tiefe geheime Beziehung zu dem Fall zwischen Walter und Florence. Sie begeisterte ihn dermaßen, daß er bei sehr festlichen Anlässen, z. B. an Geburts- und andern nicht sonntäglichen Feiertagen in dem kleinen Hinterstübchen das ganze Lied herunterplärrte und bei dem Wort »Pe–e–eg«, mit dem jeder Vers zu Ehren der Helden des Stücke« schloß, einen ganz erstaunlichen Triller anbrachte.
Aber ein offener, freimütiger Junge ist nicht gerade in der Lage, die Natur der eigenen Gefühle zu analysieren, wie tief sie auch in ihm verwurzelt sein mögen: und Walter wäre es schwer geworden, über diesen Punkt zu einer Entscheidung zu kommen. Er hatte eine große Zuneigung zu der Stelle, wo er Florence begegnet war, und der Straße, durch die er sie, obschon sie an sich durchaus nicht bezaubernd genannt werden konnte, nach Hause geführt hatte. Die Schuhe, die ihr unterwegs so oft abgeglitten waren, bewahrte er in seinem eigenen Stübchen auf, und wenn er abends in dem kleinen Hinterzimmer saß, entwarf er sich von der guten Mrs. Brown eine ganze Galerie von eingebildeten Porträts. Möglich, daß er auch nach jenen denkwürdigen Anlässen ein bißchen sorgfältiger in seinem Anzug wurde. Auch ist jedenfalls soviel gewiß, daß er während seiner freien Zeit gerne nach jenem Stadtteil spazierte, wo Mr. Dombeys Haus lag, in der unbestimmten Hoffnung, er könnte vielleicht der kleinen Florence auf der Straße begegnen. Aber bei alledem war sein Sinn so knabenhaft unschuldig, wie er es nur sein konnte. Florence war sehr hübsch, und es ist angenehm, ein hübsches Gesicht zu bewundern. Florence war zart und wehrlos. Was für ein stolzer Gedanke, daß er imstande gewesen, ihr seinen Schutz und seinen Beistand zu verleihen. Florence war das dankbarste kleine Geschöpf in der Welt: und es erfüllte ihn mit Entzücken, zu sehen, wie ihr dieses schöne Gefühl aus dem Antlitz leuchtete. Florence war vernachlässigt und wurde mit Kälte behandelt. Seine Brust quoll über von jugendlicher Teilnahme für das verachtete Kind in seiner öden stattlichen Heimat.
So kam es, daß Walter vielleicht ein halb dutzendmal im Lauf des Jahres auf der Straße vor Florence den Hut ziehen konnte, und sie pflegte dann haltzumachen, um ihm ihre Hand zu reichen. Mrs. Wickham war daran so gewöhnt, daß sie nicht darauf achtete, weil sie von der Geschichte ihrer Bekanntschaft unterrichtet war. Miß Nipper dagegen hatte auf derartige Anlässe ein schärferes Augenmerk. Ihr empfindsames Herz war im geheimen durch Walters gutes Aussehen gewonnen, und sie neigte sich zu dem Glauben, daß ihre Gefühle erwidert würden.
Die Entfernung von Florence diente nicht dazu, daß Walter die Bekanntschaft mit ihr vergaß oder sie aus dem Gesicht verlor. Im Gegenteil, er hütete die Erinnerung daran mehr denn je in seinem Innern. Was den abenteuerlichen Anfang und alle jene kleinen Umstände betraf, die ihr einen bestimmten Charakter und Hochgenuß verliehen, so nahm er die mehr als ein angenehmes Märchen, das seine Phantasie erquickte und nicht aus ihr verloren gehen durfte, weniger als den Teil einer Tatsache, an der er beteiligt war. In seiner Einbildungskraft diente sie wohl dazu, Florence zu heben, nicht aber ihn selbst. Bisweilen dachte er (und er beschleunigte dann seine Schritte), was es nicht Großes gewesen wäre, wenn er sich am Tag nach jener ersten Begrüßung auf ein Schiff begeben hätte, um auf der See Wunder zu tun und nach langer Abwesenheit als ein Admiral strahlend in allen Farben des Delphins oder wenigstens als ein Postkapitän mit Epauletten von blendendem Glanze wieder zurückzukommen. Dann hätte er Florence, die zu einer schönen Jungfrau herangewachsen war, heiraten und sie – Mr. Dombey, seinem Schlips und seiner Uhrkette zum Trotz – triumphierend irgendwohin nach der Riviera entführen können. Aber dieser Phantasieflug war nicht imstande, die Messingplatte von Dombey und Sohns Geschäftslokalen in ein Täfelchen goldener Hoffnung umzuwandeln oder einen helleren Glanz durch dessen erblindete Hochlichtfenster hereinzusenden, und wenn die beiden Alten im Hinterstübchen von Richard Whittington und Chefstöchtern sprachen, so fühlte Walter wohl, daß er über die wahre Stellung von Dombey und Sohn weit besser unterrichtet war als sie.
So kam es denn, daß er fortfuhr, seine täglichen Pflichten mit heiterem, fröhlichem, unermüdetem Geist zu erfüllen. Zwar durchschaute er wohl den hitzigen Charakter von Onkel Sol und Kapitän Cuttle; aber dennoch unterhielt er tausend unbestimmte und träumerische Vorstellungen von eigener Schöpfung, gegen die die ihrigen nur alltägliche Wahrscheinlichkeiten waren. Dies also war seine Lage in der Pipchin-Periode, in der er zwar etwas – aber nicht um viel – älter aussah, als vordem. Er war noch derselbe leichtfüßige, leichtherzige Junge, wie zur Zeit, als er an der Spitze von Onkel Sol und der eingebildeten Enterer in das Wohnstübchen stürmte und dem Onkel bei dem Heraufbringen des Madeira leuchtete.
»Onkel Sol«, sagte Walter, »ich glaube, Ihr seid nicht ganz wohl. Ihr habt kein Frühstück genommen. Wenn es so bei Euch fortgeht, werde ich einen Arzt holen.«
»Er kann mir doch nicht geben, was ich brauche, mein Junge«, versetzte Onkel Sol. »Jedenfalls müßte er eine gute Praxis haben, wenn er es könnte, und wenn dies der Fall ist, tut er es nicht.«
»Was meint Ihr damit, Onkel? Kunden?«
»Jawohl«, entgegnete Solomon mit einem Seufzer. »Kunden würden gut angelegt sein.«
»Zum Kuckuck, Onkel!« sagte Walter, indem er seine Frühstücktasse klappernd niedersetzte und mit der Hand auf den Tisch schlug, »wenn ich auf der Straße draußen den ganzen Tag lang alle Minuten Scharen von Leuten am Laden hin und her gehen sehe, so fühle ich mich halb versucht, hinauszueilen, den nächsten besten am Kragen zu packen, hereinzubringen und ihn zu zwingen, daß er für fünfzig Pfund in bar – Instrumente kaufe. Was guckt Ihr zur Türe herein?« fuhr Walter gegen einen alten Herrn mit gepudertem Kopf fort, der ihn natürlich nicht hören konnte, wie er so dastand und interessiert ein Schiffsteleskop musterte. »Davon haben wir nichts, und ich könnt' das selber besorgen. Kommt herein und kauft es!«
Mittlerweile hatte der alte Herr seine Neugierde befriedigt und ging ruhig weiter.
»Da geht er!« sagte Walter. »So machen es alle. Aber, Onkel – he, Onkel Sol« – denn der alte Mann war in Gedanken verloren und hatte auf die erste Anrede nicht geantwortet. »Ihr müßt nicht kleinmütig werden. Seid nicht niedergeschlagen, Onkel. Wenn einmal Aufträge kommen, so werden sie in solcher Menge eintreffen, daß Ihr nicht imstande sein werdet, sie zu besorgen.«
»Übers Sorgen bin ich hinaus, wann sie auch kommen mögen, mein Junge«, entgegnete Solomon Gills. »Man wird nicht wieder in diesen Laden kommen, bis ich nicht mehr drinnen bin.«
»Onkel, aber! – Das dürft Ihr nicht sagen!« drängte Walter. »Nein, das dürft Ihr nicht!«
Der alte Sol bemühte sich, eine heiterere Miene anzunehmen, und lächelte, so gut es gehen wollte, über den Tisch hinüber dem Knaben zu.
»In der Sache liegt durchaus nichts, als der gewöhnliche Gang – ist es nicht so, Onkel?« entgegnete Walter, indem er seine Ellbogen auf das Teebrett stützte und sich vorbeugte, um mit dem Alten vertraulicher reden zu können. »Seid offen gegen mich, Onkel, und sprecht Euch unverhohlen aus.«
»Nein, nein, nein«, entgegnete der alte Sol. »Ungewöhnliches? Gewiß nicht. Was sollte auch Ungewöhnliches darin liegen?«
Walter antwortete mit einem ungläubigen Kopfschütteln.
»Das ist es eben, was ich wissen möchte«, sagte er. »Und Ihr fragt mich? Ich will Euch was sagen, Onkel, wenn ich Euch so sehen muß, tut es mir eigentlich leid, daß ich bei Euch bin.«
Der alte Sol machte unwillkürlich große Augen.
»Ja. Obgleich niemand je glücklicher war als ich, wenn ich mich bei Euch befand, so tut es mir doch leid, bei Euch zu leben, wenn ich sehen muß, daß Ihr etwas auf dem Herzen habt.«
»Ich weiß, ich bin in solchen Zeiten ein bißchen langweilig«, bemerkte Solomon, indem er demütig seine Hände rieb.
»Ich meine es so, Onkel Sol«, fuhr Walter fort, und bog sich noch weiter vor, um ihn auf die Schulter zu klopfen, »ich fühle dann, daß Ihr, statt hier zu sitzen und mir Tee einzugießen, ein nettes Frauchen an der Seite haben solltet – Ihr wißt, eine behagliche, treffliche, nette alte Dame, die gerade zu Euch paßte, Euch zu behandeln wüßte und Euch wohlgemut erhielte. Ich bin zwar stets gegen Euch – wie ich es auch verpflichtet war – ein liebevoller Neffe gewesen. Aber ein Neffe bleibt eben nur ein Neffe, und ich kann Euch eine solche Gesellschaft nicht ersetzen, wenn Ihr niedergeschlagen und traurig seid, obschon ich gewiß weiß, daß ich meinen letzten Heller hergeben wollte, wenn ich Euch damit aufheitern könnte. Deshalb sage ich wieder, wenn ich Euch mit so schwerem Herzen sehen muß, es tut mir sehr leid, daß Ihr nichts Besseres um Euch habt, als einen unruhigen, rauhen, jungen Burschen, der Euch zwar gerne trösten möchte, Onkel, aber nicht weiß, wie er es angreifen soll – der nicht die Art dazu hat«, fügte Walter bei, indem er noch weiter herüberlangte, um seinem Onkel die Hand zu drücken.
»Wally, mein lieber Junge«, sagte Solomon, »und wenn die nette kleine alte Dame schon vor fünfundvierzig Jahren in diesem Stübchen ihren Platz gehabt hätte, so wäre ich doch nicht imstande gewesen, sie mehr zu lieben, als dich.«
»Ich weiß das, Onkel Sol«, entgegnete Walter. »Gott segne Euch dafür, ich weiß es. Aber Ihr brauchtet nicht die ganze Last unbequemer Geheimnisse allein zu tragen, wenn Ihr eine Frau hättet: denn sie würde wissen, wie sie Euch Erleichterung verschaffen muß, und das ist durch mich nicht der Fall.«
»O, wohl, wohl«, erwiderte der Instrumentenmacher.
»Nun denn, heraus damit, Onkel Sol!« versetzte Walter schmeichelnd. »Sprecht, was habt Ihr auf dem Herzen?«
Solomon Gills beharrte darauf, daß es nichts sei, und blieb dabei so entschlossen, daß der Neffe keine andere Wahl hatte, als zu tun, daß er ihm glaube.
»Ich kann weiter nichts sagen, Onkel Sol, als daß, wenn etwas da ist« – –
»Aber es ist nichts da«, entgegnete Sol.
»Nun gut«, erwiderte Walter. »Dann habe ich nichts mehr zu sagen, und das ist ein Glück: denn ich muß jetzt ans Geschäft gehen. Wenn ich einen Ausgang zu machen habe, will ich gelegentlich Euch sprechen, um zu sehen, was Ihr treibt, Onkel. Und vergeßt nicht, Onkel, ich werde Euch nie wieder glauben und Euch nie mehr etwas von Mr. Carker dem Jüngeren erzählen, wenn ich finde, daß Ihr mich getäuscht habt.«
Solomon Gills forderte ihn lächelnd heraus, er solle ihn einmal über etwas der Art zu ertappen suchen, und Walter, der in seinen Gedanken alle Arten unmögliche Mittel erwog, wie er Geld erwerben und den hölzernen Midshipman in eine unabhängige Stellung versetzen könne, begab sich mit weit schwermütigerem Gesicht, als man sonst an ihm gewöhnt war, nach dem Geschäftslokal von Dombey und Sohn.
Dort lebte zu jener Zeit um die Ecke – in der äußeren Bischofstorstraße – ein gewisser Brogley, beeidigter Makler und Taxator, der einen Laden hielt, in dem alle Arten alter Möbel in schauerlichstem Gewirr und im seltsamsten Beieinander zur Schau standen. Dutzende von Stühlen hingen an Wäscheständern und hielten sich nur mit Not an den Schultern der Seitenbretter fest, die ihrerseits auf den Kehrseiten von Tischen standen, wobei letztere mit ihren gymnastisch aufwärts gestellten Beinen die Platten anderer Tische unterstützten. Porzellanservice, Weingläser und Flaschen waren in der Regel auf dem Boden einer vierpfostigen Bettstatt ausgebreitet, und der gemütlichen Gesellschaft schloß sich ein halb Dutzend Schürhaken nebst einer Flurlampe an. Eine Garnitur Fenstervorhänge ohne die dazu gehörigen Fenster hüllten anmutig eine Barrikade von Kommoden ein, die mit allerlei Gefäßen beladen waren, während ein heimatloser Herdfries, von seinem natürlichen Gefährten, dem Kamin, getrennt, in seiner Bedrängnis dem verschmitzten Ostwind Trotz bot und in melancholischem Akkord mit den schrillen Klagen eines Pianos zitterte, das alle Tage eine Saite springen ließ und in seinem klimpernden, verrückten Gehirn eine matte Resonanz zu dem Straßenlärm gab. An regungslosen Uhren, die nie einen Zeiger bewegten und ebenso unfähig schienen, erfolgreich aufgezogen zu werden, wie die pekuniären Angelegenheiten ihrer früheren Eigentümer, befand sich stets eine große Auswahl in Mr. Brogleys Laden. Mancherlei Spiegel, die zufälligerweise das gemischte Vergnügen verschiedenartiger Lichtbrechung boten, zeigten dem Auge eine unendliche Perspektive von Bankerott und Verderben.
Mr. Brogley selbst war ein triefäugiger, rotgesichtiger, kraushaariger Mann, sonst von stämmiger Figur und fröhlicher Gemütsart – denn die Leute wie Marius, die auf den Trümmern der Karthagos anderer Leute sitzen, haben gut lachen. Er war schon einigemal in Solomons Laden gewesen, um sich über einige Artikel zu erkundigen, die in das Geschäft des Instrumentenmachers einschlugen, und Walter kannte ihn hinreichend, um ihn, wenn sie sich in den Straßen begegneten, zu grüßen. Da dies jedoch die ganze Ausdehnung der Bekanntschaft zwischen dem Trödler und Solomon Gills war, so fühlte sich Walter nicht wenig überrascht, als er seinem Versprechen gemäß im Laufe des Vormittags zurückkam und Mr. Brogley, der seine Hände in den Taschen stecken und seinen Hut hinter der Tür aufgehangen hatte, in dem hinteren Stübchen sitzend fand.
»Nun, Onkel Sol«, sagte Walter. Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der andern Seite des Tisches und hatte – welch ein Wunder – die Brille vor den Augen, statt auf der Stirn. »Was ist mit Euch los?«
Solomon schüttelte den Kopf und winkte mit der einen Hand gegen den Trödler hin, als wollte er ihn vorstellen.
»Ist etwas vorgefallen?« fragte Walter mit verhaltenem Atem.
»O nein. Nichts«, sagte Mr. Brogley. »Laßt Euch die Sache nicht beunruhigen.«
Walter blickte in stummem Erstaunen von dem Trödler auf seinen Onkel.
»Die Sache ist die«, fuhr Mr. Brogley fort, »es handelt sich um eine kleine Zahlung für eine Bürgschaftsschuld – dreihundert und etliche siebzig Pfund – und ich bin im Besitz.«
»Im Besitz?« rief Walter, sich im Laden umsehend.
»Ja!« sagte Mr. Brogley in vertraulicher Zustimmung und nickte dazu mit dem Kopf, als wolle er beiden bemerklich machen, wie sie sich dabei füglicherweise vollkommen beruhigen könnten. »Es ist eine Beschlagnahme – weiter nichts. Laßt es Euch nicht zu Herzen gehen. Ich komme selbst, weil ich die Sache ruhig und freundschaftlich abmachen möchte. Ihr kennt mich. Es geschieht ganz unter uns.«
»Onkel Sol!« stotterte Walter.
»Wally, mein Junge«, entgegnete sein Onkel. »Es ist das erstemal. Solch ein Unglück ist mir noch nie begegnet. Ich bin ein alter Mann und muß jetzt so anfangen!«
Er schob die Brille wieder zurück; denn sie konnte jetzt doch seine Aufregung nicht länger verbergen, bedeckte das Gesicht mit den Händen und schluchzte laut, während ihm Tränen auf die kaffeefarbige Weste niederfielen.
»Onkel Sol – ich bitte, o tut es nicht!« rief Walter, den ein wahrer Schauer durchzuckte, als er den alten Mann weinen sah. »Um Gottes willen, tut es nicht. Mr. Brogley, kann ich in der Sache behilflich sein?«
»Ich würde Euch empfehlen, Euch nach einem Freund oder ähnlichem umzusehen, mit dem Ihr die Angelegenheit besprechen könnt«, sagte Mr. Brogley.
»Natürlich!« rief Walter, der nach jedem Strohhalm haschte. »Ja, ganz recht! Danke schön. Kapitän Cuttle ist der Mann, Onkel. Wartet, bis ich zu Kapitän Cuttle geeilt bin. Habt acht auf meinen Onkel – wollt Ihr so gut sein, Mr. Brogley? – und tröstet ihn, so gut Ihr könnt, bis ich wiederkomme. Ihr dürft nicht gleich verzweifeln, Onkel Sol. Na, seid lieb und heitert Euch auf!«
Er sprach dies mit großem Eifer und stürzte, ohne auf die gebrochenen Gegenvorstellungen des alten Mannes zu achten, zum Laden hinaus. Dann eilte er nach dem Bureau, um sich unter dem Vorwand einer plötzlichen Erkrankung seines Onkels zu entschuldigen, und brach in voller Hast nach Kapitän Cuttles Wohnung auf.
Während er so durch die Straßen lief, kam ihm alles ganz anders vor. Zwar war das gewöhnliche Gewirr und der Lärm von Karren, Wagen, Omnibussen und Fußgängern vorhanden: aber das Unglück, das den hölzernen Midshipman befallen hatte, ließ ihm alles in einem neuen, befremdlichen Lichte erscheinen. Häuser und Läden waren nicht mehr so wie sonst, und überall stand in großen Buchstaben Mr. Brogleys Bürgschaftsschuldschein zu lesen. Der Trödler schien sogar die Kirchen für sich gewonnen zu haben, denn ihre Türme stiegen mit einer ganz ungewohnten Haltung zum Himmel empor. Selbst das Firmament war verändert und sann augenscheinlich gleichfalls auf eine Beschlagnahme.
Kapitän Cuttle wohnte am Rande eines kleinen Kanals in der Nähe der Indiadocks und einer Drehbrücke, die sich hin und wieder auftat, um irgendein wanderndes Schiffsungeheuer, gleich einem gestrandeten Leviathan, die Straße passieren zu lassen. Der allmähliche Übergang von Land zu Wasser in der Umgebung von Kapitän Cuttles Wohnung war interessant. Er begann mit der Errichtung von Flaggenstöcken als Wahrzeichen der Wirtshäuser. Dann kamen die Läden der Matrosenkleiderhändler mit ihren Guernseyhemden, den Südwesterhüten und den mächtigen Hosen, den stärksten und weitesten aller Beinbekleidungen, die vor den Türen aufgehangen waren. Dann kamen Anker- und Kabelkettenschmiede, bei denen die Hämmer den ganzen Tag lang auf dem heißen Eisen klimperten – dann Häuserreihen, vor denen kleine, mit Fahnen versehene Masten zwischen den Scharlachbohnen sich in die Höhe richteten – dann Gräben – dann Bandweiden – dann wieder Gräben – dann unerklärbare Passagen mir schmutzigem Wasser, das kaum zwischen den darauf schwimmenden Schiffen sichtbar ward – dann der Geruch von Hobelspänen in der Luft und ringsum kein anderes Gewerbe als das der Zimmerleute, die Masten, Räder, Scheiben und Boote verfertigten. Weiterhin wurde der Grund sumpfig und unsicher. Dann roch man nichts weiter als Rum und Zucker. Und endlich hatte man Kapitän Cuttles Wohnung vor sich – ein Häuslein in Brig-Place, dessen erster Stock zugleich der Dachstock war.
Der alte Mann saß mit einer Jammermiene an der anderen Seite des Tisches... Der Kapitän war einer von jenen eisenherzigen Männern, die auch die lebhafteste Einbildungskraft nie selbst von dem unbedeutendsten Teil ihres Anzugs trennen kann. Als daher Walter an die Tür klopfte und der Kapitän augenblicklich zu einem der kleinen Vorderfenster heraussah – den Glanzhut bereits auf dem Kopf und den segelartigen Hemdkragen sowohl, als den weiten blauen Anzug ganz in gewöhnlicher Art –, fühlte sich Walter vollkommen überzeugt, daß der Kapitän stets so sein müsse; als sei dieser Mann selbst ein Vogel, zu dem die Kleidung das Gefieder bildete.
»Wal'r, mein Junge!« sagte Kapitän Cuttle. »Nur standhaft und noch einmal geklopft. Tüchtig, es ist Waschtag.«
Walter ließ in seiner Ungeduld den Klopfer mit Macht niederfallen.
»So, das wäre kräftig genug!« sagte Kapitän Cuttle und zog augenblicklich seinen Kopf zurück, als ob er einen Sturm erwarte.
Und er hatte sich nicht getäuscht, denn eine verwitwete Dame, deren Ärmel bis zur Schulter aufgerollt waren, und deren mit Seifenschaum überzogene Arme von heißem Wasser dampften, entsprach der Aufforderung mit erstaunlicher Raschheit. Ehe sie Walter ins Auge faßte, besichtigte sie den Klopfer. Dann aber maß sie ersteren von Kopf bis zu den Füßen und sagte, sie wundere sich nur, daß noch etwas daran übrig geblieben sei.
»Ich weiß, Kapitän Cuttle ist zu Hause«, ergriff Walter mit einem versöhnenden Lächeln das Wort.
»Ist er?« versetzte die verwitwete Dame. »Wirklich?«
»Er hat eben mit mir gesprochen«, sagte Walter mit verhaltenem Atem.
»Hat er?« entgegnete die verwitwete Dame. »Dann seid Ihr vielleicht so gut, ihm von Mrs. Mac Stinger einen Gruß auszurichten und ihm zu sagen, wenn er das nächste Mal sich und seine Wohnung so weit herabwürdige, zum Fenster hinaus zu sprechen, so werde sie es ihm Dank wissen, wenn er auch selber herunterkomme und die Tür öffne.«
Mrs. Mac Stinger sprach sehr laut und horchte, ob sich nicht etwa aus dem ersten Stock herab eine Bemerkung vernehmen lasse.
»Ich werde es besorgen«, sagte Walter, »wenn Ihr so gut sein wollt, mich einzulassen, Ma'am.«
Er sah sich nämlich durch eine hölzerne Befestigung ausgeschlossen, die sich quer vor der Tür hindehnte und daselbst angebracht war, um die kleinen Mac Stingers zu hindern, daß sie in ihren Erholungsaugenblicken nicht die Treppe herunterpurzelten.
»Ich sollte meinen«, entgegnete Mrs. Mac Stinger verächtlich, »ein junger Mensch, der mir die Tür einschlagen kann, sei auch imstande, darüber wegzukommen.«
Walter nahm dies für eine Erlaubnis einzutreten und stieg darüber hinweg; aber Mrs. Mac Stinger fragte ihn nun, ob das Haus einer Engländerin ihr Schloß sei oder nicht, und ob sie es sich gefallen lassen müsse, daß der erste beste in dieses einbreche. In dieser Sache war ihr Durst nach Belehrung noch immer sehr aufdringlich, als Walter bereits durch den künstlichen Waschnebel, der das Treppengeländer mit einem klebrigen Schweiß bedeckte, nach Kapitän Cuttles Zimmer hinaufgelangt war, wo dieser Herr hinter der Tür auf der Lauer lag.
»Bin ihr nie einen Penny schuldig geblieben, Wal'r«, sagte Cuttle in gedämpfter Stimme und mit sichtlichen Spuren der Angst auf dem Gesicht, »sondern habe ihr im Gegenteil eine ganze Welt voll guter Dienste geleistet – den Kindern obendrein. Gleichwohl, sie ist immer eine Hexe. Puh!«
»Dann würde ich ausziehen, Kapitän Cuttle«, versetzte Walter.
»Kann's nicht. Wal´r«, entgegnete der Kapitän. »Sie würde mich ausfindig machen, wohin ich auch ginge. Nehmt Platz, was macht Gills?«
Der Kapitän genoß eben aus seinem Hut ein Stück kalten Hammelbraten, Porter und einige dampfend heiße Kartoffeln, die er selbst gekocht hatte und die er je nach seinem Bedarf aus einer kleinen Pfanne von dem Feuer holte. Zur Essenszeit pflegte er seinen Haken abzuschrauben und an dessen Statt ein Messer einzusetzen, mit dem er bereits eine Kartoffel für Walter zu schälen begonnen hatte. Seine Räume waren sehr klein und rochen stark nach Tabak, sahen aber anständig genug aus, da alles so gut untergebracht war, als habe man regelmäßig jede halbe Stunde ein Erdbeben zu gewärtigen.
»Was macht Gills?« fragte der Kapitän.
Walter war inzwischen wieder zu Atem gekommen, aber mit dem Feuer, das ihm sein rasches Rennen eingeflößt, hatte er auch allen Mut wieder verloren. Er sah den Frager einen Augenblick an und brach mit dem Rufe »o Kapitän Cuttle!« in Tränen aus.
Die Bestürzung des Kapitäns bei einem solchen Anblick läßt sich nicht durch Worte beschreiben. Mrs. Mac Stinger schwand davor in ein Nichts zusammen. Die Kartoffel und die Gabel entfielen seiner Hand – mit dem Messer würde es wohl ebenso gegangen sein, wenn es möglich gewesen wäre – und so saß er da, den Knaben anstarrend, als erwarte er im nächsten Augenblick zu hören, in der City habe sich eine Kluft aufgetan, die seinen alten Freund samt dem kaffeefarbigen Anzug, den Knöpfen, der Uhr, der Brille und allem verschlungen habe.
Nachdem ihm aber Walter mitgeteilt hatte, um was es sich handelte, entwickelte er nach augenblicklichem Nachdenken seine volle Tätigkeit. Er leerte aus einer kleinen Zinnbüchse, die auf dem oberen Sims des Wandschrankes stand, seinen ganzen Vorrat an barem Geld, dreizehn Pfund und eine halbe Krone betragend, und verpflanzte ihn nach einer der Taschen seines weiten blauen Rocks. Ferner bereicherte er dieses Magazin mit dem Inhalt seiner Silbertruhe, bestehend aus zwei abgebrauchten Fragmenten von Teelöffeln und einer abgenutzten zerbeulten Zuckerzange. Dann holte er seine ungeheure doppelgehäusige silberne Taschenuhr aus den Tiefen, in denen sie ruhte, heraus, um sich zu überzeugen, daß dieses wertvolle Möbel gesund und heil war, befestigte den Haken an seinem rechten Handgelenk, ergriff seinen Knotenstock und forderte Walter auf, mit ihm zu kommen.
Plötzlich während dieser seiner tugendhaften Aufregung fiel ihm übrigens ein, Mrs. Mac Stinger könnte ihm unten auflauern. Er hielt daher plötzlich inne und warf einen Blick nach dem Fenster, als komme ihm der Gedanke, er wolle sich lieber dieses ungewöhnlichen Weges zum Fortkommen bedienen, als seinem schrecklichen Feind in den Weg treten. Zuletzt aber entschied er sich für eine Kriegslist.
»Wal'r«, sagte der Kapitän mit einem scheuen Blinzeln, »geht voraus, mein Junge. Wenn Ihr in den Flur kommt, so ruft mir zu: ›Lebt wohl, Kapitän Cuttle‹ und schließt die Tür. Ihr könnt dann an der Straßenecke warten, bis Ihr mich seht.«
Diese Andeutungen beruhten auf einer genauen Kenntnis von der Taktik des Feindes; denn als Walter die Treppe hinunterkam, stürzte Mrs. Mac Stinger wie ein Rachegeist aus der kleinen Hinterküche heraus. Da sie übrigens nicht, wie sie erwartet hatte, den Kapitän traf, so erlaubte sie sich nur eine weitere Andeutung auf den Klopfer und verschwand sodann wieder.
Es vergingen wohl fünf Minuten, ehe Kapitän Cuttle seinen Mut soweit zusammennehmen konnte, um den Fluchtversuch zu wagen. So wartete Walter an der Straßenecke und sah nach dem Hause zurück, ohne auch nur eine Spur von dem Glanzhut wahrnehmen zu können. Endlich aber brach der Kapitän mit der Plötzlichkeit einer Explosion zur Tür heraus, eilte rasch auf ihn zu und schaute auch nicht ein einziges Mal über die Schulter zurück. Sobald sie weit genug vom Hause weg waren, tat er dergleichen, als pfeife er ein Liedchen.
»Onkel schwer beigelegt, Wal'r?« fragte der Kapitän im Weitergehen.
»Ich fürchte es. Wenn Ihr ihn diesen Morgen gesehen hättet, würdet Ihr den Anblick nie vergessen haben.«
»Geht schnell, Wal'r, mein Junge«, entgegnete der Kapitän, indem er selbst auch seine Schritte beschleunigte, »und haltet es so Euer Leben lang. Laßt Euch das einen guten Rat sein und prägt ihn Euch gut ein!«
Der Kapitän ward fortan zu sehr von seinen Gedanken an Solomon Gills, vielleicht auch von einzelnen Betrachtungen über sein kürzliches Entkommen aus dem Haus der Mrs. Mac Stinger in Anspruch genommen, um zur moralischen Belehrung Walters weitere Zitate anzubringen. Sie gingen deshalb stumm nebeneinander her, bis sie die Tür des alten Sol erreicht hatten, wo der unglückliche hölzerne Midshipman mit seinem Instrument vor den Augen den ganzen Horizont zu mustern schien, ob sich nicht irgendwo ein Freund zeige, der ihm aus seiner Drangsal helfe.
»Gills!« rief der Kapitän in das Hinterstübchen eilend und seinen alten Freund ganz zärtlich bei der Hand fassend. »Legt Euern Schnabel nur gut an den Wind und wir wollen uns schon durchkämpfen. Ihr habt weiter nichts zu tun«, fügte der Kapitän mit der Feierlichkeit eines Mannes bei, der eine der kostbarsten praktischen Weisheiten von sich gegeben hat, die nur je von menschlicher Weisheit entdeckt wurden; »nur den Schnabel gut an den Wind gelegt, und wir fechten uns durch.«
Der alte Sol erwiderte den Händedruck und dankte dem Sprecher.
Kapitän Cuttle legte sodann mit einer Würde, die ganz im Einklang mit der Natur des Anlasses stand, die beiden Teelöffel, die Zuckerzange, die silberne Uhr und das bare Geld auf den Tisch, worauf er Mr. Brogley, den Trödler, fragte, wie hoch sich der Schaden belaufe.
»Nun, wie hoch schlagt Ihr ihn an?« fragte Kapitän Cuttle.
»Ei, Gott behüt' Euch«, entgegnete der Trödler. »Ihr glaubt doch nicht, daß mit diesem Eigentum da abgeholfen ist?«
»Warum nicht?« fragte der Kapitän.
»Warum nicht? Es ist die Rede von dreihundertsiebzig und etlichen Pfunden«, versetzte der Trödler.
»Was tut das!« erwiderte der Kapitän, obschon durch die Zahl augenscheinlich sehr eingeschüchtert. »Schätzt wohl, es ist alles Fisch, was in Euer Netz kommt.«
»Jawohl«, sagte Mr. Brogley: »aber Ihr wißt, Sprotten sind keine Walfische.«
Die Weisheit dieser Bemerkung schien den Kapitän wie ein Blitz zu treffen. Er ging eine Minute mit sich zu Rat, faßte inzwischen den Makler mit der Miene eines tiefen Geistes ins Auge und rief dann den Instrumentenmacher beiseite.
»Gills«, sagte Kapitän Cuttle, »wie steht es mit dieser Sache? Wer ist der Gläubiger?«
»Pst!« entgegnete der alte Mann. »Kommt weiter weg. Sprecht nicht vor Wally. Es betrifft eine Bürgschaft für Wallys Vater – eine alte Bürgschaft. Ich habe schon viel davon abbezahlt, Ned, aber die Zeiten sind für mich so schlecht, daß ich jetzt nicht weiter kann. Ich habe es vorausgesehen, konnte es aber nicht ändern. Doch ja kein Wort vor Wally – nicht um die ganze Welt.«
»Ihr habt doch einiges Geld – oder nicht?« flüsterte der Kapitän.
»Ja, ja – o ja – ich habe einiges«, erwiderte der alte Sol, indem er zuerst seine Hände in die leeren Taschen steckte, dann aber damit seine welsche Perücke zusammendrückte, als glaube er, etwas Gold herausringen zu können: »aber ich – das wenige, das ich habe, ist nicht umsetzbar, Ned; ich kann es nicht flüssig machen. Ich habe versucht, etwas damit für Wally zu tun – aber ich bin aus der Mode gekommen und hinter der Zeit zurück. Es ist da und dort, und – und – kurz, es ist so gut wie nirgends«, fügte der alte Mann bei, indem er verwirrt umherschaute.
Er hatte dabei ganz das Aussehen eines irren Menschen, der sein Geld an verschiedenen Plätzen versteckt, aber das Wo vergessen hatte, so daß ihm der Kapitän mit den Augen folgte, nicht ohne eine kleine Hoffnung, es könnte ihm einfallen, daß etliche hundert Pfund im Schornstein droben oder im Keller drunten versteckt seien. Aber Solomon Gills wußte es besser.
»Ich bin längst hinter der Zeit zurückgeblieben«, sagte Sol mit verzweifelter Ergebung. »Es nützt nichts, daß ich mich so weit hintendrein nachschleppe. – Es ist besser, der Vorrat wird verkauft – er ist mehr wert, als diese Schuld – und für mich ist's am ratsamsten, wenn ich gehe und zur Ausgleichung irgendwo sterbe. Ich besitze keine Tatkraft mehr und weiß nichts mehr von diesen Dingen. Es ist am besten, wenn es so endet. Man soll den Vorrat verkaufen und ihn herunternehmen«, fügte der alte Mann bei, indem er matt nach dem hölzernen Midshipman hindeutete; »so ist es mit uns beiden auf einmal aus.«
»Und was gedenkt Ihr mit Wal'r anzufangen?« fragte der Kapitän. »Hier, hier – setzt Euch nieder, Gills, setzt Euch, und laßt mich darüber nachdenken. Wenn ich nicht ein kleines Jahresgehalt besäße, das bis heute für mich ausreichte, so hätte ich nicht nötig, mich darüber zu besinnen. Aber legt nur Euren Schnabel gut an den Wind«, fuhr der Kapitän in abermaliger Wiederholung dieses unwiderstehlichen Trostspruches fort, »und es wird alles gut werden!«
Der alte Sol dankte ihm von Herzen und ging hin, um statt des Schnabels den Kopf gegen den Kamin des Hinterstübchens zu lehnen.
Kapitän Cuttle promenierte eine Weile im Laden auf und ab und zog während seines tiefen Gedankengangs die buschigen schwarzen Augenbrauen so tief zur Nase herab, daß sie wie die umhüllenden Wolken eines Berges aussahen und Walter sich scheute, den Strom seiner Betrachtungen zu unterbrechen. Mr. Brogley, der der Gesellschaft durchaus keinen Zwang antun wollte und einen gar sinnreichen Geist hatte, ging mit leisem Pfeifen unter den Ladenvorräten umher, klopfte an die Wettergläser, schüttelte die Kompasse, als seien sie Pillenschachteln, und hob mit den Magneten Schlüssel auf, schaute durch Teleskope, suchte sich mit dem Gebrauch der Himmelskugeln bekannt zu machen, setzte Parallellineale rittlings auf seine Nase und vergnügte sich mit andern physikalischen Belustigungen.
»Wal'r!« sagte endlich der Kapitän. »Ich hab's.«
»Wirklich, Kapitän Cuttle?« rief Walter mit großer Lebhaftigkeit.
»Kommt hierher, mein Junge«, fuhr der Kapitän fort; »der Ladenvorrat ist die eine Sicherheit. Ich bin die andere. Euer Chef ist der Mann, der das Geld vorschießen soll.«
»Mr. Dombey?« stotterte Walter.
Der Kapitän nickte gravitätisch.
»Schaut ihn an«, sagte er. »Schaut Gills an. Wenn man jetzt alle diese Dinge verkaufen wollte, so würde er den Tod davon haben. Das wißt Ihr so gut wie ich. Wir dürfen keinen Stein unumgekehrt lassen – und da ist jetzt ein Stein für Euch.«
»Ein Stein! – Mr. Dombey!« – stotterte Walter.
»Vor allem lauft Ihr nach dem Bureau hin und seht, ob er dort ist«, sagte Kapitän Cuttle und klopfte ihn auf den Rücken, »Rasch!«
Walter fühlte, daß er gegen diesen Befehl keinen Widerspruch erheben durfte, und wenn ihm auch ein solcher Gedanke gekommen wäre, so würde ein Blick auf seinen Onkel ihn bald eines anderen belehrt haben. Er entfernte sich daher sofort, um den Auftrag zu vollziehen, kehrte aber bald nachher atemlos wieder zurück, um zu melden, daß Mr. Dombey nicht da sei. Es war Sonnabend, und der Chef befand sich zu Brighton.
»Ich will Euch was sagen, Wal'r!« bemerkte der Kapitän, der auf den Fall von Mr. Dombeys Abwesenheit Bedacht genommen zu haben schien. »Wir gehen auch nach Brighton. Ich will Euch decken, mein Junge. Ich bin Eure Rückendeckung, Wal'r. Wir gehen mit der Nachmittagskutsche nach Brighton.«
Wenn man sich überhaupt an Mr. Dombey wenden mußte – ein schrecklicher Gedanke –, so würde es Walter vorgezogen haben, das Geschäft allein und ohne Beistand zu übernehmen, als gedeckt von dem persönlichen Einfluß des Kapitäns Cuttle, auf den Mr. Dombey wahrscheinlich keinen sonderlichen Wert legte. Da jedoch der Kapitän ganz anderer Meinung zu sein schien, und sich seine Beteiligung bei der Sache nicht nehmen lassen wollte – da ferner seine Freundschaft zu ernst und eifrig war, als daß ein viel jüngerer Mensch sie geringschätzig hätte behandeln dürfen, so unterließ es Walter, auch nur den mindesten Einwurf zu erheben, Cuttle verabschiedete sich daher hastig von Solomon Gills und steckte – wie Walter mit Entsetzen glaubte – in der Absicht, auf Mr. Dombey einen großartigen Eindruck zu machen, das bare Geld, die Teelöffel, die Zuckerzange und die silberne Uhr wieder in seine Tasche. Dann begab er sich mit seinem jugendlichen Begleiter, ohne weiter zu zögern, nach dem Kutschen-Einschreibebureau und tröstete ihn unterwegs zu wiederholten Malen mit der Versicherung, er werde ihm mannhaft und ritterlich zur Seite stehen.
Zehntes Kapitel. ENTHÄLT DIE FOLGEN, DIE DAS UNGLÜCK DES MIDSHIPMAN NACH SICH ZIEHT.
Major Bagstok hatte oft und lang über den Prinzessinnenplatz hinüber durch seinen doppeltstarken Fernstecher unsern Paul beobachtet und hatte durch den Eingeborenen, der deshalb einen beharrlichen Verkehr mit dem Dienstmädchen der Miß Tox unterhielt, täglich, wöchentlich und monatlich ausführliche Berichte über den fraglichen Gegenstand erhalten. So gelangte er zu dem Schlusse, daß Dombey, Sir, ein Mann sei, den man kennenlernen müsse, und daß J.B. diese Bekanntschaft nicht versäumen dürfe.
Miß Tox jedoch behauptete ihr zurückhaltendes Benehmen und wies den Major mit großer Kälte zurück, so oft er sie – was zu verschiedenen Malen geschah – über diesen Gegenstand auszuforschen versuchte. Der Major wollte daher, trotz seiner angeborenen Zähigkeit und Schlauheit, lieber die Erfüllung seines Wunsches einigermaßen dem Zufall überlassen, der, wie er in seinem Klub kichernd zu bemerken pflegte, »fünfzig gegen einmal stets zugunsten des Joey B. stand, Sir, seit sein älterer Bruder in Westindien an dem gelben Jack starb.«
Es dauerte lange, bis er ihm in dem gegenwärtigen Falle zu Hilfe kam. Am Ende aber hatte er doch Glück. Als der schwarze Diener mit allen Einzelheiten berichtete, daß Miß Tox im Brightondienst abwesend sei, wandelten den Major plötzlich zärtliche Erinnerungen an seinen Freund Bill Bitherstone in Bengalen an, der ihm geschrieben hatte, wenn er je in diese Gegend käme, möchte er doch seinen einzigen Sohn besuchen. Zur Zeit übrigens, als derselbe schwarze Diener meldete, Paul befinde sich bei Mrs. Pipchin. Dadurch gab er dem Major Anlaß, sich des Briefes zu erinnern, den ihm Master Bitherstone bei seiner Ankunft in England überreicht hatte. Zwar war er damals nicht entfernt geneigt, diesem je Aufmerksamkeit zu schenken. Der ehrenwerte Krieger lag nun gerade an einem Gichtanfall danieder, und er wurde über die Meldung so wütend, daß er zum Dank dem Schwarzen einen Fußschemel nachwarf und hoch und teuer schwur, er wolle den Kerl noch eigenhändig umbringen – eine Drohung, die der Schwarze mehr als halb zu glauben geneigt war.
Endlich war der Anfall vorübergegangen, und der Major begab sich eines Sonnabends, den Eingeborenen hinter sich, nach Brighton hinunter, unterwegs stets Miß Tox anredend und über der Aussicht die Augen aufreißend, daß er jetzt den ausgezeichneten Freund, mit dem sie so geheimnisvoll getan und um dessen willen sie ihn verlassen hatte, im Sturm erobern könne.
»Meint Ihr, Ma'am – meint Ihr?« sagte der Major, von Rachsucht glühend, während die dicken Adern seines Kopfes noch mehr aufquollen. »Glaubt Ihr, Ihr könnt Joe B. den Laufpaß geben, Ma'am? Es ist noch nicht so weit, Ma'am, noch lange nicht! Zum Teufel, noch nicht, Sir. Joe hat die Augen offen, Ma'am. Bagstok ist wachsam. J.B. versteht sich auch auf einen und den andern Schachzug, Ma'am. Ihr werdet Josh zäh finden, Ma'am. Zäh, Sir, zäh ist Joseph und verteufelt schlau.«
Sehr zäh fand ihn jedenfalls Master Bitherstone, als er diesen jungen Gentleman zu einem Spaziergang mitnahm. Der Major nämlich mit seinem Gesicht wie ein Stiltonkäse und seinen Augen ähnlich denen eines Kabeljaus streifte, völlig gleichgültig gegen Master Bitherstones Unterhaltung, umher und schleppte ihn mit sich, während er sich allenthalben nach Mr. Dombey und dessen Kindern umsah.
Da er übrigens zuvor von Mrs. Pipchin unterrichtet war, so erspähte er bald Paul und Florence, auf die er unverzüglich zusteuerte. Sie hatten einen stattlichen Gentleman (ohne Zweifel Mr. Dombey) in ihrer Gesellschaft. Während er mit Mr. Bitherstone in das Herz dieses kleinen Geschwaders brach, traf es sich natürlich, daß der kleine Begleiter die Genossen seiner Leiden anredete. Der Major machte sofort halt, um ihnen seine Aufmerksamkeit und Bewunderung zu schenken, erinnerte sich erstaunt, daß er sie bei seiner Freundin Miß Tox auf dem Prinzessinnenplatz gesehen und gesprochen habe, meinte, Paul sei ein verteufelt hübscher Bursche und sein kleiner Freund, fragte, ob sich dieser des Majors Joey B. entsinne. Schließlich wandte er sich, plötzlich die gesellschaftliche Etikette berücksichtigend, an Mr. Dombey, um sich gegen ihn zu entschuldigen.
»Aber mein kleiner Freund hier, Sir«, sagte der Major, »macht mich wieder zu einem Knaben. Ein alter Soldat, Sir – Major Bagstok, Euch zu dienen – scheut sich nicht, dies einzugestehen.« Der Major lüftete dabei seinen Hut. »Gott verdamm' mich, Sir«, fügte der Major mit unerwarteter Wärme bei, »ich beneide Euch.« Dann besann er sich jäh und sagte: »Entschuldigt meine Freimütigkeit.«
Mr. Dombey bat ihn, nicht davon zu reden.
»Ein alter Lagergesell, Sir«, sagte der Major, »ein von Rauch ausgedorrter, sonnverbrannter, verbrauchter, invalider, alter Hund von Major, Sir, wird allerdings nicht zu fürchten haben, wegen seiner Grille von einem Mann, wie Mr. Dombey, verurteilt zu werden. Ich glaube doch, daß ich die Ehre habe, Mr. Dombey anzureden?«
»Ich bin gegenwärtig der unwürdige Repräsentant dieses Namens, Major«, entgegnete Mr. Dombey.
»Bei Gott, Sir!« erwiderte der Major, »es ist ein großer Name. Es ist ein Name, Sir«, fügte er mit Bestimmtheit bei, als wolle er Mr. Dombey zum Widerspruch herausfordern, um alsdann die schmerzliche Pflicht zu erfüllen, mit ihm anzubinden, »den man in allen auswärtigen Besitzungen des britischen Reichs kennt und ehrt. Es ist ein Name, Sir, den man mit Stolz tragen darf. Joseph Bagstok hat nichts von Schmeichelei an sich, Sir. Seine Königliche Hoheit der Herzog von York bemerkte bei mehr als einer Gelegenheit, ›Joey ist kein Schmeichler. Joe ist ein einfacher, alter Soldat. Joseph ist zäh, daß man es fast bedauern möchte.‹ Aber es ist ein großer Name, Sir. Bei dem Allmächtigen, es ist ein großer Name«, fügte der Major feierlich bei.
»Ihr seid gütig genug, ihn vielleicht höher anzuschlagen, als er es verdient, Major«, versetzte Mr. Dombey.
»Nein, Sir«, sagte der Major. »Mein kleiner Freund hier, Sir, wird es Joseph Bagstok bezeugen, daß er ein durchgreifender, fadengerader, ehrlicher, alter Tropf ist, Sir, weiter nichts. Dieser Knabe, Sir«, fuhr der Major in gedämpftem Ton fort, »wird in der Geschichte leben. – Dieser Knabe, Sir, ist keine gewöhnliche Erscheinung. Tragt Sorge für ihn, Mr. Dombey.«
Mr. Dombey schien andeuten zu wollen, daß er sich bemühen werde, es zu tun.
»Da ist auch ein Junge, Sir«, fuhr der Major vertraulich fort und versetzte dem gemeinten einen Stoß mit seinem Rohr. »Sohn von Bitherstone in Bengalen. Bill Bitherstone, vormals einer der Unsrigen, Der Vater dieses Knaben und ich, wir waren geschworne Freunde. Wohin Ihr auch gehen mochtet, Sir, hörtet Ihr von nichts, als von Bill Bitherstone und Joe Bagstok. Bin ich blind gegen die Mängel dieses Knaben? Keineswegs. Er ist ein Einfaltspinsel, Sir.«
Mr. Dombey blickte nach dem geschmähten Master Bitherstone hin, von dem er wenigstens ebensoviel wußte wie der Major, und versetzte in selbstgefälliger Weise:
»Wirklich?«
»Ja, das ist er, Sir«, sagte der Major. »Er ist ein Einfaltspinsel. Joe Bagstok ist nicht der Mann, etwas zu bemänteln. Der Sohn meines alten Freundes Bill Bitherstone in Bengalen ist ein geborener Einfaltspinsel, Sir.« Dabei lachte der Major, bis er fast blau wurde. »Mein kleiner Freund ist vermutlich für eine öffentliche Schule bestimmt?« fügte er hinzu, nachdem er sich wieder erholt hatte.
»Ich bin noch nicht ganz schlüssig«, entgegnete Mr. Dombey, »Ich glaube nicht. Er ist so zart.«
»Wenn er so zart ist, Sir«, sagte der Major, »so habt Ihr recht. Nur zähe Kameraden können es in Sandhurst aushalten, Sir. Jeder andere wurde dort eigentlich gefoltert. Wir brieten die neuen Ankömmlinge bei einem langsamen Feuer und hingen sie, den Kopf unter sich, zu einem drei Treppen hohen Fenster hinaus. Joseph Bagstok, Sir, wurde gleichfalls für die Dauer von dreizehn Minuten nach der Kollegsuhr an den Fersen seiner Stiefel zum Fenster hinausgehalten.«
Zur Bekräftigung dieses Umstandes hätte sich der Major wohl auf sein Gesicht berufen können, denn dieses schien wirklich den Beweis zu liefern, als hätte er ein bißchen zu lang gehangen.
»Aber es machte uns zu dem, was wir waren«, sagte der Major, den Busenstreif seines Hemdes ordnend, »Wir waren von Eisen, Sir, und solche Übungen dienten als Schmiede. Wohnt Ihr hier, Mr. Dombey?«
»Ich komme in der Regel einmal wöchentlich herunter, Major«, erwiderte dieser Gentleman. »Mein Wohnquartier ist an dem Bedford.«
»So werde ich die Ehre haben. Euch an dem Bedford meine Aufwartung zu machen, Sir, wenn Ihr es mir gestattet«, sagte der Major. »Joe B., Sir, hält im allgemeinen nicht viel auf Besuche, aber Mr. Dombeys Name gehört nicht unter die gewöhnlichen. Ich bin meinem kleinen Freunde sehr viel verpflichtet für die Ehre dieser Bekanntschaft.«
Mr. Dombey gab eine sehr gnädige Erwiderung, und Mr. Bagstok tätschelte Paul auf den Kopf, worauf er gegen Florence bemerkte, »ihre Augen würden bald mit den jungen Burschen ein Teufelsspiel anfangen. Und mit den alten dazu, Sir, wenn wir nun mal darauf kommen«, fügte er unter vielem Kichern bei, störte dann Master Bitherstone mit seinem Spazierstock auf und entfernte sich mit diesem jungen Gentleman in einer Art von Halbtrab, wobei er mit großer Würde seinen Kopf rollte und hustete, in seinem Marsch die Füße sehr weit auseinander spreizend.
In Erfüllung seiner Zusage machte der Major Mr. Dombey später einen Besuch, der von Mr. Dombey, nachdem er die Armeeliste zu Rate gezogen hatte, erwidert wurde. Dann sprach der Major auch in Mr. Dombeys Stadthaus vor und machte seinen nächsten Besuch zu Brighton in Mr. Dombeys Kutsche. Mit einem Worte, die Bekanntschaft dieser beiden Ehrenmänner nahm einen ungemein schnellen Fortgang, und Mr. Dombey bemerkte in betreff des Majors gegen seine Schwester, daß er zwar ein ganz militärischer Mann sei, aber trotzdem etwas mehr in sich trage, sintemal er eine ganz bewunderungswürdige Vorstellung über die Wichtigkeit von Dingen habe, die zu seinem Beruf in keiner Beziehung stünden.
Als später Mr. Dombey seine Schwester und Miß Tor nach Brighton nahm und den Major daselbst bereits vorfand, lud er ihn zum Diner nach dem Bedford ein und machte schon im voraus Miß Tor große Komplimente wegen ihres Nachbars und Bekannten. Ungeachtet des Herzklopfens, das dergleichen Anspielungen hervorriefen, waren sie doch Miß Tor durchaus nicht unangenehm, da sie sich dabei ungemein interessant machen und eine gelegentliche Verwirrtheit zur Schau tragen konnte, die sie nicht ungern blicken ließ. Der Major gab ihr reichlichen Anlaß, diese Erregung zu entfalten; denn er beklagte sich beim Diner sehr, daß sie von ihm und dem Prinzessinnenplatze desertiert sei, und da ihm dergleichen Klagen große Freude zu machen schienen, so lief alles ganz herrlich ab.
Bei Tafel übernahm der Major die Aufgabe der ganzen Unterhaltung und zeigte hierfür eine ebenso große Gier wie in Beziehung auf die verschiedenen Leckerbissen, in denen er sich, sozusagen, fast wälzte – sehr zur Steigerung seiner inflammatorischen Liebhabereien. Mr. Dombey ließ sich bei seinem gewöhnlichen, abgemessenen Schweigen diese Anmaßung gern gefallen, und der Major fühlte, daß er sich mit Glanz ausnahm. Auch entrang ihm der Schwung seines Geistes eine so endlose Anzahl von neuen Wechseln in seinem Namen, daß er selbst darüber erstaunte. Mit einem Wort, alles vergnügte sich recht gut. Man betrachtete den Major als einen Mann, der eine unerschöpfliche Unterhaltungsgabe habe, und als er endlich nach einer langen Partie Whist sich verabschiedete, machte Mr. Dombey Miß Tor abermals ein Kompliment über ihren Nachbar und Bekannten. Aber auf dem ganzen Weg zu dem Hotel sagte der Major unaufhörlich zu sich und von sich selbst: »Schlau, Sir – schlau, Sir – verteufelt schlau!« Und als er daselbst angelangt war, setzte er sich auf einen Stuhl nieder und brach in ein stummes Gelächter aus – ein Anfall, dem er hin und wieder ausgesetzt war und der ihn stets in einem besonders schauerlichen Licht erscheinen ließ. Bei der erwähnten Gelegenheit hielt er so lange an, daß ihn der schwarze Diener, der ihm aus der Ferne zusah und um keinen Preis der Welt heranzutreten sich erdreistete, zwei- oder dreimal für verloren gab. Seine ganze Gestalt, namentlich aber sein Gesicht und sein Kopf, erweiterte sich über alle frühere Erfahrung und boten dem Schwarzen einen Anblick, der sich wie eine keuchende Masse von Indigo ausnahm. Endlich verfiel er in einen ungestümen Hustenanfall, und als es damit etwas besser wurde, brach er in nachstehende Ergießung aus:
»Möchtet Ihr, Ma'am – möchtet Ihr? Mistreß Dombey, eh, Ma'am? Ich denke nicht, Ma'am, solange Joe B. eine Speiche in Euer Rad einsetzen kann, Ma'am. J. B. ist jetzt quitt mit Euch, Ma'am. Er ist noch nicht ganz ausgekegelt, Sir – nein, Bagstok ist's noch nicht. Sie ist gerissen, gerissen, Sir, aber Josh ist noch gerissener. Der alte Joe hat die Augen offen – hell offen – sperrangelweit offen, Sir!«
Die letzte Versicherung war ohne Zweifel bis zu einem furchtbaren Umfang wahr, und so blieb sie es auch während des größten Teils der Nacht, die der Major hauptsächlich in ähnlichen Ausrufen und unter unterschiedlichen Husten- oder Erstickungsanfällen verbrachte, womit er das ganze Haus aufstörte.
Am Tage nach diesem Vorgang, der ein Sonntag war, saßen Mr. Dombey, Mrs. Chick und Miß Tor eben beim Frühstück und ergingen sich in Lobeserhebungen über den Major, als Florence mit glührotem Gesicht und vor Freude funkelnden Augen hereingeeilt kam.
»Papa! Papa!« rief sie. »Hier ist Walter – er will nicht hereinkommen.«
»Wer?« entgegnete Mr. Dombey. »Was meint sie damit? Was soll das heißen?«
»Walter, Papa«, versetzte Florence schüchtern, denn sie fühlte wohl, daß sie mit allzu großer Vertraulichkeit ihrem Vater unter die Augen getreten war, »der mich fand, als ich mich verirrt hatte.«
»Meint sie den jungen Gay, Louisa?« fragte Mr. Dombey, seine Augenbrauen runzelnd. »In der Tat, das Benehmen dieses Kindes ist sehr lärmend geworden. Unmöglich kann sie den jungen Gay meinen. Sieh nach, was es gibt – willst du so gut sein?«
Mrs. Chick eilte in den Flur hinaus und kehrte mit der Kunde zurück, daß allerdings der junge Gay da sei und eine sehr seltsam aussehende Person zum Begleiter habe. Der Knabe wolle sich nicht die Freiheit nehmen, hereinzukommen, weil er gehört habe, daß Mr. Dombey beim Frühstück sei – er warte deshalb, bis ihm von Mr. Dombey die Erlaubnis dazu erteilt werde.
»Bemerke dem Jungen, er solle nur jetzt hereinkommen«, sagte Mr. Dombey. »Nun, Gay, was gibt es? Wer hat Euch heruntergeschickt? Hat niemand anders kommen können?«
»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter, »ich bin nicht geschickt worden. Aus eigenem Antrieb habe ich mich erdreistet, zu kommen, und ich hoffe, Ihr werdet mir vergeben, wenn ich den Grund dazu erzählt habe.«
Aber Mr. Dombey blickte, ohne auf die Worte des Knaben zu achten, ungeduldig rechts und links von ihm, als wäre Walter ein Pfeiler in seinem Weg, nach einem dahinter befindlichen Gegenstand. »Was ist das?« fragte Mr. Dombey. »Wer ist das? Vermutlich habt Ihr die Tür verfehlt, Sir.«
»O, es tut mir sehr leid, wenn ich Euch mit irgend jemandem aufdringlich bin, Sir«, rief Walter hastig – »aber dies ist – dies ist Kapitän Cuttle, Sir.«
»Wal'r, mein Junge«, bemerkte der Kapitän mit tiefer Stimme, »halt stand!«
Zu gleicher Zeit kam er ein wenig weiter herein und stellte seinen weiten blauen Anzug, den segelförmigen Hemdkragen und die knaufige Nase ins volle Licht. Nachdem er sich gegen Mr. Dombey verbeugt hatte, schwenkte er, den harten Glanzhut in der einen Hand und den Eindruck desselben in einem roten Ring um seine Stirne zur Schau tragend, höflich seinen Haken gegen die Damen.
Mr. Dombey schaute mit Staunen und Unwillen auf diese Erscheinung; seine Blicke schienen anzudeuten, als wolle er Mrs. Chick und Miß Tox zur Abwehr aufbieten. Der kleine Paul, der hinter Florence hereingekommen war, ging, als der Kapitän seinen Hut schwenkte, rücklings auf Miß Tox zu und hielt sich auf Verteidigung gefaßt.
»Nun, Gay«, sagte Mr. Dombey, »was habt Ihr mir zu sagen?«
Abermals bemerkte der Kapitän gleichsam als allgemeine Einleitung zu dem Gespräch, die nicht verfehlen sollte, alle Parteien günstig zu stimmen:
»Wal'r, halt stand!«
»Ich fürchte, Sir«, begann Walter mit Zittern und mit zu Boden geschlagenen Augen, »daß ich mir eine große Freiheit nehme – ja ich weiß sogar, daß ich es tue. Auch würde ich, fürchte ich, kaum den Mut gehabt haben, bei Euch vorzusprechen, Sir, selbst nachdem ich heruntergekommen war – wenn mir nicht Miß Dombey begegnet wäre und –«
»Schon gut«, sagte Mr. Dombey, seinen Augen folgend, als der Knabe nach der aufmerksamen Florence hinblickte, und unwillkürlich die Stirne runzelnd, als er bemerkte, daß sie ihn mit einem Lächeln ermutigte. »Fahrt fort, wenn ich bitten darf.«
»Ja, ja«, bemerkte der Kapitän in der Meinung, es liege ihm ob, seine gute Erziehung zu zeigen und Mr. Dombey zu unterstützen. »Wohl gesprochen! fahrt fort, Wal'r.«
Kapitän Cuttle hätte eigentlich bei dem Blick, den ihm Mr. Dombey zum Dank für diesen Beistand zuwarf, in den Boden sinken sollen; aber etwas der Art fiel ihm nicht ein; denn er schloß bloß zur Erwiderung das eine Auge und gab Mr. Dombey durch gewisse bedeutsame Bewegungen mit seinem Hut zu verstehen, Walter sei zwar anfangs ein bißchen verschämt, werde übrigens bald mit der Farbe herausrücken.
»Es ist ausschließlich eine persönliche Angelegenheit, die mich hierher geführt hat, Sir«, fuhr Walter stockend fort, »und Kapitän Cuttle –«
»Hier!« fiel der Kapitän ein – gleichsam zur Versicherung, daß er zur Hand sei und man sich auf ihn verlassen könne.
»Ein langjähriger Freund von meinem armen Onkel und ein ganz vortrefflicher Mann, Sir«, fuhr Walter fort, indem er seine Augen erhob, um einen Blick der Bitte zugunsten des Kapitäns zu entsenden, »war so gütig, mir seine Begleitung anzubieten, die ich kaum zurückweisen konnte.«
»Nein, nein, nein«, bemerkte der Kapitän selbstgefällig. »Natürlich nicht, war kein Grund zu einer Zurückweisung da. Fahrt fort, Wal'r.«
»Und deshalb, Sir«, sagte Walter, der es nun wagte, zu Mr. Dombeys Auge aufzusehen, und mit größerem Mut fortfuhr, weil er sah, daß der Fall verzweifelt und nicht mehr zu umgehen war, »deshalb bin ich mit ihm gekommen, Sir, um Euch zu sagen, daß mein armer, alter Onkel in sehr großer Not und Bedrängnis ist. Seine Kundschaft hat sich allmählich verloren, und er ist nun nicht imstande, eine Zahlung zu machen, die, wie ich wohl weiß, ihm schon seit Monaten schwer auf dem Herzen gelegen hat. Er hat jetzt Konkurs in seinem Haus und steht in Gefahr, alles, was er hat, zu verlieren. Natürlich muß ihm dies das Herz brechen. Ihr kennt ihn schon längst als einen achtbaren Mann, und wenn Ihr so gütig sein wolltet, etwas zu tun, um ihm aus seiner Schwierigkeit zu helfen, Sir, so könnten wir Euch nie dankbar genug dafür sein.«
Während Walter dies sprach, füllten sich seine Augen mit Tränen, und ebenso erging es Florence. Der Vater bemerkte den Tau an den Wimpern seiner Tochter, obschon er sich den Anschein gab, als sehe er bloß nach Walter hin.
»Es ist eine sehr große Summe, Sir«, sagte Walter. »Mehr als dreihundert Pfund. Mein Onkel ist durch sein Unglück völlig zu Boden gedrückt und außerstande, etwas zu seiner eigenen Erleichterung zu tun. Ja, er weiß nicht einmal, daß ich hier bin, um mit Euch über die Sache zu sprechen. Ihr verlangt wahrscheinlich, Sir«, fügte Walter nach einem kurzen Stocken bei, »ich solle sagen, was ich denn eigentlich wolle. Ich weiß es in der Tat selbst nicht, Sir. Wir haben noch das Warenlager meines Onkels, und ich glaube mit Zuversicht sagen zu können, daß keine weiteren Forderungen darauf haften; auch ist hier Kapitän Cuttle, der sich gleichfalls zur Bürgschaft erbietet. Ich – ich mag kaum einen Verdienst, wie der meine es ist, berühren«, fügte Walter bei; »aber wenn Ihr erlauben wolltet, – stehen lassen – Zahlung – Vorschuß – der Onkel – ein darbender, ehrlicher, alter Mann –«
Von diesen gebrochenen Sätzen aus ging Walter in ein Schweigen über und blieb mit gesenktem Haupt vor seinem Chef stehen.
Kapitän Cuttle hielt diesen Augenblick für günstig, seine Pretiosen zu entfalten, weshalb er an den Tisch trat, unter den Frühstücktassen neben Mr. Dombey einen Platz räumte, die silberne Uhr, das bare Geld, die Teelöffel und die Zuckerzange herausholte und sie in einem Haufen aufschichtete, damit sie sich so wertvoll als möglich ausnehmen möchten. Dabei brachte er folgende Worte hervor:
»Ein halber Laib ist besser, als gar kein Brot, und dieselbe Bemerkung hält auch stich bei den Krumen. Da sind einige. Ein Jahresgehalt von hundert Pfund sieht gleichfalls zur Verfügung, Wenn es in der ganzen Welt einen Mann gibt, der voller Wissenschaft steckt, so ist's der alte Sol Gills. Und wenn es einen hoffnungsvollen Jungen gibt – einen Jungen, der von Milch und Honig fließt«, fügte der Kapitän in einer von seinen glücklichen Wendungen hinzu – »so ist's sein Neffe.«
Der Kapitän zog sich nach seinem frühern Platz zurück, wo er stehenblieb und seine wirren Haare mit der Miene eines Mannes ordnete, der in einem schwierigen Geschäft den Schlußpunkt gesetzt hat.
Nachdem Walter zu sprechen aufgehört hatte, wurden Mr. Dombeys Blicke durch den kleinen Paul gefesselt, der, als er seine Schwester aus Mitleid über das vorgetragene Unglück mit gesenktem Haupte stumm weinen sah, zu ihr hinging und sie zu trösten versuchte. Dann blickte er mit einem sehr ausdrucksvollen Gesicht nach Walter und seinem Vater hin. Von Kapitän Cuttles Anrede, die er mit stolzer Geringschätzung aufnahm, auf einen Augenblick abgelenkt, schaute Mr. Dombey wieder nach seinem Sohn hin und blieb einige Momente, das Kind stetig betrachtend, stumm sitzen.
»Aus welchem Anlaß wurde diese Schuld kontrahiert?« fragte endlich Mr. Dombey. »Wer ist der Gläubiger?«
»Er weiß es nicht«, versetzte der Kapitän, seine Hand auf Walters Schulter legend. »Wohl aber ich. Es handelte sich darum, einem Manne, der jetzt tot ist, zu helfen, und dies hat meinem Freund Gills bereits etliche hundert Pfund gekostet. Weiteres unter vier Augen, wenn es erlaubt ist.«
»Leute, die genug mit ihren eigenen Angelegenheiten zu schaffen haben«, sagte Mr. Dombey, der noch immer nach seinem Sohn hinsah, ohne auf die geheimnisvollen Winke zu achten, die der Kapitän hinter Walter machte, »täten am besten, wenn sie sich mit dem, was ihnen selbst obliegt, begnügten und ihre Stellung nicht dadurch erschwerten, daß sie sich für andere Leute verbindlich machen. Es ist ein Akt der Unehrlichkeit und obendrein der Anmaßung«, fügte Mr. Dombey streng hinzu; »eine große Anmaßung, denn auch der Wohlhabende könnte nicht mehr tun. Paul, komm her.«
Der Knabe gehorchte, und Mr. Dombey nahm ihn auf seine Knie.
»Wenn du jetzt Geld hättest«, sagte Mr. Dombey. »Sieh mich an!«
Paul, dessen Blicke nach seiner Schwester und nach Walter hingewandert waren, schaute jetzt seinem Vater ins Gesicht.
»Wenn du jetzt Geld hättest«, sagte Mr. Dombey – »so viel Geld, wie das, von dem der junge Gay gesprochen hat – was würdest du tun?«
»Es seinem alten Onkel geben«, versetzte Paul.
»Es seinem alten Onkel leihen, he?« entgegnete Mr. Dombey. »Gut! du weißt, wenn du alt genug bist, wirst du mein Geld teilen, und wir benützen es dann gemeinschaftlich.«
»Dombey und Sohn«, unterbrach ihn Paul, dem früh diese Phrase eingelernt worden war.
»Dombey und Sohn«, wiederholte sein Vater. »Möchtest du jetzt schon anfangen, Dombey und Sohn zu sein, und dieses Geld dem Onkel des jungen Gay borgen?«
»O gewiß, Papa, wenn ich darf«, sagte Paul; »und ebenso würde es auch Florence machen.«
»Mädchen haben nichts mit Dombey und Sohn zu schaffen«, erwiderte Mr. Dombey. »Du möchtest also –?«
»Ja, Papa, ja.«
»Dann sollst du auch –« erwiderte sein Vater. »Du siehst nun, Paul«, fügte er mit gedämpfter Stimme bei, »wie mächtig das Geld ist und wie sehr es sich die Leute angelegen sein lassen, welches zu erhalten. Der junge Gay ist so weit gekommen, um darum zu bitten, und du, der du es hast, bist so großmütig, es ihm zu geben. Du erweisest ihm damit eine große Gunst, und er muß dir sehr dankbar sein.«
Paul erhob für einen Moment das alte Gesicht, in dem sich aussprach, daß er den Sinn dieser Worte vollkommen begreife; unmittelbar darauf aber wurde sein Antlitz wieder jung und kindlich. Er glitt von dem Knie seines Vaters herunter und eilte auf Florence zu, um ihr zu sagen, sie solle nicht mehr weinen; denn er gehe jetzt, um dem jungen Gay das Geld zu bringen.
Mr. Dombey trat an einen Seitentisch, schrieb einige Zeilen und versiegelte sie. Inzwischen flüsterten Paul und Florence mit Walter, und Kapitän Cuttle schaute auf das Kleeblatt mit so hochstrebenden und unaussprechlich anmaßenden Gedanken herab, daß Mr. Dombey nie daran geglaubt haben würde. Nachdem dieser mit seiner Note zustande gekommen war, kehrte er nach seinem vorigen Platze zurück und hielt sie Walter hin.
»Das erste, was Ihr morgen früh zu tun habt«, sagte er, »ist, daß Ihr Mr. Carker dies übergebt. Er wird Sorge dafür tragen, daß jemand von meinen Leuten durch Bezahlung des Betrags Euern Onkel aus seiner gegenwärtigen Verlegenheit befreit und für die Rückerstattung Vorkehrungen trifft, wie sie sich mit den Umständen Eures Onkels vertragen. Vergeßt dabei nicht, daß Master Paul das für Euch getan hat.«
In der Freude, die Mittel zur Erlösung seines guten Onkels in der Hand zu haben, wollte Walter die Gefühle seines frohen Dankes aussprechen; aber Mr. Dombey fiel ihm ins Wort.
»Vergeßt nicht, daß es durch Master Paul geschehen ist«, wiederholte er. »Ich habe ihm dies auseinandergesetzt, und er begreift es. Ich wünsche, daß kein Wort mehr darüber falle.«
Da der Chef jetzt nach der Türe hin winkte, so konnte sich Walter nur verbeugen und entfernen, Miß Tor aber, als sie sah, daß der Kapitän das gleiche tun wollte, legte sich ins Mittel.
»Mein teurer Sir«, sagte sie zu Mr. Dombey, über dessen Großmut sowohl sie als Mrs. Chick in einen reichlichen Tränenguß ausbrachen, »ich glaube, Ihr habt etwas übersehen. Verzeiht mir, Mr. Dombey – ich denke, in dem Edelmut Eures Charakters und in dem hohen Ziele, das Ihr Euch setztet, habt Ihr eine Kleinigkeit außer acht gelassen.«
»Wirklich, Miß Tor?« versetzte Mr. Dombey.
»Der Gentleman mit dem – – Instrument«, fuhr Miß Tor fort, indem sie nach Kapitän Cuttle hinsah, »hat neben Euch etwas auf dem Tisch gelassen – –«
»Gütiger Himmel!« sagte Mr. Dombey, das Eigentum des Kapitäns vor sich wegstreifend, als wären es in der Tat nur Brotkrumen gewesen. »Nehmt diese Dinge zurück. Ich bin Euch verbunden, Miß Tor; ich sehe darin ganz Eure gewöhnliche Besonnenheit. Habt die Güte, diese Gegenstände wegzunehmen, Sir!«
Dem Kapitän blieb keine andere Wahl, als zu willfahren. Die Großmut Mr. Dombeys übrigens, der die neben ihm aufgehäuften Schätze zurückwies, erfüllte ihn dermaßen, daß er, sobald er die Teelöffel samt Zuckerzange in der einen, das bare Geld in der andern und die silberne Uhr in der eigens für sie angefertigten Tasche versorgt hatte, sich nicht enthalten konnte, die rechte Hand dieses Gentleman mit der ihm noch gebliebenen Linken zu ergreifen. Während er sie noch offen in seinen gewaltigen Fingern hielt, brachte er in einem Übermaß von Bewunderung den Hut auf den Kopf, und diese Berührung von warmem Gefühl und kaltem Eisen machte auf Mr. Dombey einen Eindruck, daß ihm ein Schauder durch alle Adern rann.
Kapitän Cuttle schwenkte sodann mehreremal mit größter Zierlichkeit und Galanterie seinen Hut gegen die Damen, nahm ganz besonders Abschied von Paul und Florence und folgte Walter nach. Florence wollte in der Fülle ihres Herzens gleichfalls hinaus, um dem alten Sol einen Gruß sagen zu lassen; aber Mr. Dombey rief ihr zu und befahl ihr zu bleiben, wo sie sei.
»Wirst du nie eine Dombey werden, mein liebes Kind?« sagte Mrs. Chick im Ton pathetischen Vorwurfs.
»Liebe Tante, seid nicht böse«, versetzte Florence. »Ich bin dem Papa so dankbar.«
Wie gerne wäre sie auf ihn zugelaufen und hätte ihre Arme um seinen Hals geschlungen; aber sie wagte es nicht, sondern entsandte nur einen Blick des Dankes gegen ihn, wie er sinnend dasaß. Zuweilen schaute er unruhig nach ihr hin; hauptsächlich aber hatte er Paul im Auge, der mit frohem Stolz im Zimmer umherstolzierte, weil er dem jungen Gay das Geld gegeben hatte.
Und der junge Gay – Walter – was ist mit ihm?
Er war überfroh, daß es in seiner Macht lag, das Heim des alten Mannes von Auspfändern und Gerichtsdienern zu reinigen; er eilte daher zurück, um seinem Onkel die gute Kunde zu bringen. Welche Wonne, daß am andern Morgen noch vor dem Mittagessen alles bereinigt und beseitigt sein sollte – daß er abends wieder mit dem alten Sol und dem Kapitän im kleinen Hinterstübchen sitzen – daß er Zeuge sein konnte, wie der Instrumentenmacher wieder auflebte und einer besseren Zukunft entgegensah, in dem Bewußtsein, daß der hölzerne Midshipman noch immer sein Eigentum war. Ohne daß übrigens seiner Dankbarkeit gegen Mr. Dombey dadurch ein Abtrag geschehen wäre, müssen wir doch gestehen, daß sich Walter gedemütigt und niedergeschlagen fühlte. Wenn unsere knospenden Hoffnungen unwiederbringlich durch einen rauhen Windstoß geknickt sind, fühlen wir uns am meisten geneigt, uns zu vergegenwärtigen, wie später die Blüten ausgefallen sein würden, und als sich jetzt Walter durch die Tiefe des neuen schrecklichen Sturzes so weit von der großen Dombey-Höhe abgeschnitten sah – als er empfand, daß seine alten, wirren Lieblingsvorstellungen bei dem Fall in die Winde zerstreut worden, begann er zu argwöhnen, sie hätten ihn zu harmlosen Visionen verleiten können, deren Ziel in irgendeiner späten Zeit Florences Hand gewesen wäre.
Der Kapitän betrachtete den Gegenstand von einem ganz andern Gesichtswinkel. Er nährte augenscheinlich die Ansicht, die Begegnung, in der er eine so befriedigende und ermutigende Rolle gespielt hatte, stehe nur um ein paar Schritt ab von einer regelmäßigen Verlobung zwischen Florence und Walter. Auch habe das kürzliche Geschäft die Whittingtonschen Hoffnungen ungemein gefördert, wo nicht gar völlig fest begründet. Von dieser Überzeugung, wie auch durch die Freude seines alten Freundes und die folgerichtig daraus fließende eigene Heiterkeit gespornt, versuchte er sogar, als er an demselben Abend die Ballade von der »lieblichen Peeg« zum dritten Male vortrug, aus dem Stegreif den Namen »Florence« einzusetzen. Da ihm das aber schwer wurde, weil das Wort Peeg unabänderlich auf Leg (Bein) reimte – ein Glied, durch dessen Schönheit die besungene Person alle andern Mitbewerberinnen ausstach –, so geriet er auf den glücklichen Gedanken, den Namen in Fle–e–eg umzuwandeln. Er tat dies mit einer fast übernatürlichen Schalkhaftigkeit und mit sehr lärmender Stimme, trotzdem die Zeit nahe war, die ihn nach der Wohnung der schrecklichen Mrs. Mac Stinger zurückbrachte.
Elftes Kapitel. PAUL BETRITT EINEN NEUEN SCHAUPLATZ.
Obschon Mrs. Pipchin der fleischlichen Schwäche unterworfen war, nach ihren Hammelrippchen der Ruhe zu bedürfen und sich durch die einschläfernde Tätigkeit von Zuckerbrot in Schlummer wiegen zu lassen, war ihre Konstitution doch von so hartem Metall, daß ihr Mrs. Wickhams Prophezeiungen nichts anhaben konnten und sich auch nicht eine Spur von Hinfälligkeit einstellen wollte. Gleichwohl währte Pauls aufrichtige Teilnahme an der alten Dame ungemindert fort, und Mrs. Wickham ließ sich´s nicht nehmen, daß ihre Behauptung sich sicherlich bewahrheiten müsse. Stets sich auf die Seite ihres Onkels Betsey Jane stellend, riet sie Miß Berry als Freundin, sich aufs Schlimmste gefaßt zu machen, indem sie ihr andeutete, ihre Tante werde einmal so plötzlich und unerwartet absegeln wie eine Pulvermühle.
Die arme Berry schenkte solchen Winken ängstlich Glauben und plackte sich wie gewöhnlich fort, vollkommen überzeugt, daß Mrs. Pipchin eine von den verdienstvollen Personen in der Welt sei, der sie jeden Tag unzählige Male sich selbst zum Opfer bringen müsse. Aber alle diese Hingabe der Nichte wurde von Mrs. Pipchins Freunden und Bewunderern nur der letzteren zur Ehre angerechnet und in Einklang gebracht mit der traurigen Tatsache, daß dem hingeschiedenen Mr. Pipchin die peruanischen Minen das Herz gebrochen hatten.
So gab es zum Beispiel einen ehrlichen Krämer und Kleinhändler, der mit dem Kastell durch ein kleines viel gebrauchtes Abrechnungsbüchlein mit schmieriger roter Decke in Verbindung stand, und die betreffenden Personen hielten oft auf der Matte in dem Flur oder im Besuchzimmer bei geschlossenen Türen unterschiedliche geheime Beratungen und Konferenzen über den Inhalt dieses Registers. Auch fehlte es Master Bitherstone nicht, dessen Temperament durch die Hitze Indiens in seinem Blute rachsüchtig geworden war, an dunkeln Andeutungen auf eine unausgeglichene Bilanz und auf einen Anlaß, dessen er sich noch erinnern konnte, das Fehlen des Zuckers beim Tee betreffend. Dieser Krämer war ein Junggeselle und hatte, da er sich aus dem oberflächlichen Verdienst der Schönheit nichts machte, einmal um Berrys Hand angehalten, war aber von Mrs. Pipchin mit Schimpf und Schande abgewiesen worden. Jedermann lobte diese Handlung der Mrs. Pipchin außerordentlich, da es der Hinterbliebenen eines Mannes, der an den peruanischen Minen starb, ganz würdig sei und den vornehmen, hohen Geist der Dame bekunde. Aber niemand sprach etwas von der armen Berry, die sechs Wochen hindurch weinte – natürlich diese ganze Zeit über von ihrer guten Tante tüchtig ausgeschimpft wurde – und sich endlich in das hoffnungslose Geschick der alten Jungfern ergab.
»Berry hat Euch sehr lieb, nicht wahr?« fragte Paul eines Tages Mrs. Pipchin, als sie wieder mit der Katze beim Feuer zusammensaßen.
»Ja«, antwortete Mrs. Pipchin.
»Warum?« fragte Paul.
»Warum?« erwiderte die alte Dame erstaunt. »Wie könnt Ihr nur solche Dinge fragen? Warum liebt Ihr Eure Schwester Florence?«
»Weil sie sehr gut ist«, sagte Paul. »Es gibt niemand, der mit Florence zu vergleichen wäre.«
»Gut«, entgegnete Mrs. Pipchin etwas pikiert, »und es gibt vermutlich auch niemand, der mit mir zu vergleichen wäre.«
»Gibt es wirklich niemand?« fragte Paul, indem er sich in seinem Stuhl nach vorn beugte und sie mit sehr ernstem Blick ansah.
»Nein«, erwiderte die alte Dame.
»Ich bin froh darüber«, bemerkte Paul, gedankenvoll seine Hände reibend. »Dies ist sehr gut.«
Mrs. Pipchin wagte es nicht, ihn nach dem Grund zu fragen, weil sie Angst hatte, eine völlig vernichtende Antwort zu erhalten. Zur Schadloshaltung für ihre verwundeten Gefühle aber plagte sie bis zum Schlafengehen Master Bitherstone in so hohem Grade, daß dieser noch in derselben Nacht Vorbereitungen zu einer Landreise nach Indien traf, indem er von seinem Abendessen einen Viertels-Weck und ein Stückchen Edamer Käse aufsparte, damit er sich unterwegs davon ernähren könne.
Mrs. Pipchin hatte den kleinen Paul und seine Schwester beinahe zwölf Monate in ihrer Obhut gehabt, ohne daß die Geschwister öfter als zweimal und auch dann nur für einige Tage einen Besuch in der Heimat gemacht hätten. Dagegen hatte Mr. Dombey nicht versäumt, sich jede Woche in dem Hotel einzufinden und seine Kinder zu sich rufen zu lassen. Inzwischen hatten Pauls Kräfte allmählich etwas zugenommen, so daß er seinen Wagen nicht mehr brauchte, gleichwohl aber sah er noch immer sehr schmächtig und blaß aus. Er war dasselbe alte, ruhige, träumerische Kind wie damals, als er Mrs. Pipchin übergeben wurde. Eines Sonntags, zur Zeit der Abenddämmerung, entstand eine große Bestürzung in dem Kastell durch die unerwartete Ankündigung, daß Mr. Dombey Mrs. Pipchin zu besuchen wünsche. Die Bevölkerung des Wohnzimmers wurde wie auf den Flügeln einer Windsbraut eine Treppe höher hinausgejagt, und nach vielem Zuschlagen der Schlafzimmertüren, vielem Getrampel oben und einigen Rippenstößen, die Mrs. Pipchin zur Erleichterung der Verstörtheit ihres Geistes an Master Bitherstone austeilte, zeigten sich die schwarzen Bombasingewänder der würdigen alten Dame in dem Audienzgemach, wo Mr. Dombey den leeren Lehnstuhl seines Sohnes und Erben betrachtete.
»Wie geht's Euch, Mrs. Pipchin?« fragte Mr. Dombey.
»Danke schön, Sir«, versetzte Mrs. Pipchin; »beziehungsweise ziemlich gut.«
Mrs. Pipchin pflegte sich stets dieser Formel zu bedienen. Sie wollte damit sagen in Beziehung auf ihre Verdienste, Opfer usw.
»Ich kann nicht erwarten, Sir, mich ganz gut zu befinden«, fuhr Mrs. Pipchin fort, indem sie sich auf einen Stuhl setzte und ihren Atem sammelte; »aber wie meine Gesundheit eben ist, bin ich dankbar dafür.«
Mr. Dombey neigte den Kopf mit der selbstzufriedenen Miene eines Gönners, der fühlte, daß dies gerade der rechte Schlag war, für den er so große Summen vierteljährlich bezahlte. Nach einer kurzen Pause ergriff er das Wort.
»Mrs. Pipchin«, sagte er, »ich habe mir die Freiheit genommen, Euch zu besuchen, um mich mit Euch wegen meines Sohnes zu beraten. Ich habe es schon früher tun wollen, verschob es aber immer wieder, bis seine Gesundheit ganz hergestellt wäre. Über diesen Gegenstand hegt Ihr doch keine Besorgnisse mehr, Mrs. Pipchin?«
»Brighton ist ihm sehr gut bekommen, Sir«, erwiderte Mrs. Pipchin.
»Ich habe deshalb im Sinn«, sagte Mr. Dombey, »ihn hier zu lassen.«
Mrs. Pipchin rieb sich die Hände und suchte mit ihren grauen Augen das Feuer.
»Aber«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er seinen Zeigefinger ausstreckte, »aber es ist möglich, daß dennoch eine Veränderung vor sich geht und er hier eine andere Lebensweise führen soll. Kurz, Mrs. Pipchin, dies ist die Ursache meines Besuches. Mein Sohn kommt vorwärts, Mrs. Pipchin, In der Tat, er kommt vorwärts.«
Es lag etwas Schwermütiges in der triumphierenden Miene, denn man sah daraus, wie lang ihm Pauls kindliches Leben geworden war, und wie alle seine Hoffnungen nur auf ein späteres Stadium in seinem Dasein hinwiesen. Bei einem so stolzen, kalten Menschen dürfte das Wort Mitleid befremdend erscheinen, und doch hätte man in jenem Augenblick ihn als einen Gegenstand betrachten können, bei dem ein solches Gefühl sehr am rechten Orte war.
»Sechs Jahre alt!« sagte Mr. Dombey, an seiner Halsbinde zupfend – vielleicht um ein ununterdrücktes Lächeln zu verbergen, das über der Oberfläche seines Gesichts eher ruhlos hinzuhuschen, als daß es für einen Moment zu spielen schien. »Du meine Güte, die sechs werden zu sechzehn umgewandelt sein, ehe wir Zeit haben, uns umzuschauen,«
»Zehn Jahre«, krächzte die unsympathische Pipchin mit einem kalten Blick ihrer starren Augen und einem traurigen Schütteln des gesenkten Kopfes – »zehn Jahre sind eine lange Spanne.«
»Dies hängt von den Umständen ab«, entgegnete Mr. Dombey. »Jedenfalls ist mein Sohn sechs Jahre, und leider besteht kein Zweifel, daß er in seinen Studien hinter vielen Kindern seines Alters weit zurück ist – seiner Jugend, sollte ich vielmehr sagen«, fügte Mr. Dombey in rascher Beantwortung eines schlauen Zwinkerns, das er in dem frostigen Auge der alten Dame zu bemerken glaubte, bei: »denn dies ist ein passenderer Ausdruck. Statt aber seinesgleichen nachzustehen, Mrs. Pipchin, sollte mein Sohn ihnen vielmehr voraus sein – weit voraus. Er hat eine große Höhe zu ersteigen, und in der Laufbahn, die meinem Sohne bevorsteht, ist kein Wandel möglich. Seine Lebensrichtung war schon klar vorbereitet und festgestellt, eh' er ins Dasein trat. Die Erziehung eines solchen jungen Gentleman darf nicht verzögert werden – darf nicht unvollkommen bleiben. Man muß immer und mit allem Fleiße daran gehen, Mrs. Pipchin.«
»Gut, Sir«, versetzte Mrs. Pipchin, »ich kann nichts dagegen sagen.«
»Darum habe ich mich auch einer so verständigen Person anvertraut, Mrs. Pipchin«, versetzte Mr. Dombey beifällig.
»Man spricht viel Unsinn – wenn's nicht etwa gar noch etwas Ärgeres ist – von zu großer Anstrengung junger Menschen in ihrem zarten Alter, von zu vielen Versuchungen und dergleichen, Sir«, fuhr Mrs. Pipchin fort, indem sie ungeduldig ihre Hakennase rieb. »Zu meiner Zeit dachte man nie daran, und man könnte es auch jetzt unterlassen. Meine Ansicht ist, ihnen nichts zu schenken.«
»Meine gute Madame«, erwiderte Mr. Dombey, »Ihr erfreut Euch nicht unverdient Eures Rufes. Glaubt mir, Mrs. Pipchin, daß ich mit Eurem trefflichen Erziehungsverfahren mehr als zufrieden bin, und daß es mir die größte Freude machen wird, Sie zu empfehlen, wo immer mein geringes Wissen« – Mr. Dombeys Stolz, als er seine eigene Bedeutsamkeit herabzusetzen sich anstellte, überstieg alle Grenzen – »von einigem Nutzen sein kann. Ich habe an Doktor Blimber gedacht, Mrs. Pipchin.«
»Mein Nachbar, Sir?« versetzte Mrs. Pipchin. »Ich halte die Anstalt des Doktors für ganz ausgezeichnet. Wie ich höre, ist die Leitung sehr streng, und man muß lernen vom Morgen bis in die Nacht.«
»Auch ist sie sehr teuer«, fügte Mr. Dombey bei.
»Ja, sehr teuer, Sir«, erwiderte Mrs. Pipchin, sich an diese Tatsache haltend, als hätte sie bei Umgehung derselben das Hauptverdienst des Instituts weggelassen.
»Ich habe schon mit dem Doktor Rücksprache genommen, Mrs. Pipchin«, sagte Mr. Dombey, indem er seinen Stuhl vorsichtig ein wenig näher ans Feuer rückte, »und er ist der Meinung, Paul sei keineswegs zu jung. Er nannte mir einige Knaben, die im gleichen Alter schon Griechisch können. Wenn mich in Beziehung auf diesen Wechsel eine kleine Unruhe quält, Mrs. Pipchin, so liegt der Grund nicht hierin. Da mein Sohn seine Mutter nicht kannte, so hat er allmählich viel – zu viel – von seiner Liebe auf seine Schwester übertragen. Ob ihre Trennung –«
Mr. Dombey sprach nicht weiter, sondern blieb stumm sitzen.
»Papperlapapp!« rief Mrs. Pipchin, ihre schwarzen Bombasinschöße auseinanderschlagend und den ganzen Werwolf, der in ihr stak, entfaltend. »Wenn's ihr nicht ansteht, Mr. Dombey, so muß man ihr's eintränken.«
Die gute Dame entschuldigte sich gleich darauf, daß sie eine so gemeine Redewendung brauche, fügte aber – und das war vollkommen der Wahrheit gemäß – bei, daß sie so mit den Kindern zu sprechen pflege.
Mr. Dombey wartete, bis sich an Mrs. Pipchin das Ungestüm, das Kopfschütteln und das Niederzürnen auf eine Legion von Bitherstones und Pankeys gelegt hatte; dann sagte er bloß ruhig, aber zurechtweisend:
»Er, meine gute Madame, er.«
Mrs. Pipchins System würde so ziemlich dieselbe Heilmethode für jede Unruhe bei Paul in Anwendung gebracht haben; da übrigens das harte graue Auge scharf genug war, um zu bemerken, daß das Rezept, wie sehr Mr. Dombey auch dessen Wirksamkeit im Falle der Tochter anerkennen mochte, kein souveränes Mittel für den Sohn war, so erörterte sie den folgenden Punkt und stellte die Behauptung auf, daß der Wechsel, die neue Gesellschaft und die andere Lebensweise, die er bei Doktor Blimber führen würde, in Vereinigung mit den dort gepflegten Studien ihn sehr bald von diesem Gegenstande abbringen müßten. Dieses stand mit Mr. Dombeys eigenem Hoffen und Glauben in völligem Einklang, weshalb denn auch in den Augen dieses Gentleman die Einsicht der Mrs. Pipchin nur um so höher stand, und da letztere zu gleicher Zeit den Verlust ihres lieben kleinen Freundes beklagte – keine allzugroße Erschütterung für sie, da sie einen ähnlichen Ausgang längst erwartet und von Anfang an sich's nicht anders gedacht hatte, als daß er etwa drei Monate bei ihr bleiben werde – so bildete sich bei Mr. Dombey eine ebenso gute Meinung über die Uneigennützigkeit der Dame. Es schien deutlich genug, daß er diese Sache sorgfältig erwogen hatte; denn der Plan, welchen er der Werwölfin mitteilte, ging darauf hinaus, Paul nur für das erste halbe Jahr als einen Wochenpensionär in die Anstalt des Doktors zu schicken. Während dieser Zeit sollte Florence in dem Kastell bleiben, damit sie an Sonnabenden von ihrem Bruder besucht werden könne. Hierdurch werde er allmählich entwöhnt, meinte Mr. Dombey – möglicherweise im Hinblick auf einen früheren Anlaß, bei welchem die Entwöhnung sehr plötzlich vor sich gegangen war. Mr. Dombey schloß diese Besprechung, indem er gegen Mrs. Pipchin die Hoffnung aussprach, sie möge stets seinen Sohn in der Zeit seiner Studien zu Brighton überwachen. Nachdem er nun Paul geküßt, Florence die Hand gegeben, Master Bitherstone in seinem Staatskragen gesehen und Miß Pankey durch Tätscheln ihres Kopfes zum Weinen gebracht hatte – sie war nämlich in dieser Gegend ungemein empfindlich, weil Mrs, Pipchin dieselbe gleich einem Fasse mit ihren Fingerknöcheln zu untersuchen pflegte – zog er sich nach seinem Hotel zum Diner zurück, fest entschlossen, daß Paul, der nun alt und kräftig genug sei, eifrig die Schule besuchen solle, welche imstande war, ihn für die Lage zu befähigen, in welcher er einst glänzen sollte. Es war ausgemacht, daß er sofort in Doktor Blimbers Anstalt eintrete.
So oft ein junger Gentleman von Doktor Blimber zur Hand genommen wurde, konnte er eines tüchtigen Drucks versichert sein. Der Doktor übernahm den Unterricht von nur zehn jungen Gentlemen, hatte aber im niedrigsten Anschlag stets eine Gelehrsamkeit für Hunderte in Bereitschaft, und es bildete das Amt und den Genuß seines Lebens, damit die unglücklichen zehn übermäßig zu stopfen.
Doktor Blimbers Institut war in der Tat ein großes Treibhaus, in welchem der Treibapparat sich in steter Tätigkeit befand. Die Knaben blühten insgesamt vor ihrer Zeit. Man sah hier geistige Brockelerbsen um Weihnachten, und intellektueller Spargel war das ganze Jahr über zu finden. Mathematische Stachelbeeren – und zwar sehr saure – ließen sich zu allen Jahreszeiten blicken unter Doktor Blimbers Führung, und zwar an ganz frischen, noch wurzellosen Stöcklingen. Alle Arten von griechischen und lateinischen Gemüsen gediehen an den dürrsten Zweigen von Jungen selbst unter den frostigsten Umständen. Die Natur spielte dabei durchaus keine Rolle. Gleichviel, wofür auch ein junger Gentleman nach seinen Anlagen bestimmt sein mochte – Doktor Blimber zwang ihn in einer oder der anderen Weise, sich nach seinen idealen Mustern zu bilden.
Das war alles sehr schön und geistreich; aber das Treibhaussystem brachte die gewöhnlichen nachteiligen Folgen mit sich. Die frühreifen Erzeugnisse hatten nicht den rechten Geschmack und hielten sich auch nicht gut. Außerdem hörte ein junger Gentleman mit einer geschwollenen Nase und einem ungemein großen Kopfe – der älteste von den zehn, welcher bereits »alles durchgemacht hatte« – eines Tages plötzlich auf zu blühen, und blieb nur noch als ein bloßer Strunk in der Anstalt. Auch raunten sich die Leute zu, der Doktor habe es mit dem jungen Toots übermacht, und als bei diesem der Backenbart zu sprossen begann, sei ihm das Gehirn auf die Neige gegangen.
Nun, jedenfalls war der junge Toots da. Er besaß die rauheste aller Stimmen und die mißtönendste von allen Geistesrichtungen. In seinem Hemd waren stets Nadeln mit funkelnden Steinen, und in seiner Westentasche hielt er einen Ring verborgen, den er heimlich an den kleinen Finger steckte, wenn die Zöglinge spazierengingen. Er hatte die Gewohnheit, bei dem Anblick eines jeden kleinen Mädchens, das nicht die entfernteste Ahnung von seinem Dasein hatte, in Liebesverzückungen zu geraten, und nahm sich, wenn er nach Schlafengehenszeit aus seinem drei Treppen hohen linken Eckstübchen durch das Eisengitter des Fensters auf die gasbeleuchtete Welt niederschaute, wie ein gewaltig aufgeschossener Cherub aus, der viel zu lange so weit oben gesessen hatte.
Der Doktor war ein stattlicher Gentleman in schwarzem Anzug, Kniehosen und Strümpfen. Er hatte eine sehr glänzende Glatze auf dem Kopf, eine tiefe Stimme und ein so runzeliges Doppelkinn, daß man sich nur wunderte, wie er's angriff, um sich in den Falten zu rasieren. Dabei war sein kleines Augenpaar fast immer halb geschlossen und der Mund zu einem leichten Grinsen verzogen, als habe er gerade zuvor einen Knaben ins Verhör genommen und laure nun auf Gelegenheit, ihn mit seinen eigenen Worten zu überführen. Wenn man den Doktor so beobachtete, wie er die rechte Hand in die Brust seines Rockes steckte, die andere auf den Rücken hielt, seinen Kopf ein wenig schüttelte und gegen einen Fremden auch nur die gewöhnlichste Bemerkung fallen ließ, so konnte man sich des Gedankens an die Sphinx nicht erwehren und im Augenblick über sein Geschäft ins klare kommen. Er besaß ein sehr schönes Haus gegen die Seeküste gelegen, obschon es im Innern nichts weniger als einen aufheiternden Charakter zeigte. Dunkelfarbige Vorhänge von sehr ärmlich-bescheidenem Aussehen versteckten sich zaghaft hinter den Fenstern. Die Tische und Stühle standen in Reihen wie die Ziffern einer Additionsaufgabe; Feuer wurde so selten in den Zeremonienzimmern angezündet, daß man in einem Brunnen zu sein glaubte, in dem der Gast den Wassereimer vorstellte; der Speisesaal schien der letzte Platz in der Welt zu sein, wo einem möglicherweise Essen oder Trinken zufließen konnte, und durchs ganze Haus hörte man keinen anderen Laut, als das Picken einer großen Wanduhr in dem Flur, die sich bis in das Dachstübchen hinauf hörbar machte.
Diese Eintönigkeit wurde nur hin und wieder durch ein dumpfes Knurren junger Menschen unterbrochen, die gleich einem Flug melancholischer Tauben über ihren Aufgaben murmelten.
Auch Miß Blimber, obschon eine schlanke, anmutige Jungfrau, trug nicht dazu bei, die kalte Sphäre des Hauses zu mildern. Sie war keine Person, die sich mit leichtfertigen Dingen beschäftigte, hatte krause, kurz geschnittene Haare und trug eine Brille. Die Arbeit in den Gräbern erstorbener Sprachen hatte sie dürr und sandig gemacht. Was wollte auch Miß Blimber von lebendigen Sprachen? Sie mußten tot sein – steintot – erst dann grub sie Miß Blimber aus.
Mistreß Blimber, ihre Mama, besaß selbst keine Gelehrsamkeit, tat aber doch dergleichen, und das lief ungefähr aufs gleiche hinaus. Bei Abendgesellschaften pflegte sie zu sagen, wenn sie das Glück gehabt hätte, Cicero zu kennen, so glaubte sie imstande zu sein, ihr Haupt zufrieden ins Grab niederlegen zu können. Es war immer eine neue Freude für sie, mitanzusehen, wie der Doktor seine jungen Gentlemen spazieren führte – letztere so gar nicht wie alle anderen jungen Gentlemen, sondern in möglichst großen Vatermördern und möglichst steifen Krawatten. Es sei so klassisch, sagte sie.
Was den Mr. Feeder, B. A. Doktor Blimbers Lehrgehilfen, betraf, so war dieser eine Art menschlicher Drehorgel mit einer geringen Anzahl von Weisen, die sich ohne Unterlaß und ohne Abänderung stets aufs neue abhaspelten. Vielleicht hätte er in seinem früheren Leben, wenn sein Geschick günstiger gewesen wäre, sein Glück beim Militär machen können; da es ihm aber nicht so gut geworden, mußte er statt dieser Laufbahn sich auf eine andere einlassen, die ihn zwang, die unreifen Ideen von Doktor Blimbers jungen Gentlemen zu verwirren. Die jungen Gentlemen mußten sich schon früh mit quälenden Ängsten tragen. Die Einübung herzloser Verba, wilder Substantiven, unbeugsamer syntaktischer Sätze und gespenstischer Argumente, die ihnen wie ebenso viele Alpe in den Träumen wiederkamen, ließen sie nicht zur Ruhe kommen, und unter dem Treibhaussystem war in der Regel schon nach drei Wochen der Frohsinn eines jeden jungen Gentleman abgeschnürt. Ein Vierteljahr reichte aus, ihm alle Sorgen der Welt in den Kopf zu pflanzen. Nach vier Monaten lernte er seine Eltern oder Vormünder hassen, nach fünfen war er ein Misanthrop, nach sechsen beneidete er den Curtius, der im Innern der Erde eine glückliche Zufluchtsstätte fand, und am Ende des ersten Jahres war er zu dem Schluß gekommen, von dem er später nie wieder abging, daß alle Produktionen der Dichter und Lehren der Weisen weiter nichts seien, als eine Sammlung von Wörtern und grammatischen Regeln, die in der Welt keinen andern Sinn hätten.
Gleichwohl fuhr er fort, in dem Treibhause des Doktors zu blühen, und groß war der Ruhm und die Herrlichkeit des Doktors, wenn der winterliche Wuchs zu seinen Freunden und Verwandten zurückkehrte.
Eines Tages stand Paul mit klopfendem Herzen, mit der kleinen rechten Hand sich an der seines Vaters haltend, auf der Türschwelle des Doktors. Seine linke war von der seiner Schwester umfaßt. Wie fest und innig war der Druck der einen – wie schlaff und kalt der der andern.
Gleich einem unheilverkündenden Vogel schwebte Mrs. Pipchin mit ihrem schwarzen Gefieder und ihrem krummen Schnabel hinter dem Opfer. Sie war außer Atem – denn Mr. Dombey hatte in der Überfülle seiner großen Gedanken rasch ausgeholt – und heiser erscholl ihr Krächzen, als sie unter dem Hause auf das Aufgehen der Tür harrte.
»Nun, Paul«, sagte Dombey mit einer Siegermiene, »dies ist in der Tat der Weg, um Dombey und Sohn zu werden und zu Geld zu kommen. Du bist jetzt schon fast ein Mann.«
»Fast«, wiederholte das Kind.
Sogar seine kindliche Aufregung konnte den schlauen und doch ergreifenden Blick, mit welchem er die Antwort begleitete, nicht meistern. Über Mr. Dombeys Gesicht flog ein unbestimmter Ausdruck der Unzufriedenheit; als aber die Tür aufging, war alles plötzlich verschwunden.
»Doktor Blimber ist wohl zu Hause?« sprach Mr. Dombey. Der Diener bejahte es, und als sie vorbeigingen, blickte er auf Paul, als wäre dieser ein Mäuschen und das Haus eine Mausefalle. Der Diener war ein etwas blöder junger Mensch, mit einem schwachen Dämmern von Grinsen in seinem Gesichte. Das war aber bloße Einfältigkeit von ihm; aber Mrs. Pipchin setzte es sich in den Kopf, daß es eine Unverschämtheit sei, und machte eine Attacke auf ihn.
»Wie kann Er sich unterstehen, hinter dem Gentleman herzulachen?« fragte Mrs. Pipchin, »und für was hält Er mich?«
»Ich lache über niemanden und halte Sie gewiß für nichts, Madame«, entgegnete der junge Mensch bestürzt.
»Das müßige Hundepack!« rief Mrs. Pipchin, »ist für nichts da, als den Bratspieß zu drehen. Geh und sag deinem Herrn, daß Mr. Dombey hier ist, oder es soll Ihm übel bekommen.«
Der schwachsinnige junge Mensch ging ganz kleinlaut ab, um sich seines Auftrags zu entledigen, und kam alsbald zurück, damit er sie in des Doktors Studierzimmer einlüde.
»Schon wieder gelacht, Sir!« zischte Mrs. Pipchin, als die Reihe an sie kam, in der Nachhut an ihm vorbeizugehen.
»Ich lache nicht«, entgegnete der junge Mensch ganz bekümmert.
»So was ist mir noch nie begegnet!«
»Was gibt es, Mrs. Pipchin?« fragte Mr. Dombey zurückblickend, »seien Sie doch leise, wenn ich bitten darf.«
Mrs. Pipchin murmelte untertänig gegen den jungen Menschen, als sie an ihm vorüberging, nur die Worte: »Das ist ein sauberer Bursche«, und verließ den jungen Menschen, der ganz zerknirscht und vernichtet war, durch den Vorfall bis zu Tränen gerührt. Aber Mrs. Pipchin hatte die Eigenschaft, über alle untertänigen Leute herzufallen; und ihre Freunde fanden das nach den Vorgängen in den peruanischen Bergwerken ganz in Ordnung.
Der Doktor saß in seinem unheimlichen Studierzimmer, einen Globus bei jedem Knie und zwischen Büchern vergraben; die Büsten von Homer und Minerva thronten über der Tür und auf dem Kamingesims.
»Und wie befinden Sie sich, Sir?« sprach er zu Mr. Dombey, »und wie geht's meinem kleinen Freund?« Feierlich wie eine Orgel war die Stimme des Doktors, und als er aufhörte, schien die große Uhr (für Paul wenigstens) seine Worte aufzunehmen und zu wiederholen; wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund; wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund?
Da der Freund etwas zu klein war, um von dem Sitze des Doktors über die Bücher seines Tisches hinweg sichtbar zu sein, so machte der Doktor verschiedene vergebliche Versuche, ihn hinter den Tischfüßen zu erspähen. Als Mr. Dombey dies gewahrte, befreite er ihn aus seiner Verlegenheit, indem er Paul auf die Arme nahm und auf einen andern kleinen Tisch dem Doktor gegenüber mitten ins Zimmer setzte.
»Ah!« rief der Doktor, indem er sich mit der Hand auf der Brust in seinem Stuhl zurücklehnte.
»Nun seh' ich meinen kleinen Freund, wie geht es, mein kleiner Freund?«
Die Uhr in dem Saale wollte auf diese Veränderung der Worte nicht noch eingehen und fuhr fort zu wiederholen: Wie – geht – es mei – nem – klei – nen – Freund, wie – geht – es – mei – nem – klei – nen – Freund?
»Ganz wohl, ich danke Ihnen, Sir«, erwiderte Paul, der Uhr wie dem Doktor antwortend.
»Ha!« sagte der Doktor Blimber. »Sollen wir einen Mann aus ihm machen?«
»Hörst du, Paul?« fügte Mr. Dombey hinzu.
Paul blieb stumm.
»Sollen wir einen Mann aus ihm machen?« wiederholte der Doktor nochmals.
»Ich möchte lieber ein Kind bleiben«, erwiderte Paul.
»Der Tausend!« sagte der Doktor. »Warum?«
Das Kind blickte, wie es so am Tische saß, mit einem sonderbaren Zug unterdrückter Bewegung in seinem Gesicht nach ihm hin und klopfte mit der einen Hand stolz auf sein Knie, als hätte es die aufsteigenden Tränen bezwungen, die andere Hand aber irrte inzwischen ein wenig weiter ab – noch weiter von ihm weg, bis sie Florences Hals erreichte. ›Dies ist das Warum‹ schien seine Gebärde zu sagen; aber dann war es mit dem festen Blick vorbei – die zuckenden Wimpern wurden ruhiger, und reichliche Tränen quollen dazwischen hervor.
»Mrs. Pipchin«, sagte sein Vater vorwurfsvoll, »es tut mir in der Tat leid, das zu sehen.«
»Tretet weg von ihm, Mr. Dombey«, bemerkte die Matrone.
»Macht nichts«, sagte der Doktor mit einem milden Kopfnicken, um Mrs. Pipchin zurückzuhalten. »Macht nichts. Wir werden bald neue Sorgen und neue Eindrücke an die Stelle der alten zu pflanzen wissen, Mr. Dombey. Ihr wünscht also, mein Freund solle lernen – –«
»Alles, alles, Doktor«, entgegnete Mr. Dombey fest.
»Ja«, sagte der Doktor und schien mit seinen halbgeschlossenen Augen, mit seinem gewöhnlichen Lächeln Paul zu mustern, als hätte er irgendein seltenes kleines Tier vor sich, das ausgestopft werden sollte. »Ja, ganz recht. Ha! wir werden unserem kleinen Freund eine umfassende Bildung mitteilen, und ich kann wohl behaupten, daß es mit ihm rasch vorwärts gehen wird. Ja, das wage ich zu behaupten. Ganz jungfräulicher Boden, habt Ihr, glaube ich, gesagt, Mr. Dombey?«
»Mit Ausnahme einiger gewöhnlicher Vorbereitungen zu Hause und von seiten dieser Dame«, erwiderte Mr. Dombey mit einem Kopfnicken auf Mrs. Pipchin, die gerade ihrer ganzen Haltung eine große Starrheit verlieh und trotzig anfing zu schnauben, im Fall der Doktor sie herabzuwürdigen versuchen sollte. »Mit solchen Ausnahmen hat sich Paul bis jetzt noch gar keinem Studium zugewendet.«
Doktor Blimber neigte in milder Toleranz gegen eine unbedeutende Wilddieberei, wie die der Mrs. Pipchin sein konnte, das Haupt und entgegnete, es freue ihn, solches zu hören, da es weit befriedigender sei, mit dem Grundbau den Anfang zu machen. Und abermals schielte er nach Paul hin, als wollte er ihm nur gar zu gern das griechische Alphabet abfragen.
»Dieser Umstand, Doktor Blimber«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er nach seinem kleinen Sohn hinblickte, »und die Unterredung, die ich bereits mit Euch zu halten das Vergnügen hatte, macht in der Tat jede weitere Aufklärung, folglich auch jeden weiteren Anspruch an Eurer wertvollen Zeit so unnötig, daß –«
»Nun, Miß Dombey!« sagte die essigscharfe Pipchin.
»Erlaubt mir«, bemerkte der Doktor – »nur einen Augenblick. Ich möchte gern Mrs. Blimber und meine Tochter vorstellen, die mit dem häuslichen Leben unseres jungen Pilgers auf dem Parnaß in nahe Beziehung treten werden. Mrs. Blimber«, denn die Dame, die vielleicht gewartet hatte, trat jetzt ganz gelegen ein und brachte ihre Tochter, jene schöne Totengräberin in der Brille, mit sich, »Mr. Dombey: meine Tochter Cornelia, Mr. Dombey. Mr. Dombey, meine Liebe«, fuhr der Doktor gegen seine Gattin fort, »hat zu uns das Vertrauen – siehst du unsern kleinen Freund?«
Mrs. Blimber hatte in einem Anfall von Höflichkeit, der Mr Dombey galt, nichts gesehen, denn sie wich rücklings gegen den kleinen Freund hin und gefährdete durch dieses Manöver sehr seinen Sitz auf dem Tisch. Auf diesen Wink aber wandte sie sich um, um seine klassischen und intellektuellen Lineamente zu bewundern: dann drehte sie sich mit einem Seufzer wieder gegen Mr. Dombey und sagte, sie beneide seinen lieben Sohn.
»Wie die Biene, Sir«, sagte Mrs. Blimber mit aufwärts geschlagenen Augen, »die sich umhertreibt in einem Garten mit den herrlichsten Blumen, um daselbst zum erstenmal die Süßigkeiten zu kosten: Virgil, Horaz, Ovid, Terenz, Plautus, Cicero. Welch eine Welt von Honig haben wir hier. Das mag merkwürdig erscheinen, Mr. Dombey, von einer Frau – aber von einer Frau eines solchen Gatten –«
»Pst, pst!« machte der Doktor Blimber. »Pfui! Mr. Dombey wird Nachsicht haben mit der Parteilichkeit einer Gattin«, versetzte Mr. Blimber mit einem ermutigenden Lächeln.
»Durchaus nicht«, antwortete Mr. Dombey, seine Worte vermutlich auf die Parteilichkeit, nicht aber auf die Nachsicht beziehend.
»Und vielleicht erscheint es ebenso merkwürdig an einer Person, die zugleich Mutter ist«, sprach Mrs. Blimber weiter.
»Und solch eine Mutter«, entgegnete Mr. Dombey, sich ob dieser verwirrten Idee, als müsse er Cornelia ein Kompliment machen, vorbeugend.
»Aber in der Tat«, fuhr Mrs. Blimber fort, »ich denke, wenn ich Cicero gekannt hätte, wenn ich seine Freundin und mit ihm in seiner Abgeschiedenheit in Tusculum gewesen wäre – in jenem herrlichen Tusculum – so könnte ich mein Haupt zufrieden ins Grab legen.«
Ein gelehrter Enthusiasmus ist manchmal ansteckend, daß Mr. Dombey halb glaubte, es könne ihr Ernst sein, und sogar Mrs. Pipchin, die, wie wir bereits gesehen haben, in der Regel nicht sehr fügsamen Charakters war, stieß einen leichten Laut aus, mitten inne schwebend zwischen einem Stöhnen und einem Seufzer, als wolle sie damit andeuten, nichts als Cicero hätte ihr nach dem Fehlschlagen der peruanischen Minen einen bleibenden Trost gewähren können; dieser aber wäre in der Tat eine wahre Davysche Sicherheitslampe.
Cornelia sah durch ihre Brille nach Mr. Dombey hin, als hätte sie gute Lust, mit ihm aus der berührten Autorität einige philologische Nüsse zu knacken. Wenn sie aber wirklich einen derartigen Gedanken unterhielt, so wurde seine Ausführung durch ein Pochen an der Tür des Zimmers unterdrückt.
»Was ist das«, fragte der Doktor. »O, herein, Toots – herein. Mr. Dombey, Sir.« Toots verneigte sich. »Welch ein schönes Zusammentreffen«, fuhr Doktor Blimber fort. »Hier haben wir den Anfang und da« Ende – das Alpha und das Omega. Unser ältester Knabe, Mr. Dombey.«
Der Doktor hatte wohl allen Grund, ihn so zu nennen, denn er war mindestens um einen Kopf und um eine Schulter höher als alle übrigen. Toots errötete sehr, als er diesem Fremden gegenüber stand, und kicherte vor sich hin.
»Ein Zuwachs zu unserem kleinen Portikus, Toots«, sagte der Doktor. »Mr. Dombeys Sohn.«
Der junge Toots errötete abermals, und da er aus dem feierlichen Schweigen, welches jetzt herrschte, entnahm, man erwarte von ihm eine Erwiderung, so sagte er zu Paul: »Wie geht's Euch?« Das geschah aber mit so tiefer Stimme und in so schwerfälliger Weise, daß man wohl kaum in größeres Staunen hätte geraten können, wenn auf einmal ein Lamm zu brüllen angefangen haben würde.
»Wenn Ihr so gut sein wollt, Toots, so könnt Ihr Mr. Feeder bedeuten«, sagte der Doktor, »er solle für einige Elementarbücher sorgen und Mr. Dombeys Sohn einen bequemen Sitz zum Studieren anweisen. Meine Liebe, ich glaube, Mr. Dombey hat die Dormitorien noch nicht gesehen.«
»Wenn Mr. Dombey mich die Treppe hinaufbegleiten will«, versetzte Mrs. Blimber, »so wäre es mir eine große Ehre, ihm die Domänen des Schlafgottes zu zeigen.«
Mit diesen Worten schritt Mrs. Blimber, eine Dame von auffallender Leutseligkeit, deren Drahtpuppenfigur eine Haube von himmelblauem Stoffe krönte, voran und führte Mr. Dombey die Treppe hinauf. Cornelia war gleichfalls von der Partie, und Mrs. Pipchin folgte nach, unterwegs sich scharf nach ihrem Feinde, dem Bedienten, umsehend.
Während sie fort waren, blieb Paul, der Florences Hand festhielt, auf dem Tisch sitzen und warf von da aus scheue Blicke in dem Zimmer umher, während der Doktor selbst, in seinen Stuhl zurückgelehnt und die eine Hand wie gewöhnlich in die Brusttasche steckend, ein Buch auf Armeslänge vor sich hin hielt und las. Diese Art zu lesen hatte etwas Schauerliches an sich. Es sah so entschlossen, so leidenschaftslos, so unbeugsam und kaltblütig aus, das Gesicht des Doktors war dabei allen Blicken freigegeben, und wenn der Doktor gar argwöhnisch über seinen Autor lächelte, die Stirn runzelte, den Kopf schüttelte oder den Mund verzog, als wolle er sagen – ›kommt mir nicht so, Sir; ich weiß das besser‹ – so war er in der Tat fürchterlich anzusehen.
Auch Toots hatte draußen nichts zu tun und untersuchte nun der Schaustellung halber den Mechanismus seiner Uhr, oder zählte seine halben Kronen. Doch das währte nicht lange; denn als Doktor Blimber zufälligerweise die Lage seiner stämmigen, knapp eingehüllten Beine wechselte, als wollte er aufstehen, verschwand Toots mit aller Behendigkeit und kam nicht wieder zum Vorschein.
Bald nachher hörte man Dombey mit all seinen Begleiterinnen, die sich unterwegs mit ihm unterhielten, die Treppe herunterkommen, und unmittelbar darauf traten sie wieder in das Studierzimmer des Doktors.
»Ich hoffe, Mr. Dombey«, sagte der Doktor, sein Buch niederlegend, »daß die Anordnungen Euren Beifall finden.«
»Sie sind vortrefflich«, sagte Mr. Dombey.
»In der Tat recht ordentlich«, fügte Mrs. Pipchin in gedämpfter Stimme bei, da sie nie Lust zeigte, allzuviel Ermutigung zu geben.
»Mrs. Pipchin«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er sich im Kreise drehte, »wird mit Eurer Erlaubnis, Mr. Blimber, Paul hin und wieder besuchen.«
»So oft es immer Mrs. Pipchin belieben«, antwortete Doktor Blimber.
»Werde mich stets glücklich schätzen, sie zu sehen«, sagte Mrs. Blimber.
»Ich glaube«, ergriff Mr. Dombey wieder das Wort, »ich habe Euch nun mehr aufgehalten als nötig war, und will mich jetzt verabschieden. Paul, mein Kind«, er ging auf den Knaben zu, der noch immer auf dem Tische saß. »Leb' wohl.«
»Adieu, Papa.«
Das schwache nachlässige Händchen, das Mr. Dombey in der seinigen hielt, stand in einem auffallenden Einklang mit dem dazu gehörigen sehnsüchtig blickenden Antlitz. Der Vater hatte aber nicht teil an dem kummervollen Ausdruck – ihm galt er nicht. Nein, nein, der Schwester – einzig nur der Schwester.
Hätte sich Mr. Dombey in dem Übermut seines Reichtums je einen grimmigen und unversöhnlichen Feind gemacht, so wäre sicherlich auch diesem für alles geschehene Unrecht reichliche Schadloshaltung zugegangen in dem Schmerz, der in jenem Augenblicke das stolze Herz durchdrang. Mr. Dombey beugte sich über seinen Sohn und küßte ihn. Wenn sein Gesicht dabei trüber wurde durch etwas, das ihm für einen Moment das kleine Antlitz undeutlich machte, so sah vielleicht für diese kurze Zeit sein geistiges Auge um so klarer.
»Ich besuche dich bald wieder, Paul. Du weißt, an Sonnabenden und Sonntagen hast du Ferien.«
»Ja, Papa«, entgegnete Paul, nach seiner Schwester hinsehend. »An Sonnabenden und an Sonntagen.«
»Und du wirst dir Mühe geben, hier viel zu lernen und ein gescheiter Mann zu werden«, sagte Mr. Dombey. »Nicht wahr, das willst du?«
»Ich will mir Mühe geben«, versetzte das Kind in mattem Ton.
»Und du wirst jetzt bald groß sein!« sagte Mr. Dombey.
»O! sehr bald!« entgegnete das Kind.
Wieder zuckte der alte, alte Blick rasch über seine Züge, wie ein fremdes Licht. Er traf auf Mrs. Pipchin und erlosch daselbst in deren schwarzem Anzug. Die treffliche Werwölfin trat vor, um Abschied zu nehmen und Florence fortzuführen – ein Genuß, nach dem sie längst gedürstet hatte. Ihre Bewegung weckte Mr. Dombey auf, dessen Augen an Paul hafteten. Nachdem er dem Knaben den Kopf gestreichelt und abermals dessen kleine Hand gedrückt hatte, verabschiedete er sich von Dr. Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber mit seiner gewohnten höflichen Kälte und verließ das Studierzimmer.
Ungeachtet seiner Bitte, man möchte sich ja nicht stören lassen, drängten sich doch Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber vor, um den reichen Gast nach der Halle zu geleiten, und so kam es denn, daß Mrs. Pipchin zwischen Miß Blimber und den Doktor geriet, und von demselben aus dem Studierzimmer hinausgedrängt wurde, ehe sie Florence zu packen imstande war. Diesem glücklichen Zufall verdankte Paul später die teure Erinnerung, daß Florence auf ihn zulief, um ihren Arm um seinen Nacken zu schlingen, und daß ihr Gesicht das letzte war, dessen er auf der Schwelle ansichtig wurde. Dort wandte sie sich noch einmal mit einem Lächeln der Ermutigung gegen ihn hin – mit einem Lächeln, das durch den Tau der Tränen nur um so heller glänzte.
Sein kindliches Herz wogte, als dieser Anblick vor seinen Augen entschwand, und alles im Zimmer umher, die Globusse, die Bücher, der blinde Homer und Minerva schienen in dem Zimmer zu verschwimmen. Dann aber machten sie auf einmal plötzlich halt, und er hörte die laute Uhr in der Halle noch immer die ernste Frage stellen: ›was, macht, mein, klei, ner, Freund: was, macht, mein, klei, ner, Freund?‹
Mit gefalteten Händen saß er auf seinem Tische und hörte stumm zu. Er hätte antworten mögen: ›ich bin müde, müde, sehr einsam und sehr traurig!‹ Und da saß er nun mit dem schmerzlichen Weh in seinem jungen Herzen – außen alles so kalt, so kahl und fremd – als habe er ein unmöbliertes Leben gemietet und als wolle der Tapezierer um keinen Preis kommen.
Zwölftes Kapitel. PAULS ERZIEHUNG.
Nach Ablauf von einigen Minuten, die dem kleinen auf dem Tisch sitzenden Paul wie eine Ewigkeit vorkamen, kehrte Doktor Blimber wieder zurück. Wie stattlich war der Gang des Doktors – wie so ganz darauf berechnet, das jugendliche Gemüt mit feierlichen Empfindungen zu erfüllen. Es war eine Art Marsch; aber wenn der Doktor seinen rechten Fuß ausstreckte, so drehte er ihn mit einer halbzirkelförmigen Schwenkung gravitätisch nach links um seine Achse, und wenn der linke Fuß an die Reihe kam, so wurde er in derselben Weise nach rechts geschwenkt. Auch schien er bei jedem Schritt, den er tat, umherzuschauen, als wollte er sagen:
»Kann wohl jemand die Güte haben, mir, in was immer für einer Richtung, einen Gegenstand anzudeuten, über den ich nicht unterrichtet wäre? – Ich denke, es wird schwer fallen.«
Mit dem Doktor kamen auch Mrs. Blimber und Miß Blimber zurück. Der Doktor hob nun seinen neuen Zögling vom Tisch herunter und übergab ihn seiner Tochter.
»Cornelia«, sagte er, »Dombey wird anfangs deiner Sorge überlassen bleiben. Nimm ihn fort, Cornelia, nimm ihn fort.«
Miß Blimber nahm ihren Mündel aus des Doktors Händen in Empfang, und Paul schlug die Augen nieder, weil er fühlte, daß ihn die Brille musterte.
»Wie alt bist du, Dombey?« fragte Miß Blimber.
»Sechs«, antwortete Paul mit einem verstohlenen Blick auf die Dame, und in nicht geringer Verwunderung, warum ihre Haare nicht lang wuchsen, wie die seiner Schwester, und warum sie so ganz wie ein Knabe aussah.
»Was hast du schon aus der lateinischen Grammatik gelernt, Dombey?« fragte Miß Blimber.
»Nichts«, antwortete Paul.
Da er übrigens fühlte, diese Erwiderung sei ein herber Schlag für Miß Blimbers Zartgefühl, so schaute er zu den drei Gesichtern auf, die zu ihm herniedersahen, und fuhr fort:
»Ich bin nicht gesund gewesen. Ich war ein schwächliches Kind und konnte nicht in der lateinischen Grammatik lernen, weil ich alle Tage mit dem alten Glubb ausfuhr. Es wäre mir lieb, wenn Sie so gut sein wollten, dem alten Glubb zu sagen, er solle auch herkommen und mich besuchen.«
»Welch ein schrecklich gemeiner Name!« sagte Mrs. Blimber. »Unklassisch in höchstem Grade! Wer ist dieses Ungeheuer, Kind?«
»Welches Ungeheuer?« fragte Paul.
»Der Glubb«, entgegnete Mrs. Blimber mit großem Unbehagen.
»Er ist so wenig ein Ungeheuer wie Sie«, erwiderte Paul.
»Wie?« rief der Doktor mit schrecklicher Stimme. »Was sagst du da? Aha! was soll das heißen?«
Paul erschrak heftig, ergriff aber doch die Partei des abwesenden Glubb, obschon es nur mit Zittern geschah.
»Er ist ein sehr lieber alter Mann, Ma'am«, sagte er, »und pflegte meine Kutsche zu ziehen. Er weiß alles von dem tiefen Meer, von den Fischen, die darin sind, und von den großen Ungeheuern, die da kommen und sich auf Felsen sonnen, wenn man sie aber aufschreckt, wieder ins Wasser stürzen und so blasen und plätschern, daß man sie auf weithin hören kann. Es gibt auch einige Tiere«, fuhr Paul fort, der über seinen Gegenstand warm wurde – »weiß nicht, wie viele Ellen lang, habe ihre Namen vergessen; aber Florence weiß es wohl – diese tun, wie wenn ein Mensch in der Not ist, und wenn Leute aus Mitleid sich ihnen nähern, so öffnen sie ihren großen Rachen und packen sie an. Man braucht aber dann nichts zu tun«, fuhr Paul fort, indem er seine Gelehrsamkeit keck sogar vor dem Doktor glänzen ließ – »als in anderer Richtung wegzulaufen: denn weil sie so lang sind und sich nicht biegen können, drehen sie sich nur langsam um, und man kann ihnen gut entgehen. Zwar weiß der alte Glubb nicht, warum das Meer meine Gedanken auf meine Mutter richtet, die tot ist, und auch nicht, was die See sagt und in einem fort sagt – aber dennoch weiß er viel von dem großen Wasser. Und es wäre mir lieb«, schloß endlich Paul mit kleinlauter Miene, als er wie ein verirrtes Wesen auf die drei fremden Gesichter hinsah, »wenn Ihr den alten Glubb herkommen ließet, damit er mich besuche, denn ich kenne ihn sehr gut, und er kennt mich.«
»Ha!« rief der Doktor, seinen Kopf schüttelnd – »aber das Studieren wird viel ausrichten.«
Mrs. Blimber gab in einer Art Schauderanfall ihre Ansicht dahin ab, daß Paul ein unerklärliches Kind sei, und sah ihn – wenn man den Unterschied der Züge in Rechnung brachte – fast so an, wie es Mrs. Pipchin zu tun pflegte.
»Mach' einen Gang mit ihm durchs Haus, Cornelia«, sagte der Doktor, »damit er mit seiner neuen Sphäre vertraut werde. Geh mit dieser jungen Dame, Dombey.«
Dombey gehorchte und gab der geheimnisvollen Cornelia die Hand, sah sie aber unterwegs stets mit schüchterner Neugierde von der Seite an. Wegen der glänzenden Gläser ihrer Brille hatte sie nämlich ein so mysteriöses Aussehen, daß er nie wußte, wohin sie schaute: ja er konnte nicht einmal zu der Gewißheit kommen, ob wirklich Augen dahinter verborgen seien.
Cornelia führte ihn zuerst nach dem Schulzimmer, das an der hintern Seite der Halle lag. Der Zugang wurde durch zwei mit Tuch überzogene Türen vermittelt, welche die Stimmen der jungen Gentlemen dämpften und erstickten. Hier saßen nun acht junge Herrlein in unterschiedlichen Abstufungen geistiger Bedrücktheit, und man konnte deutlich sehen, wie schwer ihnen ihre Arbeit wurde. Toots, als der älteste, hatte in einer Ecke ein Pult für sich, und es kam unserem Paul vor, als befinde sich hinter demselben ein vornehmer sehr alter Mann.
Mr. Feeder, der an einem andern kleinen Pult saß, studierte seinen Virgil und suchte vier jungen Gentlemen das Versmaß verständlich zu machen. Von den übrigen vieren zupften sich zwei krampfhaft an den Haaren ob der Lösung eines mathematischen Problems; einer mit einem Gesicht, von vielem Weinen einem schmutzigen Fenster ähnlich, gab sich Mühe, vor dem Mittagessen durch eine hoffnungslose Anzahl von Zeilen durchzuzappeln, und ein anderer saß in versteinerter und verzweifelter Betäubung, die sich vom Frühstück an seiner bemächtigt zu haben schien, über seiner Aufgabe.
Da« Erscheinen eines neuen Knaben erregte nicht das Aufsehen, wie man es hätte erwarten sollen. Mr. Feeder, B.A., der um der größeren Abkühlung willen seinen Kopf zu rasieren pflegte, so daß man statt der Haare nur kurze Stoppeln sah, reichte ihm seine knöcherne Hand mit der Bemerkung, es freue ihn, den neuen Ankömmling zu sehen – eine Begrüßung, die Paul herzlich gern erwidert haben würde, wenn es ihm nur ein bißchen von Herzen gegangen wäre. Von Cornelia dazu aufgefordert, reichte sodann Paul den vier jungen Gentlemen an Mr. Feeders Pult die Hand, eine Prozedur, die später auch an den fieberischen Mathematikern, an dem tintigen jungen Gentleman, der mit der Zeit um die Wette arbeitete, und zuletzt auch an dem betäubten Knaben, der sich ganz kalt und welk anfühlte, vorgenommen wurde.
Da Paul dem jungen Toots bereits vorgestellt war, so erging sich dieser junge Gentleman seiner Gewohnheit nach nur in einem schweratmigen Kichern und fuhr in seiner Beschäftigung fort. Letztere war nicht eben schwer zu nennen; denn da Toots bereits in mehr als einem Sinne so viel »durchgemacht« und auch, wie schon früher angedeutet wurde, in seinem Lenze zu blühen aufgehört hatte, so stand es ihm jetzt frei, seine Studien nach Belieben zu verfolgen. Letztere bestanden hauptsächlich darin, daß er lange Briefe von vornehmen Personen unter der Adresse ›P. Toots, Esquire, Brighton, Sussex‹ an sich selbst schrieb und sie mit großer Sorgfalt in seinem Pult aufbewahrte.
Nach Beendigung dieser Förmlichkeit führte Cornelia Paul nach dem Hausgiebel hinauf – eine etwas langsame Wanderung, weil der Knabe auf jeder Treppe mit beiden Füßen anlangen mußte, ehe er eine weitere ersteigen konnte. Endlich erreichten sie jedoch das Ziel der Reise und traten in ein Vorderstübchen, das gegen die wilde See hinausging. Cornelia zeigte ihm daselbst ein reinliches kleines Bett mit weißen Behängen dicht am Fenster. Oben stak bereits eine Karte, auf welche mit sehr dicken Schatten- und sehr feinen Haarstrichen der Name »Dombey« geschrieben war. Durch eine ähnliche Belehrung erfuhr man, daß die beiden andern kleinen Bettstellen desselben Zimmers beziehungsweise einem Briggs und Tozer gehörten.
Als sie wieder in der Halle unten anlangten, sah Paul den blödsichtigen jungen Menschen, welcher Mrs. Pipchin so tödlich beleidigt hatte, plötzlich einen sehr großen Trommelschlegel ergreifen und auf eine aufgehängte Metallplatte loshämmern, als sei er wahnsinnig geworden oder als wolle er Rache üben. Statt jedoch einen Verweis zu erhalten oder augenblicklich in Haft genommen zu werden, blieb besagter Übeltäter, trotz des schrecklichen Getöses, das er verursacht hatte, völlig unangefochten. Cornelia Blimber sagte jetzt zu Dombey, in einer Viertelstunde werde das Mittagessen aufgetragen, und er tue am besten, wenn er jetzt ins Schulzimmer gehe zu seinen »Freunden«.
Demgemäß ging Dombey ehrerbietig an der Uhr vorbei, die sich stets mit gleicher Besorgnis nach seinem Befinden erkundigte, öffnete die Schulzimmertür ein klein wenig und schlich sich wie ein verirrter Knabe ein, obschon ihm hintendrein das Zuschließen einige Mühe machte. Seine Freunde standen, mit Ausnahme des steinernen, der unbeweglich an seiner Stelle sitzenblieb, im Zimmer umher, und Mr. Feeder streckte sich in seinem grauen Schlafrock, als sei er ohne Rücksicht auf die Unkosten fest entschlossen, die Ärmel abzureißen.
»Heih ho hum!« rief Mr. Feeder, indem er sich wie ein Karrengaul schüttelte. »Jawohl, jawohl! Y-a-a-ah!«
Paul erschrak sehr über Mr. Feeders Gähnen, denn es war ein Gähnen in großartigem Maßstab, und der betreffenden Person schien es fürchterlich ernst damit zu sein. Auch die Knaben insgesamt – mit Ausnahme des einzigen Toots – schienen ganz schachmatt zu sein und bereiteten sich für das Mittagessen vor. Einige banden sich ihre sehr steifen Krawatten neu um, und andere wuschen ihre Hände oder bürsteten sich in einem anstoßenden Vorzimmer die Haare, sahen aber dabei aus, als ob sie sich nicht sonderlich auf die Mahlzeit freuten.
Der junge Toots, der bereits fertig war und deshalb nichts zu tun hatte, konnte allein etwas von seiner Zeit für Paul aufwenden und sagte deshalb mit schwerfälliger Gutmütigkeit:
»Setz dich, Dombey.«
»Danke, Sir«, entgegnete Paul.
Die Mühe, die er sich nun gab, auf einen hohen Fenstersitz hinaufzuklettern, an dem er wieder herunterglitt, schien Toots' Geist für die Rezeption einer Entdeckung vorzubereiten.
»Du bist ein sehr kleines Bürschlein«, sagte Mr. Toots.
»Ja, Sir, ich bin klein«, entgegnete Paul. »Danke, Sir.«
Denn Toots hatte ihm auf den Sitz geholfen und noch obendrein diesen Akt in recht liebevoller Weise erfüllt.
»Wer ist dein Schneider?« fragte Toots, nachdem er ihn eine Weile gemustert hatte.
»Bis jetzt hat stets ein Frauenzimmer meinen Anzug gemacht«, sagte Paul. »Die Schneiderin meiner Schwester.«
»Mein Schneider ist Burges und Co.«, versetzte Toots. »Fash'nabl. Aber sehr teuer.«
Paul hatte Verstand genug, seinen Kopf zu schütteln, als wollte er damit sagen, dies sei leicht begreiflich; und in der Tat, so dachte er auch.
»Dein Vater ist notorisch reich, nicht wahr?« fragte Mr. Toots.
»Ja, Sir«, antwortete Paul. »Er ist Dombey und Sohn.«
»Und wer?« fragte Toots.
»Und Sohn, Sir«, versetzte Paul.
Mr. Toots machte in gedämpfter Stimme einige Versuche, die Firma seinem Gedächtnis einzuprägen, da ihm übrigens dies nicht gelang, so bemerkte er gegen Paul, er möchte ihm den Namen morgen früh wieder sagen, da er einigen Wert darauf lege. Und in der Tat sann er auf nichts Geringeres, als augenblicklich ein vertrauliches Privatschreiben von Dombey und Sohn an sich selbst abzufassen.
Mittlerweile hatten sich die übrigen Zöglinge – den steinernen Knaben stets ausgenommen – um ihn versammelt. Sie waren sehr höflich, aber alle blassen Aussehens, sprachen nur in gedämpften Lauten und schienen geistig so niedergedrückt zu sein, daß im Vergleich mit dem allgemeinen Ton dieser Gesellschaft Master Bitherstone ein wahrer Eulenspiegel genannt werden konnte. Und doch wußte Bitherstone, wie hart man mit ihm umging.
»Nicht wahr, du schläfst in meinem Zimmer?« fragte ein feierlicher junger Gentleman, dessen Hemdkragen bis über die Ohrläppchen hinaufstieg.
»Master Briggs?« fragte Paul.
»Tozer«, sagte der junge Gentleman.
Paul antwortete mit Ja, und Tozer deutete auf den steinernen Zögling mit der Bemerkung, daß dieser Briggs sei. Paul hatte bereits die Überzeugung in sich getragen, daß derselbe entweder Briggs oder Tozer sein müsse, obschon er sich für die Stimme in seinem Innern keine Rechenschaft zu geben vermochte.
»Hast du eine starke Konstitution?« fragte Tozer.
Paul entgegnete, er glaube kaum. Tozer erwiderte hierauf, es komme ihm gleichfalls so vor, wenn er Paul ansah; es sei übrigens schade, denn man könne sie hier brauchen. Er fragte sodann Paul, ob Cornelia mit ihm den Anfang machen werde, und als dieser mit Ja antwortete, brachen alle jungen Gentlemen, Briggs ausgenommen, in dumpfes Stöhnen aus.
Es wurde jedoch erstickt durch das Klingen der Metallplatte, welche jetzt ganz wütend erdröhnte, und nun fand ein allgemeiner Aufbruch nach dem Speisezimmer statt – mit Ausnahme des steinernen Knaben Briggs, welcher blieb, wo er war und wie er war. Paul bemerkte noch, wie demselben eine Schnitte Brot vornehm samt Teller und Serviette nebst einer silbernen Gabel, die quer darüber lag, vorgelegt wurde.
Doktor Blimber befand sich bereits an seinem Platz im Speisezimmer; er saß oben an dem Tisch, während Miß Blimber und Mrs. Blimber rechts und links von ihm ihre Plätze einnahmen. Mr. Feeder in einem blauen Rocke befand sich zu unterst. Paul hatte seinen Stuhl zunächst der Miß Blimber; als er jedoch hinaufgestiegen war, zeigte sich, daß seine Augenbrauen nicht viel über dem Niveau des Tafeltuchs standen. Es wurde daher aus dem Studierzimmer des Doktors eine Anzahl Bücher herbeigeholt und er fortan stets auf diese Weise erhoben, obschon er das Material bei späteren Gelegenheiten selbst herbeischleppen mußte, wie ein Elefant seinen Turm.
Nachdem der Doktor das Gebet gesprochen hatte, begann die Mahlzeit. Sie bestand aus etwas Suppe, gebratenem Fleisch, gesottenem Fleisch, Gemüse, einer Pastete und Käse. Jeder junge Gentleman hatte eine schwere silberne Gabel und eine Serviette; auch im übrigen waren die Einrichtungen stattlich und schön. Namentlich servierte ein Diener in blauer Livree mit blanken Knöpfen, welcher dem Tafelbier durch die stolze Art, wie er es einschenkte, eine wahrhafte Weinblume verlieh.
Niemand sprach, ohne angeredet zu werden. Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber ausgenommen, welche gelegentlich eine Unterhaltung anknüpften. So oft übrigens einer der jungen Gentlemen nicht tatsächlich mit seinem Messer, seiner Gabel oder seinem Löffel beschäftigt war, suchte sein Blick, wie infolge unwiderstehlicher Anziehung, das Auge von Doktor Blimber, Mrs. Blimber oder Miß Blimber, wo er bescheiden haften blieb. Nur Toots schien eine Ausnahme von dieser Regel zu machen. Er hatte auf der Seite, wo Paul saß, seinen Platz zunächst neben Mr. Feeder und schaute oft hinter oder vor der dazwischenliegenden Knabenreihe hin, um sich unsern Paul zu betrachten.
Nur einmal während der Mahlzeit fand eine Unterhaltung statt, an der sich auch die jungen Gentlemen beteiligen konnten. Sie fiel in die Epoche des Käses; denn nachdem der Doktor ein Glas Portwein genommen hatte, räusperte er sich etlichemal und begann:
»Es ist merkwürdig, Mr. Feeder, daß die Römer –«
Bei Erwähnung dieses schrecklichen Volks, ihrer unversöhnlichen Feinde, hefteten sämtliche jungen Gentlemen mit dem Anschein des tiefsten Interesses ihre Blicke auf den Doktor. Einer darunter, welcher eben trank und durch die Wandung des Glases das Auge des Doktors sah, welches ihn scharf fixierte, hörte so plötzlich auf, daß er für einige Augenblicke zu ersticken drohte und in der Folge den Faden von Doktor Blimbers Vortrag völlig verwirrte.
»Es ist merkwürdig, Mr. Feeder«, nahm der Doktor langsam wieder auf, »daß die Römer bei jenen prunkvollen und schlemmerischen Mahlzeiten, von denen wir aus den Tagen der Kaiser lesen, als die Üppigkeit eine vor- oder nachher nie mehr bekannte Höhe erreicht hatte, und als ganze Provinzen verwüstet wurden, um ein einziges kaiserliches Bankett mit allem nur erdenklichen gaumenkitzelnden Material zu versehen – –«
Hier brach der kleine Verbrecher, welcher fortwährend den Krampf hinunterzuwürgen versucht hatte, in ein ungestümes Husten aus.
»Johnson«, sagte Feeder mit gedämpfter vorwurfsvoller Stimme, »nehmt etwas Wasser.«
Der Doktor machte eine finstere Miene, hielt inne, bis das Wasser gebracht wurde, und hub dann wieder an:
»Und als, Mr. Feeder –«
Aber Mr. Feeder, welcher bemerkte, daß Johnson mit einem neuen Ausbruch bedroht war, wußte wohl, daß der Doktor wegen des jungen Gentleman nicht zum Schluß seiner Rede kommen konnte, und verwandte deshalb seine Blicke nicht von dem letzteren. So fügte sich's dann, daß der Doktor seinen Gehilfen über der Tat ertappte, wie er ihn nicht ansah, und hielt deshalb inne.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Feeder errötend. »Ich bitte um Verzeihung, Doktor Blimber.«
»Und als«, fuhr der Doktor mit erhöhter Stimme fort, »als, Sir, wie wir lesen, ohne daß wir einen Grund zum Zweifeln dafür fänden, so unglaublich es auch unsern ordinären Zeiten erscheinen mag – der Bruder des Vitellius demselben ein Fest bereitete, bei welchem Fische aufgetragen wurden in zweitausend Gerichten – –«
»Nehmt etwas Wasser, Johnson – Gerichten, Sir«, sagte Mr. Feeder.
»Fünftausend Schüsseln mit den verschiedenartigsten Vögeln –«
»Oder versucht's mit einem Bissen Brot«, sagte Mr. Feeder.
»Und eine Schüssel«, fuhr Doktor Blimber fort, indem er seine Stimme noch mehr erhob und sich am ganzen Tisch umsah, »die wegen ihres ungeheuern Umfangs den Namen Schild der Minerva führte, angefüllt unter andern kostbaren Ingredienzen mit dem Gehirn von Fasanen –«
»Kwh, kwh, kwh«, ertönte es von Johnson.
»Schnepfen –«
»Kwh, kwh, kwh.«
»Den Schwimmblasen der Fische, Scari genannt –«
»Es wird Euch in Eurem Kopf eine Ader springen«, sagte Mr. Feeder. »Tut Euch lieber keinen Zwang an.«
»Und dem Rogen der Lamprete, von dem karpathischen Meer hergeholt«, fuhr der Doktor in seiner strengsten Stimme fort; »wenn wir von solchen kostbaren Mahlzeiten lesen und uns dabei erinnern, daß wir einen Titus haben –«
»Wie würde Eure Mutter jammern, wenn Ihr an einem Schlagfluß stürbet!« sagte Mr. Feeder.
»Einen Domitian –«
»Ihr seid ja ganz blau«, sagte Mr. Feeder.
»Einen Nero, einen Tiberius, einen Caligula, einen Heliogabalus und noch viele andere«, fügte der Doktor hinzu, »so ist es, Mr. Feeder – wenn Ihr mir die Ehre erweisen wollt, mir Gehör zu schenken – merkwürdig, sehr merkwürdig, Sir –«
Aber Johnson, der außerstande war, länger an sich zu halten, brach jetzt in einen so überwältigenden Hustenanfall aus, daß er vor fünf Minuten nicht wieder zur Ruhe kommen konnte, obschon seine Nachbarn ihn auf den Rücken klopften, Mr. Feeder ihm ein Glas Wasser an die Lippen hielt und der Aufwärter mehreremal zwischen dem Stuhl des Delinquenten und dem Seitentische wie eine Schildwache hin und her ging. Dann aber folgte tiefes Schweigen.
»Gentlemen«, sagte Doktor Blimber, »erhebt Euch zum Gebet. Cornelia, hilf Dombey hinunter.«
Infolge davon sah man nichts als dessen Skalp über dem Tischtuch. »Johnson wird mir morgen früh vor dem Frühstück das erste Kapitel aus dem Brief des heiligen Paulus an die Epheser in griechischer Sprache auswendig hersagen. Mr. Feeder, in einer halben Stunde wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen.«
Die jungen Gentlemen verbeugten sich und traten ab. Mr. Feeder tat desgleichen.
Während der halben Stunde schlenderten die Zöglinge Arm in Arm paarweise auf einem kleinen Stück Rasen hinter dem Hause auf und ab oder bemühten sich, in der Brust von Briggs einen Funken Leben zu entzünden. Von etwas so Gemeinem, wie Spielen war, konnte natürlich keine Rede sein. Pünktlich zu der anberaumten Zeit ertönte die Metallplatte, und die Studien wurden unter der vereinten Leitung des Doktor Blimber und des Mr. Feeder wieder aufgenommen.
Da heute wegen Johnson das olympische Spiel des Auf- und Abschlenderns verkürzt worden war, so durften sie insgesamt vor dem Tee einen Spaziergang machen. Sogar Briggs – obschon er bis jetzt noch nicht angefangen hatte – nahm an dieser Zeitverschwendung teil, und als er unter den Spaziergängern dahinging, schaute er zwei- oder dreimal düster über die Klippe hinunter. Doktor Blimber begleitete sie, und Paul hatte die Ehre, von ihm an der Hand geführt zu werden – eine hohe Auszeichnung, obschon er sich darin gar klein und gebrechlich ausnahm.
Der Tee wurde in ebenso feinem Stil aufgetragen wie das Mittagsmahl. Nach demselben standen die jungen Gentlemen auf, machten wie zuvor ihre Bücklinge und entfernten sich, um die unvollendeten Arbeiten des Tages wieder aufzunehmen oder sich auf die, welche für morgen in Aussicht standen, vorzubereiten. Mr. Feeder zog sich jetzt in sein eigenes Zimmer zurück, und Paul nahm in einer Ecke Platz, bei sich Betrachtungen anstellend, ob wohl Florence auch an ihn denke, und was man in Mrs. Pipchins Kastell treibe.
Mr. Toots wurde anfänglich durch einen wichtigen Brief von dem Herzog von Wellington in Anspruch genommen, suchte aber später Paul auf und fragte ihn, nachdem er ihn wie früher geraume Zeit gemustert hatte, ob er gern Westen trage.
Pauls Antwort lautete:
»Ja, Sir.«
»Ich auch«, versetzte Toots.
Den ganzen Abend sprach Toots kein Wort mehr, blieb aber oft vor Paul stehen und sah ihn an, als ob er Gefallen an ihm fände. Doch auch hierin lag Gesellschaft, und da Paul gleichfalls nicht zum Reden geneigt war, so entsprach dieser stumme Verkehr seinem Zwecke weit besser als die Konversation.
Gegen acht Uhr rief die Metallplatte wieder zum Gebet im Speisezimmer, und nachher erschien der Aufwärter an einem Seitentisch, wo Brot, Käse und Bier für diejenigen jungen Gentlemen, die dergleichen wünschten, aufgestellt war. Die Feierlichkeit schloß mit den Worten des Doktors: »Gentlemen, morgen früh sieben Uhr wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen!« und jetzt zum erstenmal sah Paul Cornelia Blimbers Auge, das auf ihm haftete. Nachdem der Doktor seine ermutigende Rede gehalten hatte, verbeugten sich die Zöglinge wieder und begaben sich zu Bett.
In der vertraulichen Abgeschiedenheit des obern Stübchens sagte Briggs, sein Kopf schmerze ihn zum Zerspringen, und er möchte gern tot sein, wenn nur zu Haus seine Mutter und seine Amsel nicht wären. Tozer sprach nicht viel, seufzte aber desto mehr und gab Paul zu verstehen, er solle nur acht haben, denn morgen werde die Reihe an ihn kommen. Nach diesen prophetischen Worten entkleidete er sich und verbarg seine düstere Stimmung in den Laken seines Bettes. Auch Briggs und Paul hatten bereits ihr Lager eingenommen, als der blödsichtige junge Mann erschien, um das Licht zu holen; er wünschte ihnen dabei gute Nacht und angenehme Träume. Soweit Briggs und Tozer in Frage kamen, war dies ein sehr eitler Wunsch; denn Paul, der lange wach blieb und nur mit Unterbrechungen schlief, bemerkte jedesmal, daß Briggs von seiner Aufgabe wie von einem Alp gedrückt wurde, während Tozer, dessen Gemüt auch im Schlaf von ähnlichen Ursachen aufgeregt war, obschon nicht in so hohem Grade, fremde Worte ausstieß. Paul meinte, dies müsse Griechisch oder Lateinisch sein; aber wie dem auch sein mochte, dieser Somnoloquismus übte in dem Schweigen der Nacht eine höchst unheimliche Wirkung aus.
Paul war endlich in einen süßen Schlaf versunken und träumte von Florence, mit welcher er Hand in Hand durch schöne Gärten ging. Da kamen sie plötzlich zu einer großen Sonnenblume, die sich im Nu zu einer großen, runden, laut tönenden Messingplatte verwandelte. Er öffnete die Augen und fand, daß es noch dunkel, ein windiger, regnerischer Morgen war. Aber die wirkliche Platte ließ ihre schrecklichen Töne erschallen, welche die Zöglinge nach der Halle hinunterrief.
Er stand augenblicklich auf und fand, daß Briggs mit einem von Alp und Kummer gedunsenen Gesicht, so daß man kaum seine Augen sah, eben die Stiefel anzog, während Tozer in sehr übler Laune schaudernd dastand und sich die Schultern rieb. Weil Paul nicht daran gewöhnt war, konnte er sich nicht leicht selbst ankleiden und bat daher seine Zimmergenossen, sie möchten die Güte haben, ihm einige Schnüre zuzuknöpfen. Da aber Briggs bloß hierauf erwiderte: »Possen« und Tozer meinte: »Sonst nichts!« ging er, sobald er im übrigen fertig war, nach dem nächsten Stockwerk hinunter, wo er ein hübsches junges Frauenzimmer in ledernen Handschuhen an einem Ofen lehnen sah. Das Mädchen schien sich über sein Aussehen zu verwundern und fragte ihn, wo seine Mutter sei; als ihr aber Paul sagte, sie sei tot, nahm sie ihre Handschuhe ab und tat, was er verlangte. Außerdem rieb sie ihm die Hände, um ihn zu wärmen, gab ihm einen Kuß und bedeutete ihm, so oft er etwas der Art brauche – sie meinte damit seinen Anzug – so solle er nur nach Melia fragen. Nachdem Paul herzlich gedankt und ihr versprochen hatte, er werde dies gewiß tun, schlich er nach dem Zimmer hinunter, in welchem die Gentlemen ihre Studien aufnehmen sollten; als er aber auf diesem Wege an einer halb angelehnten Tür vorbeikam, rief ihm hinter derselben eine Stimme zu: »Ist dies Dombey?«
»Ja, Ma'am«, versetzte Paul, denn er erkannte darin die Stimme der Miß Blimber.
»Nur herein, Dombey«, versetzte die junge Dame.
Und Paul entsprach der Aufforderung.
Miß Blimber sah genau wieder so aus wie gestern, nur daß sie jetzt ein großes Halstuch anhatte. Ihre kleinen blonden Locken waren so kraus wie nur je; auch hatte sie bereits ihre Brille auf, so daß Paul gar zu gern hätte wissen mögen, ob sie sich am Ende nicht auch mit derselben schlafen lege. Das Stübchen war ihr eigenes und hatte einige Bücher als Ausstattung; aber Feuer war nirgends zu sehen. Miß Blimber fror es nie, und sie wurde nie schläfrig.
»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich mache einen Ausgang wegen meiner Konstitution.«
Paul wunderte sich, was dies sein möchte und warum sie bei so schlechtem Wetter nicht lieber den Bedienten fortschickte, um es zu holen; indes enthielt er sich jeder Bemerkung über den Gegenstand, da seine Aufmerksamkeit ganz von einem Häufchen neuer Bücher in Anspruch genommen war, mit denen sich Miß Blimber kürzlich beschäftigt zu haben schien.
»Es sind die deinen, Dombey«, sagte Miß Blimber.
»Alle, Ma'am?« fragte Paul.
»Ja«, entgegnete Miß Blimber; »und Mr. Feeder wird bald noch mehr für dich auftreiben, wenn du so fleißig studierst, als ich von dir erwarte, Dombey.«
»Danke schön«, sagte Paul.
»Ich mache also einen Ausgang wegen meiner Konstitution«, nahm Miß Blimber wieder auf, »und während ich fort bin – das heißt, von jetzt an bis zum Frühstück, Dombey – wünsche ich, daß du alles überliest, was ich dir in diesen Büchern angemerkt habe. Du sagst mir dann, ob du vollkommen verstanden hast, was du daraus lernen sollst. Verliere keine Zeit damit, denn du hast keine übrig, sondern nimm die Bücher hinunter und fange augenblicklich an.«
»Ja, Ma'am«, antwortete Paul.
Es waren ihrer so viele, daß das mittlere, obgleich Paul die eine Hand unter das unterste, die andere aber und sein Kinn auf das oberste legte, hinausglitt, noch ehe er die Tür erreicht hatte, und dann purzelten sie alle auf den Boden. Miß Blimber sagte: »O Dombey, Dombey, dies ist in der Tat sehr unachtsam«, und schichtete sie von neuem auf. Diesmal gelang es auch unter sorgfältiger Beachtung des Gleichgewichts, daß Paul zum Zimmer hinauskam und schon einige Treppen zurückgelegt hatte, ehe wieder einige davon Reißaus nahmen. Die übrigen packte er aber so fest, daß bloß auf dem ersten Boden und dann in dem Hausflur wieder eins abhanden kam. Die Hauptmasse legte er sodann in dem Schulzimmer nieder, worauf er abermals die Treppen hinaufstieg, um die Nachzügler zu sammeln. So war denn endlich die ganze Bibliothek beisammen, und er kletterte auf seinen Stuhl hinauf, um die Arbeit zu beginnen, ermutigt durch eine Bemerkung Tozers, der meinte, jetzt fange es bei ihm an. Dies war übrigens die einzige Unterbrechung, die bis zur Frühstückszeit stattfand. Bei dieser Mahlzeit, für die er jedoch keinen Appetit mitbrachte, war alles ebenso feierlich und gentil wie bei den andern, und nachdem sie beendigt war, nahm ihn Miß Blimber die Treppe hinauf.
»Nun, Dombey«, sagte Miß Blimber, »wie bist du mit diesen Büchern zurechtgekommen?«
Sie enthielten ein wenig Englisch und viel Lateinisch – Namen von Dingen, die Deklination von Artikeln und Substantiven, Übungen darüber und einleitende Regel – ein bißchen Orthographie, einen Blick in die alte Geschichte, ein paar in die neue, etliche Tabellen, zwei oder drei Tafeln über Maß und Gewicht und endlich einige allgemeine Belehrungsgegenstände. Nachdem der arme Paul Nummer zwei durchbuchstabiert hatte, fand er, daß er auch nicht die mindeste Vorstellung von Nummer eins hatte; Bruchstücke davon drängten sich ihm nachher in Nummer drei auf, und dies glitt mit in Nummer vier hinüber, welche sich ihrerseits auf Nummer zwei gründete. Er konnte deshalb durchaus nicht mit sich klar werden, ob zwanzig Romulusse einen Remus machten, ob hic, haec, hoc zum Apothekergewicht gehöre, ob ein Verbum stets sich nach einem alten Britonen richte, oder ob dreimal vier taurus ein Stier sei.
»O Dombey, Dombey!« rief Miß Blimber. »Dies ist ja entsetzlich!«
»Wenn Ihr's erlauben wolltet«, sagte Paul, »ich glaube, es würde schon besser gehen, wenn ich nur bisweilen ein wenig mit dem alten Glubb mich unterhalten dürfte.«
»Unsinn, Dombey«, sagte Miß Blimber. »Ich will nichts davon hören. Dies ist kein Platz für Glubbse irgendeiner Art. Ich sehe schon, Dombey, du mußt die Bücher eines nach dem andern vornehmen und dich zuerst mit dem Gegenstande A bekannt machen, ehe du überhaupt zu dem Gegenstande B übergehst, und nun sei so gut, das oberste Buch mitzunehmen, Dombey; du kommst dann wieder zu mir, wenn du den Stoff gemeistert hast.«
Miß Blimber drückte ihre Ansicht über Pauls Unwissenheit mit einer gewissen düstern Wonne aus, als hätte sie ein solches Resultat erwartet und freue sich, zu finden, daß sie in stetigem Verkehr bleiben würden. Paul entfernte sich, wie ihm geheißen worden, mit dem ersten Buche und arbeitete in dem Schulzimmer drauflos. Hin und wieder war ihm jedes Wort darin gegenwärtig; dann vergaß er sie aber insgesamt wieder und alles andere mit, und als er es zuletzt wagte, wieder hinaufzugehen, um das Gelernte herzusagen, verlor sich fast alles wieder aus seinem Kopfe, noch ehe er angefangen hatte; denn Miß Blimber schloß das Buch und sagte: »Nur zu, Dombey!« – ein Verfahren, das so deutlich ihre Bekanntschaft mit dem Inhalt verriet, daß Paul die junge Dame bestürzt ansah, als sei sie eine Art gelehrter Guy Faux oder eine künstliche Vogelscheuche, mit schulgerechtem Stroh dick ausgestopft. Gleichwohl machte er seine Sache nicht übel, und Miß Blimber, die ihn wegen des verheißungsvollen Anfangs lobte, versah ihn sogleich mit dem Gegenstand B, von dem er noch vor dem Mittagessen zu C und sogar zu D überging. Daß er so bald nach der Mahlzeit seine Studien wieder aufnehmen sollte, kam ihm sehr hart vor, denn er fühlte sich schwindlig, verwirrt und schläfrig. Indes erging es sämtlichen jungen Gentlemen ebenso, und dennoch mußten auch sie an ihre Studien gehen – einiger Trost wenigstens, wenn man's so nennen kann. Es war ein Wunder, daß die große Uhr in der Halle stets nur auf ihrer ersten Frage beharrte und nie sagte: »Gentlemen, wir wollen jetzt unsere Studien aufnehmen«; denn diese Phrase wurde jedenfalls oft genug in ihrer Umgebung wiederholt. Die Studien machten ihren Umgang wie ein großes Rad, und die jungen Gentlemen waren stets darauf geflochten.
Nach dem Tee fingen die Übungen abermals an, und bei Kerzenlicht wurden die Vorbereitungen für den nächsten Tag vorgenommen. Im Laufe der Zeit kam denn nun das Zubettgehen, und auf dem Lager fand man Ruhe und süßes Vergessen, wenn sich nicht die Wiederaufnahme der Studien in die Träume mischte.
O Sonnabende! o glückliche Sonnabende, an denen Florence stets nachmittags kam und selbst beim schlechtesten Wetter nicht wegbleiben mochte, gleichviel wie sehr Mrs. Pipchin darüber schalt, knurrte und das arme Mädchen quälte. Diese Sonnabende waren neben der ganzen Judenschaft zugleich auch Sabbate für zwei kleine Christen und dienten dem heiligen Sabbatwerke, die Liebe eines Bruders und einer Schwester inniger zu knüpfen.
Nicht einmal die Sonntagabende – die schweren Sonntagabende, deren Schatten den ersten erwachenden Lichtstrahl der Sonntagmorgen verdüsterten – konnten diese köstlichen Sonnabende vergällen. Paul kümmerte sich nicht darum, ob sie an der weiten Seeküste zugebracht wurden, wo sie beieinander saßen und miteinander lustwandelten, oder ob sie sich nur in Mrs. Pipchins öder Hinterstube befanden, wo sie ihm so sanft zusang, während er das schläfrige Köpfchen auf ihren Arm lehnte. Alles andere war ihm nichts – nur Florence sein einziger Gedanke. Wenn dann an Sonntagabenden die unheimliche Tür des Doktors offen stand, um ihn wieder für eine Woche zu verschlingen, so fand er nur noch Zeit zum Abschied für Florence, für niemand anders.
Mrs. Wickham war nach dem Hause in London zurückversetzt worden, und Miß Nipper, nunmehr ein stattliches junges Frauenzimmer, hatte in Brighton ihre Stelle ersetzen müssen. Wie manchem Einzelkampfe mit Mrs. Pipchin widmete sich nicht Miß Nipper ritterlich, und wenn je erstere in ihrem ganzen Leben einen ebenbürtigen Gegenpart gefunden hatte, so war dies jetzt der Fall. Miß Nipper warf schon am ersten Morgen, den sie in Mrs. Pipchins Hause zubrachte, die Scheide ihres Säbels weg und verlangte ebensowenig Pardon, als sie ihn selbst gewährte. Sie sagte, es müsse Krieg sein, und so war es auch. Mrs. Pipchin lebte von Stunde an unter einem fortwährenden System von Überraschungen, Plackereien und Herausforderungen; ja, die Scharmützel trafen sie sogar von dem Flur aus in dem unbewachten Augenblicke der Hammelrippchen und vergällten ihr jede Röstschnitte.
Als nach einem Abendgang mit Paul nach dem Hause des Doktors Sonntags Miß Nipper mit Florence nach Hause zurückkehrte, holte letztere aus ihrem Busen einen kleinen Papierstreifen hervor, auf dem sie einige Worte aufgezeichnet hatte.
»Seht her, Susanna«, sagte sie. »Dies sind die Titel der kleinen Bücher, die Paul noch lernen soll, wenn er schon von den langen Übungen ermattet ist. Ich habe sie gestern abend aufgezeichnet, als er schrieb.«
»O, seid so gut, es mir nicht zu zeigen, Miß Floy«, entgegnete Nipper. »Ich möchte ebensogern Mrs. Pipchin sehen.«
»Ich möchte Euch bitten, Susanna, daß Ihr sie morgen früh für mich kauft«, sagte Florence. »Mein Geld reicht wohl.«
»Ei, du meine Güte, Miß Floy«, erwiderte Miß Nipper, »wie mögt Ihr nur auch so sprechen, da Ihr schon Bücher über Bücher habt, und Lehrer und Lehrerinnen dazu, die Euch ohne Unterlaß alles lehren, obschon ich glaube, Miß Dombey, Euer Papa würde nie daran gedacht haben, Euch etwas lernen zu lassen, wenn Ihr ihn nicht darum gebeten hättet und er es deshalb nicht gut abschlagen konnte. Ja, Miß, es ist ein großer Unterschied, etwas zu tun, wenn man darum angegangen wird, und sich zu etwas unaufgefordert zu erbieten. Ich habe vielleicht nichts dagegen einzuwenden, wenn mir ein junger Mann Gesellschaft leistet, und sage vielleicht ja, falls er mich darum ersucht; dies ist aber etwas ganz anderes, als wenn ich sagen wollte: ›Mögt Ihr nicht so gut sein, mich gerne zu haben‹.«
»Aber Ihr könnt mir ja die Bücher kaufen, Susanna, und Ihr werdet es auch tun, wenn Ihr wißt, warum ich sie wünsche.«
»Gut, Miß; und warum wünscht Ihr sie?« versetzte Nipper und fügte dann in gedämpfter Stimme bei: »Handelt sich's darum, sie Mrs. Pipchin an den Kopf zu werfen, so will ich Euch eine ganze Wagenlast bringen.«
»Ich glaube, Susanna, wenn ich diese Bücher habe, bin ich vielleicht imstande, Paul einige Hilfe zu leisten«, sagte Florence. »Möglich, daß ihm für die nächste Woche eine kleine Erleichterung dadurch kommt. Ich möchte es wenigstens versuchen. Kauft mir sie also, meine Liebe, und ich werde Euch diese Freundlichkeit nie vergessen.«
Es hätte ein härteres Herz dazu gehört, als das von Susanna Nipper war, um die kleine Börse, die Florence ihr bei diesen Worten darbot, zurückzuweisen, oder dem flehenden Blicke, womit sie ihr Gesuch begleitete, zu widerstehen. Susanna nahm ohne Widerrede das Geld zu sich und machte sich unverweilt auf den Weg, um dem Anliegen zu entsprechen.
Die Bücher waren nicht leicht zu bekommen, denn in den Buchläden lautete in der Regel die Antwort, sie seien eben erst ausgegangen, würden gar nicht geführt, haben sich im letzten Monat in großer Menge vorgefunden oder es würde nächste Woche reichlich Vorrat sein. Susanna war übrigens nicht so bald zu ermüden; denn nachdem sie einen weißhaarigen Jüngling in einer schwarzen Kattunschürze, der in einer ihr bekannten Buchhandlung angestellt war, veranlaßt hatte, sie bei ihrem Nachforschungsgange zu unterstützen, führte sie ihn auf eine Weise hin und her, daß er, nur um sie endlich loszuwerden, sein Äußerstes aufbot und sie dadurch in die Lage setzte, zuletzt einen triumphierenden Heimzug zu feiern.
Nach Beendigung der eigenen täglichen Aufgaben setzte sich nun Florence abends mit diesen Schätzen nieder, um Pauls Fußstapfen über die dornigen Wege der Gelehrsamkeit zu folgen. Sie besaß von Natur gute Anlagen, und Dank sei es jenem wunderbaren Lehrer, der Liebe – es dauerte nicht lange, bis sie Paul nachgekommen und ihn sogar überholt hatte.
Nicht eine Silbe hiervon verlautete zu Mrs. Pipchin. Aber manche Nacht, wenn alle andern Leute im Bett lagen und Miß Nipper mit aufgewickelten Locken und in sehr unbequemer Stellung an ihrer Seite schlummerte – wenn die Asche im Kamin kalt und grau, die Kerze aber fast niedergebrannt war, gab sich Florence so angelegentlich Mühe, für einen kleinen Dombey zu arbeiten, daß ihr Eifer und ihre Ausdauer ihr fast ein gutes Recht hätten erringen können, diesen Namen selbst zu tragen.
Und wie groß war ihr Lohn, als sie eines Sonnabends, als der kleine Paul in der gewohnten Weise »seine Studien wieder aufnehmen« wollte, an seiner Seite Platz nahm und ihm zeigte, wie für ihn alles Rauhe geebnet und alles Dunkle klar und deutlich gemacht worden sei. Es war nur der Ausdruck der Verwunderung in Pauls bleichem Gesicht – ein Erröten, ein Lächeln – und dann eine innige Umarmung; aber Gott weiß, wie ihr das Herz hupfte bei dieser reichen Belohnung für ihre Mühe.
»O Floy!« rief ihr Bruder. »Wie liebe ich dich! wie liebe ich dich, Floy!«
»Und ich dich, mein Teurer!«
»O, dies weiß ich wohl, Floy!«
Er sprach nicht weiter darüber, aber jenen ganzen Abend saß er in größter Ruhe bei ihr, und nachts rief er aus dem kleinen Alkoven, in dem er schlief, ihr drei- oder viermal zu, daß er sie liebe.
Und fortan war Florence regelmäßig vorbereitet, an Sonnabenden mit Paul zu lernen und in größter Geduld für die Arbeit der nächsten Woche ihm einen möglichst großen Vorsprung zu gewinnen. Der ermunternde Gedanke, daß er an dem weiterspinne, was Florence kurz zuvor um seinetwillen getan hatte, war natürlich unserem Paul ein Sporn für die stetige Aufnahme seiner Studien; da aber hieraus noch eine wesentliche Erleichterung seiner Last erwuchs, so verdankte er diesem Beistand wahrscheinlich, daß er nicht unter der Bürde erlag, die die blonde Cornelia Blimber seinem Rücken im Übermaße auflud.
Wir wollen damit nicht sagen, daß Miß Blimber ihn hart behandelte oder Doktor Blimber seine jungen Gentlemen allzu schwer anzuspannen beabsichtigte. Cornelia hielt sich allein an das Glaubensbekenntnis, in dem sie erzogen worden war, und der Doktor betrachtete in einer teilweisen Verwirrung seiner Ideen die jungen Gentlemen in einem Lichte, als wären sie lauter Doktoren und mit den Eigenschaften dieser akademischen Würde schon in die Welt getreten. Der Beifall, den ihm die nächsten Verwandten der jungen Gentlemen zollten, trug natürlich nur dazu bei, die blinde Eitelkeit und unüberlegte Hast der Familie zu steigern; es hätte daher allerdings wundernehmen müssen, wenn Doktor Blimber seinen Irrtum entdeckt oder seine schwellenden Segel in anderer Weise angeholt haben würde.
Und so ging es nun auch mit Paul. Sobald Doktor Blimber die Meldung machte, der Knabe habe von Natur gute Anlagen und schreite rasch voran, war Mr. Dombey nur um so mehr darauf versessen, daß man seinen Sohn ansporne und alles mögliche in ihn hineinstopfe; aber ebenso unerbittlich ließ sich der alte Mr. Briggs in ähnlicher Art vernehmen, als ihm der Lehrer berichtete, daß Briggs junior nur geringe Anlagen habe und schlechte Fortschritte mache. Mit einem Worte, wie hoch und wie unzweckmäßig auch die Temperatur sein mochte, in der der Doktor sein Treibhaus erhielt – die Eigentümer der Pflanzen waren stets bereit, an die Blasbälge Hand zu legen und das Feuer zu schüren.
Der Frohsinn, den Paul im Anfang mitgebracht hatte, ging natürlich bald verloren. Dagegen aber erhielt sich alles Seltsame, Alte und Gedankenvolle in seinem Charakter; ja es entwickelte sich sogar noch weit stärker, da die Umstände hierzu sogar förderlich waren.
Der einzige Unterschied, der stattfand, bestand darin, daß er seinen Charakter für sich behielt. Er wurde zwar mit jedem Tage gedankenvoller und zurückhaltender, gewann aber nicht dieselbe Teilnahme an irgendeinem lebenden Wesen in dem Hause des Doktors, wie dies bei Mrs. Pipchin der Fall gewesen. Er blieb gern allein, und in den kurzen Zwischenräumen, in denen er nicht von seinen Büchern in Anspruch genommen war, beschäftigte er sich am liebsten damit, daß er einsam im Hause umherlief oder auf der Treppe saß, um der großen Uhr in der Halle zuzuhören. Die Tapeten der Zimmer hatte er durch und durch studiert; er sah in den Bildern Dinge, die niemand sonst bemerkte, fand kleine Tiger und Löwen, die an den Wänden der Schlafzimmer hinausliefen, und entdeckte sogar schielende Gesichter in den Vierecken der Bodenteppiche. Kurz, der Knabe lebte einsam fort, umgeben von der Arabeskenarbeit seiner sinnenden Phantasie, und niemand begriff ihn. Mrs. Blimber hielt ihn für »wunderlich«, und bisweilen sagten die Dienstboten unter sich, mit dem kleinen Dombey sei es nicht richtig; damit aber hatte es sein Bewenden.
Vielleicht hatte nur der junge Toots in betreff der Sache den Schatten einer Idee, obschon er durchaus nicht imstande war, ihr einen Ausdruck zu verleihen. Wie mit Gespenstern muß man sich auch mit Ideen vorher ein wenig benehmen, ehe sie sich selbst aufklären, und Toots hatte längst aufgehört, an seinen Geist Fragen zu stellen. Mag sein, daß hin und wieder aus dem bleiernen Helm seines Schädels ein Nebel hervorging, der, wenn er Form und Gestalt hätte gewinnen können, den Mann zu einem Genie gemacht haben würde; da aber dies nicht der Fall war, so ahmte er nur das Beispiel des Rauchs in dem Märchen der Scheherezade nach, der in einer dicken Wolke herauswogte und in der Luft schweben blieb. Immerhin blieb übrigens auf einer einsamen Küste eine kleine Figur sichtbar, und Toots stierte unaufhörlich darnach hin.
»Wie geht's dir?« konnte er wohl fünfzigmal des Tages unsern kleinen Paul fragen.
»Ganz gut, Sir, danke«, pflegte Paul zu antworten.
»Gib mir deine Hand«, ließ Toots darauf folgen.
Natürlich tat Paul dies ohne Zögern, und Mr. Toots sagte dann in der Regel, nachdem er den Kleinen unter schwerem Atmen eine lange Weile angestiert hatte, »wie geht's dir?« Paul antwortete dann wieder, »ganz wohl, Sir, danke.«
Eines Abends saß Mr. Toots, von seiner Korrespondenz gewaltig in Anspruch genommen, an seinem Pult, als ein großer Gedanke in ihm aufzublitzen schien. Er legte seine Feder nieder und machte sich auf, um Paul zu suchen, den er endlich nach langem Spähen in dem Schlafstübchen fand, wie er eben zum Fenster hinaussah.
»He!« rief Toots in dem Moment, in dem er das Stübchen betrat, um seinen Zweck nicht zu vergessen; »an was denkst du?«
»O, ich denke an sehr viele Dinge«, versetzte Paul.
»Wirklich?« entgegnete Toots; und es hatte den Anschein, als ob er in dieser Tatsache etwas ungemein Überraschendes finde.
»Wenn Ihr sterben müßtet –« sagte Paul zu seinem Gesicht aufblickend.
Mr. Toots stutzte und war sichtlich sehr beunruhigt.
»Glaubt Ihr nicht, Ihr würdet es lieber tun in einer mondhellen Nacht, wenn der Himmel vollkommen klar wäre und der Wind bliese wie in der letzten Nacht?«
Mr. Toots sah Paul zweifelnd an, schüttelte den Kopf und versetzte, er wisse nicht, was er damit meine.
»Es war wenigstens kein Stürmen«, fuhr Paul fort, »sondern die Luft tönte, wie das Rauschen des Meeres in den Muscheln. Eine schöne Nacht! Nachdem ich geraume Zeit dem Wasser zugehört hatte, stand ich auf und sah hinaus. Dort drüben schwamm ein Boot in vollem Licht des Mondes – ein Boot mit einem Segel.«
Das Kind sah ihn fest an und sprach so eifrig, daß Mr. Toots wohl fühlte, er müsse etwas über dieses Boot sagen. Seine Erwiderung lautete daher »Schmuggler«; weil er sich aber unparteiisch erinnerte, daß jede Frage zwei Seiten habe, so fügte er hinzu: »oder Zollschutzwache«.
»Ein Boot mit einem Segel im vollen Licht des Monds«, wiederholte Paul. »Das Segel sah aus wie ein Arm ganz von Silber. Es entfernte sich mehr und mehr, und was glaubt Ihr wohl, was es zu tun schien, als es sich mit den Wellen bewegte?«
»Es schwankte«, sagte Mr. Toots.
»Es schien zu winken«, sagte das Kind, »als wünsche es, daß ich komme! – Da ist sie! – Da ist sie!«
Nach den Vorgängen entsetzte sich Toots höchlich ob diesem plötzlichen Ausruf und erwiderte:
»Wer?«
»Meine Schwester Florence!« rief Paul. »Sie sieht herauf und winkt mit ihrer Hand. Sie sieht mich! Sie sieht mich – gute Nacht, Liebe, gute Nacht, gute Nacht!«
Der rasche Übergang in einen Zustand überschwenglicher Freude, während der Knabe unter Kußhändchen und Händeklatschen am Fenster stand, wie auch die Art, in der das Licht bei dem Verschwinden der Schwester sich in seinen Zügen verlor und eine geduldige Schwermut auf dem Gesichtchen zurückließ, war zu auffallend, um nicht auch auf einen Menschen wie Toots Eindruck zu machen. Sie wurden jedoch in diesem Augenblick durch einen Besuch von Mrs. Pipchin unterbrochen, die ein- oder zweimal in der Woche Paul just vor Einbruch der Dunkelheit mit ihren schwarzen Gewändern zu erfreuen pflegte, und Toots hatte daher nicht Zeit, die Gelegenheit weiter zu benützen; sie machte übrigens auf sein Gemüt einen so tiefen Eindruck, daß er nach dem Austausch der gewöhnlichen Begrüßungen zweimal wieder zurückkehrte, um Mrs. Pipchin zu fragen, wie sie sich befinde. Die zornige alte Dame nahm dies für eine tief angelegte und lang beabsichtigte Kränkung, hervorgegangen aus dem diabolischen Erfindungsgeist des blödsichtigen jungen Mannes drunten, und legte deshalb noch selbigen Abend gegen letzteren bei Doktor Blimber Beschwerde ein, worauf dieser den beschuldigten jungen Menschen vorlud und ihm zu verstehen gab, wenn er je wieder Ähnliches sich zu Schulden kommen lasse, werde er ihn fortjagen müssen.
Da die Abende jetzt länger wurden, schlich sich Paul regelmäßig nach seinem Fenster hinauf, um sich nach Florence umzusehen. Sie ging stets zu einer gewissen Stunde hin und her, bis sie seiner ansichtig wurde, und das wechselseitige Erkennen war ein Sonnenstrahl in Pauls täglichem Leben. Nach Einbruch der Dunkelheit ging oft auch eine andere Gestalt einsam vor dem Hause des Doktors hin und her. Mr. Dombey suchte jetzt nur selten an Sonnabenden die Gesellschaft der Kleinen, denn er konnte es nicht ertragen. Lieber wollte er unerkannt kommen und zu dem Fenster hinaufsehen, wo sein Sohn sich zu einem Manne bildete – wartend und harrend, Pläne schmiedend und hoffend.
O hätte er nur sehen können – oder hätte er mit den Augen anderer gesehen, wie der zarte schmächtige Knabe oben im Dämmerlicht nach den Wellen und Wolken hinschaute – mit welch sehnsüchtigen Blicken er sich zum Fenster seines einsamen Käfigs hinausbog, wenn die Vögel vorbeiflogen, als wünsche er sich selbst Schwingen, um mit ihnen wetteifern zu können, im Fluge hinaus in die Freiheit.
Dreizehntes Kapitel. MR. DOMBEYS BUREAU.
Mr. Dombeys Geschäftslokale befanden sich in einem Hofraum, an dessen Ecke eine altmodische Bude stand, wo auserlesene Früchte feilgeboten wurden. Man sah daselbst herumziehende Händler beiderlei Geschlechts, die zwischen den Stunden zehn und fünf unaufhörlich Pantoffel, Taschentücher, Schwämme, Hundehalsbänder und Windsor-Seife, bisweilen auch einen Hühnerhund oder ein Ölgemälde verkaufen wollten.
Der Hühnerhund mußte stets diesen Weg machen als Spekulation auf die Stockbörse, weil daselbst eine gewisse Wettlust, die ursprünglich aus dem Halten auf neue Hüte hervorging, sehr im Schwung ist. Die übrigen Handelsartikel galten dem Publikum im allgemeinen, wurden aber von den Verkäufern nie Mr. Dombey angeboten. Im Gegenteil, wenn er auftrat, zogen sich diejenigen, die in solchen Waren Geschäfte machten, achtungsvoll zurück. Der Haupt-Pantoffel- und Hundehalsbandmann, der sich selbst für einen öffentlichen Charakter hielt, und dessen Porträt an der Tür eines Künstlers in Cheapside Sehr belebte Straße in London befestigt war, fuhr mit dem Zeigefinger an den Rand seines Hutes, so oft Mr. Dombey vorbeiging, und der Zettelträger, falls er nicht eben in einem Geschäft abwesend war, lief stets diensteifrig voraus, um Mr. Dombeys Bureautür so weit als möglich zu öffnen, und sie mit abgezogenem Hut offen zu halten, bis der große Mann eingetreten war. Die Angestellten im Innern blieben gleichfalls nicht um ein Tüpfelchen zurück in ihren Achtungsbezeugungen. Feierliches Schweigen herrschte, wenn Mr. Dombey durch das äußere Bureau kam, und der Witzling des Kontors wurde im Nu so stumm, wie die Reihe lederner Feuereimer, die hinter ihm hing. Das schale, dumpfe Licht, das durch die Fenster sickerte und auf den Scheiben einen schwarzen Bodensatz zurückließ, zeigte die Bücher, die Papiere und die darüber hingebeugten Gestalten in ein eifriges Halbdunkel gehüllt und dem Anschein nach von der Außenwelt so abgeschieden, als wären sie auf dem Boden des Meeres versammelt, während ein modriger kleiner Raum in dunkler Perspektive, wo stets eine beschirmte Lampe brannte, die Höhle irgendeines Seeungeheuers darstellen konnte, das mit rotem Auge alle diese Geheimnisse der Tiefe betrachtete.
So oft Perch, der Ausläufer, dessen Platz auf einem kleinen Tritt von der Größe eines Zifferblattes war, Mr. Dombey hereinkommen sah – oder vielmehr, so oft er fühlte, daß er komme, denn gewöhnlich empfand er instinktartig dessen Annäherung – so eilte er in das Zimmer des Prinzipals, schürte das Feuer, brachte frische Kohlen aus der Kohlentruhe, hing die Zeitung zum Lüften über den Ständer, rückte den Stuhl zurecht, brachte den Schirm an seinen Platz und hatte bei Mr. Dombeys Eintritt schon rechtsum gemacht, um ihm Hut und Überrock abzunehmen. Dann griff er nach der Zeitung, faltete sie vor dem Feuer zurecht und legte sie ehrerbietig neben Mr. Dombey hin. Ja, Perch hatte so wenig dagegen, im höchsten Grad unterwürfig zu sein, daß er nur um so glücklicher gewesen sein würde, wenn er sich selbst zu Mr. Dombeys Füßen legen oder ihn mit einem Titel hätte anreden können, wie er vorzeiten dem Kalifen Harun al Raschid verliehen wurde.
Da übrigens eine solche Ehrenbezeugung eine Neuerung und ein Experiment gewesen wäre, so mußte sich Perch zufrieden geben, die Phrase »du bist das Licht meiner Äugen – du bist der Atem meiner Seele – du bist der Beherrscher des gläubigen Perch!« so gut er konnte, in seiner eigenen Weise auszudrücken. Mit diesem nur unvollkommen ermutigenden Glücksgefühl pflegte er sachte die Tür zu schließen, auf den Zehen hinwegzuschleichen und seinen großen Häuptling zurückzulassen, damit derselbe durch ein gotisch geformtes Fenster in den Bleidächern, durch häßliche Schornsteinfirste und Hinterhäuser, namentlich aber durch das kecke Fenster eines Haarschneidesalons auf dem ersten Stock angestiert werden könne, wo eine Wachsfigur, am Morgen kahl wie ein Muselmann und mittags nach elf Uhr mit üppigem Haar und Backenbart in der neuesten christlichen Mode, ihm stets die Hinterseite seines Kopfes zeigte.
Zwischen Mr. Dombey und der gemeinen Außenwelt, sofern sie zugänglich war durch das Medium des äußeren Bureaus, auf das Mr. Dombeys Gegenwart in seinem eigenen Zimmer sozusagen wie feuchte oder kalte Luft einwirkte, gab es zwei Höhenabstufungen. Mr. Carker in seinem Geschäftszimmer bildete die erste, Mr. Morfin in dem seinigen die zweite. Jeder von diesen Gentlemen nahm ein kleines Gemach ähnlich einem Badstübchen ein, die beide an der Außenseite von Mr. Dombeys Tür nach dem Flur hinausgingen. Mr. Carker bewohnte als Großvezier dasjenige Gelaß, das dem des Sultans am nächsten war, und Mr. Morfin als ein Beamter von untergeordneter Stellung behauptete das Stübchen, das an das Geschäftslokal der Angestellten grenzte.
Der letztgenannte Gentleman war ein heiter aussehender ältlicher Junggeselle mit nußbraunem Auge, der seine oberen Partien in Schwarz, die Beine aber gewöhnlich in eine Pfeffer- und Salzfarbe kleidete. Sein dunkles Haar zeigte da und dort einen Anflug von Grau, als hätte der Tritt der Zeit seine Sprenkeln zurückgelassen, und sein Backenbart war bereits schneeweiß. Er hatte gewaltigen Respekt vor Mr. Dombey und zollte ihm die gebührende Huldigung; da er aber ein heiteres Temperament hatte und sich in der stattlichen Gegenwart seines Prinzipals nie recht behaglich fühlen konnte, so quälte ihn keine Eifersucht wegen der vielen Konferenzen, deren sich Mr. Carker zu erfreuen hatte. Im Gegenteil, er fühlte sich in seinem Innern befriedigt, daß er Obliegenheiten zu verrichten hatte, die ihm nur selten eine derartige Auszeichnung zukommen ließen. Nach den Geschäftsstunden zeigte er sich als eifriger musikalischer Dilettant, und er hatte eine wahrhaft väterliche Zuneigung zu seinem Violoncello, das jede Woche einmal aus seiner Wohnung zu Islington nach einem gewissen Klubzimmer in der Nähe der Bank geschafft wurde, wo an Dienstagabenden von einer Privatgesellschaft die ohrzerreißendsten Quartette aufgeführt wurden.
Mr. Carter mochte etwa achtunddreißig oder vierzig Jahre zählen. Er war ein Mann von blühender Gesichtsfarbe und hatte zwei ununterbrochene Reihen glänzender Zähne, deren Regelmäßigkeit und Weiße einem eigentlich Besorgnisse einflößten. Es war unmöglich, daß sie sich dem Beobachter entzogen; denn der Besitzer zeigte sie stets, so oft er sprach, und hatte in seinem Gesicht ein so breites Lächeln – ein Lächeln, das sich übrigens selten über die Grenzen seines Mundes hinaus erstreckte – daß man unwillkürlich an das Pfauchen einer Katze erinnert wurde. Nach dem Beispiel seines Prinzipals hatte er eine große Vorliebe für eine steife, weiße Halsbinde; auch war er stets in einen knapp anliegenden und vollständig zugeknöpften Anzug gekleidet. Sein Benehmen gegen Mr. Dombey war tief durchdacht und darnach abgemessen; er stand vertraut mit ihm bis an die äußerste Grenze seines Gefühls der Entfernung, die zwischen ihnen stattfand. »Mr. Dombey, einem Mann von Eurer Stellung gegenüber gibt es für einen Mann von der meinigen in Geschäftssachen keinen Grad von Dienstwilligkeit, den ich für zureichend halten könnte, und sage Euch daher offen, Sir, daß ich das Erforderliche lieber vornweg aufgebe. Ich empfinde, daß ich mein inneres Gefühl doch nicht befriedigen kann, und der Himmel weiß, Mr. Dombey, Ihr seid in der Lage, mir die Mühe zu erlassen.« Wenn er diese Worte auf einem Plakat gedruckt mit sich herumgetragen und auf der Brust seines Rockes unaufhörlich Mr. Dombey zum Lesen dargeboten haben würde, so hätte er sich unmöglich bestimmter erklären können, als dies in seinem ganzen Verhalten ausgedrückt war. Dies war Mr. Carker, der Geschäftsführer, Mr. Carker junior, Walters Freund, war sein Bruder und zwei oder drei Jahre älter als der erstgenannte, stand aber vermöge seiner Stellung weit unter ihm. Der Posten des jüngeren Bruders bildete den obersten Teil in der offiziellen Leiter, die des ältesten den untersten. Der ältere Bruder hatte nie eine Sprosse errungen oder auch nur einen Fuß erhoben, um sie zu ersteigen. Junge Menschen gingen ihm über den Kopf weg, stiegen und fielen; er aber befand sich stets zu unterst. Er hatte sich vollkommen in dieses niedrige Verhältnis gefügt, beklagte sich nie darüber und hoffte auch sicherlich nicht, ihm je zu entkommen.
»Wie befindet Ihr Euch heute morgen?« fragte Mr. Carker eines Tages, als er bald nach Mr. Dombeys Ankunft mit einer Handvoll Papiere in dessen Zimmer trat.
»Wie geht's Euch, Carker?« versetzte Mr. Dombey, sich von seinem Stuhl erhebend und den Rücken gegen das Feuer kehrend. »Habt Ihr da etwas für mich?«
»Ich weiß nicht, ob ich Euch behelligen muß«, entgegnete Carker, indem er in den Papieren blätterte. »Ihr wißt, heute um drei Uhr sollt Ihr einem Komitee beiwohnen.«
»Und einem anderen um dreiviertel auf vier«, fügte Mr. Dombey bei.
»Ja, ehe Ihr etwas vergeßt!« rief Carker noch immer in seinen Papieren blätternd. »Wenn Mr. Paul Euer Gedächtnis erbt, so wird er in diesem Hause ein lästiger Patron werden. Ein einziger ist schon genug.«
»Ihr habt ja selbst ein so gutes Gedächtnis«, sagte Mr. Dombey.
»O, ich?« erwiderte der Geschäftsführer. »Nun, es ist das einzige Kapital eines Mannes von meiner Stellung.«
Mr. Dombey sah nicht weniger pomphaft oder überhaupt mißvergnügt aus, als er so dastand, den Rücken gegen den Kaminsims gelehnt und seinen nichts ahnenden Buchhalter vom Kopf bis zu den Füßen musternd. Das Steife, die Nettigkeit in Mr. Carkers Anzug und eine gewisse Anmaßung in seinem Wesen, mochten diese nun natürlich oder einem nicht fernliegenden Vorbilde nachgeahmt sein, verliehen seiner Demut einen gewissen Nachdruck. Er sah wie ein Mann aus, der, wenn er könnte, gern ankämpfen möchte gegen die Gewalt, die ihn besiegte, sich aber dennoch durch die Größe und Überlegenheit Mr. Dombeys völlig niedergedrückt fühlte.
»Ist Morfin da?« fragte Mr. Dombey nach einer kurzen Pause, während der Mr. Carker mit seinen Papieren gerasselt und einiges aus deren Inhalt vor sich hin gemurmelt hatte.
»Jawohl«, antwortete er, mit einem sehr breiten plötzlichen Lächeln aufblickend; »er summt musikalische Reminiszenzen – wahrscheinlich von der Quartett-Partie des gestrigen Abends – durch die uns trennenden Wände und macht mich dadurch halb toll. Ich wünschte, er brauchte sein Violoncello zu einem Freudenfeuer und verbrennte seine Notenhefte darin.«
»Ich glaube, Ihr habt vor niemand Achtung, Carker«, sagte Mr. Dombey.
»Meint Ihr?« entgegnete Carker mit einem abermaligen breiten, katzenartigen Zeigen seiner Zähne. »Nun ja – ich glaube selbst auch, vor nicht vielen. Ich möchte vielleicht« – fügte er murmelnd hinzu, als spreche er nur in Gedanken für sich hin – »nicht für mehr als für Einen einstehen.«
Eine gefährliche Eigenschaft, wenn sie wirklich, und nicht minder gefährlich, wenn sie geheuchelt war. Aber Mr. Dombey, wie er so dastand, in voller Höhe aufgerichtet, den Nacken gegen das Feuer gekehrt und den Geschäftsführer mit einer würdevollen Fassung musternd, aus der mehr als gewöhnlich das verborgene Bewußtsein der Macht hervorzulauern schien – kam wohl kaum auf diesen Gedanken.
»Da wir eben von Morfin sprechen«, nahm Mr. Carker wieder auf, indem er aus den übrigen eines der Papiere sonderte – »er meldet, daß ein jüngerer Angestellter zu Barbados Nordöstlichste Antilleninsel gestorben sei, und bittet darum, daß man in dem Sohn und Erben, der nach einem Monat ungefähr aussegeln wird, einen Platz als dessen Nachfolger freihalten möchte. Ich kann mir denken, daß es Euch gleichgültig ist, wer geht. Hier haben wir niemand der Art.«
Mr. Dombey schüttelte mit supremer Gleichgültigkeit den Kopf.
»Es ist kein sehr schätzenswerter Posten«, bemerkte Mr. Carker, indem er eine Feder nahm, um auf der Hinterseite des Papiers eine Bemerkung aufzuzeichnen. »Ich hoffe, er wird sie einem verwaisten Neffen eines seiner musikalischen Freunde übertragen. Diesem kann auf solche Weise vielleicht das Fiedeln gelegt werden, wenn er etwa eine derartige Gabe besitzt. Wer ist da? Herein!«
»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Carker. Ich wußte nicht, daß Ihr hier seid, Sir«, entgegnete Walter, der mit einigen unerbrochenen, neuangelangten Briefen hereinkam. »Mr. Carker junior, Sir – Sir –«
Bei Erwähnung dieses Namens durchzuckte es – wenigstens hatte es so den Anschein – Mr. Carker, den Geschäftsführer, bis ins Mark vor Scham und Demütigung. Er heftete seine Augen mit einem ganz veränderten abbittenden Blick auf Mr. Dombey, schlug sie sodann zu Boden und blieb für eine Weile stumm.
»Ich glaubte, Sir«, sagte er plötzlich in ärgerlicher Aufwallung zu Walter, »man habe Euch schon früher ersucht, Mr. Carker junior nicht in Eure Konversation zu mischen.«
»Ich bitte um Verzeihung«, entgegnete Walter. »Meine Absicht war bloß zu sagen, Mr. Carker junior habe mir mitgeteilt, er glaube, Ihr wäret ausgegangen, sonst würde ich mir nicht die Freiheit genommen haben, an die Tür zu klopfen, während Ihr mit Mr. Dombey etwas zu verhandeln hattet. Hier sind Briefe für Mr. Dombey.«
»Gut, Sir«, erwiderte Mr. Carker, der Geschäftsführer, indem er sie hastig seiner Hand entriß. »Geht wieder an Euer Geschäft.«
Als übrigens dem Überbringer die Briefschaften mit so wenig Umständen abgenommen wurden, entfiel ein Stück davon Carkers Hand, ohne daß es dieser bemerkte, und auch Mr. Dombey wurde des Papiers nicht gewahr, obschon es unmittelbar vor seine Füße hingeflogen war. Walter zögerte einen Augenblick, weil er glaubte, einer oder der andere werde darauf achthaben; da jedoch dies nicht geschah, machte er halt, kam zurück, hob den Brief auf und legte ihn auf Mr. Dombeys Pult. Die Briefe waren mit der Post eingelaufen, und zufälligerweise enthielt der letztere Mrs. Pipchins regelmäßigen Bericht, der, weil die gedachte Dame sich nicht gern mit der Feder abgab, wie gewöhnlich von Florence überschrieben war. Mr. Dombey, dessen Aufmerksamkeit in dieser stummen Weise von Walter auf die Handschrift seiner Tochter gelenkt worden war, wurde betroffen und warf dem jungen Menschen einen finstern Blick zu, als glaubte er, derselbe habe ihn absichtlich von den übrigen ausgelesen.
»Ihr könnt das Zimmer verlassen, Sir«, sagte Mr. Dombey stolz und zerknitterte den Brief in seiner Hand; sobald Walter das Zimmer verlassen hatte, steckte er ihn in die Tasche, ohne das Siegel zu erbrechen.
»Ihr sagtet«, bemerkte Mr. Dombey hastig, »man brauche jemand nach Westindien?«
»Ja«, versetzte Mr. Carker.
»So schickt den jungen Gay.«
»Gut – in der Tat sehr gut. Nichts leichter«, sagte Mr. Carker, ohne eine Spur von Überraschung zu zeigen. Er nahm die Feder abermals auf, um mit derselben Gelassenheit wie früher auf der Hinterseite des Schreibens die Bemerkung aufzuzeichnen: ›Der junge Gay soll geschickt werden‹.
»Ruft ihn zurück«, sagte Mr. Dombey.
Mr. Carker zögerte nicht, und Walter war ebenso schnell wieder im Zimmer.
»Gay«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ein wenig drehte, um über die Achsel nach ihm hinzusehen. »Es gibt hier einen –«
»Guten Anfang«, fügte Mr. Carker bei, während sich sein Mund so weit wie möglich verzog.
»In Westindien. Zu Barbados. Ich habe im Sinne, Euch hinzuschicken«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er es verschmähte, die kahle Wahrheit zu bemänteln, »damit Ihr die Stelle eines jüngeren Angestellten in dem Kontor zu Barbados ersetzet. Bemerkt Eurem Onkel, ich lasse ihm sagen, daß ich Euch dazu ausersehen habe, nach Westindien zu gehen.«
Das Erstaunen benahm Walter so vollständig den Atem, daß er kaum die Worte hervorzubringen vermochte: »Nach Westindien!«
»Irgend jemand muß gehen«, sagte Mr. Dombey. »Ihr seid jung und gesund – Euer Onkel aber befindet sich in keinen guten Umständen. Bedeutet Eurem Onkel, daß ich Euch für den Posten ausersehen habe. Jetzt braucht Ihr noch nicht zu gehen – es dauert möglicherweise noch einen Monat, vielleicht noch zwei.«
»Soll ich dort bleiben, Sir?« fragte Walter.
»Ob Ihr dort bleiben sollt, Sir?« wiederholte Dombey, sich ein wenig mehr zu ihm hinwendend. »Was wollt Ihr damit sagen? Was meint er damit, Carker?«
»Dort leben, Sir«, stotterte Walter.
»Allerdings«, erwiderte Mr. Dombey.
Walter verbeugte sich.
»Genug jetzt«, sagte Mr. Dombey, seine Briefe nehmend. »Ihr werdet ihn natürlich zur Zeit über die gewöhnliche Ausstattung usw. belehren, Carker. Er braucht nicht zu warten, Carker.«
»Ihr braucht nicht zu warten, Gay«, bemerkte Mr. Carker, die Zähne bis zum Zahnfleisch weisend.
»Es sei denn«, versetzte Mr. Dombey, der in seinem Lesen innehielt, ohne übrigens von dem Brief aufzuschauen, gleichsam als wollte er hören – »es sei denn, daß er etwas zu sagen hätte.«
»Nein, Sir«, erwiderte Walter in großer Verwirrung, Aufgeregtheit und halber Betäubung, da sich eine endlose Abwechslung von Bildern seinem Geiste vergegenwärtigte. Unter diesen befanden sich namentlich Kapitän Cuttle mit seinem Glanzhut, wie er vor Überraschung fast versteinert in Mrs. Mac Stingers Wohnung die Kunde vernahm, und sein Onkel, wie er in dem kleinen Hinterstübchen den Verlust seines Neffen beklagte. »Ich weiß kaum – ich – ich bin Euch sehr verbunden, Sir.«
»Er braucht nicht zu warten, Carker«, sagte Mr. Dombey.
Da nun Mr. Carker die Worte abermals wiederholte und seine Papiere sammelte, als wolle er gleichfalls gehen, so fühlte Walter, daß sein längeres Zögern als eine unverzeihliche Aufdringlichkeit erscheinen mußte, namentlich da er nichts zu sagen wußte. Er verließ daher in großer Verwirrung das Zimmer.
Mit dem gemischten Bewußtsein und der Hilflosigkeit eines Traums den Flur entlang gehend, hörte er Mr. Dombeys Tür abermals zugehen, und unmittelbar darauf lief ihm Mr. Carker, der herausgekommen war, zu:
»Seid so gut, Sir, Euern Freund Mr. Carker junior in mein Zimmer zu bringen.«
Walter begab sich nun nach dem äußeren Bureau und richtete Mr. Carker junior seinen Auftrag aus. Dieser kam sofort hinter der Scheidewand, neben der er allein in einer Ecke saß, hervor und begab sich mit dem jungen Gay nach dem Zimmer Mr. Carkers, des Geschäftsführer«.
Der letztgenannte Gentleman stand, die Hände unter den Schößen seines Fracks, mit dem Nacken gegen das Feuer gekehrt, und sah über seiner weißen Krawatte so unverheißungsvoll weg, wie es kaum jemand anders als Mr. Dombey möglich war. Er empfing die Eintretenden, ohne seine Stellung zu wechseln oder den rauhen düstern Ausdruck irgendwie zu mildern, indem er Walter nur durch einen Wink bedeutete, die Tür zu schließen.
»John Carker«, begann der Geschäftsführer, der sich, nachdem sein Geheiß erfüllt war, mit seinen zwei Reihen Zähnen plötzlich so wild gegen seinen Bruder wandte, als hätte er ihn beißen mögen, »was ist dies für ein Komplott zwischen Euch und diesem jungen Manne, kraft dessen ich durch die Erwähnung Eures Namens gehetzt und geplagt werden muß? Ist es nicht genug für Euch, John Carker, daß ich Euer naher Verwandter bin und mich nicht entschlagen kann dieses –«
»Sage immerhin ›dieses Schimpfes‹, James«, entgegnete der andere in gedämpfter Stimme, als er fand, daß der Geschäftsführer um ein Wort verlegen war. »Es liegt dir auf der Zunge, und du hast ein Recht, diesen Ausdruck zu gebrauchen.«
»Ja, dieses Schimpfes«, pflichtete sein Bruder mit scharfem Nachdruck bei. »Aber muß diese Tatsache austrompetet und ohne Unterlaß vor dem ganzen Hause ausgeschrien werden? Und noch dazu in Augenblicken des Vertrauens! Glaubt Ihr, Euer Name sei darauf berechnet, an diesem Platze mit Verantwortlichkeit und Vertrauen im Einklang zu stehen, John Carker?« »Nein«, erwiderte der andere, »nein, James. Gott weiß, ich habe keinen solchen Gedanken.«
»Und was denkt Ihr sonst?« entgegnete der Bruder. »Warum drängt Ihr Euch mir in den Weg? Habt Ihr mir nicht bereits genug Schaden zugefügt?«
»Mit Willen ist dies nie geschehen, James.«
»Ihr seid mein Bruder«, sagte der Geschäftsführer. »Dieser Umstand allein steht mir überall im Wege.«
»Ich wollte, ich könnte es ungeschehen machen, James.«
»Auch mir wäre es lieb, wenn Ihr's könntet und wolltet.«
Während dieses Gesprächs hatte Walter mit den Gefühlen schmerzlichen Erstaunens abwechselnd die beiden Brüder angesehen. Der eine, den Jahren nach der ältere, aber in dem Hause der Junior, stand mit zu Boden geschlagenen Augen und gesenktem Kopfe da, um in aller Demut die Vorwürfe des anderen anzuhören. Sie wurden sowohl durch den Ton, als durch den Blick, womit sie über ihn hereinbrachen, sehr bitter; da aber Walter, den sie in gleicher Weise überraschten und erschütterten, zugegen war, so ließ sich der Gekränkte auf nichts anderes ein, als daß er in bittender Weise die rechte Hand erhob, als wollte er sagen: »Schone mich!« So hätte sich vielleicht ein tapferer Soldat, gebunden und durch körperliche Leiden erschöpft, unter den Händen eines prügelnden Profosen benommen.
Edel und rasch in allen seinen Erregungen ergriff nun Walter, der sich selbst für die unschuldige Ursache dieser Beschimpfungen hielt, mit dem ganzen Ernste seiner Gefühle das Wort.
»Mr. Carker«, sagte er, sich an den Geschäftsführer wendend, »in der Tat, die Schuld liegt ganz allein an mir. In einer Unbedachtsamkeit, die ich mir selbst nicht genug vorwerfen kann, habe ich ohne Zweifel den Namen des Mr. Carker junior weit öfter erwähnt, als nötig war, und ihn bisweilen über meine Lippen gleiten lassen, obschon ich mich dadurch gegen Euren ausgesprochenen Wunsch verfehlte. Der Irrtum liegt übrigens nur auf meiner Seite, Sir – wir haben überhaupt nie über den Gegenstand gesprochen – ja, im ganzen nur noch sehr wenige Worte miteinander gewechselt. Ich muß zwar sagen,« fügte Walter nach einer kurzen Pause hinzu, »ganz aus Unachtsamkeit geschah es nicht, Sir, denn seit meinem Hiersein fühlte ich stets ein Interesse für Mr. Carker, und da ich so viel an ihn dachte, war es kaum anders möglich, als daß ich auch zuweilen von ihm sprach.«
Walter sprach dies aus voller Seele und mit der innigsten Ehrlichkeit. Er sah auf das gebeugte Haupt, die niedergeschlagenen Blicke, die erhobene Hand und dachte: ›Ich habe es gefühlt, und warum sollte ich es nicht zugestehen um dieses freundlosen, unglücklichen Mannes willen‹!
»Um die Wahrheit zu sagen. Ihr habt mich sogar gemieden, Mr. Carker«, sagte Walter, dem in der Wärme seines Mitleids Tränen in die Augen traten. »Ich bemerkte es wohl, und es tat mir schmerzlich leid. Von meinem Eintritt im Hause an und stets habe ich mir Mühe gegeben. Euch ein Freund zu sein, wie dies ein Mensch in meinem Alter sich herausnehmen durfte; aber alle meine Versuche sind vergeblich gewesen.«
»Und merkt Euch wohl«, entgegnete nun der Geschäftsführer, ihm rasch ins Wort fallend, »es wird noch unnützer sein, Gay, wenn Ihr darauf besteht, Mr. John Carkers Namen der Aufmerksamkeit der Leute aufzudringen. Dies ist nicht die Art, sich mit Mr. John Carker zu befreunden. Fragt ihn selbst, ob er nicht auch dieser Ansicht ist.«
»Ein Dienst erwächst mir nicht daraus«, sagte der Bruder, »sondern es führt im Gegenteil zu Erörterungen, wie die gegenwärtige, und ich brauche nicht zu sagen, daß ich sie recht gern hätte missen mögen. Man kann mir keinen besseren Freundschaftsdienst leisten«, fügte er mit großer Bestimmtheit hinzu, als wolle er seine Worte Walter besonders ans Herz legen, »als wenn man mich vergißt und mich ohne Beachtung oder Frage meiner Wege gehen läßt.«
»Da Ihr für das, was Euch andere zu verstehen geben, ein so kurzes Gedächtnis habt, Gay«, sagte Mr. Carker der Geschäftsführer, der in einer sich steigernden Selbstzufriedenheit wärmer wurde, »so hielt ich es für gut, daß Euch das, um was es sich handelt, von der besten Autorität bedeutet werde« – er nickte dabei nach seinem Bruder hin. »Hoffentlich werdet Ihr's jetzt nicht mehr vergessen. Damit gut, Gay. Ihr könnt gehen.«
Walter trat ab und war eben im Begriff, die Tür hinter sich zu schließen, als er aufs neue die Stimmen der Brüder vernahm und dabei auch seinen Namen nennen hörte; er blieb daher, die Hand auf der Klinke und bei halb offener Tür unschlüssig stehen, nicht wissend, ob er umkehren oder sich entfernen sollte. In dieser Stellung konnte ihm das, was nun folgte, nicht wohl entgehen.
»Denke milder von mir, wenn du kannst, James«, sagte John Carker, »wenn ich dir sage, daß mein ganzes Herz wieder aufwachte – wie konnte es auch anders sein bei der Geschichte, die hier geschrieben steht« – er schlug sich dabei auf die Brust – »als mir dieser junge Mensch, der Walter Gay, in den Weg kam. Ich betrachtete ihn, als er zum erstenmal hierher kam, fast wie mein anderes Ich.«
»Dein anderes Ich!« wiederholte der Geschäftsführer im Tone der Verachtung.
»Nicht wie ich bin, sondern wie ich war beim Eintritt in dies Haus – so hoffnungsvoll, so schwindelig und in so frischer unerfahrener Jugend – glühend von denselben rastlosen abenteuerlichen Vorstellungen, voll von denselben Eigenschaften und reich an der gleichen Befähigung, zum Guten oder Schlimmen vorwärts zu schreiten.«
»Will nicht hoffen«, sagte sein Bruder mit einem geheimen sarkastischen Sinn in seiner Betonung.
»Du triffst mich schwer. Deine Hand ist fest, und dein Stoß geht tief«, entgegnete der andere mit einer Stimme – wenigstens kam es Walter so vor – als habe ihn bei diesen Worten irgendeine grausame Waffe durchbohrt. »Ich vergegenwärtigte mir all dieses, als er noch ein Knabe war. Ich glaubte es. Für mich war es eine Wahrheit. Ich sah ihn leichten Fußes hineilen an dem Rande eines unbemerkten Abgrundes, an dem so viele andere mit gleicher Heiterkeit hingleiten und von dem –«
»Die alte Entschuldigung«, unterbrach ihn sein Bruder, in dem Feuer schürend. »So viele. Nur weiter. Sage: so viele stürzten.«
»Von dem ein Wanderer hinabstürzte«, erwiderte der andere, »der, gleich ihm ein Knabe, seine Bahn angetreten hatte, aber immer mehr das sichere Fußen verlor, allmählich weiter und weiter glitt und endlich abwärts rollte, bis kein Halt mehr war und er unten anlangte als ein Zerschmetterter. Denke dir, was ich litt, wenn ich diesen Knaben betrachtete.«
»Du hast alles nur dir selbst zu danken«, versetzte der Bruder.
»Nur mir selbst«, pflichtete er mit einem Seufzer bei. »Ich suche die Schuld ebenso wenig zu teilen, als die Schmach.«
»Die Schande hast du gleichwohl auf andere übertragen«, murmelte James Carter durch seine Zähne, und zwar durch so viele und festgeschlossene Zähne, als bei dem Murmeln nur möglich war.
»Ach, James«, erwiderte sein Bruder, zum ersten Male im Tone des Vorwurfs sprechend, und dem Tone der Stimme nach hatte es den Anschein, als habe er sein Gesicht mit den Händen bedeckt, »seitdem bin ich für dich ein nützliches Stichblatt gewesen. Bei deinem Hinanklettern hast du mich ohne Umstände niedergetreten – tritt mich nicht noch obendrein mit deiner Ferse.«
Es folgte eine Pause. Nach einer Weile hörte man Mr. Carker, den Geschäftsführer, mit seinen Papieren knistern, als sei er willens, die Unterhaltung zum Schlusse zu bringen. Zu gleicher Zeit näherte sich sein Bruder der Tür.
»Weiter ist nichts an der Sache«, sagte er. »Ich beobachtete ihn mit so viel Furcht und Zittern, daß es mir eigentlich zur Strafe wurde, bis er die Stelle überschritten hatte, wo ich das erstemal zu Fall kam; und dann – ich glaube, wenn ich sein Vater gewesen wäre, hätte ich Gott nicht inbrünstiger danken können. Ich wagte es nicht, ihn zu warnen und ihm zu raten; aber wenn ich irgendeine unmittelbare Ursache wahrgenommen hätte, so würde ich ihm mein Beispiel vor Augen geführt haben. Ich scheute mich, auch nur im Gespräch mit ihm gesehen zu werden, damit man nicht glauben möge, ich verlockte ihn zu etwas Schlimmem oder verderbe ihn – ja, ich vermied jede Annäherung, damit dies nicht etwa wirklich geschehe. Ich weiß nicht, aber es kann ein solcher Ansteckungsstoff in mir liegen. Vergleiche meine Geschichte mit der des jungen Walter Gay, vergegenwärtige dir, welche Gefühle er mir einflößen mußte – und denke milder von mir, James, wenn du kannst.«
Mit diesen Worten trat er in den Flur hinaus, wo Walter stand. Er wurde blaß, als er ihn dort sah, und erblaßte noch mehr, als ihn Walter bei der Hand faßte und in Flüsterlauten zu ihm sagte:
»Mr. Carker, ich bitte, erlaubt mir. Euch zu danken, und laßt mich Euch sagen, wie sehr ich für Euch fühle, wie leid es mir tut, daß ich von alledem die unglückliche Ursache war! Ich betrachte Euch jetzt fast als meinen Beschützer und Hüter! Wie sehr, wie sehr fühle ich mich Euch verpflichtet und wie innig bemitleide ich Euch!« sagte Walter, ihm beide Hände drückend und in seiner Aufregung kaum wissend, was er tat oder sprach.
Mr. Morfins Zimmer befand sich in der Nähe und war leer. Da die Tür weit offen stand, so begaben sie sich wie aus gemeinschaftlichem Antrieb dahin, weil der Flur selten von Vorübergehenden frei war. Dort angelangt, bemerkte Walter in Mr. Carkers Gesicht einige Spuren von innerer Erregung und eine so große Veränderung desselben, daß er fast meinte, er habe dieses Antlitz nie zuvor gesehen.
»Walter«, sagte er, seine Hand auf die Schulter des Jünglings legend, »zwischen uns ist ein weiter Abstand, und möge dieser immer stattfinden. Wißt Ihr, was ich bin?«
»Was Ihr seid?« schien auf Walters Lippen zu schweben, als er den Sprecher aufmerksam betrachtete.
»Es nahm seinen Anfang vor meinem 21. Geburtstag«, sagte Carker – »in Gedanken viel früher vorbereitet, aber erst angefangen um diese Zeit. Ich bestahl sie, als ich volljährig wurde. Ich bestahl sie nachher. Noch vor meinem 22jährigen Geburtstag war alles entdeckt, und damals, Walter, starb ich für die menschliche Gesellschaft.«
Wieder schwebten die letzten Worte zitternd auf Walters Lippen, aber er konnte weder ihnen noch seinen eigenen Gedanken Laute verleihen.
»Das Haus war sehr wohlwollend gegen mich. Möge der Himmel den alten Mann für seine Nachsicht belohnen! Auch dieser eine, sein Sohn – damals noch ein Neuling in der Firma, die mir großes Vertrauen geschenkt hatte! Ich wurde in das Zimmer berufen, das jetzt seins ist – seitdem habe ich's nie wieder betreten – und kam heraus als der Mensch, den Ihr jetzt in mir kennt. Viele Jahre saß ich an meinem gegenwärtigen Platze, allein wie jetzt, aber damals ein bekanntes und entlarvtes Beispiel für die übrigen. Sie hatten alle Erbarmen mit mir, und ich lebte. Die Zeit hat diesen Teil meiner jammervollen Sühne getilgt, und ich glaube, außer den drei Häuptern des Hauses ist niemand hier, der von meiner Geschichte genau unterrichtet wäre. Ehe der kleine Knabe heranwächst und ihm Mitteilung davon gemacht wird, ist vielleicht meine Ecke erledigt. Gebe Gott, daß es so sei. Dies ist der einzige Wechsel, den ich mir wünschen kann seit jener Zeit, als ich meine Jugend, die Hoffnung und die Gesellschaft aller guten Menschen in jenem Zimmer hinter mir zurückließ. Gott behüte Euch, Walter! Bleibt ehrlich und haltet alle, die Euch lieb sind, zur Redlichkeit an, oder schlagt sie lieber tot!«
Eine schwache Erinnerung, als habe der Redende vom Kopf bis zu den Füßen gezittert, wie bei überwältigendem Frost, und als sei er in Tränen ausgebrochen – dies war alles, dessen Walter sich noch erinnern konnte, wenn er es versuchte, das, was zwischen ihnen vorgefallen war, sich wieder genau ins Gedächtnis zu rufen.
Als ihn Walter wiedersah, hatte er sich in seiner früheren stummen, demütigen Weise über sein Pult gebeugt. Er entnahm daraus, daß der arme Mann fest entschlossen war, allen weiteren Verkehr mit ihm zu vermeiden, und wie er zu wiederholten Malen alles bei sich erwog, was er am Morgen in so kurzer Zeit von der Geschichte der beiden Carker gesehen und gehört hatte, konnte er kaum glauben, daß er für Westindien bestimmt sei und so bald für Onkel Sol und Kapitän Cuttle verloren sein werde. Er dachte dabei auch an Florence Dombey – nein, nicht an Florence, sondern an Paul, wie er sich einreden wollte, und an alle, die er liebte und die ihm im täglichen Leben nahestanden.
Dennoch hatte es seine Richtigkeit, und die Kunde war bereits bis ins äußere Bureau gedrungen; denn während er mit schwerem Herzen dasaß, seinen Betrachtungen nachhing und dabei den Kopf auf den Arm stützte, kam der Ausläufer Perch von seinem Mahagonidreifuß heruntergestiegen, berührte seinen Ellenbogen und bat um Entschuldigung, daß er ihm etwas ins Ohr zu sagen wünsche: ob er nämlich nicht glaube, er könne es einleiten, einen Krug eingemachten Ingwers wohlfeil nach England zu schicken – für Mrs. Perch, damit sie sich nach ihrem nächsten Wochenbett daran erlaben möge.
Vierzehntes Kapitel. PAUL WIRD IMMER ALTMODISCHER UND GEHT NACH HAUSE IN DIE FERIEN.
Beim Nahen der Sommerferien zeigten sich keine besonderen Kundgebungen von Freude unter den bleiäugigen jungen Gentlemen, die in Doktor Blimbers Haus versammelt waren; denn ein ungestümer Ausbruch von Wonne hätte sich durchaus nicht für eine so feine Anstalt geschickt. Die jungen Gentlemen fuhren jeder halbjährlich in ihre Heimat; von einem eigentlichen Aufbrechen dahin war keine Rede, denn eine solche Tätigkeit würden sie geringschätzig von sich abgelehnt haben.
Tozer, der beharrlich durch eine steife weiße Halsbinde gequält wurde – er trug diese lästige Beigabe auf den ausdrücklichen Wunsch der Mrs. Tozer, seiner Mutter, die ihn für die Kirche bestimmt hatte und der Meinung war, er könne diese vorbereitende Stufe nicht zu früh beginnen – Tozer meinte sogar, wenn man ihm zwischen zwei Übeln die Wahl ließe, würde er lieber bleiben, wo er wäre, als nach Hause gehen. Diese Erklärung war jedenfalls sehr aufrichtig, wie sehr sie auch im Widerspruch war mit einem Aufsatz Tozers über diesen Gegenstand, in dem er bemerkt hatte, »die Gedanken an die Heimat und alle Erinnerungen weckten in ihm die angenehmsten Empfindungen der Wonne und des Glücks;« ja er hatte sich, um ein passendes Bild einflechten zu können, mit einem römischen General verglichen, der in triumphierendem Taumel über eine kürzliche Besiegung der Izener oder beladen mit der karthagischen Beute nur noch wenige Stunden von dem Kapitol stand. Es hatte nämlich den Anschein, als besäße Tozer einen schrecklichen Onkel, der ihn während der Ferien nicht nur über dunkle Punkte examinierte, sondern auch unschuldige Anlässe und Dinge mit einflocht, um sie zu demselben schnöden Zwecke an den Haaren herbeizuziehen. Wenn ihn z.B. sein Onkel in ein Schauspiel oder unter einem ähnlichen Vorwand des Wohlwollens zu einem Riesen, Zwerg, Taschenspieler oder sonst wohin mitnahm, so wußte Tozer im voraus, der alte Gentleman habe über den beabsichtigten Gegenstand irgendeine klassische Anspielung gelesen, und geriet dabei in wahre Todesangst, weil er nicht vorauswissen konnte, wo die Sache losbrechen oder welche Autorität gegen ihn zitiert würde. Was Briggs betraf, so bediente sich sein Vater keiner derartigen Kunstgriffe, sondern erklärte ihm zu allen Stunden und bei jeder Gelegenheit das Gewehr. Ja, diese geistigen Prüfungen waren während der Ferienzeit für diesen unglücklichen Menschen so zahlreich und grausam, daß die Freunde der Familie, die damals in der Nähe von Bayswater bei London wohnte, sich selten jenem künstlich angelegten Teiche in den Kensington-Gärten näherten, ohne sich der Besorgnis hinzugeben, sie würden den Hut des Master Briggs auf dem Spiegel des Wassers schwimmen und eine unvollendete Aufgabe an dem Ufer liegen sehen. Briggs war daher in betreff der Ferien durchaus nicht sanguinisch; und diese beiden Schlafkameraden des kleinen Paul waren so schöne Proben von der Gemütsstimmung der jungen Gentlemen im allgemeinen, daß auch die schwungkräftigsten darunter der Annäherung solcher festlichen Perioden mit gelassener Resignation entgegensahen.
Ganz anders verhielt sich's bei dem kleinen Paul. Das Ende dieser ersten Ferienzeit sollte ihn von Florence trennen; aber wer denkt je an das Ende von Ferien, die noch nicht begonnen haben? Paul gewiß nicht. Mit dem Näherkommen dieser glücklichen Zeit wurden die Löwen und Tiger, die an den Schlafkammerwänden hinaufkletterten, ganz zahm und lustig. Die grimmigen schiefen Gesichter in dem eingelegten Stubenboden erschienen milder und guckten mit weniger boshaften Augen heraus. Die ernste alte Wanduhr legte in die Weise ihrer Frage mehr persönliches Interesse, und die rastlose See rollte die ganze Nacht durch unter wehmütigen, aber doch angenehmen Lauten, als wollte sie durch das Spiel ihrer Wellen ihn in Schlaf wiegen.
Auch Mr. Feeder, B.A.,schien sich auf die Ferien recht sehr zu freuen, und Mr. Toots entwarf sich von dieser Periode an einen Plan zu lauter Festtagen. Er pflegte nämlich Paul regelmäßig jeden Tag mitzuteilen, dies sei sein letztes halbes Jahr, das er bei Doktor Blimber zubringe, und dann werde er ohne weiteres in den Genuß seines Vermögens eintreten.
Zwischen Paul und Mr. Toots stand es vollkommen fest, daß sie, ungeachtet des Abstandes der Jahre und der Stellung sehr innige Freunde waren. Wie nun die Ferien näher heranrückten und Mr. Toots, so oft er in Pauls Gesellschaft kam, schwerer atmete und die Augen weiter aufriß, las Paul darin ein Leid darüber, daß sie sich so bald aus dem Gesicht verlieren sollten, und war ihm für seine Gönnerschaft und gute Meinung dankbar.
Ebenso war es für Doktor Blimber, Mrs. Blimber und Miß Blimber sowohl als für die jungen Gentlemen im allgemeinen kein Geheimnis, daß Toots sich in irgendeiner Weise selbst zum Beschützer und Vormund von Paul aufgeworfen habe, und der Umstand war sogar für Mrs. Pipchin so notorisch, daß die gute alte Dame eine bittere Eifersucht gegen Toots fühlte, weshalb sie ihn auch in dem Heiligtum ihres Heimwesens wiederholt als einen dickköpfigen Einfaltspinsel bezeichnete. Der nichts ahnende Toots dagegen hatte ebensowenig eine Idee davon, daß er Mrs. Pipchins Groll geweckt haben könnte, als er überhaupt an irgendeine andere bestimmte Möglichkeit oder Folgerung dachte. Im Gegenteil, er war geneigt, sie in dem Lichte eines ziemlich merkwürdigen Charakters zu betrachten, der viele interessante Punkte darbot. Aus diesem Grunde lächelte er ihr mit großer Leutseligkeit zu und fragte sie bei Gelegenheit ihrer kleinen Besuche bei Paul so oft, wie sie sich befinde, daß sie ihm zuletzt eines Abends unverhohlen erklärte, sie sei an dergleichen nicht gewöhnt, was er auch von ihr denken möge; sie könne und wolle es nun einmal nicht dulden, weder von ihm noch von irgendeinem anderen Gecken in der Welt. Über diese unerwartete Erwiderung seiner Höflichkeiten geriet Mr. Toots so in Schrecken, daß er sich, bis sie fort war, in einen abgeschiedenen Platz verkroch und sein Gesicht nie wieder blicken ließ, wenn sich die mannhafte Mrs. Pipchin unter Doktor Blimbers Dache zeigte.
Es waren noch zwei oder drei Wochen bis zum Beginn der Ferien, als eines Tages Miß Cornelia Blimber Paul in ihr Zimmer berief und zu ihm sagte:
»Dombey, ich bin im Begriff, deinem Vater deine Analysis zu schicken.«
»Danke Euch, Ma'am«, versetzte Paul.
»Du weißt doch, was ich damit sagen will, Dombey?« fragte Miß Blimber, indem sie den Knaben scharf durch ihre Brille ins Auge faßte.
»Nein, Ma'am«, entgegnete Paul.
»Dombey, Dombey«, sagte Miß Blimber, »ich fange an, zu fürchten, daß du ein kläglicher Knabe bist. Wenn du den Sinn eines Ausdrucks nicht verstehst, warum verlangst du nicht Belehrung darüber?«
»Mrs. Pipchin sagte mir, ich solle keine Fragen stellen«, erwiderte Paul.
»Ich muß dich bitten, Dombey, mich ja nicht Mrs. Pipchin gegenüber zu erwähnen«, sagte Miß Blimber. »Ich kann dies durchaus nicht gestatten. Der Studienplan in unserer Anstalt verträgt sich ganz und gar nicht mit etwas der Art. Eine Wiederholung solcher Anspielungen würde mich nötigen, dir aufzuerlegen, daß du morgen früh vor dem Frühstück vom verbum personale an bis hinab zum simillima cigno den ganzen Abschnitt ohne Anstoß auswendig hersagst.«
»Das habe ich nicht wollen, Ma'am«, begann der kleine Paul.
»Ich muß dich bitten, mich nicht mit dem zu behelligen, was du nicht meinst, Dombey«, versetzte Miß Blimber, die in ihren Ermahnungen stets eine ehrfurchtgebietende Feinheit beobachtete. »Dies wäre eine Art von Erwiderung, an deren Zulassung ich nicht im Traume denken möchte.«
Paul hielt es für das Geratenste, gar nichts mehr zu sagen, und blickte deshalb nur zu Miß Blimbers Brille auf. Nachdem diese dann gravitätisch den Kopf geschüttelt hatte, deutete sie auf ein vor ihr liegendes Papier.
»›Analysis des Charakters von P. Dombey‹. Wenn mich mein Gedächtnis nicht trügt«, fügte Miß Blimber abbrechend hinzu, »so wird das Wort Analysis im Gegensatz von Synthesis von Walker also definiert: ›die Auflösung eines Objekts, mag dies nun ein solches für die Sinne oder den Verstand sein, in seine ersten Elemente‹. Du bemerkst – im Gegensatz zur Synthesis. Jetzt weißt du, was Analysis ist, Dombey?«
Es hatte den Anschein, als sei Dombey nicht absolut geblendet von dem Licht, das seinem Geiste vorgeführt wurde; er machte daher vor Miß Blimber eine kleine Verbeugung.
»›Analysis‹, nahm Miß Blimber wieder auf, indem sie ihre Blicke über das Papier gleiten ließ, »›des Charakters von P. Dombey. Ich finde, daß die natürlichen Anlagen Dombeys ungemein gut sind, und daß im allgemeinen seine Geneigtheit zum Studium in gleicher Weise prädiziert werden kann. Nehmen wir nun acht als unsere höchste und erforderliche Nummer an, so stellt es sich heraus, daß Dombeys derartige Qualifikationen je mit 6 ¾ bezeichnet werden dürften‹.«
Miß Blimber hielt inne, um zu sehen, wie Paul diese Neuigkeit aufnahm. Da der Knabe nun nicht wußte, ob unter sechs drei Viertel, sechs Pfund fünfzehn Schillinge, oder sechs Pence und drei Farthings, vielleicht auch sechs Fuß drei Zoll, drei Viertel über sechs Uhr, oder sechs andere Dinge nebst drei Bruchteilen darüber, von denen er noch nichts gehört hatte, gemeint waren, so rieb er sich die Hände und schaute Miß Blimber gerade ins Gesicht. Zufälligerweise stimmte dies ebenso gut als irgend etwas anderes, was er hätte sagen können, und Cornelia fuhr fort.
»›Gewalttätigkeit – zwei. Selbstsucht – zwei. Vorliebe für gemeine Gesellschaft, wie sich im Falle einer Person namens Glubb herausgestellt hat – ursprünglich sieben, seitdem aber gemindert. Gentlemanisches Benehmen – vier, sich bessernd mit fortschreitenden Jahren‹. Worauf ich nun aber zuvörderst deine Aufmerksamkeit lenken möchte, Dombey, dies ist der allgemeine Überblick am Schluß dieser Analysis.«
Paul schickte sich an, demselben mit großer Sorgfalt zu folgen. »Im allgemeinen kann von Dombey bemerkt werden,« sprach Miß Blimber, mit lauter Stimme vorlesend und nach jedem zweiten Wort ihre Brille auf die kleine Gestalt vor ihr richtend, »daß seine Fähigkeiten und Neigungen gut sind, er außerdem auch so viele Fortschritte gemacht hat, als den Umständen nach nur von ihm erwartet werden konnte. Indes ist zu beklagen, daß dieser junge Gentleman in seinem Charakter und Benehmen eine Eigentümlichkeit hat, die man gewöhnlich altmodisch nennt – daß er oft ganz und gar nicht ist wie andere junge Gentlemen seines Alters und seiner gesellschaftlichen Stellung, ohne sich übrigens etwas dabei zu Schulden kommen zu lassen, was entschieden eine Rüge verdiente. »Nun, Dombey«, fügte Miß Blimber bei, indem sie das Papier niederlegte, »verstehst du dies?«
»Ich glaube, Ma'am«, sagte Paul.
»Du siehst, Dombey«, fuhr Miß Blimber fort, »diese Analysis soll an deinen wertgeschätzten Vater geschickt werden. Es wird ihm natürlich sehr schmerzlich fallen, wenn er finden muß, daß du so absonderlich in deinem Charakter und Benehmen bist. Auch uns wird es, wie sich begreifen läßt, zu einem peinlichen Gefühl, denn du siehst selbst ein, Dombey, daß wir dich um dieses Umstandes willen nicht so lieben können, wie wir gern möchten.«
Sie faßte hier den Knaben an einem verfänglichen Punkte, denn in seinem Innern war es, da die Zeit der Abreise herannahte, mit jedem Tage mehr sein angelegentliches Verlangen gewesen, daß alle im Hause ihn lieben möchten. Aus irgendeinem geheimen Grunde, den er – wenn überhaupt – nur unvollkommen verstand, fühlte er eine allmählich sich steigernde Zuneigung fast für jeden Gegenstand und für alle Personen seiner Umgebung, Er konnte den Gedanken nicht ertragen, daß man gleichgültig gegen ihn sein könnte, wenn er weg wäre, und sehnte sich deshalb danach, man möchte ihn in freundlicher Erinnerung behalten. Ja, er hatte sich's sogar zur Aufgabe gemacht, einen großen, wilden, zottigen Hund, der an der Hinterseite des Hauses an einer Kette lag und früher der Schrecken seines Lebens gewesen war, so für sich zu gewinnen, daß das Tier ihn vermissen möchte, wenn er nicht länger da wäre. Wenig daran denkend, daß er hierin aufs neue nur wieder den Unterschied zwischen sich und seinen Kameraden zeigte, machte der arme kleine Paul Miß Blimber Vorstellungen, so gut er konnte, und bat sie, daß sie, ungeachtet der offiziellen Analysis, die Güte haben möchte, es doch zu versuchen, ob sie ihn nicht lieben könne. Da eben Mrs. Blimber kam, so stellte er an diese Dame dasselbe Gesuch, und als sie sich sogar in seiner Gegenwart nicht enthalten konnte, ihrer oft wiederholten Ansicht Worte zu leihen und zu erklären, daß er ein merkwürdiges Kind sei, entgegnete Paul, er sei überzeugt, daß sie hierin vollkommen recht habe; er wisse es freilich nicht, und er glaube, es müsse in ihm liegen, aber eben deshalb hoffe er, sie werde es übersehen, denn er habe sie alle so lieb.
»So lieb natürlich nicht«, fuhr Paul mit einer Mischung von Schüchternheit und unverhohlenem Freimut fort, die zu den eigentümlichsten und gewinnendsten Eigenschaften des Kindes gehörten – »so lieb nicht wie Florence, denn dies wäre unmöglich. Dies könnt Ihr gewiß auch nicht erwarten, Ma'am.«
»O, die altmodische kleine Seele!« bemerkte Mrs. Blimber im Flüstertone.
»Aber ich liebe jedermann hier recht sehr«, fuhr Paul fort, »und es würde mir leid tun, wenn ich bei meinem Weggehen denken müßte, es sei irgend jemand froh, daß ich fort sei, oder es kümmerte sich niemand um mich.«
Mrs. Blimber kam nicht recht mit sich ins klare, ob Paul nicht das seltsamste Kind von der Welt sei, und als sie dem Doktor den Vorfall mitteilte, wußte dieser der Ansicht der Gattin nichts entgegenzuhalten. Er bemerkte übrigens, wie schon bei einer früheren Gelegenheit, als Paul zum erstenmal ins Haus kam, das Studium werde viel tun, weshalb er denn auch jetzt seiner Tochter den Rat gab, sie solle nur rasch vorwärts mit ihm zu kommen suchen.
Cornelia hatte freilich schon alles aufgeboten, was in ihren Kräften lag, und dadurch Pauls Leben bitterlich vergällt. Aber abgesehen davon, daß der Knabe sich alle Mühe gab, seine Aufgaben zu erlernen, hatte er sich doch auch noch ein anderes Ziel gesteckt, an dem er eifrig festhielt. Er war ein sanftes, anstelliges, ruhiges Bürschlein, das sich stets Mühe gab, sich die Liebe und Anhänglichkeit seiner Umgebung zu erringen, und obgleich man ihn oft auf seinem alten Posten an der Treppe oder an seinem einsamen Fenster sah, wo er die Wellen und Wolken beobachtete, so fand man ihn doch noch öfter unter den übrigen Knaben, denen er in aller Bescheidenheit manche freiwillige kleine Dienste leistete. So kam es denn, daß selbst unter diesen starren, vom Studium in Anspruch genommenen jungen Anachoreten, die sich unter Doktor Blimbers Dach abquälten, Paul ein Gegenstand allgemeinen Interesses war – ein gebrechliches kleines Spielzeug, das man insgesamt gern hatte, und das niemand rauh behandelt haben würde. Aber sie konnten weder Pauls Wesen ändern, noch seine Analysis umschreiben, und so waren alle darin einig, daß der kleine Dombey ein altmodischer Knabe sei.
Indes knüpften sich an diesen Charakter manche Vorrechte, deren sich niemand anders erfreute. Man hätte weit eher ein neumodisches Kind missen können, und dies allein war schon viel. Wenn an Abenden, ehe man zu Bett ging, die übrigen sich nur vor Doktor Blimber und seiner Familie verbeugten, pflegte Paul sein Händchen auszustrecken und es sowohl dem Doktor, als auch Mrs. Blimber und Cornelia hinzureichen. Handelte sich's darum, von jemand eine Strafe durch Fürbitte abzuwenden, so war Paul stets der Abgesandte. Sogar der blödsichtige junge Mann hatte sich einmal mit ihm beraten, als es eine Ungeschicklichkeit in betreff von Glas und Porzellan zu vermitteln gab, und man trug sich mit dem unbestimmten Gerücht, daß selbst der Aufwärter ihm eine Geneigtheit erweise, wie dieser finstere Mann sie nie zuvor gegen einen sterblichen Knaben an den Tag gelegt hatte, indem er zuweilen in sein Tischbier etwas Porter mischte, um ihm mehr zu Kräften zu verhelfen.
Außer diesen sehr umfangreichen Privilegien erfreute sich Paul noch des Rechtes, frei in Mr. Feeders Zimmer treten zu dürfen, aus dem er Mr. Toots zweimal in die Luft hinausgeführt hatte, weil dieser Gentleman infolge eines unglücklichen Versuchs, eine sehr starke Zigarre zu rauchen, fast ohnmächtig geworden war. Diese Zigarre war ein Exemplar aus einem Bündel, das Mr. Toots am Ufer heimlich einem verzweifelten Schmuggler abgekauft hatte, der ihm selbst im Vertrauen mitteilte, daß von der Zollbehörde zweihundert Pfund, tot oder lebendig, auf seinen Kopf gesetzt seien. Mr. Feeders Zimmer war klein, und in einem Alkoven nebenan stand das Bett des Lehrgehilfen. Über dem Kamin hing eine Flöte, die Mr. Feeder noch nicht spielen konnte, obschon er, wie er sagte, im Begriffe war, sie nächstens zu lernen. Man sah auch einige Bücher und eine Angelrute, denn Mr. Feeder versicherte, er werde sich's sicherlich angelegen sein lassen, fischen zu lernen, sobald er Zeit dazu finde. In ähnlicher Absicht hatte sich Mr. Feeder auch ein schönes kleines Klapphorn aus zweiter Hand angeschafft – ferner ein Schachbrett mit Figuren, eine spanische Grammatik, Zeichenmaterial und ein Paar Boxhandschuhe. Die Kunst der Selbstverteidigung, meinte Mr. Feeder, müsse er sich ohne Zweifel zunächst zu eigen machen; dies sei die Pflicht eines jeden Mannes, da sie leicht dazu Anlaß gebe, zum Schutze für ein bedrängtes Frauenzimmer einzustehen.
Das Hauptbesitztum des Mr. Feeder bestand jedoch in einer großen grünen Flasche mit Schnupftabak, die Mr. Toots beim Schlusse der letzten Ferien als Geschenk mitgebracht und für die er einen hohen Preis bezahlt hatte, weil sie versichertermaßen früher im Besitz des Prinz-Regenten gewesen war. Zwar konnte weder Mr. Toots noch Mr. Feeder von diesem oder irgendeinem andern Schnupftabak, selbst in den winzigsten Dosen, Gebrauch machen, ohne von einem wahren Nieskrampfe befallen zu werden, aber dennoch machte es ihnen großes Vergnügen, eine Dosis mit kaltem Tee anzufeuchten, die Masse auf einem Pergamentstreifen mit der Papierschere durchzukneten und hin und wieder etwas davon zu konsumieren. Während sie so ihre Nasen vollstopften, ertrugen sie die erstaunlichsten Plagen mit der Beharrlichkeit von Märtyrern, und wenn sie in Zwischenräumen Tafelbier dazu tranken, empfanden sie an sich alle die Herrlichkeit üppiger Verschwendung.
Für den kleinen Paul, der oft stumm in ihrer Gesellschaft an der Seite seines Hauptgönners Mr. Toots saß, hatten diese Schlemmerstunden einen wahren Zauber, und wenn Mr. Feeder von den dunkeln Mysterien Londons sprach, oder Mr. Toots sich dahin äußerte, daß er in den nächsten Ferien alle Verzweigungen derselben persönlich aufs genaueste beobachten wolle – ja, daß er zu diesem Zwecke bereits Vorkehrungen getroffen habe, um bei zwei alten Jungfern zu Peckham in die Kost gehen zu können, sah ihn Paul an, als sei er der Held irgendeines Buchs voll von wilden Reise- und andern Abenteuern, und kriegte fast Angst vor einer so mutigen Person.
Eines Abends, als die Ferien nur noch um einige Tage entfernt waren, kam Paul in dieses Zimmer und traf Mr. Feeder, wie dieser eben in einigen gedruckten Schreiben freigelassene Stellen ausfüllte, während einige andere, deren Lücken bereits ergänzt waren, zerstreut umherlagen und von Mr. Toots gefaltet und gesiegelt wurden.
»Ah, bist du'«, Dombey?« – denn die beiden waren stets sehr freundlich gegen ihn und freuten sich, ihn zu sehen. Dann fuhr der Lehrgehilfe fort, indem er einen der Briefe ihm hinwarf: »Wir haben dich auch da, Dombey. Dieses Schreiben gilt dir.«
»Mir, Sir?« fragte Paul.
»Ja, 's ist deine Einladung«, entgegnete Mr. Feeder.
Paul betrachtete das Papier und fand, mit Ausnahme seines Namens und des Datums, die von Mr. Feeder eingetragen waren, in Kupferdruck, daß Doktor und Mrs. Blimber sich das Vergnügen von Mr. P. Dombeys Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monats erbäten; die Stunde sei halb acht Uhr und der Zweck seien Quadrillen. Mr. Toots zeigte ihm dann, indem er einen ähnlichen Bogen Papier entfaltete, daß Doktor und Mrs. Blimber sich auch das Vergnügen von Mr. Toots Gesellschaft zu einer Partie auf Mittwochabend den siebenzehnten gegenwärtigen Monate erbaten: die Stunde gleichfalls um halb acht Uhr und der Zweck wären Quadrillen. Während nun Paul den Tisch überblickte, an dem Mr. Feeder saß, bemerkte er, daß Doktor und Mrs. Blimber zu derselben gentilen Gelegenheit sich nicht nur das Vergnügen der Gesellschaft von Mr. Briggs und Mr. Tozer, sondern auch von einem jeden jungen Gentleman der Anstalt erbaten.
Mr. Feeder teilte ihm sofort zu seiner großen Freude mit, daß auch Florence eingeladen sei. Es handle sich um ein halbjährlich wiederkehrendes Fest, und da mit diesem Tage auch die Ferien beginnen würden, so könne er, wenn er wolle, unmittelbar von dieser Partie aus mit seiner Schwester den Heimweg antreten – eine Mitteilung, die Paul mit großer Freude aufnahm, indem er sagte, daß er sich recht sehr auf die Rückreise freue. Mr. Feeder gab ihm sodann zu verstehen, man erwarte von ihm, er werde Doktor und Mrs. Blimber in einem sehr schönen Handschreiben mitteilen, daß Mr. P. Dombey sich glücklich schätze, wenn er infolge der höflichen Einladung die Ehre haben könne, seine Aufwartung zu machen. Zum Schluß bemerkte der Lehrgehilfe noch weiter, er werde gut tun, in der Nähe des Doktors und der Miß Blimber des festlichen Anlasses nicht zu erwähnen, da die Präliminarien und sämtliche Vorbereitungen nach den Grundsätzen der Klassizität und der seinen Bildung eingeleitet würden; es müsse nämlich den Anschein gewinnen, als hätten einerseits der Doktor und Mrs. Blimber, andererseits aber die jungen Gentlemen in ihren scholastischen Kapazitäten nicht die mindeste Vorstellung von dem, was in Aussicht stehe.
Paul dankte Mr. Feeder für diese Andeutungen, steckte seine Einladung in die Tasche und setzte sich, wie gewöhnlich, neben Mr. Toots auf einen Schemel nieder. Aber Paul fühlte diesen Abend, daß sein Kopf, der ihn schon lange Zeit mehr oder weniger geschmerzt hatte, recht schwer und leidend wurde – so schwer, daß er ihn mit der Hand stützen mußte. Gleichwohl sank er allmählich immer weiter und weiter nieder, bis er auf Mr. Toots' Knie zu liegen kam, wo er ruhen blieb, als habe er nicht im Sinn, sich je wieder aufzurichten.
Dies war nun gerade kein Grund, warum er taub sein mußte; indes mochte es doch, wie er meinte, bei ihm so weit gekommen sein, denn er vernahm endlich, wie ihm Mr. Feeder in die Ohren rief und ihn leicht schüttelte, um seine Aufmerksamkeit zu wecken. Und als er ganz verschüchtert den Kopf erhob und umherschaute, fand er, daß sich Doktor Blimber im Zimmer befand, das Fenster offen stand und seine Stirne von zum Besprengen gebrauchtem Wasser feucht war, obschon er sich durchaus nicht denken konnte, wie all dies ohne sein Wissen vor sich gegangen sein sollte.
»Ah! recht so! So ist's gut! Wie geht es jetzt meinem kleinen Freund?« sagte Doktor Blimber ermutigend.
»O, ganz gut, danke Euch, Sir«, sagte Paul.
Mit dem Boden schien es übrigens eine eigentümliche Bewandtnis zu haben, denn Paul konnte nicht fest darauf stehen, und etwas Ähnliches mußte mit den Wänden der Fall sein, denn sie hatten Lust, stets sich im Kreise zu drehen, und konnten nur dann festgehalten werden, wenn er recht scharf darnach hinsah. Mr. Toots' Kopf sah aus, als sei er mit einem Male viel größer geworden und befinde sich in einem weit größeren Abstand als sonst, und als dieser Gentleman Paul auf seine Arme nahm, um ihn die Treppe hinaufzutragen, bemerkte der Knabe mit großem Erstaunen, daß sich die Tür an einem ganz anderen Platz befand, als er sie zu finden erwartete, ja, es kam ihm anfangs vor, als gehe Mr. Toots mit ihm geradeswegs den Schornstein hinauf.
Es war von Mr. Toots sehr freundlich, daß er Paul mit so viel Zartheit nach dem oberen Teile des Hauses hinauftrug, und der Kleine drückte ihm seine Anerkennung aus. Mr. Toots aber sagte, er würde gern noch viel mehr für ihn tun, wenn er könnte, und tat es auch, indem er Paul auskleiden half, ihn aufs liebevollste zu Bett brachte und dann unter vielem Kichern neben dem Lager Platz nahm. Mr. Feeder, B. A., dagegen lehnte sich über die untere Seite der Bettstelle weg, strich mit seinen knöchernen Händen die kleinen Borsten seines Kopfes bolzgerade, als habe er Lust, nun alles wieder recht sei, mit großer Wissenschaftlichkeit und als echter Kampfhahn gegen Paul anzurennen. Dies war so ungemein spaßhaft und obendrein so freundlich von Mr. Feeder, daß Paul, der nicht recht mit sich ins klare kommen konnte, ob er über ihn lachen oder weinen sollte, lieber beides zugleich tat.
Wie sodann Mr. Toots hinwegging und Mr. Feeder sich in Mrs. Pipchin umwandelte, – Paul dachte nicht daran, hierüber eine Frage zu stellen und war durchaus nicht neugierig, es zu erfahren – als er übrigens statt Mr. Feeder Mrs. Pipchin an der Unterseite des Bettes stehen sah, rief er ihr zu:
»O, Mrs. Pipchin, sagt es Florence nicht.«
»Was soll ich Florence nicht sagen, mein kleiner Paul«, fragte Mrs. Pipchin, indem sie um das Bettchen herum ging und sich auf den Stuhl setzte.
»Wie es mit mir steht«, sagte Paul.
»Nein, nein«, entgegnete Mrs. Pipchin.
»Was glaubt Ihr wohl, was ich zu tun gedenke, wenn ich groß bin, Mrs. Pipchin?« sagte Paul, indem er auf seinem Kissen das Antlitz gegen sie kehrte und das Kinn auf seinen gefalteten Händchen ruhen ließ.
Mrs. Pipchin konnte es nicht erraten.
»Ich habe im Sinne«, fuhr Paul fort, »all mein Geld miteinander in eine einzige Bank zu legen. Ich werde nie versuchen, noch mehr zu kriegen, sondern will mit meiner lieben Florence aufs Land ziehen, mir einen schönen Garten mit Feldern und Wäldern anschaffen und dort mein ganzes Leben mit ihr zubringen.«
»Wirklich?« rief Mrs. Pipchin.
»Ja«, sagte Paul, »So will ich's halten, wenn ich –«
Er hielt inne und sann einen Augenblick nach.
Mrs. Pipchins graues Auge forschte in seinem sinnigen Gesicht.
»Wenn ich groß bin«, sagte Paul.
Dann fuhr er fort, Mrs. Pipchin von der Abendpartie, von Florences Einladung und von der Freude zu erzählen, die es ihm machen werde, Zeuge der Bewunderung zu sein, die alle die Knaben für sie fühlen müßten; sie seien auch so freundlich gegen ihn, liebten ihn, und er liebe sie gleichfalls – ein Verhältnis, über das er recht froh sei. Auch von der Analysis wußte er zu erzählen: er sei freilich ein altmodischer Knabe, möchte aber doch auch Mrs. Pipchins Ansicht darüber hören, – ob sie nämlich nicht wisse, warum es so sei und was man darunter verstehen müsse. Mrs. Pipchin leugnete, um sich der Schwierigkeit auf die kürzeste Weise zu entwinden, die Tatsache geradezu ab: Paul war jedoch mit dieser Antwort durchaus nicht zufrieden und sah Mrs. Pipchin, um ihr eine wahrere Antwort abzuringen, so spähend an, daß sie aufstehen und zum Fenster hinaussehen mußte, um seine Augen zu vermeiden.
Es gab einen gewissen zuverlässigen Apotheker, der, wenn einer von den jungen Gentlemen krank war, die Anstalt ärztlich zu beraten pflegte, und auch dieser geriet – Gott weiß wie – in das Zimmer, um sich neben Mrs. Blimber an dem Bett aufzustellen. Paul hatte wenigstens nicht die mindeste Idee davon, wie sie hereingekommen und wie lange sie dagewesen waren: als er sie aber sah, richtete er sich in seinem Bett auf, beantwortete sämtliche Fragen des Apothekers ausführlich und flüsterte ihm zu, Florence dürfe um alles in der Welt nichts davon erfahren, denn er habe sich's in den Kopf gesetzt, daß sie sich bei der Abendgesellschaft einfinden müsse. Er plauderte viel mit dem Apotheker und sie schieden als die besten Freunde: als er sich jedoch mit geschlossenen Augen wieder niederlegte, hörte er außerhalb des Zimmers und in weiter Entfernung den Apotheker sagen – oder träumte er nur davon –, es handle sich um einen Mangel an vitalen Kräften (Paul hätte gar gern wissen mögen, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe) und um eine große konstitutionelle Schwäche. Da der Kleine darauf erpicht sei, am siebenzehnten sich von seinen Schulkameraden zu verabschieden, so könne man ihm wohl den Willen lassen, falls es bis dahin nicht schlimmer mit ihm werde. Er sei froh, von Mrs. Pipchin zu erfahren, daß der Knabe am achtzehnten zu seinen Freunden nach London abreise. Sobald er in der Sache klarer sehe, wolle er noch vor Beginn der Ferien an Mr. Dombey schreiben. Es sei kein unmittelbarer Grund vorhanden, zu – was? Dieses Wort war Paul entgangen. Das Bürschlein habe ein recht liebes Gemüt, sei aber gleichwohl ein altmodischer Knabe.
Welche alte Mode mochte man wohl damit im Auge haben? Paul wunderte sich darüber mit klopfendem Herzen. Sie mußte ihm wohl sehr deutlich aufgedrückt sein, weil sie von so vielen Leuten bemerkt wurde.
Er konnte jedoch in der Sache nicht ins klare kommen und mochte sich auch nicht lange damit abmühen. Mr«. Pipchin befand sich wieder an seinem Bett, wenn sie sich überhaupt je davon entfernt hatte. Er meinte zwar, sie sei mit dem Doktor weggegangen, aber dies war vielleicht bloß ein Traum gewesen. Kurz, sie nahm in geheimnisvoller Weise eine Flasche und ein Glas in die Hand und schenkte den Inhalt für ihn ein. Sodann genoß er eine wirklich gute Brühe, die ihm Mrs. Blimber selbst gebracht hatte, und er fühlte sich so wohl nachher, daß Mrs. Pipchin, seinen dringenden Bitten entsprechend, nach Hause ging und Mrs. Briggs und Tozer heraufkamen, um sich zu Bett zu legen. Der arme Briggs räsonierte schrecklich über seine eigene Analysis, die ihn kaum mehr hätte dekomponieren können, wenn sie ein wirklicher chemischer Prozeß gewesen wäre: indes benahm er sich sehr freundlich gegen Paul, und Tozer, wie auch alle übrigen, taten das gleiche, denn von den jungen Gentlemen schaute vor dem Schlafengehen einer nach dem andern herein und fragte, wie es Dombey jetzt gehe – er solle nur wohlgemut sein, und dergleichen. Nachdem Briggs in die Federn gekrochen war, blieb er noch lange Zeit wach liegen und lamentierte in einem fort über seine Analysis, indem er sagte, »er wisse wohl, sie sei durchaus falsch, und man hätte einen Mörder nicht schlechter analysieren können – wie es wohl Doktor Blimber gefallen würde, wenn er wisse, daß sein Taschengeld davon abhänge. Es sei sehr leicht, meinte Briggs, einen Knaben für ein halbes Jahr zum Galeerensklaven zu machen und ihn dann als einen Müßiggänger anzuschwärzen – zweimal in der Woche ihn um sein Mittagessen zu verkürzen und ihn dann als einen Fresser zu bezeichnen. So etwas«, sagte er, »könne man sich unmöglich gefallen lassen«, und dann ging es noch geraume Zeit mit Ach und O fort.
Ehe der blödsichtige junge Mensch am nächsten Morgen die Metallplatte ertönen ließ, kam er zu Paul herauf und teilte ihm mit, daß er liegen bleiben dürfe, worüber Paul sehr froh war. Mrs. Pipchin besuchte ihn eine Weile vor dem Apotheker, und bald nachher kam die gute junge Frauensperson, die Paul an jenem ersten Morgen – wie lang schien ihm dies nicht her zu sein! – beim Reinigen des Ofens getroffen hatte. Sie brachte ihm sein Frühstück. Es fand wieder in weiter Entfernung eine abermalige Konsultation statt – wenn es nicht anders ein Traum unseres Paul war, und dann kam der Apotheker mit dem Doktor und Mrs. Blimber zurück.
»Ich denke, Doktor Blimber«, sagte er, »wir können diesen jungen Gentleman jetzt seiner Bücher entbinden, da ohnehin die Ferien nahe sind.«
»Ich habe durchaus nichts dagegen einzuwenden«, versetzte Doktor Blimber. »Meine Liebe, willst du die Güte haben, Cornelia davon zu unterrichten.«
»Soll geschehen«, entgegnete Mrs. Blimber.
Der Apotheker beugte sich nieder, betrachtete sorgfältig Pauls Augen, befühlte seinen Kopf, seinen Puls, sein Herz und tat alles dies mit so viel Teilnahme, daß Paul zu ihm sagte:
»Ich danke Euch, Sir.«
»Unser kleiner Freund hat nie über etwas geklagt.«
»Ich glaube es wohl«, versetzte der Apotheker. »Man durfte es auch nicht erwarten.«
»Ihr findet ihn viel besser?« fragte Doktor Blimber.
»O ja: er ist viel besser, Sir«, erwiderte der Apotheker.
Paul begann in der ihm eigentümlichen, seltsamen Weise sich Gedanken darüber zu machen, was wohl in jenem Augenblick den Sinn des Apothekers beschäftigen mochte; denn er sah so bedenklich aus, als er Doktor Blimbers beide Fragen beantwortete. Der Apotheker begegnete jedoch den Blicken seines kleinen Patienten, als sie eben diesen geistigen Spürgang antreten wollten, und ging aus seiner Zerstreutheit augenblicklich in ein heiteres Lächeln über, das Paul erwiderte, indem er seine früheren Gedanken darüber aufgab.
Den ganzen Tag lag er schlummernd und träumend in seinem Bett, während Mr. Toots nicht von seiner Seite wich: am nächsten aber stand Paul auf und ging die Treppe hinunter. Siehe da, es mußte etwas mit der großen Wanduhr vorgegangen sein, denn ein Mechanikus, der auf einem Trippel stand, hatte das Zifferblatt heruntergenommen und tastete bei dem Licht einer Kerze mit seinen Instrumenten in dem Werk herum. Dies war ein großes Ereignis für Paul, der sich auf der untersten Treppe niedergesetzt hatte und der Operation aufmerksam zusah. Hin und wieder schaute er nach dem Zifferblatt hin, das schräg an der Wand lehnte, und es wurde ihm ganz angst dabei, denn es kam ihm vor, als ob es ihn mit großen Augen angucke. Der Mechanikus auf dem Trippel war sehr höflich und fragte, als er Pauls ansichtig wurde: »Wie geht's dir?« Paul ließ sich in eine Unterhaltung mit ihm ein und erzählte ihm, daß er in letzter Zeit nicht ganz wohl gewesen sei. Nachdem das Eis in dieser Weise gebrochen war, stellte Paul eine Menge Fragen über Glockentöne und Uhren: ob wohl des Nachts Leute in den einsamen Kirchtürmen wachten und schlagen ließen, wie die Glocken läuteten, wenn Leute sterben, und ob es andere Glocken für Hochzeiten gebe, oder ob die ersteren nur in der Einbildung der Lebenden so unheimlich tönten. Als er fand, daß sein neuer Bekannter in betreff der Feuerlöschglocke alter Zeiten nicht sehr gut unterrichtet war, erteilte er ihm Auskunft darüber und fragte ihn auch als einen Praktiker über seine Gedanken von der Idee des Königs Alfred, der die Zeit durch Verbrennen von Kerzen messen wollte. Der Mechaniker meinte, wenn etwas der Art wieder aufkäme, so glaube er, daß das ganze Uhren-Handwerk darüber zugrunde gehen müßte. Und so sah Paul zu, bis die Uhr endlich wieder ihr gewöhnliches Aussehen gewonnen hatte und abermals ihre ruhige Frage aufnehmen konnte. Dann legte der Mechanikus sein Werkzeug in einen großen Korb, wünschte ihm guten Tag und entfernte sich – aber nicht eher, bis er auf der Türmatte dem Bedienten einige Worte zugeflüstert hatte, in denen der Ausdruck »altmodisch« vorkam. Paul hatte denselben ausdrücklich verstanden.
Was mochte wohl das »altmodisch« sein, das die Leute so zu bekümmern schien? Worin konnte es liegen?
Da er jetzt nicht mehr zu lernen hatte, machte er sich häufig Gedanken darüber, obschon nicht so oft, als vielleicht der Fall gewesen wäre, wenn er weniger zu denken gehabt hätte. Stoff dazu gab es übrigens in reicher Menge, und er sann stets den ganzen Tag vor sich hin.
Einmal sollte Florence zu der Abendgesellschaft kommen. Seine Schwester sah dann, wie die Knaben ihn liebten, und dies mußte sie glücklich machen. Hierin fand er ein ergiebiges Thema. Hatte Florence einmal die Überzeugung gewonnen, daß sie sich sanft und gütig gegen ihn benahmen, ja, daß er bei allen so beliebt war, so konnte sie stete an die Zeit denken, die er hier zugebracht hatte, ohne sich sehr darüber zu grämen. Florence war vielleicht dann glücklicher, wenn er wieder zurückkam.
Wenn er wieder zurückkam! Wohl fünfzigmal des Tages glitt sein lautloser kleiner Fuß die Treppe hinauf nach seinem kleinen Stübchen, wo er jedes Buch, jeden Streifen Papier, jede Kleinigkeit, die ihm zugehörte, sammelte, um alles mit nach Haus nehmen zu können. An dem kleinen Paul bemerkte man keinen Schatten, daß er ans Zurückkommen denke; keine Vorbereitungen, keine andere Beziehung darauf war aus allem, was er dachte oder tat, zu entnehmen, als die einzige kleine, die mit seiner Schwester in Verbindung stand. Im Gegenteil, wenn er in seiner beschaulichen Stimmung im Hause umherwandelte, gab ihm alles, was ihm bekannt war, so viel Stoff zum Nachdenken, als schiede er davon für immer – und der Gegenstände waren in der Tat so viele, daß sie ihn den ganzen Tag über in Anspruch nahmen.
Er mußte in die Stübchen droben hineinsehen und dachte sich dabei, wie einsam sie sein würden, wenn er fort sei; auch hätte er wohl wissen mögen, wie viele stumme Tage, Wochen, Monate und Jahre sie fortfahren würden, ebenso ernst und ruhig auszusehen. Er stellte Betrachtungen darüber an, ob wohl je ein anderes Kind, altmodisch, wie er selbst, zu irgendeiner Zeit darin herumgehen würde – ein Kind, dem sich dieselben wilden Verzerrungen der Tapeten und des Möbelwerks vergegenwärtigten: und ob wohl jemand diesem Knaben vom kleinen Dombey erzählen werde, der einmal hier gewesen.
Ferner trugen sich seine Gedanken mit einem Porträt im obern Stock, das ihm, wenn er wegging und über seine Schultern zurücksah, immer ernst nachblickte und stets nur ihn, nicht aber irgendeinen seiner Kameraden anzuschauen schien, wenn er in Gesellschaft mit andern daran vorbeikam. Dann nahm ihn auch ein Kupferstich sehr in Anspruch, der an einem andern Platze hing: im Mittelpunkt einer verwunderten Gruppe stand eine Figur, die er kannte – eine Figur mit einem Schein um den Kopf, wohlwollend, mild und barmherzig – sie stand da und deutete mit der Hand aufwärts.
An dem Fenster seines Schlafgemachs mischten sich mit diesen noch viele andere Gedanken: sie kamen einer um den andern, wie die rollenden Wellen. Wo lebten wohl die wilden Vögel, die stets auf der See draußen ob den aufgeregten Wogen schwebten; wo stiegen die Wolken auf und wo fingen sie an: woher kam der Wind in seinem rauschenden Flug und wo machte er halt: konnte wohl die Stelle, wo er und Florence so oft gesessen, diesen Dingen zugesehen und darüber gesprochen hatten, in ihrer Abwesenheit gerade so sein, wie sie stets war; konnte sie Florence so vorkommen, wenn er sich an einem andern Orte befand und sie allein dort saß?
Dann kamen ihm Gedanken an Mr. Toots, an Mr. Feeder, B. A., an alle die Knaben, an Doktor Blimber und an Miß Blimber, an die Heimat, an seine Tante und Miß Tox, an seinen Vater Dombey und Sohn, an Walter mit dem armen, alten Onkel, der das Geld erhalten hatte, das er brauchte, und an den Kapitän mit der eisernen Hand und der rauhen Stimme. Außerdem hatte er im Laufe des Tages eine Menge kleiner Visiten zu machen – im Schulzimmer, in dem Studierstübchen des Doktors Blimber, in dem Privatgemach der Mrs. Blimber, bei Miß Blimber und bei dem Hund. Denn er hatte jetzt das ganze Haus frei für sich und konnte darin umherstreifen, wie er wollte. Da er nun wünschte, von jedermann in Liebe zu scheiden, so schenkte er allem in der ihm eigentümlichen Art seine Aufmerksamkeit. Bisweilen suchte er klassische Stellen auf für Briggs, der sie nie finden konnte, zu andern Zeiten schlug er für die jungen Gentlemen, die sich nicht zu helfen wußten, Wörter in den Diktionären nach: ein andermal verrichtete er für Mrs. Blimber das Amt eines Garnhaspels, wieder einmal ordnete er Cornelias Pult, und bisweilen schlich er sogar in das Studierzimmer des Doktors, wo er sich neben den gelehrten Füßen auf den Teppich setzte und sachte die Globusse drehte, so daß er auf der ganzen Erde herumkam oder einen Flug über die entlegensten Sterne hin machte.
In den Tagen unmittelbar vor den Ferien – mit einem Worte, als die andern jungen Gentlemen darauf losarbeiteten, als gälte es ihr Leben, um die Studien des ganzen halben Jahres zu repetieren, war Paul ein so privilegierter Zögling, wie sich nie zuvor einer im Hause aufgehalten hatte. Er konnte kaum seinen Sinnen glauben; aber seine Freiheit dauerte von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag, und der kleine Dombey wurde von jedermann geliebkost, Doktor Blimber nahm so viel Rücksicht auf ihn, daß er eines Tages Johnson aufforderte, er solle sich von der Speisetafel entfernen, weil er ihn unbedachtsamerweise als den »armen kleinen Dombey« angeredet hatte. Dies schien nun freilich unserem Paul ziemlich hart und streng, obschon er für den Augenblick errötet war und sich wunderte, warum wohl John ihn bemitleiden mochte. Diese Handhabung der Gerechtigkeit kam ihm um so bedenklicher vor, weil er abends zuvor mit eigenen Ohren gehört hatte, daß derselbe Doktor in eine Behauptung der Miß Blimber, der arme, liebe, kleine Dombey werde altmodischer als je, eingestimmt hatte. Jetzt fing denn Paul auch an zu glauben, das Altmodische müsse darin bestehen, wenn man sehr schmächtig sei, leicht müde werde und bald Lust zeige, sich irgendwo niederzulegen und auszuruhen: denn daß diese Gewohnheiten mit jedem Tag mehr und mehr bei ihm überhand nahmen, mußte er sich selbst eingestehen.
Endlich kam der Tag heran, an dem die Abendpartie stattfinden sollte, und Doktor Blimber sagte beim Frühstück: »Gentlemen, am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats wollen wir unsere Studien wieder aufnehmen,« Mr. Toots warf nun augenblicklich seine Vasallenschaft ab, steckte seinen Ring an den Finger, und als er kurz nachher im Gespräch des Doktors Erwähnung tat, sprach er von ihm nur als von »Blimber«. Dieses freie Benehmen erfüllte die übrigen Zöglinge mit Bewunderung und Neid: die jugendlicheren Gemüter aber entsetzten sich darob und schienen sich nicht genug wundern zu können, daß kein Blitzstrahl niederfuhr und ihn zerschmetterte.
Weder beim Frühstück noch beim Mittagessen wurde die Abendfeierlichkeit auch nur im mindesten berührt: aber den ganzen Tag über herrschte durch das Haus ein unruhiges Getümmel, und im Lauf seiner Spaziergänge machte Paul Bekanntschaft mit unterschiedlichen fremden Bänken und Leuchtern: auch bemerkte er eine Harfe, die in einem grünen Überrock auf dem Flur neben der Tür des Salons lehnte. Bei dem Mittagessen zeigte der Kopf von Mrs. Blimber etwas Absonderliches, als sei das Haar allzu knapp zusammengedreht worden, und obgleich Miß Blimber auf jeder Seite der Schläfe eine zierliche Lage gescheitelten Haares zeigte, schien sie doch ihre kleinen Locken darunter in Papier und noch obendrein in einen Komödienzettel gewickelt zu haben; denn Paul las: »königliches Theater« über dem einen, und »Brighton« über dem andern ihrer funkelnden Brillengläser.
Als der Abend herannahte, sah man in den Schlafzimmern der jungen Gentlemen eine reiche Schaustellung von weißen Westen und Halsbinden: auch verbreitete sich ein so widerlicher Geruch von versengtem Haar, daß Doktor Blimber durch den Bedienten sein Kompliment vermelden und die Erkundigung anstellen ließ, ob etwa das Haus in Brand geraten sei. Es war übrigens nur der Haarkünstler, der die jungen Gentlemen bediente und in dem Eifer des Geschäfts die Zange allzu heiß gemacht hatte.
Nachdem Paul angekleidet war – hierzu hatte man nicht lange gebraucht, denn er fühlte sich unwohl und schläfrig, so daß er außerstande war, viel an sich machen zu lassen – ging er nach dem Salon hinunter, wo er Doktor Blimber in voller Gala, aber in würdevoller und ungezwungener Haltung, als halte er es für rein unmöglich, daß nachgerade eine oder die andere Person hereintreten könnte, auf und ab spazierte. Bald nachher erschien Mrs. Blimber, die, wie es Paul vorkam, sehr lieblich aussah; sie hatte eine solche Unzahl von Röcken an, daß es eigentlich zu einer Aufgabe wurde, um sie herum zu gehen. Nach der Mama erschien Miß Blimber, zwar etwas zerdrückt in ihrem Äußern, aber doch sehr bezaubernd.
Die nächsten waren Mr. Tools und Mr. Feeder, von denen jeder den Hut in der Hand hatte, wie wenn er nicht im Hause wohnte, und als sie von dem Aufwärter angemeldet wurden, sagte Doktor Blimber: »So, so – dies ist ja sehr schön!« und schien außerordentlich erfreut zu sein, sie zu sehen. Mr. Tools funkelte von Geschmeide und Knöpfen, auch schien er dies selbst in so hohem Grade zu fühlen, daß er, nachdem er dem Doktor die Hand gereicht und sich gegen Mrs. Blimber und Miß Blimber verbeugt hatte, Paul beiseite nahm und ihn fragte:
»Was sagst du zu alledem, Dombey?«
Aber trotz dieses bescheidenen Selbstvertrauens schien doch Mr. Tools sehr darüber im unklaren zu sein, ob es überhaupt vernünftig sei, den untersten Knopf seiner Weste zuzumachen, oder ob er nach ruhiger Erwägung aller Umstände seine Manschetten zurück- oder niedergeschlagen tragen solle. Als er bemerkte, daß Mr. Feeder die seinigen in der ersteren Weise behandelt hatte, so folgte er dessen Beispiel: der nächste Ankömmling aber hatte die seinigen hängend, und dies war Grund genug für Mr. Toots, sich danach zu richten. Die Unterschiede im Punkte des Zuknöpfens der Weste nicht nur unten, sondern auch oben, wurden, je nachdem mehr und mehr Personen anlangten, so zahlreich und verwickelt, daß Mr. Toots unaufhörlich an diesem Anzugsartikel fingerte, als habe er ein Instrument zu spielen, und man sah ihm deutlich an, daß ihn die fortwährende Abänderung ganz aus der Fassung brachte.
Nachdem die jungen Gentlemen in ihren steifen Krawatten, gebrannten Locken, Tanzschuhen und ihren besten Hüten in den Händen zu verschiedenen Zeiten angekündigt und hineingeführt worden waren, erschien endlich auch Mr. Baps, der Tanzlehrer, in Begleitung von Mrs. Baps, gegen die sich Mrs. Blimber besonders wohlwollend und herablassend benahm. Mr. Baps war ein sehr ernster Gentleman von langsamer und abgemessener Redeweise; auch hatte er noch keine fünf Minuten unter der Lampe gestanden, als er sich an Mr. Toots, der stumm seine Tanzschuhe mit den eignen verglichen hatte, wendete und ihn fragte, was er wohl mit dem Rohmaterial anfange, wenn es für ausgelegtes gutes Gold in die Häfen komme. Mr. Toots, den die Frage zu verwirren schien, entgegnete, er würde es »kochen«; aber Mr. Baps machte darauf eine Miene, die andeutete, daß dies wohl nicht angehen würde.
Paul glitt nun von der gepolsterten Sofaecke, die bisher sein Beobachtungsposten gewesen, herunter und begab sich in das Teezimmer hinab, um gleich beim Eintritt Florence begrüßen zu können, die er fast vierzehn Tage nicht gesehen hatte. Doktor Blimber hatte ihn nämlich am letzten Sonnabend und Sonntag zu Hause behalten, damit er sich nicht erkälte. Sie ließ nicht lange auf sich warten und sah in ihrem einfachen Ballkleide mit den frischen Blumen in der Hand so schön aus, daß er es kaum über sich gewinnen konnte, sie wieder loszulassen und sich von ihren funkelnden liebevollen Augen abzuwenden, als sie vor dem Bruder niederkniete, seinen Hals umschlang und ihn küßte; denn es war niemand zugegen, als seine Freundin und ein anderes junges Mädchen, der man das Servieren des Tees übertragen hatte.
»Aber was ist dir, Floy?« fragte Paul, denn er glaubte, in ihren Augen eine Träne glänzen zu sehen.
»Nichts, mein Herz, nichts«, entgegnete Florence.
Paul berührte ihre Wangen sanft mit einem Finger, und es war wirklich eine Träne!
»Warum, Floy?« fragte er.
»Wir gehen jetzt miteinander nach Hause, und ich werde dich pflegen«, versetzte Florence.
»Mich pflegen?« wiederholte Paul.
Paul konnte nicht begreifen, was dies damit zu schaffen haben konnte, – ebensowenig, warum die beiden jungen Mädchen ihn mit so ernster Miene ansahen, oder warum Florence für einen Augenblick ihr Antlitz abwandte und es dann wieder, von einem Lächeln erhellt, ihm zukehrte.
»Floy«, sagte Paul, indem er eine Locke ihres dunkeln Haares in seiner Hand hielt, »sage mir aufrichtig, Liebe, bist auch du der Meinung, daß ich altmodisch geworden sei?«
Seine Schwester lachte, streichelte ihn und antwortete mit einem Nein.
»Ich weiß aber, daß die Leute so sagen«, entgegnete Paul, »und ich möchte wissen, was sie damit meinen, Floy.«
An der Tür ließ sich jetzt ein lauter Doppelschlag vernehmen, und Florence eilte nach dem Tisch, so daß dieser Gegenstand nicht weiter erörtert werden konnte. Paul verwunderte sich abermals, als er bemerkte, daß seine Freundin Florence zuflüsterte, wie wenn sie dieselbe trösten wollte; aber die nun anlangenden Gäste brachten ihn bald wieder auf andere Gedanken.
Sie bestanden aus Sir Barnet Skettles, Lady Skettles und Master Skettles. Master Skettles sollte nach den Ferien in die Anstalt eintreten, und in Mr. Feeders Zimmer war die Fama bereits in Beziehung auf dessen Vater tätig gewesen; denn Mr. Feeder hatte von letzterem gesagt, wenn er einmal den Sprecher ins Auge fasse – man erwartete schon drei oder vier Jahre lang, daß er dies tun werde – könne man im voraus darauf zählen, daß er die Radikalen schlimm mitnehme.
»Was ist z.B. dies für ein Zimmer?« fragte Lady Skettles Pauls Freundin Melia.
»Doktor Blimbers Studierzimmer, Ma'am«, lautete die Antwort.
Lady Skettles nahm durch ihr Glas eine panoramische Musterung vor und sagte mit beifälligem Nicken zu Sir Barnet Skettles:
»Sehr gut.«
Sir Barnet pflichtete bei, aber Master Skettles machte augenscheinlich eine bedenkliche, zweifelhafte Miene.
»Und dieses kleine Wesen da«, sagte Lady Skettles, sich zu Paul wendend – »ist er einer von den –«
»Jungen Gentlemen, Ma'am? Ja, Ma'am«, entgegnete Pauls Freundin.
»Und wie heißt du, blasses Kind?« fragte Lady Skettles. »Dombey«, antwortete Paul.
Nun ergriff Sir Barnet Skettles das Wort und sagte, er habe das Vergnügen gehabt, Pauls Vater bei einem öffentlichen Diner zu treffen – er hoffe, daß sich derselbe wohl befinde. Dann hörte ihn Paul zu Lady Skettles sagen: »City – sehr reich – höchst respektabel – der Doktor hat davon gesprochen.« Hierauf fuhr er gegen Paul fort:
»Willst du die Güte haben, deinem Papa zu sagen, daß Sir Barnet hocherfreut sei, von seinem Wohlbefinden Kunde erhalten zu haben, und daß er ihm seine besten Komplimente sende?«
»Ja, Sir«, antwortete Paul.
»Schön, mein wackerer Junge«, sagte Sir Barnet Skettles. »Barnet«, fügte er gegen Master Skettles gewendet hinzu, der sich für die künftigen Studien an dem Pflaumenkuchen rächte, »dies ist ein junger Gentleman, den du kennenlernen mußt. Dies ist ein junger Gentleman, Barnet, dessen Bekanntschaft du machen darfst«, schloß Sir Barnet Skettles, auf seine Erlaubnis einen großen Nachdruck legend.
»Welche Augen! Welches Haar! Welch ein liebliches Gesicht!« rief Lady Skettles in sanftem Tone, als sie Florence durch ihr Glas betrachtete.
»Meine Schwester«, sagte Paul, indem er sie vorstellte.
Die Freude der Skettlese war nun vollständig. Und da Lady Skettles sich dies beim eisten Augenblick gedacht hatte, weil sie Paul so gar ähnlich sehe, so gingen sie miteinander die Treppe hinauf. Sir Barnet Skettles nahm Florence unter seine Obhut, und der junge Skettles folgte.
Nachdem sie den Salon erreicht hatten, blieb der junge Barnet nicht länger im Hintergrund, denn Doktor Blimber hatte ihn sogleich veranlaßt, daß er mit Florence tanzte. Wie es Paul vorkam, schien er nicht besonders froh, sondern war im Gegenteil etwas störrisch und achtete nicht viel darauf, was er trieb; da aber der kleine Dombey Lady Skettles, während sie mit ihrem Fächer den Takt schlug, zu Mrs. Blimber sagen hörte, ihr lieber Knabe sei sichtlich in diesen Engel von einem Kind, in die Miß Dombey, sterblich verliebt, so mußte sich Skettles junior wohl in einem Glücksrausch befinden, ohne etwas davon merken zu lassen.
Dem kleinen Paul fiel es als merkwürdig auf, daß niemand seinen Sitz auf den Polstern eingenommen hatte, und daß, als er wieder ins Zimmer kam, alle ihm für den Rückweg Platz machten, sich daran erinnernd, daß es der seine sei. Auch trat niemand vor ihn hin, als man bemerkte, daß er Florence so gern tanzen sah, sondern der Raum vor ihm blieb ganz frei, so daß er ihr stets mit seinen Augen folgen konnte. Auch die Fremden, von denen bald viele eintrafen, benahmen sich sehr gütig gegen ihn, denn sie kamen häufig zu ihm, redeten ihn an und fragten ihn, wie er sich befinde, ob ihn der Kopf schmerze, und ob er müde sei. Für alle diese Aufmerksamkeiten fühlte er sich sehr verpflichtet, und er blieb, Mrs. Blimber und Lady Skettles auf dem gleichen Sofa neben sich, in seiner Ecke sitzen, während Florence, so oft sie einen Tanz beendigt hatte, eine Weile an seiner Seite Platz nahm. Bei solchen Gelegenheiten drückte sich das Gefühl des inneren Glücks auf seinem Gesichtchen aus.
Florence würde den ganzen Abend nicht von seiner Seite gewichen sein und aus eigenem Antrieb gar nicht getanzt haben; aber Paul bewog sie dazu, indem er ihr sagte, wie sehr es ihn freue, sie tanzen zu sehen. Auch hatte er hierin vollkommen die Wahrheit gesprochen, denn sein kleines Herz klopfte schneller, und sein Gesicht glühte, als er bemerkte, wie sie von allen bewundert wurde, und wie sie die einzige schöne Rosenknospe des Zimmers war.
Von seinem Nest in den Kissen aus konnte Paul fast alles, was vorging, sehen und hören, als ob das Ganze nur auf seine Unterhaltung berechnet sei. Unter andern kleinen Vorfällen bemerkte er, daß sich der Tanzmeister Mr. Baps mit Sir Barnet Skettles in ein Gespräch einließ und an denselben bald die gleiche Frage wie an Mr. Toots stellte, was er nämlich mit dem Rohmaterial anfinge, wenn es für gute Zahlung in Gold nach den Häfen gelange. Dies klang für Paul so geheimnisvoll, daß er gar zu gern gewußt hätte, was damit zu geschehen habe. Sir Barnet Skettles jedoch hatte auf diese Frage gar viel zu erwidern, wenngleich es nicht den Anschein hatte, als ob sie dadurch zur Lösung kommen sollte, denn Mr. Baps entgegnete:
»Ja, aber gesetzt der Fall, Rußland träte mit seinem Talg dazwischen?« Dies brachte Sir Barnet fast zum Verstummen, denn er konnte darauf bloß den Kopf schütteln und sagen: »Ja nun, dann müssen wir uns eben auf unsere Baumwolle werfen.«
Sir Barnet Skettles sah Mr. Baps nach, wie dieser sich entfernte, um Mrs. Baps aufzuheitern, die, ganz verlassen dastehend, tat, als mustere sie das Notenheft des Gentleman, der die Harfe spielte. Augenscheinlich hielt er ihn für einen merkwürdigen Menschen und erklärte dies bald nachher auch dem Doktor, zu dem er sagte, ob er sich wohl die Freiheit nehmen dürfe, zu fragen, wer dieser Herr sei und ob er wohl je in der Handelskammer gesessen habe. Der Doktor antwortete verneinend; er glaube nicht, daß dies der Fall sei, denn er kenne ihn bloß als einen Professor der –
»Einer mit der Statistik verwandten Wissenschaft – ich wollte darauf schwören!« bemerkte Sir Barnet Skettles.
»Dies gerade nicht, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber, sich das Kinn reibend. »Nein, nicht ganz so.«
»Jedenfalls wollte ich eine Wette darauf eingehen, daß er sich auf Zahlen versteht«, sagte Sir Barnet Skettles.
»Das könnte sein, doch nicht in der Art, wie Ihr meint, Sir«, sagte Doktor Blimber. »Mr. Baps ist ein sehr würdiger Mann, Sir Barnet, und in der Tat nichts anderes, als unser Professor der Tanzkunst.«
Paul war nicht wenig erstaunt, wahrzunehmen, daß diese Mitteilung die Ansicht des Sir Barnet Skettles von Mr. Baps ganz und gar umwandelte, und daß Sir Barnet in eine richtige Wut geriet, und düstere Blicke zu Mr. Baps auf der andern Seite des Zimmers hinüberschoß. Ja, er ging sogar so weit, die Bitterkeit seines Herzens vor Lady Skettles auszuschütten, indem er ihr erzählte, was vorgefallen war, und sich über die unerhörte maßlose Unverschämtheit dieses Menschen ereiferte.
Noch etwas anderes fiel Paul auf. Nachdem nämlich Mr. Feeder etliche Kelche Glühwein zu sich genommen hatte, fing er an, warm zu werden. Der Tanz verlief im allgemeinen sehr formell, und die Musik erinnerte so ziemlich an die in der Kirche; aber nach besagten Kelchen bemerkte Mr. Feeder zu Mr. Toots, daß er nun ein bißchen Feuer in die Sache werfen wolle. Er fing nun nicht nur an zu tanzen, als sei er auf Tanzen erpicht, sondern suchte auch insgeheim die Musik anzuspornen, daß sie lustigere Weisen spiele. Auch wurde er sehr aufmerksam gegen die Damen, und als er mit Miß Blimber tanzte, flüsterte – ich sage flüsterte er ihr zu, obschon nicht so leise, daß nicht für Paul ein Stückchen merkwürdiger Poesie abgefallen wäre:
»Wär' treulos auch mein Herz erschaffen.
Euch könnt es kränken sicher nie!«
Dann hörte Paul ferner, wie er dieselben Worte der Reihe nach vor vier jungen Damen wiederholte. Wohl mochte der B.A. Grund haben, zu Mr. Toots zu sagen, er fürchte, er werde es morgen zu büßen haben.
Mrs. Blimber war ob diesem – beziehungsweise gesprochen – abscheulichen Benehmen etwas beunruhigt, namentlich aber ob der Änderung in dem Charakter der Musik, die jetzt Gassenhauer zu spielen begann, denn die Besorgnis lag nahe genug, es könnte dadurch bei Lady Skettles Anstoß erregt werden. Lady Skettles war jedoch so gütig, Mrs. Blimber zu bitten, sie möchte doch der Sache ja nicht erwähnen, und nahm die Erklärung, daß Mr. Feeders Temperament bei solchen Gelegenheiten gerne Sprünge mache, mit der größten Feinheit und Höflichkeit auf; er scheine ihr, sagte sie, für seine Stellung ein recht gebildeter Mensch zu sein, und namentlich gefalle ihr der anspruchslose Schnitt seines Haars, das, wie wir bereits angedeutet haben, ungefähr ein Viertel Zoll lang war.
Als einmal in dem Tanz eine Pause eintrat, bemerkte Lady Skettles zu Paul, er scheine ein großer Freund von Musik zu sein. Paul erwiderte, daß er Musik sehr liebe, und wenn es bei ihr auch der Fall sei, so sollte sie einmal seine Schwester Florence singen hören. Lady Skettles machte nun plötzlich die Wahrnehmung, daß sie vor Begierde fast sterbe, sich dieses Vergnügens zu erfreuen, und obgleich Florence anfangs sehr ängstlich war, als sie aufgefordert wurde, vor so vielen Leuten zu singen, und aufs dringendste um Entschuldigung bat, begab sie sich doch unverweilt an das Piano, als ihr Paul zurief:
»Ich bitte, tu es, Floy – um meinetwillen, Liebe!«
Alle traten nun ein wenig beiseite, um Paul die Aussicht nicht zu versperren, und als er das zarte Wesen allein dort sitzen sah – so jung, so wohlwollend, so schön und so liebevoll gegen ihn – als er hörte, wie ihre von Natur aus so süße Stimme, dieses goldene Kettenglied zwischen ihm und allem Glück, aller Liebe seines Lebens, das Schweigen brach, wandte er sein Gesicht ab, um seine Tränen zu verbergen. Nicht, wie er sagte, als man ihn darüber befragte, weil die Musik zu wehmütig und melancholisch war – nein, weil sie ihm so warm und lieb zu Herzen ging.
Sie alle liebten Florence. Wie hätten sie auch anders können? Paul hatte es voraus gewußt, daß es so kommen werde und müsse; und wie er so in seiner gepolsterten Ecke dasaß, die Hände ruhig gefaltet und das eine Bein leicht untergeschlagen, konnten sich nur wenige eine Vorstellung machen, welche süße Ruhe er empfand, oder welch einen Triumph, welches Entzücken seinen kindlichen Busen schwellte, während er zu ihr hinblickte. Von seiten sämtlicher Knaben klangen verschwenderische Lobpreisungen über »Dombeys Schwester« an sein Ohr, und auf jeder Lippe drückte sich Bewunderung der ruhigen, bescheidenen, kleinen Schönheit aus. Man sprach unaufhörlich von ihrem Verstand, von ihren Talenten, und wie von Sommernachtslüften getragen verbreitete sich ringsher eine Stimmung voll Sympathie für Florence und ihn – eine Stimmung, die beschwichtigend und rührend auf ihn einwirkte.
Er wußte nicht warum; denn alles, was der Knabe jenen Abend bemerkte, fühlte und dachte – Gegenwärtiges und Abwesendes – was er damals sah und was gewesen war, erschien ihm in dem bunten Farbenspiel des Regenbogens, in dem des Gefieders schöner Vögel, wenn sie von der Sonne beleuchtet werden, oder in dem weichen Lichte des Abendhimmels nach der untergegangenen Sonne. Die vielen Dinge, die in letzter Zeit seinen Geist beschäftigt hatten, schwebten in der Musik an ihm vorbei – nicht als ob sie abermals seine Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen oder ihn je wieder beschäftigen wollten, sondern als Gegenstände, die friedlich vergangen und dahin sind. Ein einsames Fenster, durch das er vor Jahren geschaut hatte, wies hinaus auf einen Ozean, Meilen und Meilen weit; auf seinen Gewässern schlummerten die Phantasien, die ihn erst gestern noch so vielfach beschäftigt hatten, still und ruhig gleich abebbenden Wellen. Dasselbe geheimnisvolle Gemurmel, über das er sich so oft gewundert, wenn er am Gestade auf seinem Ruhebette lag, meinte er noch immer durch den Gesang seiner Schwester, durch das Gesumm der Stimmen und durch die Fußtritte zu hören: er schien teilzuhaben an den Gesichtern, die an ihm vorbeischwebten, und sogar an der schwerfälligen Gentilität des Mr. Toots, der häufig zu ihm kam, um ihm die Hand zu drücken. Er meinte, es zu hören durch das allgemeine Wohlwollen, das ihm zuteil wurde, und selbst der Ruf seines altmodischen Wesens schien damit in Verbindung zu stehen, obschon er nicht wußte, wie. So saß der kleine Paul sinnend, sinnend und horchend, zuschauend und träumend da; er fühlte sich sehr glücklich.
Endlich kam die Zeit zum Abschiednehmen, und nun fand in der Tat unter der Gesellschaft eine große Aufregung statt. Sir Barnet Skettles brachte Skettles junior heran, daß er ihm die Hand reichen solle, und ersuchte ihn, seinem guten Papa unter Vermeidung seiner besten Komplimente zu bemerken, er, Sir Barnet Skettles, habe gesagt, er hoffe, die beiden jungen Gentlemen würden sehr gute Bekannte werden. Lady Skettles küßte ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und hielt ihn in ihren Armen; ja, sogar Mrs. Baps – die arme Mrs. Baps! Paul freute sich darüber – kam von dem Notenheft des harfenspielenden Gentleman herüber und verabschiedete sich von ihm ebenso herzlich wie nur irgend jemand im Zimmer.
»Gott befohlen, Doktor Blimber«, sagte Paul, seine Hände ausstreckend.
»Gott befohlen, mein kleiner Freund«, entgegnete der Doktor.
»Ich danke Euch recht sehr, Sir«, entgegnete Paul, unschuldig zu seinem ehrfurchtgebietenden Gesicht aufblickend. »Habt doch die Güte, zu befehlen, daß man für Diogenes Sorge trage.«
Diogenes war der Hund, der nie zuvor einen Freund in sein Vertrauen aufgenommen hatte. Paul war der erste. Der Doktor gab die Zusage, daß es in Pauls Abwesenheit Diogenes an nichts fehlen solle, und der Knabe dankte abermals dafür, indem er ihm wiederholt die Hand reichte. Dann verabschiedete er sich von Mrs. Blimber und Cornelia mit so herzlich gefühlter Innigkeit, daß erstere von diesem Augenblick an vergaß, Lady Skettles gegenüber des Ciceros zu erwähnen, obschon sie sich den ganzen Abend mit diesem Vorhaben getragen hatte. Cornelia nahm Pauls beide Hände in die ihrigen und sagte:
»Dombey, Dombey, du bist stets mein liebster Zögling gewesen. Gott behüte dich!«
Und hierin zeigte sich Pauls Ansicht nach, wie leicht man einer Person unrecht tun konnte; denn Miß Blimber war es Ernst mit ihren Worten und sie fühlte tief dabei, obschon sie im übrigen gegen ihre Schüler das Zwangssystem liebte.
Und nun lief unter den jungen Gentlemen das Gemurmel herum, daß Dombey gehe. Dem Ruf »der kleine Dombey tritt den Heimweg an!« folgte ein allgemeiner Aufbruch, Paul und Florence nach in die Halle hinunter, und die ganze Familie Blimber schloß sich dem Zuge an. Solches hatte sich, wie Mr. Feeder laut sagte, soweit seine Erfahrung reichte, nie bei einem früheren jungen Gentleman zugetragen; aber es war zweifelhaft, zu ermitteln, ob sich's hier um eine nüchterne Tatsache handelte, oder ob die Kelche auch ihren Teil daran hatten. Die Bedientenschaft, der Tafeldecker an der Spitze, hatte insgesamt ein großes Interesse daran, den kleinen Dombey abreisen zu sehen, und sogar der blödsichtige junge Mann, der Pauls Bücher und Effekten in die Kutsche beförderte, die den Knaben und Florence zum Übernachten nach Mrs. Pipchins Wohnung bringen sollte, zerschmolz sichtlich.
Nicht einmal der Einfluß der sanfteren Leidenschaft auf die jungen Gentlemen – und sie alle waren bis auf den letzten herunter in Florence ganz vernarrt – konnte sie abhalten, sich von Paul sehr lärmend zu verabschieden. Sie schwenkten ihm ihre Hüte nach, drängten sich auf ihn zu, um ihm mit dem Rufe »Dombey, vergiß mich nicht!« die Hand zu reichen, und ergingen sich in vielen ähnlichen Ausrufen, wie man sie unter dergleichen jungen Chesterfields nicht oft findet. Als Florence unsern Paul, ehe die Tür geöffnet wurde, besser einhüllte, flüsterte er ihr zu, ob sie dies höre, ob sie es je vergessen werde, und ob sie sich dieser Teilnahme freue. Bei diesen Fragen lag ein Strahl innigen Entzückens in seinen Augen.
Um einen letzten Blick auf seine Bekannten zu werfen, drehte er sich noch einmal um und war nicht wenig erstaunt, zu sehen, wie glänzend, wie zahlreich und wie dicht aneinander gedrängt die Gesichter waren, wie in einem übervollen Theater. Wahrend er so zu ihnen hinschaute, kamen sie ihm vor wie Köpfe in einem schwankenden Spiegel, und im nächsten Augenblick saß er draußen in der dunklen Kutsche, sich fest an Florence anschmiegend. So oft er von dieser Zeit an Doktor Blimbers Anstalt zurückdachte, vergegenwärtigte sich ihm nur dieser letzte Anblick; sie schien ihm nichts Wirkliches mehr zu sein, sondern stets nur ein Traum, voll von Augen.
Indes war dies nicht die allerletzte Beziehung zu Doktor Blimbers Etablissement, sondern es gab auch noch eine andere. Wir meinen Mr. Toots, der unerwarteter Weise eins von den Kutschenfenstern niederließ, hereinsah und mit einem ganz erstaunlichen Kichern fragte: »Ist Dombey da?« Dann zog er die Blende unverweilt wieder auf, ohne auf eine Antwort zu warten. Aber auch hiermit ließ es Mr. Toots noch nicht bewenden, denn ehe die Kutsche abfahren konnte, machte er mit dem nämlichen Kichern denselben Prozeß an dem andern Fenster, fragte mit dem gleichen Ton der Stimme: »Ist Dombey da?« und verschwand genau so wie früher.
Wie Florence darüber lachte! Paul erinnerte sich oft daran und konnte sich gleichfalls bei solchen Gelegenheiten des Lachens nicht erwehren.
Aber bald nachher – am nächsten Tage und den folgenden – kam noch viel, dessen sich Paul nur verwirrt entsinnen konnte. Warum er zum Beispiel Tage und Nächte in Pipchins Wohnung blieb, statt nach Hause zu gehen, warum er im Bette lag, während Florence an seiner Seite saß, ob sein Vater im Zimmer gewesen oder ob er nur einen hohen Schatten an der Wand gesehen, ob er seinen Doktor oder irgend jemand anders sagen gehört hatte, er hätte wohl vor Gram dahinschwinden können, wenn man ihn von dem Gegenstand entfernt hätte, auf den er im Verhältnis zu seiner Schwäche seine Sympathien so fest gebaut habe.
Er konnte sich nicht einmal erinnern, ob er oft zu Florence gesagt hatte: »o Floy, nimm mich nach Hause und verlaß mich nie!« meinte aber doch, es müsse so gewesen sein. Bisweilen stellte er sich vor, er habe sich selbst wiederholt die Worte sagen hören: »bring' mich nach Hause, Floy – bring' mich nach Hause.«
So viel war ihm übrigens im Bewußtsein, daß er nach Hause gekommen und die wohlbekannten Treppen hinaufgetragen worden war, daß eine Kutsche viele Stunden hintereinander gerasselt habe, während er auf dem Sitz saß, und daß bei dieser Gelegenheit Florence nicht von seiner Seite gewichen, während die alte Mrs. Pipchin den Platz ihm gegenüber eingenommen. Er entsann sich auch seines alten Bettes, in das man ihn wieder legte, seiner Tante, Miß Tox und der Susanna Nipper; aber es war auch etwas anderes da – etwas ihm Neues, das ihn sehr verwirrte.
»Seid so gut, mich mit Florence sprechen zu lassen«, sagte er, »Mit Florence allein – nur für einen Augenblick.«
Sie beugte sich zu ihm nieder, und die andern traten zurück.
»Floy, mein Herz, war nicht der Papa in der Halle, als man mich aus der Kutsche herausholte?«
»Ja, mein Lieber.«
»Nicht wahr, er weinte nicht und ging in sein Zimmer, Floy, als er mich herankommen sah?«
Florence schüttelte ihr Köpfchen und drückte ihre Lippen an seine Wangen.
»Ich bin recht froh darüber, daß er nicht weinte«, sagte der kleine Paul. »Es kam mir so vor. Du mußt nicht davon reden, was ich dich gefragt habe.«
Fünfzehntes Kapitel. ERSTAUNLICHE VERSCHMITZTHEIT DES KAPITÄN CUTTLE UND EIN NEUES GESCHÄFT FÜR WALTER GAY.
Walter konnte mehrere Tage nicht mit sich ins klare kommen, was er eigentlich zu Barbados zu tun habe, und gab sich sogar der schwachen Hoffnung hin, es dürfte Mr. Dombey nicht Ernst gewesen sein oder er könnte seinen Sinn ändern und ihm sagen, daß er nicht zu gehen brauche. Da sich übrigens nichts ereignete, was dieser schon an und für sich sehr unwahrscheinlichen Vorstellung einen Funken von Bestätigung geben konnte, und außerdem die Zeit, deren er keine zu verlieren hatte, pfeilschnell verging, so fühlte er, daß er handeln mußte und nicht länger zögern durfte.
Die Hauptschwierigkeit bestand darin, wie er die Veränderung seiner Angelegenheiten dem Onkel Sol beibringen sollte, den die Kunde natürlich wie ein schwerer Schlag treffen mußte. Um so unangenehmer wurde ihm die Aufgabe, Onkel Sol mit einer so erschütternden Nachricht zu betrüben, weil derselbe in letzter Zeit viel heiterer und das kleine Hinterstübchen wieder ganz so traulich geworden war wie früher. Die erste Rate seiner Schuld an Mr. Dombey hatte Onkel Sol abbezahlt, und so hoffte er auch getrost mit den übrigen ins reine zu kommen; aber jetzt forderte es die traurige Notwendigkeit, ihn aufs neue elend zu machen, nachdem er sich eben so mannhaft aus seiner Drangsal erhoben hatte.
Keinesfalls ging es an, ihn nur so plötzlich zu verlassen, und er mußte im voraus wissen, wie die Sachen standen; aber wie es ihm beibringen? Dies war die Hauptsache. Was die Frage des Gehens oder Nichtgehens betraf, so glaubte Walter hierin keine eigene Wahl zu haben. Mr. Dombey hatte ihm ganz richtig bemerkt, er sei jung und die Lage seines Onkels nicht die beste; auch hatte sich in dem Blick des Prinzipals, mit dem diese Erinnerung begleitet war, deutlich ausgedrückt, wenn er zu Hause bleiben wolle, so könne er es zwar tun, aber mit der Beschäftigung in dem Kontor von Dombey und Sohn habe es dann ein Ende. Sein Onkel und er hatten gegen Mr. Dombey große Verpflichtungen, die durch Walters eigene Veranlassung herbeigeführt worden war. Vielleicht verzweifelte er schon im geheimen, je die Gunst dieses Gentleman zu gewinnen, und hin und wieder mochten ihm auch Anwandlungen kommen, nicht eben die beste Meinung von seinem Prinzipal zu haben, was kaum recht war. Aber auch ohne die eben erwähnte Verbindlichkeit hatte Walter doch Pflichten gegen ihn oder glaubte sie wenigstens zu haben, und die mußten erfüllt werden.
Als Mr. Dombey ihm bemerkt hatte, er sei jung und die Lage seines Onkels nicht gut, war dies mit einem Ausdruck von Geringschätzung geschehen, die verächtlich darauf hinzudeuten schien, als wolle sich's Walter in müßigem Leben wohl sein lassen auf Kosten eines herabgekommenen alten Mannes und dieser Wink traf die edle Seele des Jünglings tief. Er war entschlossen, Mr. Dombey, so weit dies möglich war, ohne sich gerade in Worten darüber ausdrücken zu müssen, die Überzeugung beizubringen, daß man sein Wesen verkannt hatte, und deshalb zeigte er nach der die westindische Expedition betreffenden Unterredung sogar noch größere Heiterkeit und Tätigkeit als zuvor, wenn dies bei einem Menschen von seinem regsamen Eifer möglich war. In seiner Jugend und Unerfahrenheit dachte er nicht daran, daß eben diese Eigenschaft möglicherweise Mr. Dombey unangenehm sein könnte und daß er wohl schwerlich dessen gute Meinung erringen werde, wenn er sich unter dem Schatten seines gewaltigen Grolls so schwungkräftig und hoffnungsvoll benehme, mochte nun dieser ihn mit Recht oder mit Unrecht treffen. Dagegen war es recht wohl denkbar – wir setzen die Möglichkeit voraus –, daß der große Mann in dieser neuen Kundgebung eines ehrlichen Gemüts einen Trotz gegen sich selbst fühlte und deshalb entschlossen war, eine niederschlagende Arznei dagegen in Anwendung zu bringen.
»Nun, endlich und zuletzt muß es Onkel Sol doch erfahren«, dachte Walter mit einem Seufzer, und da er fürchtete, seine Stimme könnte bei der Mitteilung ein wenig beben oder sein Gesicht nicht ganz so hoffnungsvoll aussehen, als er wohl wünschen mochte, wenn er die Kunde dem alten Mann selbst überbrachte – er vergegenwärtigte sich dabei den Eindruck, den sie auf das Antlitz des Greises machen mußte –, so beschloß er, sich der Dienste jenes mächtigen Vermittlers, des Kapitän Cuttle, zu bedienen. Er machte sich deshalb nächsten Sonntag nach dem Frühstück auf den Weg, um abermals Kapitän Cuttles Quartier aufzusuchen.
Auf dem Wege dahin wirkte die Erinnerung nicht unerfreulich auf ihn, daß Mrs. Mac Stinger jeden Sonntagmorgen in einem sehr entfernten Bethause dem Gottesdienst des ehrwürdigen Melchisedek Howler beizuwohnen pflegte, der auf den falschen Verdacht hin, den der allgemeine Feind der Menschheit ausdrücklich gegen ihn hervorgerufen hatte, als bohre er die Fässer an und setze seine Lippen an die Öffnung, eines Tages von den Westindiendocks entlassen worden war. Dieser Ehrenmann hatte auf heute über zwei Jahre, morgens 10 Uhr, den Untergang der Welt angekündigt und ein vorderes Gemach für die Aufnahme von Ladies und Gentlemen von dem Glaubensbekenntnisse der Schreier eröffnet, auf die schon bei der ersten Versammlung die Ermahnungen des ehrwürdigen Melchisedek einen so gewaltigen Einfluß übten, daß die ganze Herde in der verzückten Aufführung eines heiligen Tanzes, mit dem der Gottesdienst schloß, nach der untern Küche durchbrach und eine Wäscherolle zertrümmerte, die einem Mitglied der Gemeinde gehörte.
Diesen Umstand hatte der Kapitän in einem Augenblicke ungewöhnlicher Heiterkeit und zwischen den Wiederholungen der lieblichen Peg am Abend jenes Tages, als der Pfandleiher Brogley ausbezahlt wurde, Walter und seinem Onkel mitgeteilt. Der Kapitän selbst pflegte sich pünktlich in einer nahe gelegenen Kirche einzufinden, die jeden Sonntagmorgen die Flagge der britischen Marine aufhißte, und wo er die Gefälligkeit hatte, wegen Hinfälligkeit des eigentlichen Kirchendieners die Jungen zu beaufsichtigen, über die er kraft seines geheimnisvollen Hakens eine große Gewalt übte. Weil nun Walter die regelmäßige Lebensweise des Kapitäns kannte, so beeilte er sich nach Kräften, ihn noch anzutreffen, ehe er ausging; auch tummelte er sich dabei so sehr, daß er, als er nach Brig-Place umbog, das Vergnügen hatte, den weiten blauen Rock und die Weste des Kapitäns vor dem offenen Fenster hängen zu sehen, wo sie in der Sonne lüften sollten.
Es schien unglaublich zu sein, daß je ein sterbliches Auge dieses Rocks und dieser Weste ohne den Kapitän ansichtig werden konnte; sicherlich aber stak er nicht darin, weil sonst seine Beine, da die Häuser in Brig-Place nicht sonderlich hoch waren, die Haustür hätten versperren müssen, und diese zeigte durchaus kein Hindernis. Ganz verwundert über diese Entdeckung, klopfte Walter nur mit einem einzigen Schlage an.
»Stinger«, hörte er oben im Zimmer deutlich den Kapitän sagen, als ob sich's um eine Sache handle, die ihn durchaus nichts angehe. Walter versuchte es deshalb jetzt mit einem Doppelschlag.
»Cuttle«, hörte er hierauf den Kapitän sagen, und unmittelbar darauf zeigte sich dieser Gentleman in sauberem Hemd, Hosenträgern, einem Halstuch, das wie ein Trauring lose um seinen Hals geschlungen war, und aufgesetztem Glanzhut unter dem Fenster, über dessen mit Rock und Weste behangene Brüstung er sich herüberlehnte.
»Wal'r«, rief der Kapitän, erstaunt auf ihn niederschauend.
»Ja, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter; »ich bin's nur.«
»Was gibt's, mein Junge?« fragte der Kapitän mit großer Besorgnis. »Es ist doch dem Gills nicht wieder etwas passiert?«
»Nein, nein«, antwortete Walter. »Bei meinem Onkel ist alles wieder in Richtigkeit, Kapitän Cuttle.«
Der Kapitän drückte seine Freude darüber aus und erklärte, er wolle hinunterkommen und die Tür öffnen, was denn auch geschah.
»Ihr habt Euch früh auf den Weg gemacht, Wal'r«, sagte der Kapitän, ihn noch immer zweifelnd ansehend, als sie oben angelangt waren.
»Je nun, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter, indem er Platz nahm, »die Sache verhält sich so, daß ich fürchtete, Ihr könntet ausgegangen sein, und ich möchte gar gerne aus Eurem freundlichen Rat Nutzen ziehen.«
»Der soll Euch nicht fehlen«, sagte der Kapitän. »Um was handelt sichs?«
»Ich möchte Eure Meinung hören, Kapitän Cuttle«, erwiderte Walter mit einem Lächeln. »Dies ist alles.«
»Nun, so legt los«, sagte der Kapitän. »Stehe Euch von Herzen zu Diensten, mein Junge.«
Walter teilte ihm nun mit, was vorgefallen war, und wie es ihn so schwer ankomme, seinem Onkel die Kunde beizubringen; es wäre ihm daher ein großer Trost, wenn Kapitän Cuttle so freundlich sein wolle, die Sache in bestmöglichster Weise anzubahnen. Der Kapitän war im höchsten Grade bestürzt und erstaunt über die Aussicht, die hier vor ihm entfaltet wurde, und der Gentleman schwand darüber allmählich so ganz und gar hin, daß sich das Gesicht nur wie ein leerer Raum ausnahm und der schwarze Anzug nebst dem Glanzhut samt dem Haken scheinbar keinen Eigentümer mehr hatten.
»Was mich anbelangt, Kapitän Cuttle«, fuhr Walter fort, »so seht Ihr wohl, ich bin, wie Mr. Dombey sagte, jung und brauche nicht in Betracht gezogen zu werden. Ich weiß, ich werde mich schon in der Welt durchschlagen,– aber auf meinem Wege hierher haben mir doch zwei Punkte zu schaffen gemacht, über die ich sehr besorgt bin, und die meinen Onkel betreffen. Ich will damit nicht sagen, daß ich verdiene, der Stolz und die Wonne seines Lebens zu sein – ich weiß. Ihr traut mir nichts dergleichen zu – aber gleichwohl ist's der Fall. Seid Ihr nicht auch dieser Ansicht?«
Der Kapitän schien sich alle Mühe zu geben, sich aus dem Abgrund seines Erstaunens zu erheben und wieder in den Besitz seines Gesichtes zu kommen; aber die Anstrengung war ohne Erfolg, und der Glanzhut nickte nur in stummer unaussprechlicher Bedeutsamkeit.
»Wenn ich am Leben und gesund bleibe«, sagte Walter, – »es ist mir allerdings nicht bange davor – aber falls ich wirklich England verlassen muß, kann ich kaum hoffen, meinen Onkel wiederzusehen. Er ist alt, Kapitän Cuttle, und außerdem hat er sich daran gewöhnt –«
»Ohne Kunden sich im Leben durchzuschlagen, Wal'r«, fiel ihm der plötzlich wieder auftauchende Kapitän ins Wort.
»Leider wahr«, entgegnete Walter mit Kopfschütteln, »aber ich meinte es nicht so, Kapitän Cuttle – er ist in seinem Leben ein Gewohnheitsmensch – die Gewohnheit ist sein Kunde. Und wenn er, wie Ihr ohne Zweifel mit allem Recht früher bemerkt habt, bei jener Gelegenheit von dem Verlust seiner Warenvorräte und aller jener Dinge, mit denen er seit vielen Jahren vertraut gewesen ist, den Tod gehabt hätte, glaubt Ihr nicht, daß es viel eher der Fall sein müßte bei dem Verlust –«
»Seines Neffen? Jawohl«, pflichtete der Kapitän bei.
»Gut also«, fuhr Walter fort, indem er versuchte, in einen heiteren Ton überzugehen; »wir müssen daher alle unsere Kräfte aufbieten, um ihm den Glauben beizubringen, daß die Trennung nur eine vorübergehende ist. Freilich weiß ich dies besser, Kapitän Cuttle, oder fürchte wenigstens, daß ich es besser weiß, und da ich so viele Gründe habe, ihn zu lieben und zu ehren, so würde es mir ohne Zweifel gar schlecht gelingen, wenn ich versuchen wollte, ihm eine Überzeugung, die ich nicht teilte, beizubringen. Dies ist der Grund, warum ich wünsche, daß Ihr mir vorarbeiten möchtet, und auch der erste Punkt, den ich im Auge habe.«
»Abgehalten mit dem Schnabel um einen Punkt oder so«, bemerkte der Kapitän mit kontemplativer Stimme.
»Was habt Ihr gesagt, Kapitän Cuttle?« fragte Walter.
»Haltet an!« entgegnete der Kapitän gedankenvoll.
Walter schwieg eine Weile, um sich zu überzeugen, ob der Kapitän diesem Schlagwort nichts Besonderes hinzuzufügen habe; da aber dies nicht der Fall war, so fuhr er fort:
»Nun zum zweiten Punkt, Kapitän Cuttle. Es tut mir leid, Euch mitteilen zu müssen, daß ich bei Mr. Dombey nicht sehr beliebt bin. Ich habe zwar immer versucht, mein Bestes zu tun, und habe es auch getan; aber dennoch scheint es, daß ich ihm ein Dorn im Auge bin. Er kann vielleicht nicht dafür, daß er einen Widerwillen gegen mich hat, und ich will hierüber nicht sprechen; aber so viel muß ich sagen, ich weiß gewiß, daß er mich nicht leiden kann. Er schickt mich nicht auf diesen Posten, um mir ein gutes Unterkommen zu verschaffen, und verschmäht es sogar, ihn besser darzustellen als er ist; auch zweifle ich sehr, ob er dazu dienen wird, mich in dem Hause weiterzubringen, denn ich möchte im Gegenteil eher glauben, man will mich dadurch für immer abfertigen und aus dem Wege schaffen. Hiervon dürfen wir freilich meinem Onkel nichts sagen, Kapitän Cuttle, sondern müssen ihn auf den Glauben bringen, es handle sich um eine so günstige und verheißungsvolle Anstellung, wie man sie nur wünschen könne. Gegen Euch spreche ich mich über den wahren Sachbestand nur um deswillen aus, damit ich in der Heimat wenigstens einen Freund habe, der meine wahre Stellung kennt, falls es so weit kommen sollte, daß ich in der Fremde im Vaterland einer befreundeten Beihilfe bedarf.«
»Wal'r, mein Junge«, versetzte der Kapitän, »in den Sprichwörtern des Salomo werdet Ihr folgende Worte finden!: ›Möge es uns nie gebrechen an einem Freund in der Not, noch an einer Flasche, um sie mit ihm zu teilen!‹ Wenn Ihr's gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«
Dann hielt der Kapitän mit der Miene einer Zuversichtlichkeit, die mehr als Bände ausdrückte, Walter die Hand hin und wiederholte zu gleicher Zeit – denn er war stolz auf die Richtigkeit und die passende Anwendung seines Zitats –: »Wenn Ihr's gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«
»Kapitän Cuttle«, sagte Walter, die ungeheure Faust, die ihm der Kapitän darbot, mit beiden Händen fassend, die durch sie vollständig ausgefüllt wurden, »nach meinem Onkel Sol liebe ich Euch am meisten. Ich bin überzeugt, daß ich niemandem auf Erden zuversichtlicher trauen kann. Handelt sich's bloß um das Fortkommen, Kapitän Cuttle, so würde ich mir nicht viel daraus machen – warum sollte ich auch? Stünde es mir frei, selbst meinem Glück nachzujagen – könnte ich auch nur als gemeiner Matrose ausziehen und dürfte ich aus eigenem Antrieb fort bis ans fernste Ende der Welt, so würde ich es mit Freuden tun – ja, ich hätte es schon vor Jahren getan und alles, was das Geschick über mich verhängt haben würde, auf mich genommen. Aber es war gegen die Wünsche meines Onkels, gegen die Pläne, die er für mich gebildet hatte, und so konnte natürlich hiervon keine Rede sein. Freilich fühle ich selbst, Kapitän Cuttle, daß wir lange Zeit ein wenig im Irrtum befangen waren, und daß ich, soweit eine Verbesserung meiner Aussichten in Frage kommt, nicht besser daran bin, als zur Zeit meines Eintritts in Dombeys Hause – vielleicht sogar ein wenig schlechter, denn damals zeigte mir das Haus einige Zuneigung, was jetzt augenscheinlich nicht mehr der Fall ist.«
»Kehr' um, Whittington«, Sir Richard Whittington, in der Ballade: Dick Whittington, berühmter Lord-Mayor von London, gest. 1423. murmelte der trostlose Kapitän, nachdem er Walter einige Zeit ins Auge gefaßt hatte.
»Ja«, versetzte Walter lachend, »und ich fürchte, man wird noch oft umkehren müssen, Kapitän Cuttle, eh' ein Glück wie Richards' wiederkehrt. Darüber beklag' ich mich übrigens nicht«, fügte er in seiner lebhaften, kräftigen Weise bei. »Ich habe mich über nichts zu beschweren, denn mein Auskommen finde ich wohl, und ich kann leben. Wenn ich mich von meinem Onkel trenne, so überlasse ich ihn Euren Händen – ich bin überzeugt, daß ich ihn keinen bessern anvertrauen könnte, Kapitän Cuttle. Meine Mitteilung machte ich Euch nicht, weil ich kleinmütig bin, sondern nur in dem Wunsche, Euch zu überzeugen, daß ich in Dombeys Hause nicht zu wählen habe – daß ich hingehen muß, wohin man mich sendet, und daß ich anzunehmen habe, was man mir bietet. Für meinen Onkel ist's am Ende das beste, daß ich fortkomme, denn Ihr wißt selbst, Kapitän Cuttle, daß sich Dombey ihm als einen anerkennungswerten Freund bewiesen hat, und ich bin überzeugt, dies wird um so mehr der Fall sein, wenn ich nicht jeden Tag um ihn bin und sein Mißtrauen wecke. Also hurra, nach Westindien, Kapitän Cuttle! Wie lautet doch das Lied, das die Matrosen singen?
»Nach dem Hafen Barbados!
Wohlauf ihr Jungen!
Laßt Alt-Englands Küst' im Rücken!
Wohlauf ihr Jungen!«
Brüllend fiel jetzt der Kapitän als Chor ein:
»Wohlauf, wohlauf ihr Jungen!«
Der letzte Refrain erreichte das achtsame Ohr eines nicht ganz nüchternen, heißblütigen Schiffers, der gegenüber wohnte, der augenblicklich aus seinem Bett sprang, ans Fenster eilte und mit der ganzen Macht seiner Stimme über die Straße herüber einfiel, wodurch ein schöner Effekt hervorgerufen wurde. Da es übrigens unmöglich war, die Schlußnote länger zu dehnen, so plärrte der Schiffer ein schreckliches »Ahoi!« hervor, das teilweise als freundliche Begrüßung gelten, teilweise auch zeigen sollte, daß er noch recht gut bei Lunge war. Nachdem dies geschehen, schloß er das Fenster und legte sich wieder zu Bett.
»Und nun, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, indem er eilig den Rock samt der Weste hervorholte, »bitte ich Euch, mit mir zu kommen und Onkel Sol die Nachricht zu hinterbringen. Von Rechts wegen hätte ich sie ihm schon längst mitteilen sollen. Ich begleite Euch bis an die Tür, mache dann einen Spaziergang und komme nachmittags nach Hause.
Dem Kapitän schien jedoch der Auftrag nicht sonderlich zu behagen, da er kein großes Vertrauen in seine eigene Gewandtheit bei Ausführung desselben setzen mochte. Er hatte Walters künftiges Leben und Geschick so ganz anders geordnet – so ganz und gar zu seiner Zufriedenheit, und sich oft über die Schlauheit und den prophetischen Geist Glück gewünscht, womit er alles ins reine und die verschiedenen Teile so vollkommen in Harmonie gebracht hatte; daß jetzt dieses schöne Bild mit einemmal in Trümmer gehen und er sogar bei dem Werke der Zerstörung mithelfen sollte – nein, dies forderte einen großen Aufwand von Entschlossenheit. Dazu fand es der Kapitän schwer, sich die alten Vorstellungen über den Gegenstand vom Hals zu schaffen und mit der erforderlichen Geschwindigkeit, ohne die alte oder die neue Ladung in Unordnung zu bringen, ein völlig neues Kargo an Bord zu nehmen. Statt also mit einem Ungestüm, das nur einigermaßen mit dem Eifer Walters gleichen Schritt gehalten hätte, Rock und Weste anzulegen, lehnte er es vorderhand ab, sich mit diesen Gewändern zu bekleiden und teilte Walter mit, bei einem so ernstlichen Anlaß müsse es ihm erlaubt sein, »sich ein bißchen in die Nägel zu beißen«.
»'s ist eine alte Gewohnheit von mir, Wal'r«, sagte der Kapitän, »schon seit fünfzig Jahren her. Wenn Ihr Ned Cuttle an seinen Nägeln beißen seht, Wal'r, so könnt Ihr daraus entnehmen, daß Ned Cuttle auf den Strand gelaufen ist.«
Der Kapitän brachte sodann den eisernen Haken zwischen seine Zähne, als ob derselbe eine Hand wäre, und erging sich mit einer Miene von Weisheit und Tiefsinn, in der sich die wahre Konzentration und Vergeistigung aller philosophischen Reflexion und ernsten Denkens ausdrückte, in einer Beschauung des Gegenstandes nach seinen verschiedenen Zweigen.
»Ich habe einen Freund«, murmelte der Kapitän wie in Geistesabwesenheit – »freilich macht er eben jetzt eine Küstenfahrt nach Whitby; aber dieser könnte über einen derartigen Gegenstand oder über jeden nur erdenklichen andern mit einer Ansicht ausrücken, daß er dem Parlament sechs vorgeben und es dennoch auszustechen vermöchte. Der Mann, den ich meine«, fuhr der Kapitän fort, »ist zweimal über Bord geklopft worden; aber es hat ihm nichts geschadet – im Gegenteil. Während seiner Lehrzeit, er mochte sie um die drei Wochen herum angetreten haben, kriegte er eins mit einem Ringbolzen aufs Dach; und doch läuft keiner herum, der einen klareren Kopf hätte.«
Ungeachtet des tiefen Respekts, den Kapitän Cuttle gegen seinen Freund ausdrückte, konnte Walter nicht umhin, innerlich erfreut zu sein über die Abwesenheit dieses Phönix von Weisheit, und gab sich der Hoffnung hin, der klare Verstand desselben möchte nicht mit seinen eigenen Schwierigkeiten behelligt werden, bis sie ganz geordnet wären.
»Wenn Ihr die Boje an dem Nore nähmet und sie diesem Manne zeigtet«, sprach Kapitän Cuttle in dem gleichen Tone weiter – »wenn Ihr ihn dann um seine Ansicht darüber fragtet, Walter, so würde er Euch seine Meinung in einer Art geben, daß sie dieser Boje ebensowenig gliche, als ein Knopf aus dem Rock Eures Onkels. Es läuft keiner herum – sicherlich nicht auf zwei Beinen – der ihm gleichkäme. Nicht entfernt gleich!«
»Und wie ist sein Name, Kapitän Cuttle?« fragte Walter, der sich vorgenommen hatte, auch einiges Interesse für den Freund des Kapitäns zu zeigen.
»Er heißt Bunsby«, sagte der Kapitän. »Aber du meine Güte, was dies betrifft, so könnt' er mit dem Geist, den er hat, heißen, wie er wollte.«
Der Kapitän suchte die Idee, die er mit diesem Schlußlobe in Verbindung brachte, nicht weiter zu beleuchten, und auch Walter war es nicht um eine nähere Erörterung zu tun, denn als er mit der Lebhaftigkeit, wie sie seinem Temperament und seiner Stellung natürlich war, die Hauptpunkte seiner Angelegenheit zu betrachten begann, entdeckte er bald, daß der Kapitän wieder in seinen früheren Zustand tiefen Nachsinnens versunken war und nichts von ihm sah und hörte, obschon er seine Blicke stetig unter seinen buschigen Brauen nach ihm hinschießen ließ.
In der Tat arbeitete sich Kapitän Cuttle mit so großartigen Entwürfen ab, daß er – weit entfernt, auf dem Strande zu liegen – gar bald in das tiefste Wasser geriet und für das Brüten gar keinen Boden mehr finden konnte. Allmählich wurde es ihm übrigens vollkommen klar, daß hier ein Irrtum im Spiel sein müsse, der ohne Zweifel mehr auf Seite Walters als auf der seinen liege; denn wenn sich's wirklich um eine Westindien-Reise handelte, so mußte sie zuverlässig ganz anders aufgefaßt werden, als dies der junge, vorschnelle Walter tat, da er seinerseits nur eine Gelegenheit darin sah, mit ungewöhnlicher Schnelligkeit zu einem schönen Vermögen zu kommen. »Oder wenn's je eine kleine Spannung zwischen ihnen gibt«, dachte der Kapitän in Beziehung auf Walter und Mr. Dombey, »so bedarf es nur eines Wortes von einem Freunde beider Parteien, um alles wieder ins Geleise zu bringen.«
Kapitän Cuttles Folgerung aus diesen Betrachtungen lief darauf hinaus, er habe bereits das Vergnügen gehabt, Mr. Dombey bei Gelegenheit einer sehr angenehmen halben Stunde kennenzulernen, die er zu Brighton in seiner Gesellschaft verbrachte – er meinte damit den Morgen, als sie das Geld borgten. Unter ein paar Männern von Welt also, die sich verständen und gegenseitig geneigt wären, einer Sache eine angenehme Wendung zu geben, lasse sich eine derartige kleine Schwierigkeit leicht ausgleichen, so daß man zu wirklichen Tatsachen übergehen könne. Die Aufgabe, die folglich seiner Freundschaft oblag, bestand darin, daß er, ohne vorderhand gegen Walter nur ein Wörtchen verlauten zu lassen, sich nach Mr. Dombeys Hause begab, den Diener ersuchte, den Kapitän Cuttle zu melden, Mr. Dombey mit vertraulicher Miene entgegentrat, ihn mit seinem Haken am Knopfloch packte, die Sache besprach, sie zurechtbrachte und triumphierend wieder von hinnen zog.
Wie sich diese Erwägungen dem Geiste des Kapitäns vergegenwärtigten und ganz allmählich Form und Gestalt gewannen, klärte sich sein Gesicht auf wie ein zweifelhafter Morgen, der einem schönen Mittag Platz macht. Seine Brauen, die im höchsten Grade finster gewesen, verloren ihren rauhborstigen Anblick und wurden heiter, die Augen, die sich in dem Ernst der geistigen Anstrengung fast geschlossen, taten sich wieder auf, und ein Lächeln, das sich anfangs nur an drei Stellen gezeigt hatte – die eine rechts von seinem Mundwinkel und die andern an der Innenseite eines jeden Augen – breitete sich allmählich über sein ganzes Gesicht bis zur Stirn hinauf, wo es sogar den Glanzhut hob, als sei auch dieser mit Kapitän Cuttle auf den Strand gelaufen und jetzt gleich ihm wieder glücklich flott geworden. Endlich hörte Kapitän Cuttle auf, seine Nägel zu beißen, und sagte:
»Nun könnt Ihr mir zu meiner Geschichte da verhelfen, Wal'r.«
Er meinte damit seinen Rock und seine Weste.
Walter ließ sich wenig träumen, warum sich der Kapitän so viele Mühe mit dem Ordnen seiner Halsbinde gab, deren beide Enden er in die Form eines Schweineschwanzes brachte, indem er sie durch einen massiven goldenen Ring zog, den er zum Andenken an einen verstorbenen Freund trug und auf dem ein Grabstein mit einem zierlichen Eisengeländer und einem Baum abgebildet war. Ebensowenig konnte er sich denken, warum der Kapitän seinen Hemdkragen so weit herauszog, als es die irische Leinwand unten nur erlaubte, warum er sich mit ein Paar Brustknöpfen verzierte, warum er seine Schuhe wechselte und warum er ein unvergleichliches Paar Gamaschen anlegte, die er nur bei ganz besonderen Gelegenheiten zu tragen pflegte. Nachdem sich der alte Herr endlich zu seiner vollkommenen Zufriedenheit angekleidet und vom Kopf bis zu Fuß vor einem Rasierspiegel, den er zu diesem Zweck von einem Nagel herunternahm, gemustert hatte, griff er nach seinem Knotenstock und sagte, daß er bereit sei.
Die Haltung des Kapitäns war viel selbstgefälliger, als wenn er bei gewöhnlichen Gelegenheiten ausging; aber Walter meinte, die Gamaschen möchten wohl schuld daran sein, und achtete wenig darauf. Noch ehe sie sehr weit gekommen waren, begegneten sie einem Blumenmädchen. Als ob ihm plötzlich ein glücklicher Einfall gekommen wäre, machte der Kapitän jetzt halt und kaufte sich einen der größten Bündel in dem Korb – einen herrlichen Strauß von fächerartiger Form, der wohl dritthalb Fuß im Umfang hatte und aus den schönsten Blumen bestand, die man sehen konnte.
Mit diesem kleinen Angebinde bewaffnet, das Mr. Dombey zugedacht war, ging Kapitän Cuttle mit Walter weiter, bis sie die Haustür des Instrumentenmachers erreichten, vor der sie stehenblieben.
»Geht Ihr hinein?« fragte Walter.
»Ja,« entgegnete der Kapitän, der fühlte, er müsse sich zuerst Walter vom Halse schaffen, ehe er weitere Schritte tun könne, und dabei meinte, es werde am besten sein, wenn er seinen beabsichtigten Besuch auf eine spätere Stunde des Tages verlege.
»Und Ihr werdet nichts vergessen?« fragte Walter.
»Nein«, versetzte der Kapitän.
»So will ich denn meinen Spaziergang antreten«, sagte Walter. »Ich störe dann in keiner Weise.«
»Macht nur einen langen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, ihm nachrufend.
Walter nickte ihm mit der Hand seine Zustimmung zu und ging seines Weges.
In betreff des letzteren war es ihm so ziemlich gleichgültig, welchen er einschlug, indes meinte er doch, er wolle lieber auf das Feld hinausgehen, wo er über das unbekannte Leben, das ihm bevorstand, nachdenken, unter einem Baum sich niederlegen und ruhige Betrachtungen anstellen könne. Den besten Platz hierfür glaubte er in der Nähe von Hampstead Hampstead, ein Teil Londons zu finden, und um dahin zu gelangen, mußte er an Mr. Dombeys Hause vorbei.
Als er bei demselben anlangte und an der Vorderseite hinaufsah, nahm es sich so stattlich und düster wie nur je aus. Die Rouleaus waren niedergelassen, die oberen Fenster aber standen weit offen, und der sanfte Wind, der die Vorhänge hin und her wehte, war das einzige Lebenszeichen, das sich zeigte. Walter ging langsam vorüber und war froh, als er einige Haustüren weiter hinter sich hatte. Dann schaute er mit dem Interesse, das er schon manches Jahr seit dem Abenteuer mit dem verirrten Kinde stets für den Platz gefühlt hatte, wieder zurück und blickte namentlich nach den erwähnten oberen Fenstern hinauf. Während er so beschäftigt war, fuhr ein Wagen an der Tür vor, und ein stattlicher Gentleman in Schwarz mit einer schweren Uhrkette stieg aus, um sich in das Haus zu begeben. Als er sich nachher dieses Herrn und seiner Equipage wieder erinnerte, schien es ihm unzweifelhaft, daß dieser ein Arzt gewesen sein müsse, und nun machte er sich Gedanken darüber, wer wohl krank sei. Diese Entdeckung kam ihm übrigens nicht eher, bis er eine ziemliche Strecke weitergegangen und inzwischen sich achtlos mit andern Dingen beschäftigt hatte.
Allerdings nur mit Dingen, die das Haus ihm in die Erinnerung gerufen, denn Walter schwelgte gerne in der Betrachtung, es dürfte vielleicht eine Zeit kommen, wann seine alte Freundin, das schöne Kind, das stets so dankbar gegen ihn gewesen war und sich seitdem immer freute, ihn wiederzusehen, zu seinen Gunsten ihren Einfluß bei ihrem Bruder geltend machen könnte. Im gegenwärtigen Augenblick war ihm dieser Gedanke um so lieber, weil er es für eine weit größere Wonne hielt, in ihrem Andenken fortzuleben, als irgendeines zeitlichen Vorteils sich daraus zu erfreuen; doch eine weitere und nüchternere Erwägung flüsterte ihm zu, wenn er dann über dem Meer und vergessen, sie aber verheiratet, reich, stolz und glücklich sei! Es war kein Grund vorhanden, warum sie bei einer so veränderten Lage mehr an ihn denken sollte, als an irgendein Spielzeug, das sie besessen – ja nicht einmal so viel.
Gleichwohl idealisierte sich Walter das hübsche Mädchen, das er verirrt auf offener Straße gefunden, und identifizierte es so sehr mit der unschuldigen Dankbarkeit, die es an jenem Abend so einfach und so wahr gegen ihn ausgedrückt hatte, daß er sich selbst den Vorwurf der Verleumdung machte, wenn er nur auf den Gedanken kam, sie könnte je stolz werden. Andererseits waren seine Betrachtungen so phantastischer Art, daß es kaum weniger verleumderisch schien, wenn er sie sich als erwachsene Dame dachte und damit in Verbindung brachte, sie könne dann in einem anderen Licht erscheinen, als in dem des nämlichen arglosen, gewinnenden kleinen Geschöpfs, das sie in den Tagen der guten Mrs. Brown gewesen war. Mit einem Wort, Walter machte die Entdeckung, daß es in der Tat sehr unvernünftig sei, über Florence überhaupt Folgerungen zu ziehen; er könne daher nichts Besseres tun, als seinem Innern ihr Bild einprägen, wie irgendeinen köstlichen, unerreichbaren, wandellosen und unbestimmten Gegenstand – unbestimmt in allem, nur nicht in seinem Vermögen, ihn mit Wonne zu erfüllen, einer Wonne, die ihn gleich der Hand eines Engels von allem Unwürdigen abhielt.
Walter machte an jenem Tage einen weiten Spaziergang durch die Felder, horchte auf den Gesang der Vögel, der Sonntagsglocken und das gedämpfte Getöse der Stadt, atmete den süßen Duft, blickte hin und wieder nach dem düstern Horizont, hinter dem sich der Ort seiner Bestimmung barg, und schaute dann wieder zurück auf das englische Gras und auf die vaterländische Landschaft. Aber auch nicht einer seiner Gedanken, nicht einmal der an die ihm bevorstehende Reise gewann eine bestimmte Klarheit, sondern er erging sich die ganze Zeit über in träumerischem Brüten, in dem er die gründlichere Betrachtung von Stunde zu Stunde, von Minute zu Minute aufzuschieben schien.
Die Felder lagen ihm bereits im Rücken, und er trat in derselben zerstreuten Stimmung den Heimweg an, als er den Schrei eines Mannes und dann die Stimme einer Frau vernahm, die ihn laut bei Namen nannte. Überrascht blickte er auf und wurde eines Wagens ansichtig, der die entgegengesetzte Richtung eingeschlagen, aber in nicht großer Entfernung von ihm haltgemacht hatte. Der Kutscher schaute von seinem Bock aus zurück und winkte ihm mit seiner Peitsche; die Dame aber lehnte sich zum Schlag heraus und schwenkte mit Macht ihr Tuch gegen ihn hin. Er eilte heran und fand, daß die Person in der Kutsche niemand anders als Miß Nipper war, die sich vor Verwirrung nicht zu helfen wußte.
»Staggs Gärten, Mr. Walter!« rief Miß Nipper; »o, seid so gut!«
»Wie?« entgegnete Walter. »Was gibt es?«
»O, Mr. Walter, Staggs Gärten, wenn Ihr so gut sein wollt!« sagte Susanna.
»Da haben wir's!« rief der Kutscher, sich mit einer Art triumphierender Verzweiflung auf Walter berufend. »So treibt's die junge Dame wohl schon eine sterbliche Stunde lang und scheucht mich fortwährend auf weglose Pfade, auf denen sie durchaus fahren will. Vom ersten bis auf den letzten hab ich schon mancherlei Personen geführt, aber nie eine solche wie sie.«
»Wollt Ihr nach Staggs Gärten, Susanna?« fragte Walter.
»Ha, freilich will sie dahin! Aber wo sind sie?« brummte der Kutscher.
»Ich weiß es nicht!« rief Susanna außer sich. »Mr. Walter, ich war einmal mit Miß Floy und unserem armen Liebling, dem Master Paul, dort, an demselben Tage, als Ihr Miß Floy in der City fandet, denn wir verloren sie auf dem Heimweg, Mrs. Richards und ich, und ein wütender Stier, und Mrs. Richards' Ältester, und obgleich ich später wieder hinging, kann ich mich doch nicht erinnern, wo es ist, ich denke, es muß in den Boden gesunken sein, o Mr. Walter, verlaßt mich nicht, Staggs Gärten, wenn Ihr so gut sein wollt! Miß Floys Liebling – unserer aller Liebling – der kleine, sanfte, liebe Master Paul! O Mr. Walter!«
»Guter Gott!« rief Walter, »ist er denn sehr krank?«
»Die hübsche Blume« – rief Susanna, die Hände ringend – »hat sich's in den Kopf gesetzt, er möchte seine alte Amme sehen, und ich komme, sie an sein Bett zu bringen, Mrs. Staggs von Polly Toodles Garten – weiß es denn niemand?«
Sehr aufgeregt von dem, was er hörte, und Susannas Unklarheit augenblicklich erfassend, eilte Walter mit einem Eifer, daß der Kutscher genug zu tun hatte, um ihm nachzukommen, voraus und erkundigte sich da, dort und überall nach dem Weg von Staggs Gärten.
Aber es gab keinen solchen Platz mehr. Er war von der Erde verschwunden. Wo vordem die alten, morschen Gartenhäuser gestanden, erhoben sich jetzt Paläste, und gigantische Granitsäulen eröffneten eine Aussicht nach der Eisenbahnwelt jenseits. Der erbärmliche Grund, wo vordem der Schutt aufgehäuft gewesen, war nicht mehr, und an der Stelle der Verwesung sah man Reihen von Magazinen, vollgestopft mit reichen, kostbaren Kaufmannsgütern. Die alten Nebenstraßen wimmelten nun von Fußgängern und Fuhrwerken aller Art, und die neuen, die entmutigt im Schlamm und in den Wagengeleisen steckengeblieben, bildeten nun ganze Städte und riefen eine gesunde Behaglichkeit hervor, die ganz ihr Eigentum war, und an die man nicht gedacht oder die man überhaupt kaum für möglich gehalten hatte, bis er sich einmal im wirklichen Dasein befand. Brücken, die früher nirgends hingeführt hatten, vermittelten nun den Weg zu Gärten, Landhäusern und gesunden öffentlichen Spaziergängen. Die Gerippe der Häuser und die Anfänge neuer Straßen hatten sich der Reihe nach mit der Geschwindigkeit des Dampfes ausgebildet und schossen ins Land hinein mit ungeheuren Armen. Was die Bewohner jener Gegend betraf, die in den Tagen des Kampfes die Eisenbahn nicht hatten anerkennen wollen, so waren sie jetzt weise und reich geworden, wie es jedem Christen in solchem Falle ergehen kann: sie rühmten sich nun einer so mächtigen und Wohlstand versprechenden Verwandtschaft. In den Läden der Tuchhändler standen Eisenbahnmodelle und in den Fenstern der Zeitungsausträger waren Eisenbahn-Journale ausgebreitet. Die Gasthäuser, Kaffeehäuser, Mietwohnungen und Speisetische verdankten ihr Dasein der Eisenbahn; man sah Eisenbahnkarten, Ansichten, Fahrten-Tafeln, Packpapier, Flaschen und Schachteln – alles mit demselben Stempel; Eisenbahn-Mietkutschen und Kutschenstände, Eisenbahn-Omnibusse, Eisenbahn-Straßen und -Gebäude, Eisenbahn-Anhängsel und Eisenbahn-Schmeichler, so daß sie aller Berechnung Trotz boten. Auch auf den Uhren war die Eisenbahnzeit angemerkt, als ob die Sonne selbst den kürzeren gezogen hätte. Unter den Besiegten befand sich auch der in Staggs Gärten einst so ungläubige Meister Schornsteinfeger, der jetzt in einem drei Stock hohen, mit Stuck verzierten Hause wohnte und sich mit goldenen Schnörkeln auf einem gefirnißten Brett als einen Akkordanten zu erkennen gab, der die Eisenbahnkamine durch Maschinerie reinigte.
Zu dem Herzen dieser großen Veränderung und von demselben weg schossen Tag und Nacht Ströme gleich dem Blute seines Lebens. Scharen von Menschen und Berge von Warenvorräten, zu dutzend- und dutzendmalen im Laufe der 24 Tagesstunden wiederkehrend, bewirkten auf dem Platze ein Gewühl, das stets in Tätigkeit war. Sogar die Häuser schienen geneigt zu sein, aufzupacken und Ausflüge zu machen. Wundervolle Parlamentsmitglieder, die sich vor noch nicht zwanzig Jahren über die unsinnigen Eisenbahn-Theorien und -Ingenieure lustig gemacht und sie im Kreuz- und Querverhör tüchtig in die Enge getrieben hatten, brachen nun, die Uhren in der Hand, nach dem Norden auf und ließen zu gleicher Zeit durch die elektrischen Telegraphen ihre Ankunft melden. Tag und Nacht rasselten die erobernden Maschinen in unablässiger Tätigkeit, näherten sich ruhig dem Ziel ihrer Reise und schlüpften, gleich zahmen Drachen, in die ihnen auf den Zoll hin angewiesenen Ecken, wo sie fauchend schüchtern stehenblieben, die Wände zum Erzittern bringend, als seien sie stolz auf das Geheimnis der großen Kräfte, die man in ihnen noch gar nicht ahnte, und auf ihre noch nicht erfüllten Riesen-Entwürfe.
Aber Staggs Gärten waren mit Wurzel und Zweig abgetragen worden. Wehe dem Tage, wann »keine Rute englischen Grundes«, in Staggs Gärten angelegt, mehr Sicherheit bietet!
Endlich, nach vielem vergeblichen Nachfragen, fand Walter, hinter dem der Kutscher mit Susanna dreinrollte, einen Mann auf, der einmal in dem jetzt verschwundenen Lande gewohnt hatte. Dieser war niemand anders, als der vorerwähnte Meister Schornsteinfeger, der es inzwischen zu ziemlicher Beleibtheit gebracht und nunmehr sogar einen blanken Klopfer an seiner Tür hatte. Wie er sagte, kannte er Toodle wohl.
»Gehört zu der Eisenbahn, nicht wahr?«
»Ja, Sir, ja!« rief Susanna Nipper zum Kutschenschlag heraus.
»Und wo wohnt er?« fragte Walter hastig.
»Er wohnt in den Gebäuden der Kompanie, um die zweite Ecke herum rechts, den Hof hinunter, über denselben weg, dann die zweite Tür wieder rechts.« Es sei Nummer elf: sie könnten sich nicht täuschen, oder wenn auch, so brauchten sie nur nach dem Maschinenheizer Toodle zu fragen, dessen Haus ihnen jedermann zeigen könne. Nach diesem unerwartet glücklichen Ausgang stieg Susanna Nipper mit Eile aus dem Wagen, nahm Walters Arm und trat in atemloser Hast ihre weiteren Nachforschungen zu Fuß an. Die Kutsche sollte warten, bis sie zurückkäme.
»Ist der kleine Knabe schon lange krank, Susanna?« fragte Walter, während sie weiter eilten.
»Unwohl schon lange, aber niemand wußte, wie sehr«, versetzte Susanna und fügte dann mit großer Bitterkeit bei: »O, diese Blimbers!«
»Blimbers?« wiederholte Walter.
»In einer Zeit, wo man so viel über ernstes Unglück zu denken hat, könnte ich mir selbst nicht vergeben, Mr. Walter,« sagte Susanna, »wenn ich jemand zu hart verurteilte, namentlich Personen, von denen der liebe, herzige Paul nur Gutes sagt, aber ich möchte wünschen, diese Familie müßte in steinigem Boden neue Wege anlegen und Miß Blimber mit dem Pickel voraus.«
Miß Nipper schöpfte sodann Atem und beschleunigte ihre Hast, als ob sie in diesem außerordentlichen Erguß Erleichterung gefunden hätte. Walter, dem der Atem gleichfalls fast ausgegangen war, eilte mit ihr fort, ohne weitere Fragen zu stellen, und so gelangten sie in ihrer Ungeduld bald nach einer kleinen Tür, die sie nach einem reinlichen, mit Kindern angefüllten Wohnstübchen führte.
»Wo ist Mrs. Richards!« rief Susanna Nipper, sich umsehend. »O Mrs. Richards, Mrs. Richards, kommt doch sogleich mit mir, meine Liebe!«
»Ei, ist dies nicht Susanna?« rief Polly in großem Erstaunen, ihr ehrliches Gesicht und ihre mütterliche Gestalt aus der Gruppe der Kleinen erhebend.
»Ja, ich bin's, Mrs. Richards«, sagte Susanna, »und wollte Gott, ich wär's nicht, obgleich es nicht schmeichelhaft zu sein scheint, wenn ich so sage, aber der kleine Master Paul ist sehr krank und sagte heute zu seinem Papa, er möchte das Gesicht seiner alten Amme wiedersehen, und er und Miß Floy hoffen, Ihr werdet mit mir kommen – und Mr. Walter auch, Mrs. Richards – vergeßt, was vergangen ist, und erweist Liebe dem süßen Herz, das jetzt dahinschwindet – o Mrs. Richards, ja, dahinschwindet!«
Polly vergoß bei Susanna Nippers Anblick und ihrer Mitteilung Tränen, während sämtliche Kinder, einschließlich einiger neuer Kleinen, sich um die Gruppe sammelten. Auch Mr. Toodle, der eben von Birmingham zurückgekommen war und sein Mittagessen verzehrte, legte Messer und Gabel nieder, holte hinter der Tür hervor Hut und Halstuch seines Weibes, klopfte ihr auf den Rücken und sagte mit mehr väterlichem Gefühl als mit Beredsamkeit:
»Polly, mach', daß du fortkommst!«
So langten sie weit früher, als der Kutscher erwartet hatte, bei dem Wagen an. Walter versorgte Susanna und Mrs. Richards im Innern, setzte sich, um weitere Irrtümer zu verhüten, auf den Bock und beförderte seine Fracht wohlbehalten nach der Flur von Mr. Dombeys Haus, wo er, beiläufig bemerkt, einen mächtigen Blumenstrauß liegen sah; er erinnerte sich dabei an den, den Kapitän Cuttle am Morgen in seiner Gegenwart gekauft hatte. Gar gern wäre er eine Weile dageblieben, um mehr von dem kleinen Patienten zu erfahren, oder zu warten, ob man nicht irgendwie seiner Dienste benötigte; da er aber schmerzlich fühlte, wie ein solches Benehmen von Mr. Dombey als anmaßend und aufdringlich angesehen werden dürfte, so wandte er sich langsam ab und ging traurig seines Weges.
Er war übrigens noch nicht fünf Minuten gegangen, als ihm ein Diener nachkam und ihn ersuchte, er möchte wieder umkehren. Walter eilte so schnell als möglich zurück und betrat mit wehmütigen Ahnungen das Haus.
Sechzehntes Kapitel. WAS DIE WELLEN IMMER SAGTEN.
Paul hatte sich seitdem nie wieder von seinem Bettchen erhoben. Er lag ganz ruhig da, hörte auf den Lärm der Straße und kümmerte sich nicht viel um den Gang der Zeit, sondern beobachtete und beobachtete alles um ihn her mit aufmerksamem Auge.
Wenn durch die rasselnden Jalousien die Sonnenstrahlen in sein Zimmer drangen und an der entgegengesetzten Wand wie goldenes Wasser zitterten, wußte er, daß der Abend herankam und daß der Himmel rot und schön war. Der Reflex starb dahin, und ein Düster überkroch die Mauer; er folgte dem entschwindenden Licht und dem immer mehr sich vertiefenden Schatten bis in die Nacht hinein. Dann machte er sich Gedanken darüber, wie die lange Straße mit Lampen geziert sei und die friedlichen Sterne oben am Himmel flimmerten. Seine Einbildungskraft hatte eine seltsame Neigung, nach dem Flusse hinzuwandern, der, wie er wohl wußte, durch die große Stadt strömte, und nun dachte er darüber nach, wie schwarz er sein und wie tief er aussehen müsse, wenn sich die Unzahl von Sternen in ihm spiegelte; vor allem aber flößte es ihm Interesse ein, wie verstohlen er seine Wellen weiter rollte, bis sie von dem Meer aufgenommen wurden.
Später in der Nacht, als die Fußtritte in der Straße so selten wurden, daß man sie kommen hören konnte, zählte er sie nach ihren Pausen, bis sie sich in weiter Entfernung verloren, oder er lag da, den vielfarbigen Ring um das Licht betrachtend, und wartete geduldig auf den Tag. Sein einziger Plagegeist war der rasche reißende Fluß. Er fühlte sich bisweilen zu dem Versuch gedrungen, ihm Einhalt zu tun, ihn mit seinen Kinderhänden zu dämmen, oder ihm mit Sand den Weg zu sperren; wenn er dann widerstandslos heranbrauste, so schrie der Knabe laut auf. Aber ein Wort von Florence, die stets an seiner Seite war, brachte ihn wieder zu sich; er lehnte dann sein Köpflein an ihre Brust, erzählte ihr seinen Traum und lächelte.
Wenn der Tag zu grauen begann, so gab er auf die Sonne acht, und wenn ihr freundliches Licht das Zimmer erhellte, malte er sich – malte? nein, er sah – die hohen Kirchtürme, wie sie am Morgenhimmel in die Höhe stiegen, die Stadt, wie sie erwachend wieder in ein rühriges Leben trat, den Fluß, der so schnell wie nur je glänzend dahinrollte, und die im Tau blitzende Landschaft. Bekannte Töne ließen sich allmählich von der Straße herauf vernehmen; die Diener im Hause wurden rührig, Gesichter schauten zur Tür herein, und Stimmen fragten seine Wärter leise, wie es ihm gehe. Paul antwortete dann gewöhnlich selbst: »Ich fühle mich besser – viel besser, danke schön! Sagt es auch dem Papa!«
Allmählich ermüdete ihn das Geräusch des Tages, das Rasseln der Wagen und Karren und die Fußtritte von hin und her Gehenden; er schlief entweder ein oder dachte immer wieder unruhig – er konnte kaum sagen, ob dies in schlafenden oder wachenden Augenblicken geschah – an den strömenden Fluß.
»Warum will er denn nie haltmachen, Floy?« konnte er dann die Schwester bisweilen fragen. »Ich glaube, er reißt mich mit fort.«
Aber Floy konnte ihn stets zur Ruhe bringen und seinen Mut wieder aufrichten; er war dann glücklich, wenn er sie bewegen konnte, daß sie ihr Köpfchen neben dem seinigen aufs Kissen legte und ein wenig ruhte.
»Du wachst immer für mich, Floy; laß mich jetzt auch für dich wachen.«
Man richtete ihn dann in einer Ecke seines Bettes mit Kissen auf, und so blieb er zurückgelehnt sitzen, während sie an seiner Seite lag. Er beugte sich oftmals vor, um sie zu küssen, und flüsterte denen, die sich in der Nähe befanden, zu, sie sei müde, denn sie sei so viele Nächte bei ihm auf und wach geblieben.
So ging es fort, bis das Licht und die Hitze des Tages abnahm und überall das goldene Wasser an der Wand tanzte.
Nicht weniger als drei gravitätische Ärzte pflegten ihn täglich zu besuchen. Sie versammelten sich gewöhnlich unten und kamen miteinander herauf. Das Zimmer war dabei so still, und Paul, obschon er niemanden fragte, was sie sagten, beobachtete sie so sorgfältig, daß er sogar den Unterschied in dem Picken ihrer Uhren kannte. Das hauptsächlichste Interesse flößte ihm jedoch Sir Parker Peps ein, der stets an seinem Bett Platz nahm, denn Paul hatte vor langer Zeit sagen hören, dieser Gentleman sei zugegen gewesen, als seine Mama vor ihrem Sterben Florence in ihre Arme schloß. Dies konnte er auch jetzt nicht vergessen, und er liebte ihn darum. Von Furcht war bei ihm keine Rede.
Die Personen um ihn her verwandelten sich in so unerklärlicher Weise, wie in jener ersten Nacht bei Doktor Blimber – die einzige Florence ausgenommen, die nie einen Wechsel erlitt. Was eben Sir Parker Peps gewesen, war jetzt sein Vater, der mit auf die Hand gestütztem Kopf dasaß. Die alte Mrs. Pipchin, die in einem Armstuhl schlummerte, verwandelte sich oft in Miß Tox oder in seine Tante, und Paul begnügte sich dann, seine Augen wieder zu schließen, um ruhig abzuwarten, was zunächst geschehen werde. Aber die Figur mit dem auf die Hand gestützten Kopfe kehrte so oft wieder, blieb so lange, saß so still und feierlich da, sprach nie, wurde nie angeredet und hob so selten das Gesicht auf, daß Paul sich zu wundern begann, ob sie wohl eine wirkliche Erscheinung sei; ja wenn sie nachts dasaß, schaute er nur mit Furcht nach ihr hin.
»Floy!« sagte er. »Was ist dies?«
»Wo, mein Lieber?«
»Dort – unten am Bett.«
»Da ist nichts als der Papa.«
Die Gestalt richtete den Kopf auf, erhob sich, kam an die Seite des Bettes und fragte:
»Mein Sohn, kennst du mich nicht?«
Paul blickte zu ihm auf und dachte, ob dies wohl sein Vater sei. Das Gesicht kam ihm so verändert vor, und es verzog sich, während er es ansah, wie im Schmerz. Aber ehe er seine Händchen ausstrecken konnte, um die Gestalt zu erfassen und ihr Antlitz zu sich herunterzuziehen, wandte sie sich rasch von dem Bettchen weg und ging zur Tür hinaus.
Paul blickte nun mit klopfendem Herzen auf Florence; er wußte, was sie sagen wollte, und tat ihr deshalb Einhalt, indem er seine Wange gegen ihre Lippen drückte. Als er das nächstemal die Gestalt wieder unten an seinem Bette sitzen sah, rief er sie an:
»Seid nicht bekümmert um mich, lieber Papa! Ich bin in der Tat ganz wohl.«
Sein Vater kam heran und beugte sich zu ihm nieder – dies geschah schnell und ohne daß er zuerst neben dem Bette haltmachte. Paul umschlang seinen Nacken und wiederholte die vorigen Worte mehreremal mit großer Innigkeit; auch sah er ihn später, mochte es Tag oder Nacht sein, nie wieder in seinem Zimmer, ohne daß er ihm zurief: »Seid um mich unbekümmert! Ich fühle mich in der Tat vollkommen wohl!« So kam es denn, daß er jeden Morgen erklärte, er befinde sich viel besser, und man solle es auch seinem Vater sagen.
Wievielmal das goldene Wasser an den Wänden tanzte, in wievielen Nächten der düstere dunkle Strom nach dem Meere hinrollte, ohne daß er ihm Einhalt zu tun vermochte – Paul zählte es nie und suchte es auch nicht zu erfahren. Wenn die Liebe, die man ihm erwies, oder seine Dankbarkeit dafür sich je steigern konnte, so war beides mit jedem Tage mehr und mehr der Fall; aber ob sich's um viele Tage handelte oder um wenige, dies schien für den sanften Knaben völlig bedeutungslos zu sein.
Eines Abends hatte er über seine Mutter und über das Bild in dem Besuchzimmer drunten Betrachtungen angestellt; er dachte sich dabei, sie müsse die holde Florence weit mehr geliebt haben, als sein Vater, weil sie während ihres Sterbens das Mädchen in den Armen hielt; denn auch er, ihr Bruder, der sie so sehr liebte, hätte sich nichts Lieberes wünschen mögen, als dies. Die Kette seiner Gedanken brachte ihn auf die Frage, ob er jemals seine Mutter gesehen habe, denn er konnte sich nicht erinnern, ob man ihm mit Ja oder Nein darauf geantwortet hatte, weil der Fluß so gar schnell lief und seinen Sinn verwirrte.
»Floy, habe ich die Mama je gesehen?«
»Nein, mein Herz; warum?«
»Habe ich nie ein freundliches Gesicht gesehen, gleich dem der Mama, das auf mich niederschaute, als ich noch ein kleines Kind war?« Er fragte ungläubig, als stehe die Vision irgendeines Gesichtes vor ihm.
»O ja, mein Lieber.«
»Und was war dies für eins, Floy?«
»Das deiner Amme. Oft.«
»Und wo ist meine Amme?« fragte Paul. »Ist sie auch tot? Floy, sind wir alle tot, du ausgenommen?«
Einen Augenblick – vielleicht auch länger – aber ihm kam es nur so vor, gab es ein Gewühl in dem Zimmer, und dann wurde wieder alles still. Florence, lächelnd, aber mit bleichem Antlitz, hielt seinen Kopf auf ihrem Arm. Der Arm zitterte sehr.
»Floy, sei so gut, mich die Amme sehen zu lassen!«
»Sie ist nicht hier, mein Herz; aber morgen wird sie kommen.«
»Danke dir, Floy.«
Mit diesen Worten schloß Paul die Augen und schlief ein. Als er wieder erwachte, stand die Sonne hoch am Himmel. Es war ein heller, warmer Tag. Er lag eine Weile da und schaute nach dem offenen Fenster hin, wo die Vorhänge rauschend in der Luft hin und her wehten. Dann fragte er:
»Floy, ist es Morgen? Kommt sie?«
Es deuchte ihm, als sei jemand gegangen, um sie aufzusuchen. Vielleicht war es Susanna. Paul meinte, er habe sie, als er seine Augen wieder schloß, zu ihm sagen hören, sie werde bald wieder zurück sein; aber er öffnete sie nicht wieder, um sich zu überzeugen. Sie hielt Wort – oder vielleicht war sie auch gar nicht fort gewesen; kurz, was er zunächst hörte, war ein Geräusch von Fußtritten auf der Treppe, und dann erwachte Paul körperlich und geistig. Er setzte sich in seinem Bette auf und erkannte alles um sich her deutlich. Es lag kein grauer Nebel vor seiner Umgebung, wie es bisweilen nachts gewesen, und er konnte alle bei ihren Namen nennen.
»Und wer ist dies?« fragte das Kind, mit strahlendem Lächeln nach einer hereinkommenden Gestalt hinsehend. »Ist dies meine Amme?«
Ja, ja. Keine andere fremde Person hätte bei seinem Anblick solche Tränen vergießen, ihn ihr liebes, ihr herziges, ihr armes krankes Kind nennen können. Keine andere Frau würde sich neben seinem Bette niedergebeugt, seine abgezehrte Hand ergriffen und sie an Brust und Lippen gedrückt haben – nur eine solche konnte es tun, die einiges Recht darauf hatte, ihn zu lieben. Welche andere Frau wäre auch wohl so voll von Zärtlichkeit und Mitleid gewesen, so daß sie außer ihm und Floy alles übrige vergaß!
»Floy, welch ein liebes, gutes Gesicht!« sagte Paul. »Ich freue mich, es wiederzusehen. O geh nicht fort, liebe Amme! Bleibe hier!«
Seine Sinne erfaßten alles schnell, und er hörte einen Namen, den er kannte.
»Wer hat da von Walter gesprochen?« fragte er, sich umsehend. »Jemand hat Walter gesagt. Ist er hier? Ich möchte ihn so gerne sehen.«
Für den Augenblick keine Antwort, aber bald nachher sagte sein Vater zu Susanna: »So ruft ihn zurück: er soll heraufkommen!«
Nach einer kurzen Pause der Erwartung, während welcher Paul mit freudiger Verwunderung seine Amme betrachtete und die Überzeugung gewonnen hatte, daß auch Floy von ihr nicht vergessen worden, trat Walter in das Zimmer. Sein offenes Gesicht und Wesen, wie auch seine heiteren Blicke hatten ihn Paul stets lieb gemacht, und als der Knabe seiner ansichtig wurde, streckte er ihm mit dem Rufe: »Lebt wohl!« die Hand entgegen.
»Lebt wohl, mein Kind!« rief Mrs. Pipchin, zu den Häupten seines Bettes eilend. »Wer wird so sagen?«
Einen Moment sah Paul mit dem schlauen Gesicht, mit dem er sie so oft in der Ecke beim Feuer betrachtet hatte, nach ihr hin.
»Ach ja«, sagte er ruhig, »lebt wohl! lieber Walter, lebt wohl!« Dann wandte er den Kopf wieder nach der Stelle, wo er stand, und streckte abermals seine Hand aus. »Wo ist der Papa?«
Er fühlte den Atem seines Vaters auf seiner Wange, ehe noch die Worte von seinen Lippen geglitten waren.
»Vergeßt Walter nicht, lieber Papa«, flüsterte er zu seinem Gesicht aufschauend. »Vergeßt Walter nicht. Walter ist lieb zu mir gewesen!« Dann schwenkte er die matte Hand in die Luft, als sollte sie Walter abermals ein ›Lebt wohl‹ zurufen.
»Legt mich jetzt nieder«, sagte er, »und Floy, komm zu mir her, damit ich dich sehe.«
Schwester und Bruder umarmten sich, und das goldene Licht kam strömend herein, die beiden mit ihren Strahlen übergießend.
»Wie schnell der Fluß zwischen seinen grünen Ufern und den Binsen läuft, Floy! Doch es ist nicht weit bis zur See. Ich höre die Wellen! Sie haben immer so gesprochen.«
Dann teilte er ihr mit, die Bewegung des Boots auf dem Strom wirke einschläfernd auf ihn. Wie grün waren nicht jetzt die Ufer, wie bunt die darauf wachsenden Blumen und wie hoch die Binsen! Jetzt hatte das Boot die See erreicht und glitt ruhig weiter. Dort sah er eine Küste vor sich. Wer stand an dem Gestade?
Er faltete seine Hände, wie er es beim Gebete zu tun pflegte. Seine Arme hielten Florence noch immer umschlossen, und er richtete seine zarten Finger hinter ihrem Nacken auf.
»Mama sieht ganz aus wie du, Floy. Ich kenne sie an dem Gesicht! Aber sage ihnen, der Kupferstich bei Blimbers oben sei nicht himmlisch genug. Der Schein um den Kopf folgt mir nach, wohin ich gehe!«
Das goldene Wogen an der Wand kam wieder zurück, und nichts anderes rührte sich im Zimmer. Die alte, alte Weise! Die Weise, die uns anfliegt mit unseren ersten Gewändern und unveränderlich weilt, bis unsere Pilgerfahrt vollendet ist und das weite Firmament sich wie ein Blatt Papier aufrollt. Die alte, alte Weise – der Tod!
O dankt Gott ihr alle, die ihr sie seht, für jene noch ältere Weise – die der Unsterblichkeit! Und schaut auf uns, ihr Engel von kleinen Kindern, mit nicht ganz entfremdeten Blicken, wenn der rasche Strom uns in den Ozean hinaustreibt!
»Ach Himmel, ach Himmel!« rief Miß Tox, am selben Abend aufs neue sich in Jammer ergießend, als ob ihr das Herz brechen wollte,– »denken zu müssen, daß Dombey und Sohn zuletzt eine Tochter ist!«
Siebzehntes Kapitel. KAPITÄN CUTTLE MACHT EIN KLEINES GESCHÄFT FÜR DIE JUNGEN LEUTE.
Um jenes überraschende Talent für tief angelegte und unergründliche Pläne, mit dem nicht selten Leute von sehr augenfälliger Einfachheit allen Ernstes von Natur aus begabt zu sein wähnen, in Anwendung zu bringen, war Kapitän Cuttle an jenem ereignisvollen Sonntag nach Mr. Dombeys Haus gegangen. Unterwegs blinzelte er stets, um dem überströmenden Scharfsinn einen Abfluß zu gestatten, und so kam es denn, daß er sich bald in der vollen Herrlichkeit seiner Gamaschen Towlinson vorstellen konnte. Zu seinem großen Leidwesen mußte er übrigens von diesem Individuum erfahren, welch ein Unglück bevorstand, und sein Zartgefühl bewog ihn, ganz verdutzt und unverrichteter Dinge wieder abzuschweben. Indes ließ er doch als kleinen Beweis seiner Aufmerksamkeit den Blumenstrauß zurück und der Familie im allgemeinen seine achtungsvollen Komplimente vermelden, die er mit der Kundgebung seiner Hoffnung begleitete, sie möchten unter obwaltenden Umständen ihre Schnäbel gut an den Wind legen. Zugleich fügte er die freundschaftliche Andeutung bei, daß er morgen wieder vorsprechen wolle.
Auf die Komplimente des Kapitäns hatte niemand geachtet und sein Blumenstrauß war, nachdem er die Nacht über in der Halle gelegen, am andern Morgen in den Kehrichtwinkel geworfen worden. So konnte also die schlaue Einleitung des Kapitäns, an die er so große Hoffnungen und Entwürfe geknüpft hatte, als eine völlig vergebliche Mühe betrachtet werden. In ähnlicher Weise leiden Zweige und Büsche mit den zugrunde gehenden Blumen, wenn eine Lawine auf einen Gebirgswald niederstürzt.
Als Walter am Sonntagabend von seinem langen Spaziergang und dessen denkwürdigen Schluß nach Hause zurückkehrte, sah er sich anfangs von der Nachricht, die er zu überbringen hatte, und von den Erregungen, die die durchgemachte Szene zu wecken imstande war, dermaßen in Anspruch genommen, daß er weder bemerkte, sein Onkel sei augenscheinlich von der Kunde, die der Kapitän zu überbringen sich anheischig gemacht hatte, nicht unterrichtet, noch die Signale verstand, die Mr. Cuttle mit seinem Haken machte, um ihn vor einer Berührung des Gegenstandes zu warnen. Allerdings waren auch letztere, wie aufmerksam man auch auf sie achten mochte, nicht sonderlich einleuchtend, denn gleich jenen chinesischen Weisen, die der Sage nach bei ihren Zusammenkünften gewisse völlig unaussprechbare gelehrte Worte in die Luft schreiben, machte der gute Mann solche Schnörkel und Winkelzüge, daß ihn niemand begreifen konnte, wenn man nicht schon zum voraus in sein Geheimnis eingeweiht war.
Als jedoch Kapitän Cuttle erfuhr, was vorgefallen war, gab er seine Versuche auf, denn er bemerkte wohl, daß er kaum darauf rechnen durfte, vor der Zeit von Walters Abreise den Gegenstand mit Mr. Dombey gemütlich besprechen zu können. Trotzdem er sich aber mit großer Niedergeschlagenheit klarmachen mußte, wie die Angelegenheit einmal stand, ohne im voraus aufgeklärt und durch die Behandlung eines weisen Freundes ins gleiche gebracht zu sein, müsse Sol Gills davon unterrichtet werden und Walter sich für den Aufbruch gefaßt halten, entschlug er sich doch nicht der edlen Selbstzuversicht, er, Ned Cuttle, sei der Mann für Dombey, und es gehöre nichts dazu, als daß sie beide zusammenkämen, um Walter glücklich zu machen. Er konnte nämlich nicht vergessen, wie gut er in Brighton mit Mr. Dombey zurechtgekommen war, mit welcher Feinheit jeder von ihnen das nötige Wörtlein eingeflochten habe, wie genau sie sich gegenseitig das Maß genommen und wie Ned Cuttle derjenige gewesen, der in der äußersten Not jenes Zufluchtsmittel getroffen und die Verhandlung zu einem erwünschten Schluß gebracht habe. Aus allen diesen Gründen beschwichtigte sich der Kapitän mit dem Gedanken, obgleich für die Gegenwart der Beistand Ned Cuttles durch den Drang der Ereignisse fast nutzlos werde, könne er doch in guter Zeit ein feuchtes Segel aufholen und triumphierend die Angelegenheit in Ordnung bringen.
Unter dem Einfluß dieser wohlgemeinten Selbsttäuschung ging Kapitän Cuttle, während ihm bei Walters Erzählung eine Träne auf den Hemdkragen niederträufelte, in seinem Innern sogar mit dem Gedanken um, ob es sich nicht ebensogut mit Höflichkeit als mit der Politik vertrage, Mr. Dombey auf einen beliebigen Tag zu einer Hammelkeule nach Brig-Place einzuladen und die Frage über die Aussichten seines jungen Freundes bei einem geselligen Glase zu besprechen. Aber das unsichere Temperament der Mrs. Mac Stinger und die Möglichkeit, sie könnte sich während einer solchen Unterhaltung auf dem Flur aufpflanzen und daselbst allerlei derbe Worte ausstoßen, legten dem gastfreundlichen Gedanken des Kapitäns einen kräftigen Zügel an, so daß er für seinen Entschluß nicht den gehörigen Mut aufbringen konnte.
Als Walter gedankenvoll über seinem unberührten Mittagessen saß und mit seiner Einbildungskraft bei den Vorgängen des Abends weilte, wurde dem Kapitän wenigstens eine Tatsache klar – daß nämlich der Neffe seines Freundes, wie sehr auch die Bescheidenheit desselben sich dagegen verwahren mochte, doch sozusagen als ein Mitglied von Mr. Dombeys Familie betrachtet werden konnte. Er war selbst in Beziehung gekommen zu dem Ereignis, das er so ergreifend zu schildern vermochte; sein Name war dabei berührt und empfohlen worden, sein Glück mußte also für seinen Prinzipal ein besonderes Interesse haben. Wie sehr übrigens der Kapitän auch einige von seinen eigenen Schlußfolgerungen bezweifeln mochte, kam ihm doch darüber nicht der mindeste Zweifel, daß sie vollkommen gut für den inneren Frieden des Instrumentenmachers seien. Er benützte daher einen günstigen Augenblick, um seinem alten Freund die Reise nach Westindien als ein Zeichen außerordentlicher Bevorzugung darzustellen, indem er erklärte, er für seinen Teil gäbe, wenn er's hätte, für das, was Walter im Laufe der Zeit gewinnen müsse, gern hunderttausend Pfund, und solch ein Kapital müsse natürlich schöne Renten abwerfen.
Solomon Gills war im Anfang völlig betäubt von dieser Kunde, die gleich einem Donnerschlag, der den heimischen Herd aufwühlte, in das kleine Hinterstübchen niederfiel. Aber der Kapitän wußte so schöne goldene Berge vor seinen düsteren Blicken zu entfalten, deutete so geheimnisvoll auf Whittingtonsche Folgen hin, legte so großen Nachdruck auf das, was Walter eben erzählt hatte, und berief sich so zuversichtlich darauf, als auf eine Bekräftigung seiner Prophezeiungen und einen großen Vorschub für die Verwirklichung der romantischen Legende von der lieblichen Peg, daß der alte Mann völlig verwirrt wurde. Walter erkünstelte für seinen Teil eine Fülle von Hoffnung und Freude, indem er im Ton der größten Zuversichtlichkeit seine Überzeugung aussprach, daß er bald wieder nach Haus zurückkehren werde; auch unterstützte er den Kapitän mit einem so ausdrucksvollen Nicken des Kopfes und Händereiben, daß Solomon, der anfangs ihn und dann seinen alten Freund ansah, wirklich zu glauben begann, auch er sollte vor Freude ganz außer sich sein.
»Aber Ihr begreift wohl, ich habe mich verspätet«, bemerkte er entschuldigend, indem er mit zitternder Hand über die lange Reihe blanker Knöpfe seines Rocks hinunter und dann wieder herauf fuhr, als wären es die Perlen eines Rosenkranzes, deren Paternoster er zweimal herbeten wollte, »und ich möchte weit lieber, daß mein lieber Junge hier bliebe. Ich will zwar glauben, daß dies Vorurteil ein altmodisches ist. Er hat immer so viel auf die See gehalten und ist« – er sah dabei mit einer Schmerzensmiene nach Walter hin – »er ist froh, daß er fortkommt.«
»Onkel Sol«, rief Walter hastig, »wenn du so sagst, so werde ich nicht gehen. Nein, Kapitän Cuttle, in diesem Fall gehe ich nicht. Wenn mein Onkel glaubt, ich könne froh sein, ihn zu verlassen, und handelte sich's auch darum, Gouverneur aller Inseln Westindiens zu werden, so genügt das vollständig. Ich bleibe.
»Wal'r, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Gemach! Sol Gills, macht eine Observation auf Euren Neffen.«
Mit den Augen der majestätischen Gebärde von Cuttles Haken folgend, blickte der alte Mann auf Walter.
»Hier ist ein gewisses Fahrzeug«, fuhr der Kapitän in großartigem Gefühl der Allegorie, in der er sich aufschwang, fort: »es soll ausziehen auf eine gewisse Reise. Welcher Name ist unauslöschlich auf dieses Fahrzeug geschrieben? Ist es der Gay – oder«, fügte er hinzu, indem er seine Stimme erhob, als wollte er auf diesen Punkt hauptsächlich aufmerksam machen, »ist es der Gills?«
»Ned«, entgegnete der alte Mann, indem er Walter an seine Seite zog und dessen Arm zärtlich in den seinen nahm, »ich weiß, ich weiß. Es ist mir natürlich nicht unbekannt, daß Wally stets mehr Rücksicht auf mich als auf sich selbst nimmt. Ich vergesse es nie, und wenn ich sage, er freue sich auf das Fortkommen, so drücke ich damit bloß meine Hoffnung aus, daß es so sein möge. Ist's nicht so? Ihr müßt wissen, Ned, und auch du mußt es wissen, mein lieber Wally, daß mir diese Kunde neu und unerwartet kommt; ich fürchte, der Umstand, daß ich so weit hinter der Zeit zurück und daß ich arm bin, ist daran schuld. Ihr sagt mir, er könne wirklich sein Glück finden?« fuhr der alte Mann fort, indem er ängstlich von dem einen auf den andern blickte. »Ist's auch wirklich wahr und wahrhaftig? Ich kann mich fast in alles finden, was Wally vorwärts bringt, aber dies könnte ich nicht ertragen, daß Wally um meinetwillen Nachteil hätte oder mir irgend etwas vorenthielte. Ihr, Ned Cuttle« – sagte der Greis, den Kapitän anfassend, daß dieser Diplomat in die augenfälligste Verwirrung geriet – »geht Ihr auch ehrlich um mit Eurem alten Freunde? Sprecht Euch aus, Ned Cuttle, steckt nichts dahinter? Muß er gehen? Wie und warum erfahrt Ihr es zuerst?«
Da sich's nunmehr um einen Wettstreit der Liebe und Selbstverleugnung handelte, so ergriff jetzt Walter zu des Kapitäns unendlicher Erleichterung mit bestem Erfolg das Wort, und der alte Sol Gills gewöhnte sich allmählich an den Gedanken, indem man ihn lang und breit besprach; oder vielmehr der Greis wurde darüber so verwirrt, daß sich nichts, nicht einmal der Schmerz der Trennung, seiner Seele mit Bestimmtheit vergegenwärtigte.
Er hatte nicht viel Zeit, die Sache zu erwägen, denn schon am andern Tage erhielt Walter von Mr. Carker, dem Geschäftsführer, die nötigen Briefschaften für seine Fahrt und Ausstattung, zugleich mit der Nachricht, daß der »Sohn und Erbe« in vierzehn oder spätestens sechzehn Tagen absegeln werde. In der Hast der Vorbereitungen, welche Walter absichtlich möglichst steigerte, verlor der alte Mann das bißchen Fassung, das er sonst hatte, vollends, und so kam die Zeit der Abreise schnell heran.
Der Kapitän, der nicht ermangelte, durch tägliche Erkundigungen bei Walter sich von allen Vorgängen zu unterrichten, fand, daß die Zeit bis zur Abfahrt noch immer nicht reiche, obschon sich nie eine Gelegenheit bot oder darzubieten schien, um ihm über die Sachlage eine klarere Einsicht zu geben. Dieser Umstand quälte ihn sehr, und nachdem er über die unglücklichen Verwicklungen reiflich nachgedacht hatte, tauchte ihm plötzlich eine glorreiche Idee auf. Wenn er nun einen Besuch bei Mr. Carker machte und aus diesem herauszulocken suchte, was eigentlich vorlag? Dieser Einfall erschien Kapitän Cuttle ganz herrlich. Er war ihm aufgestiegen in einem Augenblick der Begeisterung, als er eben in Brig-Place nach dem Frühstück seine Morgenpfeife rauchte, und man muß sagen, daß die Idee dem Tabak Ehre machte. Hierdurch konnte er sein ehrliches Gewissen beruhigen, denn das, was ihm Walter vertraut und Sol Gills ihm gesagt hatte, wirkte doch etwas unheimlich auf ihn, und wenn er so handelte, beging er nur einen tief angelegten, verschmitzten Akt der Freundschaft. Er wollte Mr. Carker sorgfältig ausholen und viel oder wenig sagen, je nach dem Charakter des Gentleman und je nach den Umständen, ob diese nun gut oder nicht gut verliefen. Demgemäß legte Kapitän Cuttle, ohne von Walter etwas zu befürchten zu haben, da dieser, wie er wußte, zu Hause mit dem Packen beschäftigt war, seine Gamaschen und den Trauerhalstuchring wieder an, um den zweiten Versuch anzutreten. Diesmal kaufte er unterwegs keinen begütigenden Blumenstrauß, steckte aber eine kleine Sonnenblume in sein Knopfloch, um sich selbst einen lieblichen ländlichen Anflug zu geben, und so ging er denn, den Knotenstock in der Hand und den Glanzhut auf dem Kopf, schnurstracks auf das Geschäftslokal von Dombey und Sohn zu. Nachdem er zur Sammlung seiner Gedanken in einer nahe gelegenen Schenke ein Glas warmen Rums und Wassers genommen hatte, stürzte er, damit die guten Wirkungen nicht verdunsten möchten, auf den Hof los und zeigte sich plötzlich vor Mr. Perchs nichtsahnenden Augen.
»Kam'rad«, begann der Kapitän im Tone der Überredung, »nicht wahr, einer von Euren Herren heißt Carker?«
Mr. Perch räumte dies ein, machte ihm aber zugleich die pflichtliche Mitteilung, daß die Herren insgesamt beschäftigt seien und sich nicht wollten stören lassen.
»Na, so hört, Kam'rad«, sagte ihm der Kapitän ins Ohr: »mein Name ist Kap'tn Cuttle.«
Der Kapitän wollte Perch mit seinem Haken sanft zu sich heranziehen – ein Versuch, welchen Mr. Perch zu vereiteln wußte, nicht so absichtlich, sondern vielmehr bei dem plötzlichen Gedanken erschreckend, daß eine solche Waffe, plötzlich der Mrs. Perch vorgeführt, den Hoffnungen dieser Dame bei ihren dermaligen Umständen verderblich werden könnte.
»Wenn Ihr könntet und die Güte haben wolltet, nur zu melden, daß Kap'tn Cuttle hier ist«, sagte der Kapitän, »so will ich warten.«
Mit diesen Worten nahm der Kapitän auf Mr. Perchs Sitzbrett Platz, holte sein Schnupftuch aus der Krone des Glanzhutes, den er ohne Beschädigung der Form, weil ihn nichts Menschliches zu zerdrücken vermochte, zwischen seine Knie geklemmt hatte, rieb sich den ganzen Kopf und schien dann völlig erfrischt zu sein. Dann ordnete er sich das Haar mit seinem Haken, ließ seine Blicke durch das Bureau laufen und betrachtete sich die Handlungsdiener mit ruhigem Respekt. Der Gleichmut des Kapitäns war so unzerstörbar, er selbst aber durch und durch ein so geheimnisvolles Wesen, daß der beauftragte Perch eingeschüchtert wurde.
»Wie ist der Name, den Ihr mir genannt habt?« fragte Mr. Perch, indem er sich zu ihm nach dem Sitz niederbeugte.
»Kap'tn«, versetzte der andere in tiefem, heiserem Flüsterton.
»Ja«, versetzte Mr. Perch, mit seinem Kopfe nickend.
»Cuttle.«
»O«, entgegnete Mr. Perch in dem gleichen Tone, denn er hatte die eindrucksvolle Diplomatik de« Kapitäns notwendig begreifen müssen. »Ich will sehen, ob er jetzt freie Zeit hat. Ob's so gut ist, weiß ich nicht; aber vielleicht könnte er doch eine Minute erübrigen.«
»Ja, ja, mein Junge – ich will ihn nicht länger als eine Minute in Anspruch nehmen«, erwiderte der Kapitän mit einem Kopfnicken, in welchem er die ganze Wichtigkeit, die er in sich fühlte, ausdrückte. Perch kehrte bald zurück und meldete:
»Will Kapitän Cuttle mit mir kommen?«
Mr. Carter, der Geschäftsführer, stand vor dem leeren Kamin, der mit einem großen Pappendeckel eingefaßt war, und blickte den hereinkommenden Kapitän nicht sehr ermutigend an.
»Mr. Carter?« fragte Kapitän Cuttle.
»Jawohl«, sagte Mr. Carter, alle seine Zähne zeigend.
Die Antwort, die von einem Lächeln begleitet war, gefiel dem Kapitän, denn daraus ließ sich etwas hoffen.
»Ihr seht«, begann der Kapitän, die Augen langsam durch das kleine Gemach gleiten lassend und so viel davon in sich ziehend, als sein Hemdkragen gestattete, »ich bin selbst ein seefahrender Mann, Mr. Carker, und Wal'r, der hier mit Buchführung beschäftigt war, könnte ich fast meinen Sohn nennen.«
»Walter Gay?« fragte Mr. Carter, aufs neue alle seine Zähne zeigend.
»Ja, Wal'r Gay – ganz richtig«, versetzte der Kapitän in einer Weise, als freue er sich höchlich über Mr. Carters rasche Auffassungsgabe. »Ich bin ein vertrauter Freund von ihm und seinem Onkel. Vielleicht« – fuhr der Kapitän fort – »habt Ihr Euer« Prinzipal schon meinen Namen nennen hören – Kapitän Cuttle?«
»Nein«, entgegnete Mr. Carter mit einer noch grinsenderen Demonstration als zuvor.
»Nun, ich erfreue mich des Vergnügens, von ihm gekannt zu sein«, versetzte der Kapitän. »Ich machte ihm an der Sussexküste drunten mit einem jungen Freunde meine Aufwartung, als – kurz, als sich's um eine kleine Vermittlung handelte.« Der Kapitän nickte mit einer Miene, die sich ebenso behaglich, als gelassen und nachdrucksvoll ausnahm. »Vermutlich werdet Ihr Euch erinnern.«
»Ich glaube, ich hatte die Ehre, das Geschäft zu erledigen«, sagte Mr. Carker.
»Jawohl«, entgegnete der Kapitän, »wieder vollkommen richtig! Ihr wart es. Nun habe ich mir die Freiheit genommen, hier vorzusprechen« –
»Wollt Ihr nicht Platz nehmen?« fragte Mr. Carker lächelnd.
»Danke schön«, erwiderte der Kapitän, sich den Wink zunutze machend. »Man kommt vielleicht in der Unterhaltung nur um so besser fort, wenn man sitzt. Wollt Ihr nicht auch einen Stuhl nehmen?«
»Nein, ich danke«, sagte der Geschäftsführer, vielleicht infolge der Wintergewohnheit stets den Rücken dem Kamin zukehrend und auf den Kapitän niederschauend, als hätte er in jedem Zahn ein Auge. »Ihr wolltet sagen, Ihr habet Euch die Freiheit genommen – obschon hier von einer besonderen Freiheit gerade nicht die Rede ist« –
»Danke herzlich, mein Junge«, versetzte der Kapitän – »um meines Freunde« willen, Walter, hierher zu kommen. Sein Onkel Sol Gills ist ein Mann von Wissenschaft, und in dieser Beziehung kann man von ihm sagen, daß er ein Ausbund von Tüchtigkeit sei; aber er ist nicht das, was ich überhaupt einen tüchtigen Seemann nennen möchte – kein Mann von Praxis. Wal'r ist ein so schmuckes Bürschlein, wie nur je eins in der Welt war; aber in einer Beziehung trägt er den Kopf viel zu niedrig – ich meine, er ist zu bescheiden. Was ich nun Euch mitzuteilen wünsche«, fuhr der Kapitän mit gedämpfter Stimme und in einer Art vertraulichen Grunzens fort – »natürlich ganz zwischen Euch und mir in freundlicher Weise, bis Euer Prinzipal ein bißchen herumgekriegt ist und ich bei ihm neben Bord kommen kann – besteht darin: ist hier alles recht und komfortabel und segelt Wal'r aus mit vollkommen günstigem Wind?«
»Da möchte ich Eure Meinung hören, Kapitän Cuttle«, sagte Carker, seine Rockschöße unter die Arme nehmend und in dieser Stellung verbleibend. »Ihr seid ein praktischer Mann – was haltet Ihr davon?«
Der verschmitzte bedeutsame Blick im Auge des Kapitäns, als er es zu Erwiderung blinzelte, wäre höchstens durch die früher erwähnten unaussprechlichen chinesischen Worte zu schildern.
»Na, was sagt Ihr?« fuhr der Kapitän höchlich ermutigt fort, »habe ich recht oder unrecht?«
Durch Mr. Carkers lächelnde Leutseligkeit ermutigt und angespornt, hatte der Kapitän so viel mit seinem Auge ausgedrückt, daß er zu einer derartigen Frage vollkommen befugt zu sein glaubte, als hätte er seine Meinung in schönsten Worten angebracht.
»Ihr habt recht«, sagte Mr. Carker: »ich zweifle nicht daran.«
»Also eine Fahrt mit günstigem Wetter?« rief Kapitän Cuttle.
Mr. Carker lächelte zustimmend.
»Den Wind voll im Stern und in gehöriger Menge!« fuhr Kapitän Cuttle fort.
Mr. Carker lächelte abermals beipflichtend.
»Schön, schön!« sagte der Kapitän Cuttle in froher Beruhigung. »Ich wußte ja, wie es stand, und sagte es auch Walter. Danke, danke.«
»Gay hat glänzende Aussichten«, bemerkte Mr. Carker, seinen Mund noch weiter auseinanderziehend: »die ganze Welt liegt vor ihm.«
»Die ganze Welt, und da bleibt das Weib nicht aus, wie es im Sprichwort heißt«, entgegnete der entzückte Kapitän.
Bei dem Worte »Weib«, welches ganz unabsichtlich ausgesprochen worden, hielt der Kapitän inne und blinzelte wieder mit dem Auge; dann setzte er den Glanzhut auf seinen Knotenstock, ließ ihn wirbelnd herumtanzen und schaute seitwärts nach seinem stets lächelnden Freund.
»Ich wette eine Maß alten Jamaika«, sagte der Kapitän, ihn aufmerksam beobachtend, »daß ich weiß, über was Ihr lächelt.«
Mr. Carker griff dieses Schlagwort auf und lächelte um so mehr.
»Es geht nicht weiter?« bemerkte der Kapitän, mit dem Knotenstock gegen die Tür hinstoßend, um sich zu überzeugen, daß sie geschlossen sei.
»Nicht um einen Zoll«, sagte Mr. Carker.
»Ihr denkt vielleicht an ein großes F?« meinte der Kapitän.
Mr. Carker stellte es nicht in Abrede.
»Vielleicht auch an ein L oder an ein O,«
Mr. Carker lächelte noch immer.
»Habe ich wieder recht?« fragte der Kapitän flüsternd, und der Scharlachring um seine Stirne vertiefte sich im Triumph der Freude.
Da Mr. Carker zur Erwiderung noch immer lächelte und jetzt zustimmend mit dem Kopf nickte, erhob sich Kapitän Cuttle, drückte ihm die Hand und gab ihm die warme Zusicherung, sie seien beide auf demselben Wege, und was ihn (Cuttle) betreffe, so habe er stets auf diesen Kurs angelegt. »Zum erstenmal hat er sie in einer sehr ungewöhnlichen Weise kennengelernt«, sagte er mit der ganzen Geheimnisfülle und Wichtigkeit, welche der Gegenstand erforderte. – »Ihr erinnert Euch, wie er sie, noch als kleines Kind, auf der Straße fand! sie ist seitdem immer sein Augapfel gewesen, und auch sie hatte ihn so gern, wie es bei zwei so jungen Leutchen nur möglich ist. Wir haben immer gesagt, Sol Gills und ich, sie seien für einander gemacht.«
Eine Katze, ein Affe, eine Hyäne oder ein Totenkopf hätten auf einmal dem Kapitän nicht mehr Zähne zeigen können, als Mr. Carker bei dieser Höhe der Unterhaltung blicken ließ.
»Ihr seht, alles findet sich zusammen«, bemerkte der überglückliche Kapitän. »Wind und Wasser schlagen in dieselbe Richtung. Wenn ich nur denke, daß er letzthin auch mit anwesend war.«
»Sehr günstig für seine Hoffnungen«, sagte Mr. Carker.
»Daß er an selbigem Tage auch ins Kielwasser getaut wurde«, fuhr der Kapitän fort. »Was kann ich jetzt triftig kappen?«
»Nichts«, versetzte Mr. Carker.
»Ihr habt abermals recht«, erwiderte der Kapitän mit einem weiteren Händedruck. »Nichts. Also nur fest ausgehalten. Ein Sohn ist dahin, das liebe kleine Geschöpf: ist's nicht so?«
»Ja, ein Sohn ist dahin«, stimmte Mr. Carker mit ein.
»So laßt nur den Ruf erschallen, und Ihr habt einen andern zur Hand«, bemerkte der Kapitän; »den Neffen eines wissenschaftlichen Onkels! den Neffen von Sol Gills, Wal'r, den Wal'r, der bereit in Eurem Geschäft ist, und« – fügte der Kapitän hinzu, indem er sich allmählich zu der Phrase aufschwang, die er als Schlußstein vorbereitet hatte – »der von Sol Gills aus täglich in den Schoß Eures Geschäftslebens kommt.«
Die Selbstgefälligkeit, mit welcher der Kapitän seine ebengenannten Sentenzen schloß und dabei Mr. Carter stets mit seinem Ellenbogen anstieß, konnte nur durch die Miene des Entzückens übertroffen werden, mit welcher er nach der glanzvollen Entfaltung seiner Beredsamkeit und seines Scharfsinns zurücktrat und den Geschäftsführer ins Auge faßte. Seine große blaue Weste klopfte unter den Geburtswehen eines solchen Meisterstücks, und aus derselben Ursache befand sich seine Nase im Zustande einer ungestümen Kongestion.
»Habe ich recht?« fragte der Kapitän.
»Kapitän Cuttle«, versetzte Mr. Carker, der sich in seltsamer Weise für einen Moment bis zu seinen Knien niederbeugte, als falle er zusammen, um sein ganzes Ich mit einem Male zu umarmen – »Eure Ansicht inbetreff Walter Gays ist durchaus und aufs Haar hin richtig. Ich nehme an, daß wir vollkommen im Vertrauen miteinander sprechen.«
»Auf Ehre«, erwiderte der Kapitän. »Nicht ein Wort.«
»Gegen ihn oder irgend jemand?« fügte der Geschäftsführer hinzu.
Kapitän Cuttle runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf.
»Es geschieht bloß zu Eurer eigenen Beruhigung und damit Ihr Euch danach richten möget – natürlich könnt Ihr Euch danach richten«, wiederholte Mr. Carker, »und demgemäß Eure künftigen Schritte ordnen.«
»Ich bin Euch in der Tat sehr zu Dank verpflichtet«, sagte der Kapitän, der ganz Ohr war.
»Ich nehme keinen Anstand zu sagen, daß die Sache sich wirklich so verhält. Die Wahrscheinlichkeiten sind von Euch aufs genaueste erfaßt worden.«
»Und was Euern Prinzipal betrifft«, sagte der Kapitän, »ei, da liegt's wohl in der Natur der Sache, daß es zwischen uns zu einer Verständigung komme. Doch dafür ist noch immer Zeit.«
Mr. Carker wiederholte mit einem Munde, der von Ohr zu Ohr ging: »noch immer Zeit« – nicht gerade in artikulierten Worten, denn er beugte nur leutselig den Kopf und bildete den Satz mit der Zunge und den Lippen.
»Und da ich jetzt weiß – ich Habs auch immer gesagt – daß Wal'r auf dem Punkt ist, sein Glück zu machen –« sagte der Kapitän.
»Sein Glück zu machen«, wiederholte Mr, Carker in derselben stummen Weise.
»Und daß Walter diese Reise sozusagen in seinem Amte und als ein Teil seiner allgemeinen Aussichten hier antritt«, sagte der Kapitän.
»Seiner allgemeinen Aussichten hier«, pflichtete Mr. Carker ebenso lautlos wieder bei.
»Je nun, da ich dies weiß«, fuhr der Kapitän fort, »hat's keine Eile, und ich kann mich zufrieden geben.«
Mr. Carker fuhr fort, in derselben lautlosen Weise seinen geschmeidigen Beifall zu erkennen zu geben, und Kapitän Cuttle gewann die feste Überzeugung, der Geschäftsführer sei einer der angenehmsten Menschen, mit denen er je zusammengetroffen sei, denn selbst Mr. Dombey könne von einem solchen Musterbild noch lernen. Der Kapitän streckte daher mit großer Herzlichkeit abermals seine ungeheure Hand aus, die an Farbe einem alten Block nicht unähnlich war, und ließ auf dem weicheren Fleische seines neuen Freundes einen Abdruck von all den Spalten und Ritzen zurück, mit welchen besagtes Tastorgan des alten Seemanns freigebig tätowiert war.
»Lebt wohl«, sagte der Kapitän. »Ich bin kein Mann von vielen Worten, weiß es aber sehr zu schätzen, daß Ihr Euch so freundschaftlich und offen gegen mich benommen habt. Ihr werdet mir's zuguthalten, wenn ich überhaupt lästig gefallen bin?« fügte er bei.
»Durchaus nicht lästig«, entgegnete der andere.
»Danke schön. Meine Berth Bett im Schiff ist zwar nicht sehr geräumig«, sagte der Kapitän, indem er sich noch einmal umwandte, »aber doch leidlich geborgen, und wenn Ihr einmal in die Nähe von Brig-Place kommt, Nummer neun – wollt Ihr's Euch nicht aufzeichnen? – so werde ich mir's zu hoher Ehre anrechnen, wenn Ihr mich besuchen wollt. Ich wohne eine Treppe hoch, und Ihr müßt Euch nicht an das kehren, was etwa die Person an der Tür sagen mag.«
Mit dieser gastfreundlichen Einladung verabschiedete sich der Kapitän, verließ das Zimmer und drückte die Tür hinter sich zu, während Mr. Carker, noch immer an den Kaminsims gelehnt, zurückblieb. In der schlauen Miene und in dem lauernden Benehmen des letzteren, in seinem falschen Mund, der sich, ohne zu lachen, ausdehnte, in seiner schneeweißen Halsbinde und in seinem Backenbart, sogar in der Art, wie er mit der weichen Hand über seine weiße Leinwand und über sein glattes Gesicht fuhr, lag etwas verzweifelt Katzenartiges.
Der arglose Kapitän zog mit einem Triumphgefühl ab, das seinem weiten blauen Anzug einen ganz neuen Schnitt verlieh. »Ich muß dich loben, Ned!« sagte er zu sich selbst. »Du hast heute für die jungen Leute ein Geschäftchen geordnet, und dies macht dir Ehre, mein guter Bursche!«
In dem Entzücken seines Herzens und im Hinblick auf die gegenwärtige und zukünftige Beziehung zum Haus konnte sich der Kapitän, als er das äußere Bureau erreichte, nicht enthalten, Mr. Perch ein wenig zu necken und ihn zu fragen, ob er wohl noch immer glaube, daß keiner von seinen Herren etwas übrige Zeit finden könne. Da er übrigens einem Mann, der nur seine Pflicht erfüllt hatte, nicht wehe tun wollte, so flüsterte er ihm zu, wenn er Lust zu einem Gläschen Grog habe und ihm folgen wolle, so werde er sich glücklich schätzen, ihn damit zu traktieren.
Ehe der Kapitän das Bureau verließ, sah er sich, zum großen Erstaunen der Handlungsdiener, von einem Zentralteile des Gelasses um und musterte den Platz, der so wesentlich mit zu dem Projekte, das er für seinen jungen Freund ausgesponnen hatte, gehörte. Das Kassenzimmer erregte seine besondere Bewunderung; um übrigens nicht aufzufallen, begnügte er sich in dieser Beziehung nur mit einem beifälligen Blicke und ging sodann auf den Hof hinaus, nachdem er zuvor mit einer höflichen Gönnermiene sämtlichen Handlungsdienern seine Verbeugung gemacht hatte. Mr. Perch schloß sich ihm sogleich an, und er führte sofort diesen Gentleman nach der bewußten Schenke, wo er sein Versprechen erfüllte. Freilich mußte die Sache in größter Hast abgetan werden, da Perchs Zeit kostbar war.
»Ich will einen Toast ausbringen«, sagte der Kapitän. »Wal'r!«
»Wer?« fragte Mr. Perch.
»Wal'r!« wiederholte der Kapitän mit einer Donnerstimme.
Mr. Perch, der sich von seiner Jugend her zu erinnern schien, daß es einmal einen Poeten dieses Namens gegeben habe Walter Scott, erhob keine Einwendung, war aber doch sehr erstaunt, daß der Kapitän in die City kam, um die Gesundheit eines Dichters auszubringen. In der Tat, wenn er den Vorschlag gemacht hätte, die Statue irgendeines Musensohns – die Shakespeares zum Beispiel – an einer öffentlichen Straße aufzustellen, so hätte er kaum gegen Mr. Perchs Erfahrung mehr verstoßen können. Indes war der alte Gentleman ein so geheimnisvoller und unbegreiflicher Charakter, daß Mr. Perch den Entschluß faßte, seiner gegen Mrs. Perch in keiner Weise Erwähnung zu tun, damit nicht mißliebige Folgen daraus hervorgehen möchten.
Und richtig blieb der Kapitän in seinem lebhaften Gefühl, für die jungen Leute ein kleines Geschäft abgemacht zu haben, den ganzen Tag selbst gegen seine vertrautesten Freunde geheimnisvoll und unbegreiflich; hätte übrigens Walter nicht seinem Blinzeln, Grinsen und anderen pantomimischen Selbsterleichterungen im Interesse der unschuldigen Täuschung gegen Sol Gills nachgegeben, so würde er sich zuverlässig noch vor Abend verraten haben. Wie jedoch die Sachen standen, blieb er im Besitze seines Geheimnisses und verließ erst spät das Haus des Instrumentenmachers. Bei dieser Gelegenheit saß der Glanzhut so weit auf der einen Seite, und der Kapitän hatte einen so leuchtenden Ausdruck in seinem Auge, daß Mrs. Mac Stinger, eine wahrhaft römische Matrone, die recht gut in Doktor Blimbers Etablissement gepaßt hätte, beim ersten Anblick ihres Hausherrn sich hinter der offenen Straßentür verschanzte und zum Trost ihrer lieben Kindlein nicht wieder hervorkommen wollte, bis sie die Überzeugung gewonnen hatte, der alte Gentleman sei nun wohlbehalten in seinem eigenen Zimmer einquartiert.
Achtzehntes Kapitel. VATER UND TOCHTER.
In Mr. Dombeys Haus herrscht ein gedrücktes Schweigen. Diener gleiten die Treppen hinauf und herab, aber mit lautlosen Tritten. Sie flüstern stets miteinander, sitzen lang bei Tische, genießen viel Fleisch und Getränk und tun sich in grimmiger, unheiliger Weise gütlich. Mrs. Wickham erzählt mit tränenden Augen viele traurige Anekdoten und teilt mit, sie habe bei Mrs. Pipchin stets gesagt, daß es so kommen werde. Sie trinkt dabei ungewöhnlich viel Tafelbier und ist sehr betrübt, aber dennoch gesellig. Der Gemütszustand der Köchin verhält sich ungefähr ebenso. Sie verspricht ein Brätlein zum Nachtessen und kämpft in gleicher Weise gegen ihre Gefühle und gegen die Zwiebel. Towlinson fängt an, zu glauben, es liege ein Fatum darin, und wünscht zu wissen, ob ihm jemand sagen kann, daß aus dem Wohnen in einem Eckhause je etwas Gutes erwachsen sei. Die Sache kommt allen vor, als habe sie sich schon vor langer Zeit zugetragen, und doch liegt das Kind noch auf seinem Bettchen – ruhig und schön.
Nach Einbruch der Dunkelheit kommen einige Besuche – lautlose Gäste mit Filzschuhen, die früher schon dagewesen waren, und mit ihnen trifft jenes Ruhebett ein, das an kindlichen Schläfern so befremdlich ist. Die ganze Zeit über hat sich der unglückliche Vater nicht einmal vor seiner Dienerschaft blicken lassen; er sitzt in einer Ecke seines dunkeln Gemachs, ohne sich anders zu rühren, als daß er hin und wieder aufsteht, um im Zimmer hin und her zu gehen. Am andern Morgen flüstert sich das Gesinde zu, man habe ihn mitten in der Nacht hinaufgehen hören, und er sei droben geblieben in dem Stübchen, bis die Sonne sich zeigte.
In dem Geschäftslokal der City sind die unteren Fenster durch Läden verdunkelt, und während die angezündeten Lampen auf den Pulten halb in dem vorrückenden Tag erblinden, wird der Tag halb durch die Lampen ausgelöscht. Es herrscht ein ungewöhnliches Düster, und von Geschäft ist nicht sonderlich die Rede. Die Handlungsdiener haben keine Lust, zu arbeiten, und machen unter sich aus, daß sie nachmittags Hammelrippchen essen und es mit einer Flußpartie versuchen wollen. Der Ausläufer Perch will fast gar nicht mehr zurückkommen; er weilt in der Schenkstube des Wirtshauses, wohin er von Freunden eingeladen ist, und ergießt sich in Reden über die Unsicherheit menschlicher Angelegenheiten. Abends kommt er von Balls Pond früher als gewöhnlich nach Hause und traktiert Mrs. Perch mit einem Kalbskotelett und schottischem Ale. Mr. Carker, der Geschäftsführer, traktiert niemanden und wird nie traktiert; er sitzt allein in seinem Gemach und zeigt den ganzen Tag seine Zähne. Fast gewinnt es den Anschein, als sei sein Pfad gesäubert, irgendein Hindernis weggeräumt worden, und die Aussicht liege jetzt frei vor ihm.
Jetzt schauen die rosigen Kinder, welche Mr. Dombeys Hause gegenüber wohnen, aus den Fenstern der Kinderstube auf die Straße herunter, denn vor der Tür stehen vier Rappen mit Federn auf den Köpfen. Federbüsche zittern auf dem Wagen, den sie ziehen, und diese sowohl, als ein Häuflein von Männern mit Schärpen und Stäben locken einen Volkshaufen herbei. Der Gaukler, der auf der Degenspitze einen Teller tanzen lassen wollte, wirft seinen Mantel wieder über den schönen Anzug, der seine Kunst bezeichnet, und sein müdes Weib, das von dem schweren Bübchen auf ihrem Arme krumm geworden ist, folgt ihm nach, um den Zug herauskommen zu sehen. Sie drückt den Kleinen inniger an ihre schmutzige Brust, während die leichte Last fortgeführt wird, und das jüngste von den rosigen Kindern an dem hohen Fenster gegenüber bedarf keiner zügelnden Hand für seine Unbändigkeit, während es mit seinem Grübchenfinger niederdeutet und mit der Frage zu dem Gesicht seiner Wärterin aufblickt: »Was ist das?«
Durch den Haufen der in Trauer gekleideten Diener und der weinenden Weiber in der Halle tritt jetzt Mr. Dombey heraus und auf den andern Wagen zu, der ihn erwartet. Die Zuschauer glauben, er sei nicht niedergedrückt von Kummer und Schmerz, da er so aufrecht und steif einhergeht, wie nur je. Er verbirgt sein Gesicht hinter keinem Taschentuch, sondern schaut vor sich hin; seine Züge aber sind etwas eingesunken und starr – er sieht blaß aus, im übrigen aber ganz so wie sonst. Er nimmt Platz in dem Wagen, und drei andere Gentlemen folgen ihm. Dann bewegt sich der großartige Leichenzug langsam die Straße hinunter. Man sieht die Federbüsche noch in der Ferne nicken, während der Gaukler bereits seine Teller auf einem Stock tanzen läßt, und derselbe Volkshaufe steht bewundernd um ihn her. Aber das Weib des Gauklers ist nicht so hurtig wie sonst mit der Geldbüchse, denn die Beerdigung eines Kindes hat den Gedanken in ihr rege gemacht, der Säugling unter ihrem schäbigen Halstuch wachse vielleicht nicht zu einem Mann heran, um dann in einem himmelblauen Barett auf dem Kopf und in lackfarbigen Trikots auf der Gasse Purzelbäume zu machen.
Die Federn nicken düster die Straße entlang und kommen endlich in den Bereich der Kirchturmglocke. In derselben Kirche hatte der Knabe das erhalten, was bald allein von ihm auf Erden zurückgeblieben sein wird – einen Namen. Dort legen sie in der Nähe der verweslichen Substanz seiner Mutter den toten Leib nieder. Ihm ist wohl. Die Asche von Mutter und Sohn liegt da, wo Florence in ihren, ach, so einsamen Spaziergängen jeden Tag einen Besuch machen kann.
Die Gebete sind vorüber, und der Geistliche hat sich entfernt. Mr. Dombey sieht sich um und fragt mit gedämpfter Stimme: ob die Person da sei, an welche der Auftrag ergangen, sich zur Entgegennahme der Weisungen für Besorgung des Grabsteins einzufinden.
Ein Mann tritt vor und sagt: »Ja.«
Mr. Dombey deutet an, wo er das Monument haben will, und bezeichnet an der Mauer neben dem Denkstein der Mutter die Gestalt und den Umfang. Dann holt er einen Bleistift heraus, schreibt die Inschrift auf einen Streifen Papier, gibt sie dem Arbeiter und fügt die Bemerkung bei:
»Ich wünsche, daß es schleunigst besorgt werde.«
»Ich werde mich bestens beeilen, Sir.«
»Ihr seht, es ist nichts anzubringen als der Name und das Alter.«
Der Mann verbeugt sich und wirft einen Blick auf das Papier, scheint aber jetzt Anstand zu nehmen. Mr. Dombey, der sein Zaudern nicht bemerkt, wendet sich ab und geht auf das Kirchhofportal zu.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagt der Mann, der ihm folgt und die Hand sanft auf den Ärmel seiner Trauerkleider legt; »aber da Ihr alsbaldige Besorgung wünscht und der Gegenstand unmittelbar in Angriff genommen werden soll –«
»Nun?«
»Vielleicht habt Ihr die Güte, es noch einmal zu übersehen? Ich glaube, es waltet hier ein Irrtum ob.«
»Wo?«
Der Steinmetz gibt ihm das Papier zurück und deutet mit einem Taschenlineal auf die Worte: »Geliebtes und einziges Kind«.
»Es muß wohl ›Sohn‹ heißen, glaube ich, Sir?«
»Ihr habt recht. Natürlich. Korrigiert es.«
Mit hastigeren Schritten setzte der Vater seinen Weg nach der Kutsche fort. Wie die anderen drei, welche ihm auf dem Fuße folgen, ihre Sitze einnehmen, ist sein Gesicht zum ersten Male verhüllt; er hat es in den Mantel verborgen. Auch werden sie desselben am nämlichen Tage nicht wieder ansichtig. Er steigt zuerst aus und begibt sich unverweilt nach seinem Zimmer. Die andern Leidtragenden, welche nur aus Mr. Chick und zwei von den Ärzten bestehen, verfügen sich in den Salon, wo sie von Mrs. Chick und Miß Tox empfangen werden. Wie das Gesicht in dem verschlossenen Gemache unten aussah, welche Gedanken dort weilen, wie es in dem Herzen aussah, und welcher Kampf, welche Leiden daselbst stattfanden – man weiß es nicht.
Aber so viel weiß man unten in der Küche, daß es im Haus »wie an einem Sonntag« ist. Man kann sich kaum überzeugen, daß in dem Benehmen der Leute auf der Straße, die ihren gewöhnlichen Beschäftigungen nachgehen und ihren Alltagsanzug tragen, nicht etwas Unanständiges, wo nicht gar etwas Gottloses liege. Es ist etwas so Neues, daß die Blenden niedergelassen und die Läden offen sind; man tut sich unheimlich gütlich über den Weinflaschen, die herbeigebracht werden, wie an einem Festtag. Die Hausgenossenschaft ist sehr zum Moralisieren geneigt. Mr. Towlinson bringt mit einem Seufzer den Trinkspruch aus: »es möchte besser werden mit ihnen allen«; und die Köchin erwiderte darauf gleichfalls mit einem Seufzer: »Gott wisse es, daß man's brauchen könne.« Abends greifen Mrs. Chick und Miß Tox wieder zu ihrem Strickzeug, während Mr. Towlinson, von der Hausmagd begleitet, die ihren Trauerhut noch nicht probiert hat, auf einem Spaziergang ein wenig Luft schöpfen will. Sie benehmen sich an der düstern Straßenecke sehr zärtlich gegeneinander, und Towlinson ergeht sich in Gesichten, wie er ein anderes und makelloses Dasein als frommer Gemüsehändler auf dem Oxfordmarkt führen wolle.
In Mr. Dombeys Hause schläft man in dieser Nacht weit tiefer, als seit lange. Die Morgensonne erweckt den alten Haushalt, der mit einem Male wieder in die alte Weise einbiegt. Die rosigen Nachbarskinder tummeln mit Reifen umher, und nach der Kirche hin zieht eine prunkvolle Hochzeit. Das Weib des Gauklers ist in einem andern Viertel der Stadt mit der Geldbüchse sehr rührig, und der Steinmetz meißelt singend und pfeifend die Buchstaben PAUL in die vor ihm liegende Marmorplatte ein.
Und ist es möglich, daß in einer so vollen, so rührigen Welt der Verlust eines einzigen so schwachen Lebens in irgendeinem Herzen eine Leere zurücklassen konnte, weit und tief genug, daß nichts als die Weite und Tiefe einer endlosen Ewigkeit es ausfüllen kann! Florence in ihrem unschuldigen Schmerz hätte vielleicht geantwortet: »O mein Bruder, o mein heißgeliebter, mein liebevoller Bruder! Einziger Freund und Gefährte meiner verachteten Kindheit! Könnte nur irgendeine kleinere Idee das Licht ausgießen, das schon über deinem frühen Grabe dämmert, oder den Schmerz mildern, der unter diesem Tränenregen ins Leben tritt!«
»Mein liebes Kind«, sagte Mrs. Chick, die es für ihre Pflicht hielt, die sich darbietende Gelegenheit zu benützen, »wenn du so alt bist, wie ich, –«
»Das heißt, in der eigentlichen Blüte des Lebens stehend«, bemerkte Miß Tox.
»So wirst du erfahren haben«, fuhr Mrs. Chick fort, indem sie in Anerkennung der freundlichen Bemerkung Miß Tox die Hand drückte, »daß der Gram zu nichts führt, und daß es unsere Pflicht ist, sich voll Ergebung in alles zu finden.«
»Ich will es versuchen, liebe Tante. Ich will es versuchen«, antwortete Florence schluchzend.
»Freut mich, dies zu hören«, sagte Mrs. Chick; »denn, meine Liebe, unsere gute Miß Tox, über deren gesundes Gefühl und über deren treffliches Urteil unmöglich eine geteilte Ansicht bestehen kann –«
»Meine teure Luisa, Ihr werdet mich nächstens stolz machen«, flocht Miß Tox ein.
»– wird dir gleichfalls sagen und aus ihrer Erfahrung bestätigen«, fuhr Mrs. Chick fort, »daß wir dazu berufen sind, bei allen Gelegenheiten eine Anstrengung zu machen. Dies liegt uns ob. Wenn irgendein – meine Liebe«, sich an Miß Tox wendend, »ich brauche ein Wort – Miß –, Miß –«
»Mißverhalten!« ergänzte Miß Tox.
»Nein, nein, nein«, sagte Mr«. Chick. »Wie könnt Ihr auch! Du, mein Himmel, es liegt mir auf der Zungenspitze. Miß –« »Mißverstand?« deutete Miß Tox schüchtern an.
»Ach, gütiger Gott, Lukretia!« erwiderte Mrs. Chick, »wie ganz ungeheuer! Misanthrop heißt das Wort, das ich brauche. Die Idee! Mißverstand! Ich sage, wenn ein Misanthrop in meiner Gegenwart die Frage stellen wollte: ›Warum sind wir geboren?‹ so würde ich antworten: ›Um Anstrengungen zu machen‹.«
»In der Tat sehr gut«, sagte Miß Tox, durch die Originalität dieser Ansicht höchlich erbaut. » Sehr gut!«
»Leider«, fuhr Mrs. Chick fort, »schwebt unseren Blicken stets ein warnendes Beispiel vor. Wir haben nur zu viel Grund zur Annahme, mein liebes Kind, daß dieser Familie, wenn zu rechter Zeit eine Anstrengung gemacht worden, eine Kette der betrübendsten und bedauerlichsten Umstände erspart geblieben wäre. Nichts wird mich je von dem Gegenteil überzeugen«, bemerkte die gute Matrone mit entschlossener Miene, »daß nicht das liebe arme Herzenskind wenigstens eine kräftigere Konstitution gehabt hätte, wenn die gute selige Fanny diese Anstrengung gemacht hätte.«
Mrs. Chick gab sich einen Moment ganz ihren Gefühlen hin, unterbrach sich aber plötzlich, um eine praktische Illustration ihrer Doktrin zu geben, mitten in einem tiefen Seufzer und fuhr fort:
»Deshalb zeige uns, Florence, daß du einige geistige Kraft besitzest und nicht selbstsüchtig den Kummer noch schwerer machst, unter welchem dein armer Papa fast erliegt.«
»Teure Tante«, sagte Florence, indem sie hastig vor ihr niederkniete, um desto besser und angelegentlicher aufblicken zu können. »Erzählt mir mehr von Papa. Ich bitte, sprecht mit mir von ihm! Ist er ganz trostlos?«
Miß Tox besaß ein sehr zartes Gemüt, und es lag in diesem Ausruf etwas, was sie sehr ergriff. Sah sie vielleicht an dem vernachlässigten Kinde eine Folge des innigen Leides, das der tote Bruder so oft ausgedrückt hatte, – erkannte sie darin eine Liebe, welche sich an das Herz anzuschmiegen suchte, das ihn geliebt hatte, und das es nicht zu ertragen vermochte, von der wehmütigen Gemeinschaft der Liebe und des Schmerzes ausgeschlossen zu sein, – oder bemerkte sie nur die anspruchslose Innigkeit eines Geistes, der, obgleich vernachlässigt und zurückgewiesen, erfüllt war mit lange unerwiderter Zärtlichkeit, in der einsamen Öde ihrer Verwaisung aufrufend zu dem Vater, um bei ihm auch nur durch eine kleine Annäherung Trost zu suchen und ihm Trost zu geben, – was auch Miß Tox dabei denken mochte, genug, sie fühlte sich ergriffen. Für den Augenblick vergaß sie ganz die Majestät von Mrs. Chick, streichelte hastig Florences Wangen, wandte sich zur Seite und ließ ihren Tränen freien Lauf, ohne damit erst auf den Vorgang der weisen Matrone zu warten.
Mrs. Chick selbst verlor für einen Moment die Geistesgegenwart, auf die sie sich so viel zu gut tat, und blickte stumm auf das Gesicht nieder, das so lang, so stetig und so geduldig dem kleinen Wesen zugekehrt gewesen. Sobald sie jedoch ihre Stimme, was bei ihr gleichbedeutend und überhaupt identisch mit Geistesgegenwart war, wiedergewonnen hatte, versetzte, sie mit Würde:
»Florence, mein liebes Kind, dein armer Papa ist zuweilen sonderbar, und wenn du mich über ihn fragst, so gilt deine Frage einem Gegenstand, den zu begreifen in der Tat ich mir nicht anmaßen will. Ich glaube, ich habe auf deinen Papa so viel Einfluß, wie nur irgend jemand, und dennoch kann ich weiter nichts sagen, als daß er sich nur sehr kurz gegen mich ausgesprochen hat. Ich bekam ihn kaum ein- oder zweimal für eine Minute zu Gesicht, und kann auch da nicht einmal sagen, daß ich ihn gesehen habe, weil sein Zimmer verdunkelt war. Ich habe deinem Papa bemerkt: ›Paul‹ – dies ist genau der Ausdruck, den ich gebrauchte – ›Paul, warum nimmst du nicht etwas Stimulierendes?‹ und dein Papa antwortete mir stets: ›Luisa, hab die Güte, mich zu verlassen. Ich brauche nichts und fühle mich besser, wenn ich allein bin.‹ Wenn ich morgen von einem Friedensrichter darauf beeidigt werden sollte, Lukretia«, fügte Mrs. Chick bei, »so zweifle ich nicht, daß ich auf die Identität dieser Worte schwören könnte.«
Miß Tox drückte ihre Bewunderung durch die Bemerkung aus: »Meine Luisa ist stets methodisch.«
»Kurz, Florence«, fuhr Mrs. Chick fort, »bis heute ist buchstäblich nichts zwischen deinem armen Papa und mir vorgegangen. Erst als ich deinem Papa mitteilte, Sir Barnet und Lady Skettles haben ungemein wohlwollende Briefe geschickt – ach, unser süßer Knabe! Lady Skettles liebte ihn wie ein – – wo ist mein Taschentuch?«
Miß Tox brachte das Gewünschte herbei.
»Ungemein freundliche Briefe mit dem Vorschlag, du sollest sie besuchen um der Luftveränderung willen. Als ich deinem Papa sagte: ich meine, Miß Tox und ich könnten nun nach Hause gehen – worin er vollkommen mit mir einverstanden war –, fragte ich, ob er etwas gegen eine Annahme dieser Einladung von deiner Seite einzuwenden habe. Er sagte: ›Nein, Luisa, durchaus nichts‹.«
Florence schlug die tränenvollen Augen auf.
»Wenn du es aber gleichwohl vorziehen würdest, hier zu bleiben – wenn du weder vorderhand diesen Besuch machen, noch zu mir in mein Haus kommen willst – –«
»O, ich will lieber hier bleiben, Tante«, lautete die tonlose Antwort.
»Nun, das kannst du auch, mein Kind«, sagte Mrs. Chick. »Ich muß zwar gestehen, daß mir die Wahl befremdlich vorkommt: aber du bist immer sonderbar gewesen. Man sollte glauben, jede andere Person deines Alters würde nach dem, was vorgegangen ist – meine liebe Miß Tox, ich habe schon wieder mein Taschentuch verloren, – froh sein, wenn sie von hier fortkommen könnte.«
»Es fiele mir schwer, wenn ich denken sollte, daß ich das Haus meiden müsse«, versetzte Florence. »Die Vorstellung käme mir bitter vor, daß die – seine – die Stube oben ganz leer und traurig sei, Tante. Und so will ich lieber vorderhand hier bleiben. O mein Bruder! o mein Bruder!«
Diese natürliche Erregung ließ sich nicht unterdrücken und brach sich sogar durch die Finger der Hände, mit denen sie ihr Antlitz bedeckte, Bahn. Die übervolle Brust muß sich bisweilen in solcher Weise Luft machen, wenn das arme, verwundete, einsame Herz im Innern nicht flattern soll, wie ein Vogel mit durchschossenem Flügel, der bald in den Staub niedersinkt.
»Schon gut, mein Kind«, sagte Mrs. Chick nach einer Pause. »Ich möchte dir um alles in der Welt nichts Unliebes sagen und bin auch überzeugt, daß du dies selbst weißt. So bleib denn hier und tu, was dir gefällt. Sicherlich wird dich niemand belästigen oder überhaupt nur den Wunsch dazu hegen, Florence.«
Florence nickte in wehmütiger Zustimmung mit dem Kopf.
»Ich habe dem Papa geraten, er solle in einer Luftveränderung Zerstreuung und neue Kraft suchen«, bemerkte Mrs. Chick, »worauf er mir erwiderte, er habe sich bereits vorgenommen, eine Zeitlang aufs Land zu gehen. Ich hoffe, er wird seinen Entschluß bald ausführen, denn er kann nicht zu sehr damit eilen. Ich denke übrigens, er hat infolge des Leidens, das uns alle so sehr heimsuchte, manches in seinen Privatpapieren und dergleichen zu ordnen – ich kann mir nicht denken, was aus meinem Taschentuch geworden ist, meine liebe Lukretia, leiht mir das Eure – und dies wird ihn für einen oder zwei Abende auf seinem Zimmer festhalten. Wenn es je einen Dombey gab, mein Kind, so ist dein Papa einer«, fügte Mrs. Chick bei, indem sie mit großer Sorgfalt ihre beiden Augen mit den entgegengesetzten Enden von Miß Toxs Taschentuch trocknete. »Er wird eine Anstrengung machen, und wir brauchen also für ihn nichts zu fürchten.«
»Kann ich nichts für ihn tun, Tante?« fragte Florence zitternd.
»Himmel, mein liebes Kind«, fiel ihr Mrs. Chick hastig ins Wort, »was sprichst du? Wenn dein Papa zu mir sagte – ich habe genau seine Worte angeführt: ›Luisa, ich brauche nichts, ich bin am liebsten allein‹ – was glaubst du wohl, daß er zu dir sagen werde? Du mußt dich vor ihm gar nicht blicken lassen, Kind. Laß dir ja nichts derart einfallen.«
»Tante«, sagte Florence, »ich will gehen und mich zu Bett legen.«
Mrs. Chick lobte diesen Entschluß und entließ sie mit einem Kuß; aber Miß Tox folgte dem Mädchen unter dem Vorwand, das verlegte Taschentuch zu suchen, die Treppe hinauf und bemühte sich in einigen verstohlenen Minuten, sie zu ermutigen, ohne auf die finstere Miene von Susanna Nipper zu achten. Miß Nipper hielt nämlich in ihrem glühenden Eifer Miß Tox für ein Krokodil; aber gleichwohl schien die Teilnahme der letzteren echt zu sein, da sie wenigstens den Vorteil der Uneigennützigkeit für sich hatte, sintemal damit wenig Gunst zu gewinnen war.
Und war niemand da, der ihr näher stand oder lieber war, als Susanna, um das ringende Herz in seinem Weh aufzurichten? Konnte sie sich nicht an einen andern Hals anklammern, keinem andern Gesicht zuwenden, bei niemanden sonst Trost suchen in ihrem herben Schmerz? Stand Florence so ganz allein, daß in der frostigen Welt ihr sonst nichts übrig blieb? Nichts. Jetzt der Mutter und des Bruders beraubt – denn in dem Verlust des kleinen Paul trat ihr wieder jener erste und größte schwer vors Herz – hatte sie nur noch diese einzige Helferin; und wer kann sagen, wie sehr sie jetzt der Hilfe bedurfte!
Nachdem das Hauswesen wieder seinen gewohnten Gang eingeschlagen und mit Ausnahme des Gesindes alles sich entfernt hatte, konnte Florence, da sich ihr Vater in seinen eigenen Gemächern einschloß, nichts tun, als weinen und umherwandern. Im plötzlichen Schmerzgefühl bitterer Erinnerung pflegte sie dann hin und wieder in ihr Zimmer hinaufzueilen, wo sie die Hände rang, ihr Gesicht auf das Bett legte und keines Trostes sich erfreuen durfte in ihrem herben, herben Schmerz. Dies geschah gemeiniglich dann, wenn irgendein Ort oder ein Gegenstand besonders zärtliche Erinnerungen an den Verstorbenen geweckt hatte; und das Haus wurde ihr dadurch anfangs zu einem wahren Folterplatz.
Es liegt jedoch nicht in der Natur einer reinen Liebe, lange so ungestüm und verzehrend zu lodern. Die Flamme, die in ihrer gröberen Zusammensetzung den Charakter der Erde trägt, kann wohl die Brust verzehren, in der sie sich birgt: aber das heilige Feuer vom Himmel zuckt so mild im Herzen, wie es einst auf den Häuptern der versammelten Zwölf ruhte, die von den Umstehenden mit der hehren Leuchte geziert gesehen wurden, ohne daß sie Schaden davon nahmen. Das heraufbeschworene Bild gewann bald wieder das ruhige Antlitz, die sanfte Stimme, den liebenden Blick und den ruhigen Frieden der Zuversicht; Florence weinte zwar noch, aber ihre Tränen wirkten beschwichtigend, und sie fühlte sich glücklicher in der Erinnerung.
Es dauerte nicht sehr lange, bis das goldene Wasser, welches an dem alten Platz und in der alten heiteren Weise tanzte, in seinem Fortebben ihre Augen fesselte. Das Gemach wurde ihr wieder traulicher; denn wie oft hatte sie allein dagesessen und geduldig und milde an der Seite des kleinen Bettchens gewacht. Kam ihr dann der bittere Gedanke, daß es jetzt leer sei, so kniete sie wie sonst neben dem Lager nieder und betete aus voller Seele zu Gott, er möchte nur einem einzigen Engel gestatten, sie zu lieben und ihrer eingedenk zu sein.
Bald erscholl in Mitte des weiten, traurigen, unheimlichen Hauses ihre gedämpfte Stimme wieder, und im Zwielicht sang sie, langsam und oft sich unterbrechend, die alte Weise, auf die er so oft gelauscht hatte, während sein müdes Köpfchen auf ihrem Arm ruhte. Und wenn es dann ganz dunkel war, erzitterten melodische Akkorde im Zimmer – so weich gespielt und gesungen, daß sie sich mehr wie die traurige Erinnerung dessen ausnahmen, was sie am letzten Abend auf sein Geheiß getan hatte, als wie eine wiederholte Wirklichkeit. Die Wiederholung aber geschah oft, sehr oft in der schattigen Einsamkeit, und die Tasten zitterten noch nach, wenn auch die süße Stimme in Tränen erstickt war.
So gewann sie auch den Mut, auf die Arbeit zu blicken, mit welcher ihre Finger neben ihm am Seeufer beschäftigt gewesen, und es dauerte nicht lange, bis sie dieselbe wieder aufnahm – mit einer Art Liebe dazu, als liege auch Gefühl in dem leblosen Material, wie wenn es den hingeschiedenen Bruder gleichfalls gekannt hätte. Sie setzte sich dabei in der Nähe des Bildes ihrer Mutter an ein Fenster, und so entschwanden ihr in dem ungebrauchten, so lange verödeten Gemach die gedankenvollen Stunden.
Warum wandten sich die dunklen Augen so oft von dieser Arbeit ab, nach der Seite hin, wo die rosigen Kinder wohnten? Sie konnten sie nicht unmittelbar an ihren Verlust erinnern, denn es waren lauter Mädchen – vier kleine Schwestern; aber sie waren mutterlos, wie sie selbst – und hatten einen Vater.
Man konnte leicht merken, wann dieser ausgegangen war und zu Haus erwartet wurde; denn das ältere Kind sah stets von den Fenstern des Salons oder von dem Balkon nach ihm aus; und wenn er erschien, strahlten ihre sehnsuchtsvollen Augen vor Freude, während die andern, die gleichfalls an den hohen Fenstern auf der Lauer lagen, in ihre Hände klatschten, auf den Sims trommelten und ihm zuriefen. Das älteste Mädchen kam dann in die Halle herunter, streckte ihm die Händchen entgegen und führte ihn die Treppe hinauf. Florence sah sie später an seiner Seite sitzen, auf seinem Knie sich tummeln oder in liebevoller Umarmung seines Halses mit ihm plaudern. Zwar waren sie immer heiter zusammen, aber doch kam es ihr oft vor, als betrachte er ihr Gesicht, wie wenn er sich ihrer hingeschiedenen Mutter erinnere. Wenn Florence Zeuge von solchen Szenen war, verbarg sie sich bisweilen unter hervorquellenden Tränen hinter dem Vorhang oder eilte vom Fenster weg, konnte aber nicht umhin, wieder zurückzukehren, und ihre Arbeit entsank dann unbeachtet ihren Händen.
Dieses Haus hatte vor Jahren leer gestanden und war lange unbewohnt geblieben. Endlich wurde es während Florences Abwesenheit von dieser Familie bezogen, ausgebessert und neu angestrichen. Man sah in den Fenstern Vögel und Blumen, so daß es ganz anders aussah, wie vor alters. Aber Florence dachte nie an das Haus – die Kinder und ihr Vater waren ihr alles in allem.
Nach dem Mittagsmahl konnte sie durch die offenen Fenster sehen, wie die kleinen Mädchen mit ihrer Gouvernante oder Wärterin hinuntergingen und sich um den Tisch sammelten. Bei schönem Sommerwetter drang der Ton ihrer kindlichen Stimmen und ihr klares Lachen über die Straße hinüber bis in die schwüle Luft des Zimmers, in welchem sie saß. Dann kletterten sie wieder dem Vater nach, zerrten ihn auf dem Sofa herum oder setzten sich auf seine Knie – ein wahrer Blumenstrauß von kleinen Gesichtern, während er ihnen ein Märchen zu erzählen schien; oder sie eilten auch auf den Balkon hinauf, und dann pflegte sich Florence hastig zu verbergen, damit ihre Freude nicht gestört werde, wenn die Kleinen sie so einsam und in ihrem schwarzen Kleide dasitzen sahen. Hatten sich die jüngeren entfernt, so blieb das ältere Töchterchen bei dem Vater, um ihm den Tee zu machen – die glückliche kleine Haushälterin! – Dann plauderte sie mit ihm zuweilen unter dem Fenster, zuweilen im Zimmer, bis die Lichter kamen. Er machte sie zu seiner Gefährtin, obschon sie einige Jahre jünger war als Florence, und sie konnte mit ihrem kleinen Buch oder ihrem Strickkörbchen so gesetzt sein wie eine Frau. Wenn die Lichter brannten, scheute sich Florence nicht mehr, aus ihrem dunkeln Zimmer hinüberzuschauen; sobald aber die Zeit kam, in welcher das Kind vor dem Schlafengehen: »Gute Nacht, Papa!« sagte, konnte Florence nicht mehr hinsehen; sie schluchzte und zitterte, wenn die Kleine ihr Antlitz zu ihm erhob. Dennoch kehrte sie, ehe sie selbst schlafen ging, von der einfachen Arie, die Paul so oft in Schlummer gelullt, und von den bebenden Tönen ihres Pianos wieder und wieder zu diesem Hause zurück. Was sie aber davon dachte, was sie daselbst beobachtete – dies war ein Geheimnis, das sie tief in ihrer jugendlichen Brust bewahrte.
Und barg nicht die Brust Florences, dieses edlen Mädchens, das so würdig der Liebe war, die er zu ihr gehegt und mit seinen letzten sterbenden Lauten ihr ins Ohr geflüstert hatte – deren schuldloses Herz sich spiegelte in der Schönheit ihres Antlitzes und in jedem Akzent ihrer sanften Stimme atmete – barg diese Brust nicht noch ein anderes Geheimnis? Ja. Noch eines.
Wenn niemand im Hause mehr auf und das Licht überall gelöscht war, pflegte sie leise ihr Zimmer zu verlassen, mit lautlosen Tritten die Treppen hinunterzugehen und sich der Tür ihres Vaters zu nähern. Kaum atmend lehnte sie ihr Gesicht daran und küßte sie in der Sehnsucht ihrer Liebe. Sie kauerte sich jede Nacht auf dem kalten Steinpflaster vor derselben nieder, um nur seine Atemzüge zu hören, und in ihrem alles verzehrenden Wunsche, ihm nur einige Liebe erzeigen, ihn trösten und durch ihre Innigkeit einiges Gefühl für sie wecken zu können, wäre sie gerne in demütiger Bitte vor ihm auf die Knie niedergesunken; aber sie konnte sich nicht so weit ermutigen.
Niemand wußte davon und niemand wäre je auf diesen Gedanken gekommen. Die Tür war stets zu, und er hatte sie von innen abgeschlossen. Ein- oder zweimal ging er aus, und unter dem Gesinde sagte man sich, er werde bald seine Reise aufs Land antreten; aber er bewohnte einsam seine Zimmer, sah sie nie und fragte auch nicht nach ihr. Vielleicht wußte er nicht einmal, daß sie im Hause war.
Eines Tages, ungefähr eine Woche nach der Beerdigung, saß Florence eben bei ihrer Arbeit, als Susanna mit einem halb lachenden, halb weinerlichen Gesicht eintrat, um einen Besuch anzumelden.
»Ein Besuch? Und er sollte mir gelten?« sagte Florence, erstaunt aufblickend.
»Ja; und ist es nicht ein eigentliches Wunder, Miß Floy?« versetzte Susanna. »Wollte Gott, Ihr hättet viele Besuche; denn es würde Euch weit besser dabei, und das ist meine Ansicht, daß wir beide recht wohl daran tun würden, wenn Ihr und ich auch nur zu den alten Skettlesen gingen, Miß. Ich bin zwar keine Freundin davon, unter einem großen Haufen zu leben, Miß Floy; aber dennoch bin ich keine Auster.«
Um Miß Nipper Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, müssen wir sagen, daß sie mehr im Interesse ihrer kleinen Gebieterin als für sich selbst sprach, und aus ihrem Gesicht war dies deutlich zu entnehmen.
»Aber der Besuch, Susanna?« bemerkte jetzt Florence.
Mit einem hysterischen Losbrechen, das ebensoviel von einem Gelächter als vom Schluchzen, und soviel vom Schluchzen als von einem Gelächter hatte, antwortete Susanna:
»Mr. Toots!«
Das Lächeln, das für einen Augenblick auf Florences Antlitz aufgetaucht war, entschwand wieder, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Jedenfalls aber war ein Lächeln dagewesen, und dies gereichte Miß Nipper zu großer Befriedigung.
»Ganz meine eigenen Gefühle«, sagte Susanna, die Schürze vor ihre Augen bringend und den Kopf schüttelnd. »Sobald ich diesen Unschuldigen in der Halle sah, brach ich anfangs in ein Lachen aus, und dann ist mir's in der Kehle stecken geblieben.«
Susanna Nipper wiederholte unwillkürlich und unverweilt denselben Prozeß. Inzwischen war Mr. Toots ohne eine Ahnung von dem Eindruck, den er hervorgebracht hatte, die Treppe heraufgekommen, hatte sich mit den Fingerknöcheln an der Tür selbst angekündigt und trat nun sehr rasch ein.
»Wie befindet Ihr Euch, Miß Dombey?« begann Mr. Toots. »Ich bin sehr wohl, danke Euch – aber wie geht es Euch?«
Es gab wenige bessere Burschen in der Welt, als Mr. Toots, obschon sich hin und wieder ein gescheidterer finden mochte, und er hatte diesen langen Ausbruch von Beredsamkeit in der Absicht erfunden, sowohl seine eigenen als die Gefühle von Florence zu erleichtern. Da er jedoch die Entdeckung machen mußte, er habe sein ganzes Eigentum sozusagen in unvorsichtiger Weise aufgebraucht, indem er das Ganze verausgabte, noch ehe er einen Stuhl genommen, oder bevor Florence ein Wort gesprochen hatte – ja, sogar ehe er noch recht zur Türe hereingekommen war – dünkte es ihm rätlich, wieder von vorn anzufangen.
»Wie befindet Ihr Euch, Miß Dombey?« sagte Mr. Toots. »Ich, bin sehr wohl, danke Euch; wie geht es Euch?«
Florence reichte ihm die Hand und erwiderte darauf, daß sie sich sehr wohl befinde.
»Ich mich auch«, sagte Mr. Toots, indem er einen Stuhl nahm. »In der Tat sehr wohl. Kann mich nicht erinnern«, fügte er nach einem kurzen Besinnen bei, »daß ich mich je besser befunden hätte: danke Euch.«
»Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr kommt, mich zu besuchen«, sagte Florence, ihre Arbeit aufnehmend. »Ich freue mich, Euch zu sehen.«
Mr. Toots antwortete mit einem Kichern, und als ihm dabei der Gedanke kam, diese Äußerung möchte zu lebhaft gewesen sein, verbesserte er sie mit einem Seufzer. Da ihm jedoch dieser zu melancholisch deuchte, so korrigierte er ihn wieder mit einem Kichern; und keineswegs zufrieden sowohl über die eine als die andere Art der Antwort, atmete er schwer auf.
»Mein lieber Bruder hat Euch sehr gern gehabt«, sagte Florence, einem natürlichen Gefühl folgend, um seine Unbehaglichkeit einigermaßen zu bannen. »Er erzählte mir oft von Euch.«
»O, hievon ist gar nicht die Rede«, bemerkte Mr. Toots hastig. – »warm – nicht wahr?«
»Es ist schön Wetter«, versetzte Florence.
»Namentlich mir sagt es sehr zu«, meinte Mr. Toots. »Ich glaube, es ist mir in meinem Leben nie so wohl gewesen, wie gegenwärtig; danke Euch schönstens.«
Nach Berührung dieser denkwürdigen und unerwarteten Tatsache versank Mr. Toots in einen tiefen Abgrund des Schweigens.
»Ich glaube, Ihr seid nicht mehr bei Doktor Blimber?« fragte Florence in der Absicht, ihm durchzuhelfen.
»Will's meinen«, entgegnete Mr. Toots und purzelte wieder in die vorige Tiefe. Auf dem Boden derselben blieb er auch, augenscheinlich ganz ertränkt, wenigstens zehn Minuten lang. Nach Ablauf dieser Periode wurde er plötzlich wieder flott und sagte:
»Na, guten Morgen, Miß Dombey.«
»Wollt Ihr schon wieder gehen?« fragte Florence, von ihrem Sitz aufstehend.
»Ich weiß wahrhaftig nicht. Nein, nicht eben jetzt«, entgegnete Mr. Toots, indem er höchst unerwartet wieder Platz nahm. »Es handelt sich davon – ich meine, Miß Dombey –«
»Sprecht Euch unverhohlen gegen mich aus«, entgegnete Florence mit ruhigem Lächeln. »Es wäre mir sehr lieb, wenn Ihr von meinem Bruder mit mir reden wolltet.«
»Wirklich?« erwiderte Mr. Toots, und jede Linie seines sonst ausdruckslosen Gesichts zuckte in lebhafter Teilnahme. »Der arme Dombey! Ich hätte in der Tat nicht gedacht, daß Burgeß & Komp. – fashionable Schneider, aber sehr teuer, von denen wir oft zu sprechen pflegten – mir für einen solchen Anlaß dieses Kleid machen würden.« Mr. Toots trug einen Traueranzug. »Der arme Dombey! Jawohl, Miß Dombey!« heulte Toots.
»Ja!« versetzte Florence.
»Es gibt einen Freund, für den er sich in letzter Zeit sehr interessierte, und ich meinte, Ihr möchtet ihn als eine Art Andenken vielleicht gern besitzen. Ihr erinnert Euch, daß er noch von Diogenes sprach.«
»O ja! o ja!« rief Florence.
»Der arme Dombey – jawohl«, sagte Mr. Toots.
Als Mr. Toots Florence in Tränen schwimmen sah, hatte er große Not, über diesen Punkt wegzukommen, und wäre ums Haar wieder in den Abgrund hinuntergepurzelt; aber ein Kichern rettete ihn noch am Rande.
»So hört, Miß Dombey«, fuhr er fort. »Ich hätte ihn für zehn Schillinge stehlen lassen können, wenn man ihn nicht hergegeben hätte. Und so würde ich's auch gehalten haben; aber ich glaube, man ist froh gewesen, ihn loszuwerden. Wenn Ihr ihn haben wollt, er ist an der Tür. Ich brachte ihn absichtlich für Euch mit. Freilich, Ihr wißt, er ist kein Damenhund«, fügte Mr. Toots bei; »aber ich denke, Ihr werdet Euch hieran nicht kehren.«
Wie man sich alsbald durch den Augenschein überzeugen konnte, wenn man in die Straße hinuntersah, glotzte Diogenes in demselben Augenblick durch das Fenster einer Kutsche heraus, in die man ihn zum Zweck der Beförderung nach London unter dem falschen Vorwand, es seien Ratten unter dem Stroh, verlockt hatte. Wenn man die Wahrheit sagen will, so sah er einem Damenhund so wenig ähnlich, als dies überhaupt bei einem Hund möglich war. Auch erwies er sich sehr ungehalten über seine Haft und nahm sich dabei gar nicht lieblich aus, denn er kläffte durch die eine Seite seines Rachens heraus, überschlug sich bei jeder von seinen vergeblichen Anstrengungen, um in das Stroh niederzupurzeln, und sprang dann wieder keuchend empor, wobei er die Zunge herausstreckte, als sei er expreß in eine Klinik gekommen, um daselbst seine Gesundheit untersuchen zu lassen.
Diogenes war ein so lächerlicher Hund, wie man nur immer einen an einem Sommertag treffen kann – ein belferndes, bösartiges, plumpes, stierköpfiges Tier, das sich unaufhörlich mit der irrtümlichen Idee trug, es befinde sich ein Feind in der Nachbarschaft, den anzubellen verdienstlich sei. Aber trotz dieser üblen Eigenschaften und des Umstandes, daß seine Augen ganz von Haaren beschattet waren, und er nicht nur eine ganz ungewöhnliche Nase, sondern auch einen sehr widerspenstigen Schwanz und eine unangenehme Stimme hatte, wurde er infolge jener letzten Mahnung dessen, der gebeten hatte, man möchte Sorge für ihn tragen, unserm Mädchen doch teurer, als das wertvollste und schönste Tier seiner Art. Ja, derselbe häßliche Diogenes war ihr so willkommen, daß sie Mr. Toots' beringte Hand ergriff und sie in ihrer Dankbarkeit küßte.
Endlich wurde Diogenes losgelassen. Es kostete anfangs keine geringe Mühe, ihn aus der Kutsche herauszubringen; aber jetzt kam er polternd die Treppe herauf, schoß, eine lange eiserne Kette nachschleppend, die ihm vom Halse herunterhing, unter das Möbelwerk des Zimmers, wobei er sich mit seinem Anhängsel an den Tisch- und Stuhlfüßen verfing, und zerrte so sehr daran, bis seine Augen infolge ihres Hervorquellens aus dem Kopfe natürlich sichtbar wurden. Mr. Toots, der Vertraulichkeit gegen ihn äußerte, wurde von ihm angeknurrt, und dann ging's wild auf Towlinson los, von dem er moralisch überzeugt war, dies sei der Feind, den er sein ganzes Leben um die Ecke herum angebellt und gleichwohl noch nie zuvor gesehen hatte. Aber dennoch hatte Florence eine so große Freude an ihm, als wäre er ein wahres Wunder von einem herzigen Hund gewesen.
Mr. Toots fühlte sich überglücklich bei dem Eindruck, den sein Geschenk gemacht hatte, und war ganz entzückt, als er sah, daß Florence sich zu Diogenes niederbeugte und mit ihrer zarten, kleinen Hand seinen rauhen Rücken streichelte – eine Liebkosung, die sich Diogenes vom ersten Augenblick ihrer Bekanntschaft an in Gnaden gefallen ließ. In seiner Verzückung fand es der junge Gentleman schwer, zu einer Verabschiedung zu kommen, und würde ohne Zweifel noch viel länger unschlüssig dageblieben sein, wenn er nicht von Diogenes selbst unterstützt worden wäre, der sich's plötzlich in den Kopf setzte, Mr. Toots anzubellen und ihn mit offenem Rachen zu umwandeln. Da er nicht sah, wie zuletzt diese Demonstrationen enden mochten, und den Pantalons, die er der Kunst von Burgeß & Komp. verdankte, große Gefahr zu drohen schien, so huschte er zuletzt unter Kichern zur Tür hinaus, durch welche er allerdings noch zwei- oder dreimal ohne irgendeinen besonderen Zweck wieder hereinsah. Weil aber bei jeder solchen Gelegenheit Diogenes ihn mit einem neuen Sturm begrüßte, so gewann er es endlich über sich, völlig abzuziehen.
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»So komm denn, Di! Lieber Di! schließe Freundschaft mit deiner neuen Gebieterin. Laß uns einander lieben, Di!« sagte Florence, indem sie seinen zottigen Kopf streichelte.
Und der rauhe, bissige Di, als fühlte er durch seine haarige Haut die Träne, die darauf niederträufelte, und als schmölze sein Hundeherz darüber, legte seine Nase an ihr Gesicht und schwur ihr Treue.
Diogenes, der Mensch, redete nicht deutlicher zu Alexander dem Großen, als Diogenes, der Hund, zu Florence sprach. Er nahm das Erbieten seiner kleinen Herrin mit Freuden auf und widmete sich ihrem Dienste. Sofort wurde in einer Ecke für ihn eine Bank besorgt, und nachdem er sich gehörig an Speis und Trank erlabt hatte, begab er sich nach dem Fenster, wo Florence saß; er schaute zu ihr auf, erhob sich auf seine Hinterbeine, legte seine täppischen Vorderpfoten auf ihre Schulter, leckte ihr Gesicht und Hände, schmiegte seinen dicken Kopf an ihr Herz und wedelte mit dem Schwanze, bis er müde war. Endlich kauerte er sich zu ihren Füßen nieder und fing an zu schlafen.
Zwar war Miß Nipper in Beziehung auf Hunde sehr furchtsam, sintemal sie es für nötig hielt, nur mit sorgfältig aufgehobenen Rockschößen, als sollte sie vermittels einiger Trittsteine über einen Bach setzen, ins Zimmer zu kommen; auch stieß sie manchen kleinen Schrei aus und sprang auf Stühle, so oft Diogenes sich streckte; aber gleichwohl war sie in ihrer eigenen Weise von Mr. Toots' wohlwollender Gesinnung gerührt und konnte von der Anhänglichkeit und Gesellschaft dieses rauhen Freundes des kleinen Paul unmöglich Zeuge sein, ohne dadurch auf geistige Betrachtungen geführt zu werden, die ihr das Wasser in die Augen brachten. Wenn sie ihrem Gedankengange folgte, sah sie sich genötigt, Mr. Dombey mit dem Hund in Verbindung zu bringen; denn nachdem sie den ganzen Abend Diogenes und seine Gebieterin beobachtet, auch mit herzlich gutem Willen ihr Äußerstes getan hatte, in dem Vorzimmer für den Hund ein ordentliches Bett zu bereiten, sagte sie noch hastig, ehe sie sich für die Nacht verabschiedete, zu Florence:
»Morgen früh reist Euer Pa ab, Miß Floy.«
»Morgen früh, Susanna?«
»Ja, Miß; so lautet der Befehl, den er gegeben hat. Mit dem frühesten.«
»Wißt Ihr, wohin Papa geht, Susanna?« fragte Florence, ohne zu ihr aufzublicken.
»Nicht mit Bestimmtheit, Miß. Zuerst will er mit jenem merkwürdigen Major zusammentreffen, und ich muß sagen, wenn ich mit was immer für einem Major bekannt wäre – was der Himmel verhüten möge – so dürfte es wenigstens kein blauer sein.«
»Bst, Susanna!« verwies ihr Florence mit Sanftmut.
»Nun ja, Miß Floy«, entgegnete Miß Nipper voll glühender Entrüstung und sogar weniger als gewöhnlich ihrer Komma-Pausen eingedenk. »Was kann ich dafür? Blau ist er, und solange ich – wenn auch nur eine geringe Christin bin, müßte ich entweder Freunde von natürlicher Farbe haben, oder gar keine.«
Aus dem, was sie noch hinzufügte und vom Hörensagen in der Gesindestube aufgegriffen hatte, schien hervorzugehen, daß es ein Werk von Mrs. Chick gewesen war, den Major als Mr. Dombeys Gesellschafter vorzuschlagen – ein Antrag, auf den Mr. Dombey nach einigem Zögern so weit einging, daß er an den besagten Gentleman eine Einladung erließ.
»Von ihm als von einem Wechsel zu sprechen – jawohl!« bemerkte Miß Nipper vor sich hin mit grenzenloser Verachtung, »Wenn dieser ein Wechsel ist, so will ich's mit dem Bestand halten.«
»Gute Nacht, Susanna«, sagte Florence.
»Gute Nacht, meine liebe, teure Miß Floy.«
Der mitleidige Ton ihrer Stimme ergriff lebhaft die so oft rauh berührte Saite, obschon sie nie erklang, wenn Miß Nipper oder sonst jemand zugegen war. Florence blieb allein, stützte den Kopf auf die eine Hand, drückte die andere an ihr pochendes Herz und hielt ungehinderte Zwiegespräche mit ihrem Gram.
Es war eine unfreundliche Nacht, und der melancholische Regen fiel mit schwerfälligem, plätscherndem Ton nieder. Der Wind umwehte mit gedehntem Stöhnen das Haus, als sei er selbst schmerzlich berührt, und ein schrilles Getöse zitterte durch die Bäume. Unter Florences Tränen wurde es immer später und später, bis die traurige Stunde der Mitternacht von den Kirchtürmen herunter ihren Ruf vernehmen ließ.
Den Jahren nach – sie zählte noch nicht vierzehn – war Florence wenig mehr als ein Kind, und die düstere Einsamkeit einer solchen Stunde in dem großen Haus, wo der Tod kürzlich erst so furchtbar gewaltet, hätte wohl eine ältere Phantasie mit Schreckbildern zu erfüllen vermocht. Aber die unschuldige Einbildungskraft des Mädchens war zu voll von einem einzigen Thema, um andern Zutritt zu gestatten. Nur Liebe beschäftigte ihre Gedanken – eine unstete, ja sogar eine verstoßene Liebe, die stets zu ihrem Vater zurückkehrte. In dem fallenden Regen, in dem Stöhnen des Windes, in dem Schaudern der Bäume oder in dem Schlag der feierlichen Glocke lag nichts, was diesen einen Gedanken erschütterte oder seine Überwucht minderte. Zwar konnte sie sich nie der Erinnerung an den teuern toten Knaben entschlagen; aber ach, so verwaist, so ausgeschlossen zu sein – nie ihrem Vater ins Gesicht geschaut oder ihn berührt zu haben seit dieser Stunde!
Von dem Tage der Beerdigung an war das arme Kind nie zu Bett gegangen, ohne ihre nächtliche Pilgerfahrt nach seiner Tür zu machen. Es wäre wohl ein befremdlich wehmütiger Anblick gewesen, wenn man sie jetzt gesehen hätte, wie sie sich die Treppe hinunterschlich durch das dichte Dunkel, mit klopfendem Herzen, tränentrüben Augen und aufgelösten Haaren vor seinem Zimmer haltmachte und die feuchte Wange außen an die Tür legte. Doch die Nacht warf ihren Mantel darüber, und niemand sah sie.
Als Florence in jener Nacht die Tür berührte, fand sie, daß sie offen stand und innen Licht war – das erstemal offen, aber nur um die Breite eines Haars. Anfänglich wollte sich das schüchterne Kind schleunigst zurückziehen und folgte auch diesem Impulse, aber unschlüssig blieb sie dann auf der Treppe stehen und stellte Erwägungen an, ob sie nicht wieder umkehren und eintreten sollte.
Aus dem Umstand, daß ihr auch nur durch einen so schmalen Spalt Licht entgegenkam, glaubte sie Hoffnung schöpfen zu dürfen; es stahl sich über der dunkeln Schwelle weg und lief wie ein Faden auf dem Marmorboden fort. Kaum wissend, was sie tat, aber angetrieben von der Liebe ihres Innern und von dem Rückblick auf den gemeinsamen, wenn schon nicht gemeinschaftlich gefühlten Verlust, kehrte sie zurück, erhob zitternd ihre Hände und glitt hinein.
Ihr Vater saß im mittleren Zimmer allein an dem alten Tisch. Er hatte einige Papiere in Ordnung gebracht und andere, die jetzt in Fetzen um ihn her lagen, zerrissen. Der Regen schlug schwer an die Scheiben des äußeren Fensters, wo er so oft dem armen Paul, als dieser noch ein kleines Kind war, zugeschaut hatte, und draußen ließ sich das dumpfe Klagen des Windes vernehmen.
Aber er hatte kein Ohr dafür, denn er saß so sehr in seinen Gedanken vertieft, mit auf den Tisch gerichteten Augen da, daß wohl ein schwererer Tritt als der leichte Fuß seines Kindes nötig gewesen wäre, ihn aufzuwecken. Sein Gesicht war ihr zugekehrt, und bei der düstern Lampe sah er in der späten Stunde der Nacht wie auch in seiner einsamen Umgebung so abgehärmt und niedergeschlagen aus, daß Florence aufs tiefste ergriffen wurde.
»Papa! Papa!« rief sie. »O sprecht mit mir, teurer Papa!«
Er stutzte bei dem Ton ihrer Stimme und sprang von seinem Sitz auf. Sie stand dicht vor ihm mit ausgebreiteten Armen; er aber wich zurück.
»Was gibt's?« fragte er finster. »Warum kommst du hierher? Was hat dich erschreckt?«
Wenn sie etwas erschreckt hatte, war es das Gesicht, das er jetzt ihr zuwandte. Die glühende Liebe in der Brust seiner jungen Tochter erstarrte davor zu Eis, und sie stand vor ihm und sah ihn an, als sei sie in Stein verwandelt.
Kein Zug von Zärtlichkeit oder Mitleid, kein Strahl von Teilnahme, väterlicher Anerkennung oder Milde lag darin. Allerdings hatte sich das Gesicht verändert, aber nicht auf eine den eben gedachten Eigenschaften entsprechende Weise. Die alte Gleichgültigkeit und der kalte Zwang hatten etwas anderem Platz gemacht; was aber dies war, hierüber wagte sie nicht einmal zu denken, obschon sie die ganze Macht davon fühlte und es kannte, ohne ihm einen Namen geben zu können; es schien auf sie niederzuschauen und einen Schatten über ihrem Haupte wegzuwerfen.
Sah er vor sich die glückliche Nebenbuhlerin seines Sohnes, lebend und in frischer Gesundheit? Sah er in ihr seine eigene Nebenbuhlerin in der Liebe desselben Sohnes? Vergiftete vielleicht eine wilde Eifersucht und zurechtgewiesener Stolz die süßen Erinnerungen, die das Mädchen ihm lieb und teuer hätten machen sollen? War's möglich, daß ihn der Anblick ihrer Schönheit und ihrer Hoffnungsfülle erbitterte, während er an den hingeschiedenen Knaben dachte?
Florence hegte keine solche Gedanken; aber die Liebe fühlt gar bald, wenn sie verachtet wird und nichts zu hoffen hat. Die Hoffnung erstarb in der ihren, als sie so dastand und zu dem Gesicht ihres Vaters aufblickte.
»Ich frage dich, Florence, ob dich etwas erschreckt hat? Ist etwas vorgefallen, was dich hierher führte?«
»Ich bin gekommen, Papa –«
»Gegen meine Wünsche. Warum?«
Sie sah – sie wußte warum; es stand deutlich auf seinem Gesicht geschrieben. Mit langem, gedämpftem Stöhnen ließ sie ihr Köpfchen auf ihre Hände sinken.
Möge das Zimmer sich noch viele künftige Jahre dessen erinnern. Der Wehlaut war in der Luft bereits verhallt, ehe noch der Vater das Schweigen brach. Er glaubte vielleicht, er werde sich desselben schnell entschlagen können; aber es hatte einen Haftpunkt gefunden in seinem Gehirn. Möge er sich dessen in diesem Zimmer erinnern noch viele kommende Jahre!
Er nahm sie beim Arm. Seine Hand war kalt, schlaff und schloß sich kaum über der ihren.
»Ich kann mir denken, daß du müde bist und der Ruhe bedarfst«, sagte er, indem er das Licht aufnahm und sie nach der Tür führte. »Wir alle brauchen Ruhe. Geh, Florence, du hast geträumt.«
Gott helfe ihr – der Traum, den sie gehabt hatte, war jetzt vorüber, und sie fühlte, daß er nicht mehr wiederkommen konnte.
»Ich will hier bleiben und dir die Treppe hinaufleuchten. Dort oben ist das ganze Haus dein«, sagte der Vater langsam. »Du bist jetzt seine Gebieterin. Gute Nacht.«
Schluchzend und noch immer das Antlitz mit ihren Händen bedeckend, antwortete sie: »Gute Nacht, teurer Papa!« und stieg dann schweigend hinan. Einmal noch schaute sie zurück, als wäre sie gern zurückgekommen, wenn sie sich nicht gefürchtet hätte. Es war ein augenblicklicher Gedanke, zu hoffnungslos, um Ermutigung zu finden; und ihr Vater stand mit dem Licht da, hart, stumm und regungslos – bis sich das flatternde Gewand seines schönen Kindes in der Dunkelheit verloren hatte.
Möge er sich des erinnern in jenem Zimmer noch viele kommende Jahre. Der Regen, der aufs Dach niederfällt, der Wind, der draußen trauert – ihr wehmütiger Ton schien anzuzeigen, als hätten sie eine Ahnung von dem, was hier vorging. Möge ihn jenes Zimmer daran mahnen noch viele künftige Jahre!
Als er sie das letztemal von demselben Platz aus die Treppe hinansteigen sah, hatte sie ihren Bruder in ihren Armen. Dieser Umstand war nicht geeignet, jetzt sein Herz für sie zu erweichen, sondern stählte es vielmehr. Er ging in sein Zimmer zurück, schloß die Tür ab, setzte sich in seinen Stuhl und weinte um den verlorenen Knaben.
Diogenes war hell wach und auf seinem Posten; er erwartete seine junge Gebieterin.
»O Di! o lieber Di! Liebe mich um seinetwillen!«
Diogenes liebte sie bereits um ihrer selbst willen und nahm es nicht sehr genau damit, wie er dies an den Tag legte. Er machte sich daher ungeheuer lächerlich, indem er in dem Vorzimmer allerlei ungeschlachte Sprünge tat; und als endlich Florence eingeschlafen war, um von den rosigen Kindern auf der andern Seite der Straße zu träumen, schloß er damit, daß er die Tür ihres Zimmers aufkratzte. Er rollte sein Bett in einen Ballen zusammen, legte sich an der vollen Länge seines Stricks auf die Dielen nieder, hielt den Kopf ihr zugekehrt und schaute, auf dem Rücken liegend, durch die Zotteln seiner Augen nach ihr hin, bis er endlich selbst nach langem Blinzeln und Nicken einschlief und mit dumpfem Knurren von seinem Feind träumte.
Neunzehntes Kapitel. WALTERS ABREISE.
Der hölzerne Midshipman an der Tür des Instrumentenmachers war ein sehr hartherziger kleiner Midshipman; denn er blieb über die Maßen gleichgültig gegen Walters Aufbruch und war selbst am Abend des allerletzten Tages, den unser junger Freund im Hinterstübchen verlebte, nicht aus seiner Fassung zu bringen. Mit seinem Quadranten vor dem schwarzen, knopfartigen Auge und mit einer Figur in der Haltung einer ungeheuern Heiterkeit entfaltete der Midshipman seine Nanking-Beinkleider im vorteilhaftesten Lichte und hatte, ganz und gar von seinen wissenschaftlichen Bestrebungen in Anspruch genommen, durchaus keinen Sinn für weltliche Angelegenheiten, Insoweit war er ein Geschöpf der Umstände, daß ein trockener Tag ihn mit Staub bedeckte, ein nebeliger aber ihn mit kleinen Rußkörnchen pfefferte, während ein nasser Tag seine schmutzige Uniform für den Augenblick wusch und ein heißer Wind auf seinem Ölfarbenanstrich Blasen zog; im übrigen aber war er ein hartschlägiger, eingebildeter Midshipman, der nur seine Entdeckungen im Auge hatte und sich so wenig um das, was auf Erden um ihn vorging, kümmerte, als Archimedes bei der Einnahme von Syrakus.
Ein solcher Midshipman schien er wenigstens bei der damaligen Lage der häuslichen Angelegenheiten zu sein. Walter pflegte oftmals, wenn er ein- und ausging, heiter nach ihm aufzublicken; und wenn der Neffe nicht da war, so kam der arme, alte Sol heraus, lehnte sich an den Türpfosten und ließ seine müde Perücke so nahe als nur möglich bei den Schuhschnallen dieses schützenden Genius seines Gewerbes und seines Ladens ausruhen. Aber kein wilder Götze mit einem Mund von einem Ohr zum andern, kein mörderisches Gesicht unter einer Krone von Papageienfedern konnte je so gleichgültig sein gegen die Bitten wilder Heiden, wie der Midshipman gegen solche Merkzeichen von Anhänglichkeit.
Es war Walter schwer ums Herz, als er sich von seinem alten Schlafgemach aus unter den benachbarten Böschungen und Firsten umsah; denn er konnte sich des Gedankens nicht entschlagen, daß die Nacht, die bereits zu dunkeln begann, seine Bekanntschaft mit ihnen vielleicht für immer schließen dürfte. Der kleine Vorrat von Büchern und Bildern war bereits entfernt; das Gemach sah deshalb so kalt und vorwurfsvoll auf den Deserteur nieder, als ahne es bereits die bevorstehende Entfremdung. »Nur noch einige Stunden«, dachte Walter, »und die Träume, die ich in meiner Knabenzeit hier hatte, werden ebensowenig mir gehören, wie dieses alte Zimmer. Möglich, daß sie wieder in meinem Schlaf zurückkehren, und vielleicht fügt sich's auch, daß ich als Wachender abermals diesen Platz betrete. Nun, der Traum wenigstens wird keinem andern Herrn dienen, aber das Zimmer beherbergt möglicherweise Dutzende, von denen jeder Veränderungen darin vornimmt, es vernachlässigt oder mißbraucht.«
Aber sein Onkel durfte nicht verlassen in dem kleinen Hinterstübchen bleiben, wo er eben damals allein saß; denn trotz seines rauhen Wesens rücksichtsvoll, war Kapitän Cuttle gegen seine Neigung weggeblieben, damit Onkel und Neffe sich ungestört noch sprechen könnten. Walter, der eben von dem Geschäft des letzten Tages zurückgekehrt war, stieg deshalb schleunig wieder hinunter, um ihm Gesellschaft zu leisten.
»Onkel«, sagte er heiter, indem er die Hand auf die Schulter des alten Mannes legte, »was soll ich Euch von Barbados senden?«
»Hoffnung, mein lieber Wally – die Hoffnung, daß wir uns wiedersehen auf dieser Seite des Grabes. Von ihr schicke mir, soviel du kannst.«
»Soll geschehen, Onkel. Ich habe genug davon, und sogar noch übrig; ich will deshalb nicht damit kargen! Auch rührige Schildkröten, Limonen für Kapitän Cuttles Punsch, Eingemachtes für Euch an Sonntagen, und was dergleichen mehr ist. Ihr sollt ganze Schiffslasten davon erhalten, Onkel, wenn ich reich genug bin.«
Der alte Sol wischte seine Brille und lächelte matt vor sich hin.
»So ist's recht, Onkel!« rief Walter in fröhlichem Tone, indem er ihn ein halbdutzendmal weiter auf die Schulter klopfte. »Ihr macht mir frohen Mut, und ich will ein gleiches an Euch tun! Morgen wollen wir so fröhlich ausfliegen, wie die Lerchen, Onkel, und ebenso hoch. Ich denke, sie singen lustig, obschon wir sie noch nicht sehen.«
»Wally, mein lieber Knabe«, entgegnete der Greis, »ich will mein Bestes tun – ich will mein Bestes tun.«
»Und Euer Bestes, Onkel«, sagte Walter mit frohem Lachen, »ist das Beste, was es meines Wissens geben kann. Ihr vergeßt doch nicht, was Ihr mir zu senden habt, Onkel?«
»Nein, Wally, nein«, erwiderte der alte Mann. »Alles, was ich über Miß Dombey höre – über das arme Lamm, das jetzt so verlassen ist – will ich dir schreiben. Freilich fürchte ich, es wird nicht viel sein, Wally.«
»Ich will Euch was sagen, Onkel«, versetzte Walter nach einem kurzen Stocken, »ich bin eben erst oben gewesen.«
»So? – ei, ei!« murmelte der alte Mann, seine Augenbrauen und mit ihnen die Brille erhebend.
»Nicht, um sie zu sprechen«, sagte Walter, »obgleich mir dies wahrscheinlich wohl möglich gewesen wäre, wenn ich darum nachgesucht hätte, denn Mr. Dombey befindet sich nicht in der Stadt. Ich wollte mich bloß von Susanna verabschieden. Ihr wißt, etwas der Art konnte ich unter den obwaltenden Umständen wohl wagen – die Art, wie ich Miß Dombey zum letzten Male sah, gibt mir einige Berechtigung dazu.«
»Ja, mein Junge, ja«, entgegnete sein Onkel, sich aus seiner augenblicklichen Zerstreutheit aufraffend.
»Ich sprach sie also«, fuhr Walter fort – »Susanna nämlich, und sagte ihr, daß ich morgen meine Reise antreten werde. Auch sagte ich ihr, Onkel, seit dem Abend ihres Hierseins habt Ihr Euch stets für Miß Dombey sehr interessiert, innigen Anteil an ihrem Glück, an ihrem Wohlbefinden genommen, und Ihr würdet es Euch stets zum Stolz und zur Freude rechnen, wenn sich für Euch nur die mindeste Gelegenheit biete, ihr Dienste zu leisten. Wie die Sachen stehen, glaubte ich wohl, soviel sagen zu dürfen. Seid Ihr nicht auch dieser Meinung?«
»Ja, mein Junge, ja«, erwiderte der Onkel in demselben Tone, wie früher.
»Und ich fügte hinzu«, sagte Walter, »wenn sie – Susanna nämlich – entweder in eigener Person, oder durch Mrs. Richards, oder durch irgend jemand, der vielleicht dieses Wegs käme, Euch zu wissen tun könne, daß Miß Dombey wohl und glücklich sei, so würde es Euch sehr freuen, und Ihr würdet es auch mir schreiben, und auch ich würde mich glücklich darüber fühlen. So steht's also! Auf mein Wort, Onkel«, fuhr Walter fort, »der Gedanke, wie ich dies ausführen wolle, ließ mich die letzte Nacht kaum schlafen, und selbst nachdem ich mich auf den Weg gemacht hatte, konnte ich nicht mit mir einig werden, ob ich's tun sollte oder nicht. Und doch war mein Herz so ganz von diesem Drange erfüllt, daß ich mich später recht unglücklich gefühlt hätte, wenn es mir nicht möglich geworden wäre, ihm Erleichterung zu verschaffen.«
Der ehrliche Ton und das treuherzige Wesen bekräftigten, was er sagte, so daß man an der Aufrichtigkeit seiner Worte nicht zweifeln konnte.
»Wenn Ihr sie also je seht, Onkel«, sagte Walter, »ich meine jetzt Miß Dombey – und wer weiß, vielleicht geschieht es! – so sagt ihr, wie tief ich für sie gefühlt habe und wie sehr sie stets der Gegenstand meiner Gedanken gewesen, solange ich mich in Eurem Hause befand; ja, sagt ihr, wie ich noch in der letzten Nacht vor meiner Abreise mit Tränen in den Augen von ihr gesprochen, und wie ich nie ihr edles Wesen, ihr schönes Antlitz, oder das Beste von allem, ihren lieblichen, wohlwollenden Charakter, vergessen könne. Und da ich sie nicht von den Füßen einer Jungfrau oder einer jungen Dame, sondern von denen eines kleinen, unschuldigen, jungen Kindes genommen habe«, fügte Walter bei, »so könnt Ihr auch, wenn Ihr meint, daß es angehe, gegen sie bemerken, ich habe jene Schuhe – sie wird sich noch erinnern, wie oft sie dieselben an jenem Abend verlor – aufbewahrt und als Andenken mitgenommen.«
Sie traten eben mit einem von Walters Koffern die Wanderung an. Ein Lastträger führte das Gepäck auf einem Schubkarren fort, damit es in den Docks an Bord des Sohnes und Erben geschafft werden konnte. Dies geschah unter den Augen des gefühllosen Midshipmans, noch ehe der Eigentümer die vorigen Worte zu Ende gebracht hatte. Freilich mußte man dem ehrenwerten Midshipman seine Unempfindlichkeit gegen den Schatz, der eben fortgerollt wurde, zugute halten; denn in demselben Moment und genau im Gesichtskreis seiner Beobachtung zeigte sich seinen erstaunten, weit offenen Blicken Florence und Susanna Nipper. Florence schaute halb schüchtern zu seinem Gesicht auf, und wurde deshalb mit dem ganzen hölzernen Glotzen seines hölzernen Auges beehrt.
Noch mehr als dies – sie gingen in den Laden hinein und kamen durch die Tür des Wohnstübchens, noch ehe sie von jemand als von dem Midshipman bemerkt worden waren. Auch würde Walter, der den Rücken der Tür zugekehrt hielt, auch jetzt noch nichts von ihrem Erscheinen erfahren haben, wenn er nicht gesehen hätte, daß sein Onkel plötzlich von seinem Stuhl aufsprang und beinahe über einen andern gestrauchelt wäre.
»Was habt Ihr, Onkel?« rief Walter. »Was gibt's?«
Der alte Solomon versetzte:
»Miß Dombey.«
»Wär's möglich!« rief Walter, sich rasch umschauend, und die Reihe des Erstaunens kam jetzt an ihn. »Hier!«
Nun ja, es war so möglich und so wirklich, daß, während die Worte noch auf seinen Lippen schwebten, Florence an ihm vorbeieilte, in jede Hand einen von Onkel Sols schnupftabakfarbigen Rockärmeln nahm, ihn auf die Wange küßte und dann sich umwandte, um mit einer einfachen Offenheit, wie sie auf der ganzen Welt an niemandem als an ihr zu finden war, Walter die Hand zu reichen.
»Ihr wollt fort, Walter?« sagte Florence.
»Ja, Miß Dombey«, versetzte er, aber nicht so hoffnungsvoll, als er sich anzustellen bemühte. »Es steht mir eine Reise bevor.«
»Und Euer Onkel«, sagte Florence, auf Sol zurückschauend. »Ich bin überzeugt, es muß ihm leid tun, daß Ihr geht. Ja, ich seh' es! Lieber Walter, auch ich bedaure es sehr.«
»Der Himmel weiß«, rief Miß Nipper, »es gibt viele, die wir dafür entbehren könnten, wenn Zahlen dabei in Frage kämen, Mrs. Pipchin als Aufseherin wäre noch wohlfeil, wenn man sie in Gold aufwöge, und sofern Kenntnis der schwarzen Sklaverei erforderlich wäre, würde niemand besser für diesen Posten passen, als jene Blimbers.«
Mit diesen Worten band Miß Nipper ihr Hutband auf, guckte ein Weilchen mit großen Augen in einen kleinen schwarzen Teetopf, der zum Zwecke des gewöhnlichen häuslichen Dienstes auf dem Tisch stand, schüttelte den Kopf zugleich mit einer zinnernen Büchse und begann unaufgefordert den Tee zu bereiten.
Mittlerweile hatte sich Florence wieder an den Instrumentenmacher gewandt, der vor Bewunderung und Überraschung kaum zu sich kommen konnte. »So gewachsen!« sagte der alte Sol. »So schön geworden! Und doch nicht verändert! Just noch dieselbe!«
»Wirklich?« versetzte Florence.
»J – ja«, entgegnete der alte Sol, langsam seine Hände reibend und den Gegenstand halblaut in Erwägung ziehend, da etwas Sinniges in den klaren Augen, die ihn ansahen, seine Aufmerksamkeit fesselte. »Ja, dieser Ausdruck war auch in dem jüngeren Gesicht!«
»Ihr erinnert Euch meiner noch!« sagte Florence mit einem Lächeln, Ihr wißt noch, was ich damals für ein kleines Geschöpf war!«
»Meine teure junge Lady«, erwiderte der Instrumentenmacher, »wie hätte ich Euch vergessen können, da ich seitdem so oft an Euch dachte und von Euch hörte! Ja, sogar in demselben Augenblick, als Ihr hereinkamt, sprach Walter mit mir von Euch und gab mir Aufträge an Euch und –«
»Tat er das?« sagte Florence. »Ich danke Euch, Walter – o, ich danke Euch, Walter! Ich fürchtete, Ihr könntet abreisen und dabei kaum an mich denken.«
Abermals reichte sie herzlich und aufrichtig ihre kleine Hand Walter hin, der sie einige Momente festhielt und sie fast nicht wieder loslassen wollte.
Und doch hielt er sie nicht so fest, wie er es vielleicht vordem getan haben würde. Jene alten Träume seiner Knabenzeit, die sogar später noch hin und wieder an ihm vorbeiglitten, traten nicht aufs neue ins Leben, um ihn mit ihren unbestimmten Formen zu verwirren. Die Reinheit und Unschuld ihres herzlichen Wesens, ihre Zutraulichkeit und die unverhüllte Achtung für ihn, die sich so tief in ihrem treuen Auge aussprach und über ihr schönes Gesicht durch das beschattende Lächeln glimmte – denn leider sprach sich zu viel Wehmut in diesem Lächeln aus, als daß es hätte leuchten können –, alles dies hatte nichts Romantisches an sich. Seine Gedanken wurden dadurch zurückgeführt an das frühe Sterbebett, an dem sie geweint, an die Liebe, die das Kind zu ihr gehegt hatte; und auf den Schwingen solcher Erinnerungen schien sie sich weit über seine eiteln Träumereien in eine klarere und heiterere Luft zu erheben.
»Ich – ich fürchte, ich muß Euch Walters Onkel nennen, Sir«, sagte Florence zu dem alten Mann – »wenn Ihr es mir gestatten wollt.«
»Meine teure junge Dame«, rief der alte Sol, »du mein Himmel, wie kommt Ihr zu einer solchen Frage?«
»Wir haben Euch stets unter diesem Namen gekannt und von Euch gesprochen«, entgegnete Florence, indem sie sich mit einem leichten Seufzer in dem Zimmer umsah. »Das alte nette Stübchen! Ganz so, wie früher! Wie gut erinnere ich mich seiner!«
Der alte Sol schaute zuerst nach ihr, dann nach seinem Neffen hin, rieb sich die Hände, putzte seine Brille und sagte halblaut vor sich hin:
»O Zeit, Zeit, Zeit!«
Es fand ein kurzes Stillschweigen statt, und Susanna Nipper holte inzwischen ganz geschickt zwei Extra-Tassen aus dem Seitenschrank heraus, worauf sie mit gedankenvoller Miene dem Ziehen des Tees zusah.
»Es liegt mir etwas auf dem Herzen, was ich Walters Onkel mitteilen muß«, sagte Florence, indem sie schüchtern ihre Hand auf die des alten Mannes, die auf dem Tisch ruhte, legte, um seine Aufmerksamkeit zu fesseln. »Er bleibt allein zurück, und wenn er mir erlauben will – nicht gerade Walters Platz einzunehmen, denn dies wäre unmöglich, aber doch sein treuer Freund zu sein und ihm während Walters Abwesenheit Beihilfe zu leisten, so werde ich's ihm in der Tat sehr Dank wissen. Erlaubt Ihr mir dies? Darf ich, Walters Onkel?«
Ohne eine Silbe der Erwiderung erhob der Instrumentenmacher ihre Hand zu seinen Lippen; Susanna aber lehnte mit gekreuzten Armen in dem Präsidentenstuhl, den sie sich selbst zugeeignet hatte, zurück bis auf das eine Ende ihres Hutbandes und schaute mit einem kurzen Seufzer nach dem hohen Fenster hinauf.
»Ihr müßt mir gestatten, daß ich Euch besuchen darf, wenn ich kann«, fuhr Florence fort, »und Ihr erzählt mir alles von Euren Angelegenheiten und von Walter. Auch vor Susanna braucht Ihr kein Geheimnis zu haben, wenn sie an meiner Statt kommt. Schenkt uns Euer Vertrauen und baut auf uns. Nicht wahr, Walters Onkel, Ihr erlaubt uns, daß wir Euch trösten dürfen?«
Das süße Gesicht, das zu dem seinigen aufsah, die sanft bittenden Augen, die weiche Stimme und die leichte Berührung seines Armes, noch ansprechender gemacht durch die Achtung und Ehrerbietung eines Kindes vor seinem Alter, wodurch das Ganze den Ausdruck anmutigen Zweifelns und bescheidenen Zauderns erhielt – alles dies in Vereinigung mit der natürlichen Innigkeit des Mädchens überwältigte den armen, alten Instrumentenmacher dermaßen, daß er nur antworten konnte:
»Wally, sprich ein Wort für mich, mein Lieber. O, wie dankbar bin ich!«
»Nein, Walter«, entgegnete Florence mit ihrem ruhigen Lächeln, »ich muß mir's verbitten, daß Ihr für ihn einsteht. Ich begreife ihn vollkommen, und wir müssen lernen, miteinander zu reden, ohne daß wir Euch dabei haben, lieber Walter.«
Der schmerzliche Ton, in dem sie die letzteren Worte sprach, ergriff Walter mehr als alles übrige.
»Miß Florence«, versetzte er, indem er sich alle Mühe gab, das heitere Wesen beizubehalten, das er bisher seinem Onkel gegenüber zur Schau gestellt hatte, »ich kann in der Tat ebensowenig sagen, wie mein Onkel, um Euch für so viele Güte den gebührenden Dank abzustatten. Ja, wenn ich eine ganze Stunde fortsprechen müßte, so vermöchte ich wahrhaftig nicht weiter auszudrücken, als daß es Euch so ganz gleich sieht!«
Susanna Nipper machte nun mit einem neuen Teil ihres Hutbandes den Anfang und nickte beifällig über die ausgesprochene Rede nach dem Hochfenster hinauf.
»Aber, Walter«, sagte Florence, »ich muß Euch noch etwas sagen, ehe Ihr abreist. Seid so gut, mich künftighin Florence zu nennen, und nicht mit mir zu sprechen, als wäre ich eine Fremde.«
»Eine Fremde?« entgegnete Walter. »Nein. Euch dafür anzunehmen, wäre mir unmöglich. Wenigstens widerstritte es allen meinen Gefühlen.«
»Damit bin ich noch nicht zufrieden, und es ist nicht das, was ich meine. Ach, Walter«, fügte Florence, in Tränen ausbrechend, bei, »er liebte Euch so sehr und legte noch vor seinem Sterben Zeugnis davon ab, als er sagte: ›Vergeßt Walter nicht!‹ Wenn Ihr mir also statt dessen, der hingegangen ist, ein Bruder sein wollt, Walter – denn ich habe jetzt keinen mehr auf Erden –, so will ich mein ganzes Leben über Eure Schwester sein und stets mit schwesterlicher Liebe an Euch denken, wo immer wir auch sein mögen! Dies habe ich Euch sagen wollen, lieber Walter, obschon ich es nicht vorzubringen weiß, wie ich gern möchte, weil mir das Herz zu voll ist.«
Und in der Überfülle und in der holden Einfachheit dieses Herzens bot sie ihm ihre beiden Hände hin. Walter ergriff sie, beugte sich darauf nieder und berührte das tränenvolle Antlitz, das weder zurückwich, noch sich abwandte, ja nicht einmal darob errötete, sondern voll Vertrauen und Zuversicht zu ihm aufschaute. In diesem einzigen Augenblick entwich jeder Schatten von Zweifel aus Walters Seele. Es kam ihm vor, er antworte auf ihre unschuldige Bitte neben dem Lager des toten Kindes, und in dem Hinblick auf jene ernste Szene gelobte er sich, auch in seiner Verbannung sogar ihr Bild mit brüderlicher Liebe zu hegen und zu pflegen, ihr edles Vertrauen unverletzt zu erhalten und sich selbst vor der Herabwürdigung zu bewahren, daß er je einem Gedanken Raum geben könnte, der nicht ihrer eigenen Brust entquollen.
Susanna Nipper, die inzwischen ihre beiden Hutbänder schwer zerarbeitet und während dieser Verhandlung einen großen Teil von Privaterregung nach dem Hochfenster entsandt hatte, brachte nun die Unterhandlung auf einen andern Gegenstand, indem sie fragte, wem Milch und wem Zucker beliebe. Nachdem sie über diesen Punkt belehrt worden, schenkte sie den Tee ein. Alle vier sammelten sich gesellig, um den kleinen Tisch und genossen die kleine Labung unter der tätigen Leitung vorgedachter jungen Dame. Die Gegenwart Florences aber in dem Hinterstübchen übte sogar einen erheiternden Eindruck auf die Tartaren-Fregatte an der Wand.
Eine halbe Stunde früher wäre Walter ums Leben nicht imstande gewesen, sie bei ihrem Vornamen anzureden; jetzt aber konnte er es tun, da sie ihn selbst darum gebeten hatte. Er konnte an ihre Gegenwart denken, ohne daß ihn ängstliche Ahnungen beschlichen, es wäre vielleicht besser gewesen, wenn sie nicht gekommen wäre. Mit aller Ruhe durfte er jetzt dem Gedanken nachhängen, wie schön, wie hoffnungsvoll sie sei, und welch eine glückliche Heimat seinerzeit einem sterblichen Mann in ihrem Herzen vorbehalten war. Er konnte mit Stolz Betrachtungen anstellen über seinen eigenen Platz in ihrem Herzen; und wenn er sich auch nicht gerade sagen durfte, daß er diese Auszeichnung verdiene, weil sie so hoch über ihm stand, so kam er doch zu dem mannhaften Entschluß, derselben keine Unehre zu machen.
Irgendein zauberhafter Einfluß mußte wohl die Hände von Susanna Nipper umschwebt haben, als sie den Tee machte; denn er sprach sich aus in der ruhigen Haltung, die während obiger Verhandlungen in dem Hinterstübchen herrschte. Eine feindselige Gegenwirkung beherrschte aber sicherlich die Zeiger von Onkel Sols Chronometer und bewegte sie schneller, als die Tartaren-Fregatte je vor dem Wind lief. Dem mochte übrigens sein, wie ihm wolle, nicht fern in einer ruhigen Ecke wartete eine Kutsche auf die beiden Gäste, und als man zufällig den Chronometer zu Rate zog, gab er eine so entschiedene Meinung ab, daß man nach einer so unanfechtbaren Autorität unmöglich die Tatsache bezweifeln konnte, sie warte schon sehr lange. Hätte Onkel Sol nach seinem eigenen Stundenglas gehängt werden sollen, so würde er sicherlich nicht zugegeben haben, daß der Chronometer auch nur um den kleinsten Bruchteil einer Sekunde zu schnell gehe.
Zum Abschied wiederholte Florence dem alten Mann alles, was sie bereits gesagt hatte, und verpflichtete ihn hoch und teuer auf Haltung seines Vertrags. Onkel Sol begleitete sie liebevoll bis zu den Beinen des hölzernen Midshipman und überantwortete sie dort an Walter, der sie und Susanna Nipper nach der Kutsche führte.
»Walter«, sagte Florence unterwegs, »ich scheute mich, Euch vor Eurem Onkel zu fragen. Glaubt Ihr, daß Ihr sehr lange abwesend sein werdet?«
»Ich weiß es in der Tat nicht«, entgegnete Walter, »obschon ich es fürchte. Wenn ich nicht irre, so hat Mr. Dombey darauf hingedeutet, als er mich für diesen Posten bestimmte.«
»Trifft Euch dadurch eine Vergünstigung, Walter?« fragte Florence nach kurzem Stocken, indem sie zugleich ängstlich zu seinem Gesicht aufsah.
»Durch die Stelle?« erwiderte Walter.
»Ja.«
Walter würde gerne eine Welt darum gegeben haben, wenn er hätte ja antworten können; aber sein Gesicht antwortete, ehe dies seinen Lippen möglich wurde, und Florence war zu achtsam, um diese Antwort nicht zu verstehen.
»Ich fürchte, Ihr seid kaum ein Liebling meines Papas gewesen?« fragte sie schüchtern.
»Ich wüßte auch keinen Grund, warum ich es hätte sein sollen«, versetzte Walter lächelnd.
»Keinen Grund, Walter?«
»Es war wenigstens kein Grund vorhanden«, entgegnete Walter, der wohl begriff, was sie meinte. »Das Haus beschäftigt viele Leute, und zwischen Mr. Dombey und einem jungen Manne, wie ich bin, findet ein weiter Abstand statt. Erfülle ich meine Schuldigkeit, so tue ich nur, was mir obliegt, und bei allen übrigen ist dies der gleiche Fall.«
Hatte vielleicht Florence eine Ahnung, deren sie sich kaum recht bewußt gewesen – eine Ahnung, die unbestimmt und unbestimmbar ins Dasein trat seit jener Nacht, in der sie nach dem Zimmer ihres Vaters hinuntergegangen war – daß nämlich Walters zufälliges Interesse an ihr und der Umstand, daß er sie früh kennengelernt, ihm die folgenreiche Abneigung Mr. Dombeys zugezogen habe? Trug sich Walter mit einer solchen Idee, oder flog ihn der plötzliche Gedanke an, in diesem Augenblicke könnte etwas der Art ihren Geist beschäftigen? Keins von beiden deutete darauf hin, und eine kurze Weile herrschte tiefes Schweigen. Susanna ging auf der andern Seite von Walter und faßte ihn sowohl als ihre Schutzbefohlene scharf ins Auge. Sicherlich wanderten Miß Nippers Gedanken in dieselbe Richtung, und zwar mit großer Zuversichtlichkeit.
»Ihr kommt vielleicht bald wieder zurück, Walter«, sagte Florence.
»Es kann sein, daß ich als alter Mann wiederkehre«, sagte Walter, »und daß ich Euch dann als alte Dame treffe. Wir wollen übrigens auf Besseres hoffen.«
»Papa wird«, sagte Florence nach einer kurzen Pause – »er wird sich von seinem Schmerz erholen und – und vielleicht mit der Zeit offener gegen mich sprechen. Geschieht dies, so will ich ihm sagen, wie lieb es mir wäre, wenn Ihr wieder zurückkämet; ich will ihn dann bitten, daß er Euch um meinetwillen von Eurem Posten abberufe.«
Als sie von ihrem Vater sprach, lag in den Worten eine rührende Modulation, die Walter nur zu wohl verstand. Sie waren in der Nähe der Kutsche angelangt, und er würde sie verlassen haben, ohne zu sprechen, denn er fühlte jetzt, was Scheiden war. Aber nachdem Florence schon Platz genommen, hielt sie noch immer seine Hand fest, und Walter bemerkte jetzt, daß sie ein kleines Paket in der ihrigen hatte.
»Walter«, sagte sie, mit seelenvollem Blicke zu ihm aufschauend, »gleich Euch will ich auf etwas Besseres hoffen. Ich will darum beten und den Glauben festhalten, daß es nicht ausbleiben werde. Diese kleine Gabe habe ich für Paul gemacht. Ich bitte Euch, nehmt es mit der Liebe auf, mit der es gegeben wird, und seht es nicht an, bis Ihr Eure Reise angetreten. Jetzt Gott befohlen, Walter! Vergeßt mich nicht, Ihr seid mir ein lieber Bruder.«
Walter war froh, daß Susanna Nipper dazwischenkam, da er sonst nicht den günstigsten Eindruck zurückgelassen haben dürfte. Er war froh, daß sie nicht wieder zur Kutsche heraussah, sondern statt dessen nur mit ihrer kleinen Hand ihm zuwinkte, solange der Wagen in seinem Gesichtskreise blieb.
Trotz ihrer Bitten konnte er nicht umhin, noch am selben Abend vor Schlafengehen das Paket zu öffnen. Es enthielt eine kleine Börse.
Hell erhob sich am andern Morgen die Sonne nach ihrer Wanderung durch fremde Länder, und mit ihr stand Walter auf, um den Kapitän einzulassen, der bereits an der Tür stand. Letzterer war nämlich weit früher, als nötig gewesen wäre, aus den Federn gekrochen, um unter Segel zu kommen, solang Mrs. Mac Stinger noch schlummerte. Der Kapitän tat äußerst aufgeräumt und brachte in einer der Taschen seines weiten blauen Rocks eine sehr hart geräucherte Zunge zum Frühstück mit.
»Und Wal'r«, sagte der Kapitän, als sie an dem Tische Platz nahmen, »wenn Euer Onkel der Mann ist, für den ich ihn halte, so wird er für den gegenwärtigen Anlaß jene letzte Madeira-Flasche heraufholen.«
»Nein, nein, Ned«, versetzte der alte Mann. »Nein. Sie wird erst angebrochen, wenn Walter wieder zurückkommt.«
»Wohl gesprochen!« rief der Kapitän. »Da höre man ihn.«
»Drunten liegt sie«, sagte Sol Gills, »in dem kleinen Keller, mit Staub und Spinnweben bedeckt. Vielleicht liegen Staub und Spinnweben über Euch und mir, Ned, ehe sie das Licht erblickt.«
»Höre man ihn!« entgegnete der Kapitän. »Eine gute Moral, Wal'r, mein Junge. Zieht den Feigenbaum in der Art, wie er wachsen soll, und wenn Ihr alt seid, könnt Ihr unter seinem Schatten sitzen. Nachzusehen – na«, fügte der Kapitän nach weiterem Besinnen bei, »ich weiß nicht ganz gewiß, wo dies zu finden ist; aber wenn Ihr's gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Macht nur fort, Sol Gills!«
»Aber da oder irgendwo anders soll sie liegen bleiben. Und bis Wally zurückkommt, um sie in Anspruch zu nehmen«, erwiderte der alte Mann. »Dies ist alles, was ich sagen wollte.«
»Und ist obendrein gut gesagt«, versetzte der Kapitän. »Wenn wir drei die Flasche nicht gemeinschaftlich anbrechen, so gebe ich Euch beiden die Erlaubnis, meinen Anteil zu trinken.«
Ungeachtet der großen Heiterkeit des Kapitäns wußte er doch mit der hart geräucherten Zunge nicht gut zurechtzukommen, obschon er sich dabei alle Mühe gab und, wenn man ihm zuschaute, tat, als esse er mit gewaltigem Appetit. Zugleich hatte er große Angst, mit einem von beiden, entweder mit dem Onkel oder mit dem Neffen, allein zu bleiben; denn sichtlich bestand seine einzige Hoffnung, den Schein zu wahren, in dem Umstand, daß von dem Kleeblatt keins fortging. Diese Besorgnis bewog ihn zu so sinnreichen Ausweichungen, daß er, wenn Solomon sich entfernte, um seinen Rock anzuziehen, unter dem Vorwand nach der Tür lief, er habe eine außerordentliche Kutsche vorbeifahren sehen; und als sich Walter die Treppe hinaufbegab, um von den Hausleuten Abschied zu nehmen, eilte Ehren Cuttle auf die Straße hinaus, weil er meinte, er habe aus einem benachbarten Schornstein einen Brandgeruch wahrgenommen. Natürlich mußten dergleichen Kunstgriffe jedem uninspirierten Beobachter ganz unergründlich sein.
Als Walter von seiner Verabschiedung wieder herunterkam und durch den Laden nach dem kleinen Hinterstübchen gehen wollte, bemerkte er ein bekanntes verblichenes Gesicht, das durch die Tür hereinsah. Er eilte darauf zu.
»Mr. Carker!« rief Walter, John Carker dem Jüngeren die Hand drückend. »Bitte, kommt herein! Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr so früh hierher kommt, um mir Lebewohl zu sagen. Ihr wußtet wohl, wie es mich freuen mußte, vor meinem Abgange Euch noch einmal die Hand reichen zu können, und daß mir diese Gelegenheit noch wird, macht mich überglücklich. Bitte, kommt herein.«
»Es ist nicht wahrscheinlich, daß wir uns je wiedersehen, Walter«, entgegnete der andere, ohne der Einladung Folge zu geben. »Auch ich freue mich über diese Gelegenheit, und am Vorabende der Trennung darf ich es wohl wagen, mit Euch zu sprechen und Euch die Hand zu reichen. Fürderhin brauche ich mich vor Euren zutraulichen Annäherungen nicht mehr zu hüten, Walter.«
Diese Worte begleitete er mit einem wehmütigen Lächeln, das zeigte, daß er auch hierin schon einen freundlichen Anhaltspunkt für seine Gedanken gefunden habe.
»Ach, Mr. Carker«, entgegnete Walter, »und warum seid Ihr denn so behutsam gewesen? Ich bin überzeugt, daß ich von Euch nur gute Eindrücke empfangen hätte.«
Mr. Carker schüttelte den Kopf.
»Wenn ich auf Erden noch etwas Gutes tun könnte«, sagte er, »so geschähe es sicherlich um Euretwillen herzlich gern, Walter. Der Umstand, daß ich Euch Tag für Tag sah, ist mir zugleich Wonne und Vorwurf gewesen, aber das erstere Gefühl hat das andere bei weitem überboten. Ich empfinde dies erst jetzt recht, nachdem ich weiß, was ich verliere.«
»Kommt herein, Mr. Carker, damit ich Euch mit meinem guten alten Onkel bekannt mache«, drängte Walter. »Ich habe oft mit ihm von Euch gesprochen, und er wird sich freuen, wenn er Euch alles erzählen kann, was er von mir hörte. Von unserem letzten Gespräch«, fügte Walter mit einiger Verlegenheit hinzu, als er das Zögern des andern bemerkte, »habe ich ihm nichts mitgeteilt, Mr. Carker. Ihr dürft mir glauben, nicht einmal gegen ihn wurde etwas davon geäußert.«
Der graue Junior drückte ihm die Hand, und Tränen stiegen ihm in die Augen.
»Wenn ich ihn kennenlerne, Walter«, entgegnete er, »so soll es um deswillen geschehen, damit ich Nachrichten von Euch höre. Verlaßt Euch darauf, daß ich von Eurer Nachsicht und Eurer Rücksichtnahme keinen Mißbrauch mache. Es wäre aber wirklich unrecht, wenn Ihr ihm nicht die volle Wahrheit mitteilt, ehe ich ein Wort des Vertrauens von ihm nachsuchte. Ich habe keinen Freund, keinen Bekannten, als Euch; und selbst wenn es um Euretwillen geschehen müßte, wäre wenig Wahrscheinlichkeit vorhanden, daß ich einen gewänne.«
»Wollte Gott«, versetzte Walter, »Ihr hättet mir gestattet, in Wirklichkeit Euer Freund zu sein. Ihr wißt, Mr. Carker, daß ich es stets wünschte, aber nie nur halb so viel als jetzt, nun wir uns verabschieden sollen.«
»Es ist genug«, entgegnete der andere, »daß Ihr der Freund meines Herzens gewesen seid; denn wenn ich Euch am meisten mied, zog mich dieses am meisten zu Euch hin und war übervoll von Euch. Lebt wohl, Walter!«
»Lebt wohl, Mr. Carker! Gott sei mit Euch!« rief Walter in warmer Erregung.
»Wenn Ihr zurückkommt«, sagte der andere, während des Sprechens Walters Hand festhaltend, »und mich an meiner alten Ecke vermißt – wenn Ihr dann von irgend jemand hört, wo ich liege, so macht einen Besuch an meinem Grabe, denkt dabei, daß ich ebenso ehrlich und glücklich hätte sein können, wie Ihr, und laßt mich, wenn mein Stündlein kommt, mit der Hoffnung sterben, daß ein Abbild meines früheren Ichs einstens für einen Moment an meine Ruhestätte treten werde, um sich meiner mit Mitleid und Nachsicht zu erinnern. Lebt wohl, Walter!«
Seine Gestalt schlich wie ein Schatten die Straße hinab, die klar und feierlich an diesem frühen Morgen von der Sonne beschienen war. Langsam entschwand sie dem Blick.
Endlich meldete der unbarmherzige Chronometer, daß Walter dem hölzernen Midshipman seinen Rücken kehren müsse. Er stieg daher mit seinem Onkel und dem Kapitän in eine Kutsche, um sich nach der Werft hinführen zu lassen, wo sie vermittels eines Dampfboots nach irgendeiner Flußbiegung aufzubrechen gedachten, deren Name, wie der Kapitän meinte, für die Ohren der Landbewohner ein hoffnungsloses Geheimnis sei. Nach der beabsichtigten Stelle war das Schiff mit der Flut der letzten Nacht gekommen, und wie sie den Platz erreichten, wurden sie von unterschiedlichen aufgeregten Bootsführern, darunter namentlich einem Zyklopen von des Kapitäns Bekanntschaft, geentert, der mit seinem einzigen Auge den alten Freund schon auf tausend Ellen hin erspäht und seitdem fortwährend ein unverständliches Gebrüll mit demselben gewechselt hatte. Nachdem sie die gesetzliche Prise dieser Person geworden, die schrecklich heiser war und sich vielleicht seit Monaten nicht rasiert hatte, wurde das gesamte Kleeblatt an Bord des Sohns und Erben gebracht. Der Sohn und Erbe aber befand sich in großer Verwirrung; denn die Segel lagen bunt durcheinander auf dem nassen Deck; man strauchelte über die losen Taue, und Matrosen in roten Hemden liefen barfuß ab und zu, um jeden Fuß Raum mit Fässern zu versperren. Und wo die Unordnung am größten war, stand ein schwarzer Koch in einer schwarzen Kombüse, vom Rauch fast geblendet und unter einem Haufen von Gemüsepflanzen, die ihm bis zu den Augen reichten.
Der Kapitän nahm sofort Walter in eine Ecke und zog daselbst mit großer Anstrengung, so daß sein Gesicht ganz rot darüber wurde, die große silberne Uhr heraus, die so fest in seiner Tasche stak, daß sie bei der gedachten Operation wie ein Faßspund klappte.
»Wal'r«, sagte der Kapitän, indem er ihm die Uhr hinbot und ihm zugleich herzlich die Hand drückte, »ein Andenken auf die Reise, mein Junge. Rückt sie jeden Morgen um eine halbe Stunde und jeden Abend um eine Viertelstunde zurück, so ist's eine Uhr, daß Ihr Freude daran haben werdet.«
»Kapitän Cuttle, an etwas der Art dürft Ihr nicht denken«, rief Walter, indem er den alten Gentleman am Rocke festhielt, weil derselbe Reißaus nehmen wollte. »Ich bitte, nehmt sie zurück. Ich bin bereits mit einer Uhr versehen.«
»So nehmt« – entgegnete der Kapitän, plötzlich in seine Tasche greifend und die beiden Teelöffel nebst der Zuckerzange hervorlangend, mit denen er sich zur Begegnung eines solchen Einwurfes bewaffnet hatte – »so nehmt statt dessen diese Kleinigkeiten von Silber.«
»Nein, nein, auch dieses kann ich nicht«, erwiderte Walter, »obschon ich die gute Meinung mit tausendfältigem Dank anerkenne.
O, laßt das doch, Kapitän Cuttle!« denn der Kapitän war im Begriff, die Pretiosen über Bord zu werfen. »Euch werden sie von größerem Nutzen sein, als mir. Gebt mir Euern Stock; diesen hätte ich schon längst besitzen mögen. So! Lebt wohl, Kapitän Cuttle! Tragt Sorge für meinen Onkel! Onkel Sol, Gott behüte Euch!«
Sie waren in dem Getümmel über die Schiffsseite hinuntergekommen, noch ehe Walter einen weiteren Blick von ihnen auffangen konnte; und als er nach dem Stern hinaufeilte, um ihnen nachzusehen, bemerkte er, wie sein Onkel den Kopf ins Boot niederhängen ließ, während Kapitän Cuttle ihm mit der großen silbernen Uhr – sicherlich nicht ohne blaue Male – den Rücken zerklopfte und dabei hoffnungsvoll mit den Teelöffeln und der Zuckerzange gestikulierte. Als letzterer Walters ansichtig wurde, ließ er mit der größten Sorglosigkeit das wertvolle Eigentum auf den Boden des Nachens niederfallen, als ob es für ihn gar nicht vorhanden sei, zog den Glanzhut ab und rief ihm aus Leibeskräften zu. Der Glanzhut blitzte in der Sonne, und der Kapitän fuhr fort, ihn zu schwenken, bis er nicht mehr gesehen werden konnte. Dann erreichte das Getümmel an Bord, das rasch zugenommen hatte, seine Höhe. Zwei oder drei andere Boote fuhren mit lautem Hurra ab, die Segel blähten sich oben unter der günstigen Brise, das Wasser sprühte funkelnd von dem Schnabel weg, und der Sohn und Erbe trat so hoffnungsvoll und fröhlich seine Reise an, wie vor ihm so mancher andere Sohn und Erbe, der aber gleichwohl zugrunde gegangen war.
Tag um Tag hielten der alte Sol und Kapitän Cuttle in dem kleinen Hinterstübchen den Lauf des Schiffes, und berechneten nach der Karte, die sie auf dem runden Tische vor sich liegen hatten, seinen Kurs. Und nachts, wenn der alte Sol so einsam nach dem Dachstübchen, wo es bisweilen grobes Geschütz blies, hinaufstieg, schaute er nach den Sternen, lauschte auf das Wehen des Windes und hielt weit längere Wacht, als ihm an Bord eines Schiffes zuteil geworden wäre. Mittlerweile blieb die Flasche alten Madeiras, der seinerzeit auch Seefahrten gemacht und die Gefahren der Tiefe kennengelernt hatte, stumm und ungestört unter dem Staub und den Spinngeweben liegen.
Zwanzigstes Kapitel. MR. DOMBEY MACHT EINE REISE.
»Mr. Dombey, Sir«, sagte Major Bagstock, »Joey B. ist im allgemeinen kein Mann von Empfindsamkeit, denn Joseph ist zäh. Aber Joe hat seine Gefühle, Sir, und wenn sie einmal geweckt sind – Gott verdamme mich, Mr. Dombey!« rief der Major mit plötzlicher Wildheit, »dies ist eine Schwäche, und ich will ihr nicht nachgeben!«
Major Bagstok entledigte sich dieser Ausdrücke, während er Mr. Dombey an dem oberen Geländer seiner Treppe auf dem Prinzessinnenplatz als Gast empfing, Mr. Dombey wollte nämlich, ehe sie ihren Ausflug antraten, mit dem Major frühstücken, und über den unglücklichen Eingebornen war bereits wegen der Semmeln eine Welt von Elend ergangen, während ihm die allgemeine Frage der gesottenen Eier das Leben ganz und gar zur Last machte.
»Es paßt nicht für einen alten Soldaten von der Zucht der Bagstocks«, bemerkte der Major, in seine milde Stimmung zurückversinkend, »sich seinen eigenen Erregungen hinzugeben; aber – Gott verdamme mich, Sir«, rief der Major in einem abermaligen Wildheitskampfe, »ich leide mit Euch.«
Das Purpurgesicht des Majors wurde dunkler, und seine Hummeraugen traten noch stärker hervor, während er Mr. Dombey die Hand drückte und dieser friedlichen Gebärde einen so bedrohlichen Charakter mitteilte, als sei sie nur das Vorspiel eines plötzlichen Boxkampfes mit Mr. Dombey, in dem es sich um einen Einsatz von tausend Pfund und um den Ruhm des besten Ringers von ganz England handle. Mit einer rollenden Bewegung des Kopfes und einem Schnauben, ähnlich dem Husten eines Pferdes, führte sodann der Major seinen Gast nach dem Wohnzimmer, wo er ihn, nachdem seine Gefühle sich beruhigt hatten, mit der freien Offenheit eines Reisegefährten bewillkommte.
»Dombey«, sagte der Major, »es freut mich. Euch zu sehen. Ich bin stolz darauf. Euch zu sehen. Es gibt nicht viele Männer in Europa, denen J. Bagstock dies sagen würde – denn Josh ist derb, Sir; es liegt in seiner Natur – aber Joey B. ist stolz darauf, Euch zu sehen, Dombey.«
»Major«, entgegnete Mr. Dombey, »Ihr seid sehr verbindlich.«
»Nein, Sir«, erwiderte der Major. »Der Teufel auch – das liegt nicht in meinem Charakter. Wäre dies Joes Charakter, so könnte jetzt Joey Generalleutnant, Sir Joseph Bagstock Ritter des Halbmond- und des Bath-Ordens sein, und wäre in der Lage, Euch in einem ganz andern Quartier zu empfangen. Ich merke, Ihr kennt den alten Joe noch nicht, aber dieser Anlaß ist ganz besonders eine Quelle des Stolzes für mich. Bei Gott, Sir«, fügte der Major entschlossen bei, »ich rechne sie mir zur Ehre!«
In der Schätzung seines Ichs und seines Geldes fühlte Mr. Dombey, daß dies vollkommen wahr sein müsse, und wollte deshalb nicht dagegen streiten, aber die instinktartige Anerkennung einer solchen Wahrheit durch den Major und dessen unverhohlenes Zugeständnis übte eine recht angenehme Wirkung. Fand doch, falls es nötig gewesen wäre, Mr. Dombey eine Bekräftigung darin, daß er sich in dem Major nicht getäuscht hatte. Es war für ihn eine Versicherung, daß sich seine Gewalt über die ihn unmittelbar umgebende Sphäre erstreckte und daß der Major als Gentleman und Offizier dies ebenso fühlte, wie der Aufwärter der königlichen Börse.
Und wenn es je für ihn tröstlich war, dies oder etwas dergleichen zu wissen, so mußte es nunmehr der Fall sein, da ihm die Ohnmacht seines Willens, das Trügerische seiner Hoffnungen und die Schwäche seines Reichtums so bitter nahegelegt worden. Was kann Geld tun? hatte ihn sein Knabe gefragt, und wenn er bisweilen an dieses kindische Gerede dachte, konnte er sich kaum enthalten, an sich selbst die Frage zu stellen – was konnte es tun – was hat es getan?
Doch dies waren nur einzelne Gedanken, spät des Nachts erzeugt in dem trostlosen Düster seiner Einsamkeit, und der Stolz ermannte sich bald wieder in vielen Zeugnissen der Wahrheit, die ebenso unanfechtbar und wertvoll waren, wie das des Majors. In seiner Freundlosigkeit sah sich Mr. Dombey zu dem letzteren hingezogen, und er taute ein wenig gegen denselben auf, obschon man nicht sagen konnte, daß er eigentlich warm wurde. Der Major hatte sich einigermaßen – allerdings nicht zuviel – bei den Küstengefechten beteiligt, war Mann von Welt und kannte einige vornehme Personen. Er sprach viel, wußte Geschichten zu erzählen, und Mr. Dombey war geneigt, ihn als einen auserlesenen Geist zu betrachten, der in der Gesellschaft glänzte und nicht jene giftige Beigabe, Armut, mit der auserlesene Geister in der Regel allzusehr behelligt sind, besaß. Seine Stellung war unanfechtbar, der Mann selbst ein achtbarer, an ein müßiges Leben gewöhnter Gefährte, folglich auch bekannt mit den Plätzen, die sie zu besuchen gedachten, und außerdem im Besitz einer gewissen gentlemanischen Leichtigkeit, hinreichend gemischt mit seinem Londoner Ruf, ohne übrigens mit demselben in die Schranken zu treten. Vielleicht mochte in Mr. Dombey die Idee schlummern, der Major könne als ein Mann, der vermöge seines Standes daran gewöhnt war, sich über die erbarmungslose Hand wegzusetzen, die kürzlich seine Hoffnungen geknickt hatte – unwillkürlich ihm einige nützliche Philosophie beibringen und seinen schwachen Ingrimm über das Geschick bannen; wenn dies übrigens auch der Fall war, so verbarg er es vor sich selbst und ließ es ununtersucht in dem Abgrund seines Stolzes liegen.
»Wo ist mein Schurke!« rief der Major, sich zornig im Zimmer umsehend.
Der Eingeborene, der gerade keinen besonderen Namen führte, aber auf jedes Schimpfwort hörte, zeigte sich sogleich unter der Tür und wagte es, näherzukommen.
»Du Halunke!« rief der cholerische Major – »wo ist das Frühstück?«
Der schwarze Diener verschwand, um das Geforderte zu holen, und man hörte ihn bald in einem so bebenden Zustande die Treppe wieder heraufsteigen, daß während des ganzen Wegs die Teller und Schüsseln auf dem Teebrett zitterten und rasselten.
»Dombey«, sagte der Major, mit einem Blicke nach dem Eingeborenen, der den Tisch ordnete, und ihn mit einem ehrfurchtgcbietenden Schütteln seiner Faust ermunternd, als der Unglückliche einen Löffel falsch legte. »Hier ist ein gepfefferter Rostbraten, eine würzige Pastete, eine Schüssel mit Nieren und so fort. Bitte, nehmt Platz. Ihr seht, der alte Joe kann Euch nur Lagerkost bieten.«
»Ein vortreffliches Mahl, Major«, versetzte der Gast, und zwar nicht aus bloßer Höflichkeit, denn der Major trug möglichst Sorge für sich selber und liebte in der Tat eine kräftige Kost mehr, als für ihn gut war, sofern seine kaiserliche Gesichtsfarbe hauptsächlich von diesem Umstände herrührte.
»Ihr habt über die Straße hinübergeschaut, Sir«, bemerkte der Major. »Ist unsere Freundin sichtbar?«
»Ihr meint Miß Tox«, versetzte Mr. Dombey. »Nein.«
»Ein prächtiges Frauenzimmer, Sir«, sagte der Major mit einem fetten Gelächter in seiner kurzen Kehle, das ihn beinahe erstickte.
»Ich glaube. Miß Tox ist eine recht wackere Person«, entgegnete Mr. Dombey.
Die stolze Kälte dieser Antwort schien den Major Bagstock ungemein zu ergötzen. Er blähte sich mehr und mehr auf und legte sogar für einen Augenblick sein Besteck nieder, um sich die Hände zu reiben.
»Der alte Joe, Sir«, sagte der Major, »war vor Zeiten in dieser Richtung einigermaßen begünstigt. Aber Joe hat seinen Tag gehabt. J. Bagstock ist ausgetilgt – ausgestochen – ganz und gar geworfen, Sir. Ich will Euch was sagen, Dombey.« Der Major hielt im Essen inne und machte eine Miene geheimnisvoller Entrüstung. »Sie ist ein verteufelt ehrgeiziges Frauenzimmer, Sir.«
»Wirklich?« entgegnete Mr. Dombey mit kalter Gleichgültigkeit, in die sich vielleicht auch ein verächtlicher Zweifel mengte, ob Miß Tox die Anmaßung haben könne, eine so auszeichnende Eigenschaft zu bergen.
»Das Frauenzimmer«, sagte der Major, »ist in ihrer Art ein wahrer Luzifer. Joe B. hat seinen Tag gehabt, Sir, ist aber nicht blind. Ja, Joe sieht scharf. Seine königliche Hoheit der verstorbene Herzog von York machte bei einem Lever die Bemerkung, daß Joe haarscharf sehe.«
Der Major begleitete diese Worte mit einem Blick und sah zwischen dem Essen, Trinken, dem heißen Tee, dem gepfefferten Rostbraten, den Semmeln und seinem Dünkel so geschwollen und rot aus, daß sogar Mr. Dombey um seinetwillen ängstlich wurde.
»Das lächerliche alte Weibsbild, Sir«, fuhr der Major fort, »strebt hoch – strebt himmelhoch, Sir. Ehestandsgedanken, Dombey.«
»Es täte mir leid um sie«, sagte Mr. Dombey.
»Sprecht nicht so, Dombey«, erwiderte der Major mit einer warnenden Stimme.
»Warum sollte ich nicht?« fragte Mr. Dombey.
Der Major antwortete nur mit dem Pferdehusten und fuhr fort, aus Leibeskräften zu essen.
»Sie hat seit einiger Zeit Interesse an Eurem Hauswesen gewonnen«, sagte der Major, wieder innehaltend, »und ist oft bei Euch auf Besuch gewesen.«
»Ja«, versetzte Mr. Dombey mit sehr vornehmer Miene. »Um die Zeit, als Mrs. Dombey starb, fand sie als eine Freundin meiner Schwester Zutritt. Da sie sich dabei anständig benahm und eine große Vorliebe für das arme Kind zeigte, so wurde eine Wiederholung ihrer Besuche mit meiner Schwester geduldet – ich kann wohl sagen, ermutigt, und so fügte sich's allmählich, daß sie zu der Familie auf den Fuß der Vertraulichkeit zu stehen kam. »Ich habe« – fügte Mr. Dombey im Tone eines Mannes bei, der ein wichtiges, anerkennenswertes Zugeständnis macht – »ich habe Achtung vor Miß Tox. Sie war so gefällig, meinem Hause viele kleine Dienste zu erweisen – kleine und unbedeutende Dienste vielleicht, Major, aber deshalb doch nicht zu verachten, und ich hoffe, daß ich das Glück hatte, sie durch so viel Aufmerksamkeit und Berücksichtigung, wie überhaupt in meiner Macht stand, anzuerkennen. Namentlich bin ich Miß Tox verpflichtet, Major«, fügte Mr. Dombey mit einer leichten Handbewegung hinzu, »für das Vergnügen Eurer Bekanntschaft.«
»Dombey«, sagte der Major mit Wärme. »Nein. Nein, Sir! Joseph Bagstock kann nicht zugeben, daß diese Behauptung ohne Widerspruch bleibe. Daß Ihr den alten Joe – so wie er ist – kennt, Sir, und daß der alte Joe Euch kennenlernte, Sir, hat seinen Ursprung in einem edlen Geschöpf, Sir – in einem großen Geschöpf, Sir. Dombey!« fügte er mit einem Kampfe bei, den er unschwer zur Schau stellen konnte, da sein ganzes Leben in einem beharrlichen Ringen mit apoplektischen Symptomen aller Art bestand, »wir kennen einander durch Euren Knaben.«
Mr. Dombey schien bei dieser Anspielung gerührt zu sein, was aller Wahrscheinlichkeit nach der Major auch beabsichtigt hatte. Er blickte nieder und seufzte; der Major aber raffte sich wild wieder auf und sagte in Beziehung auf die Gemütsstimmung, von der er sich seiner Aufgabe nach bedroht fühlte, dies sei eine Schwäche, und nichts solle ihn veranlassen, sich ihr zu unterwerfen.
»Unsere Freundin steht allerdings in einem entfernten Zusammenhang mit diesem Ereignis«, sagte der Major, »und J.B. ist bereitwillig, ihr denjenigen Anteil zuzugestehen, der ihr gebührt, Sir. Gleichwohl, Ma'am«, fügte er bei, indem er vom Teller auf- und über den Prinzessinnenplatz hinüberschaute, wo Miß Tox in diesem Augenblick am Fenster mit dem Begießen ihrer Blumen beschäftigt war, »seid Ihr eine ränkespinnende Dirne, Ma'am, und Euer Ehrgeiz ist ein Stücklein unerhörter Unverschämtheit. Wenn Ihr Euch nur selbst lächerlich machtet, Ma'am«, fuhr der Major fort, indem er den Kopf gegen die nichtsahnende Miß Tox hinwiegte und seine Augen das Aussehen gewannen, als wollten sie nach ihr hinüberspringen, »so könntet Ihr es tun nach Eures Herzens Gelüsten, Ma'am, und ich kann Euch versichern, daß Bagstock nicht die mindeste Einsprache erheben würde.« Der Major lachte jetzt fürchterlich, so daß seine Ohrenspitzen und die Adern seines Kopfes sich dabei beteiligten. »Aber wenn Ihr andere Leute dabei bloßstellt, Ma'am«, sagte der Major, »und noch dazu edle, nichtsahnende Leute, denen Ihr die Euch erwiesene Herablassung also vergeltet, dann regt sich das Blut des alten Joe in seinem ganzen Körper.«
»Major«, versetzte Mr. Dombey errötend, »ich will nicht hoffen, daß Ihr Miß Tox eine solche Abgeschmacktheit zutraut, als könnte sie –«
»Dombey«, erwiderte der Major, »ich sage nichts. Aber Joey B. hat in der Welt gelebt, Sir – in der Welt gelebt mit offenen Augen und gespitzten Ohren, Sir; und deshalb gibt Euch Joe die Versicherung, daß die dort drüben ein verteufelt schlaues und ehrgeiziges Weibsstück ist.«
Mr. Dombey warf unwillkürlich einen Blick – und zwar einen zornigen Blick über die Straße hinüber.
»Dies ist alles, was in betreff eines solchen Gegenstandes über Joseph Bagstocks Lippen gehen wird«, sagte der Major mit Festigkeit. »Joe ist kein Ohrbläser; aber es gibt Zeiten, wo er sprechen muß – wo er sprechen will. Zum Henker mit Euren Kunstgriffen, Ma'am«, rief der Major, abermals in großem Zorn seine schöne Nachbarin anredend – »denn Ihr reizt einen zu sehr, als daß man stillschweigen könnte.«
Die Aufregung dieses Losbruchs versetzte den Major in einen Roßhusten-Paroxysmus, welcher geraume Zeit anhielt. Nachdem er sich wieder erholt hatte, fügte er hinzu:
»Und nun, Dombey, da Ihr Joe – den alten Joe, welcher kein anderes Verdienst besitzt, Sir, als daß er zäh ist und ein ehrlicher Kerl – eingeladen habt, bei dem Ausflug nach Leamington Euer Gast und Führer zu sein, so gebietet über ihn ganz nach Eurem Belieben. Er ist vollkommen der Eurige. Ich weiß nicht, Sir«, fuhr der Major fort, indem er sein Doppelkinn in scherzhafter Weise wackeln ließ, »was die Leute auch an Joe sehen, daß er überall in solcher Nachfrage steht. Soviel aber ist gewiß, Sir – wäre er nicht ziemlich zäh und hartnäckig in seiner Weigerung, so wäre er in der halben Zeit vor lauter Einladungen und so fort unter dem Boden.«
Mr. Dombey erkannte in wenigen Worten dankbar den Vorzug an, den ihm Major Bagstock vor so vielen andern ausgezeichneten Mitgliedern der Gesellschaft zuteil werden ließ; der Major aber unterbrach ihn schnell, indem er ihm zu verstehen gab, er folge hierin nur seinen eigenen Neigungen, die in Masse zusammengetreten wären und ihm einstimmig zugerufen hätten:
»J.B., Dombey ist der Mann, den du zum Freund wählen mußt.«
Der Major befand sich nun in einem Zustande von Entleerung, indem die wesentlichen Bestandteile der würzigen Pastete aus den Ecken seiner Augen troffen und der gepfefferte Rostbraten samt den Nieren seine Halsbinde steifte. Da außerdem die Abgangszeit des Eisenbahnzugs nach Birmingham herannahte, mit welchem sie die Stadt verlassen wollten, so half der Eingeborene nicht ohne große Mühe seinem Gebieter in den Überrock und knöpfte ihn ein, bis sein Gesicht glotzend und keuchend dieses Kleidungsstück überragte und der ganze Mann aussah, als ob er in einem Fasse stecke. Dann reichte ihm der Eingeborene in anständigen Pausen zwischen jedem Artikel die waschledernen Handschuhe, den dicken Stock und den Hut, welch' letzteren der Major leichtfertig auf die eine Seite des Kopfes drückte, um sein merkwürdiges Gesicht ein wenig herabzustimmen, Schon zuvor hatte der Eingeborene alles mögliche und unmögliche in Mr. Dombeys Wagen eingepackt, der mit einer ungewöhnlichen Menge von Felleisen und kleinen Mantelsäcken, alle ebenso apoplektisch aussehend, wie der Major selbst, beladen war. Nachdem der Schwarze noch die eigenen Taschen mit Selterser-Wasser, ostindischem Sherry, Röstschnitten, Halstüchern, Teleskopen, Landkarten, Zeitungen und anderem leichten Gepäck, das sein Gebieter möglicherweise schnell auf der Reise brauchen könnte, gefüllt hatte, brachte er die Meldung, daß alles bereit sei. Um die Ausstattung des unglücklichen Fremden, der dem allgemeinen Glauben gemäß in seinem eigenen Lande ein Prinz gewesen, zu vervollständigen, warf ihm, als er auf dem Bedientensitze neben Mr. Towlinson Platz nahm, der Hauseigentümer noch eine Anzahl Mäntel und Überröcke zu, von der Straße aus diese schweren Geschosse gleich einem Titan schleudernd und den armen Neger damit ganz zudeckend, so daß er die Fahrt nach der Eisenbahnstation wie ein lebendig Begrabener antreten mußte.
Aber ehe der Wagen abfuhr und während noch an dem Eingebornen die Beerdigungszeremonien vorgenommen wurden, zeigte sich Miß Tox an ihrem Fenster und schwenkte ein lilienweißes Taschentuch. Mr. Dombey nahm diesen Abschiedsgruß sehr kalt – auch für ihn sehr kalt – auf und beehrte sie mit der möglichst leichten Kopfverneigung, worauf er sich mit sehr unzufriedenem Gesicht in den Wagen zurücklehnte. Dieses Benehmen schien dem Major, der sich gegen Miß Tox mit der größten Höflichkeit benahm, unendliche Freude zu machen, und er saß noch geraume Zeit nachher schielend und keuchend da, wie ein gemästeter Mephistopheles.
Während der lärmenden Vorbereitungen für die Abfahrt des Zuges gingen Mr. Dombey und der Major Seite an Seite auf der Plattform hin und her. Der erstere war sehr schweigsam und düster, der letztere aber unterhielt seinen Gefährten oder vielmehr sich selbst mit allerlei Anekdoten und Reminiszenzen, in denen Joe Bagstock meistens die Hauptfigur spielte. Keiner von beiden bemerkte, daß sie während ihres Spaziergangs die Aufmerksamkeit eines Arbeiters fesselten, der neben der Maschine stand und, so oft sie vorübergingen, an den Hut langte; denn Mr. Dombey pflegte stets über den gemeinen Haufen weg- und nicht nach ihm hinzusehen, während der Major im Augenblick nur Sinn für seine Erzählungen hatte. Endlich, als sie eben wieder umwandten, trat der Mann vor, zog seinen Hut ab, den er in der Hand behielt, und verneigte sich vor Mr. Dombey.
»Bitt' um Verzeihung, Sir«, sagte der Mann; »aber ich hoffe, Ihr seid gesund und wohl, Sir.«
Er war in einen Leinwandanzug gekleidet, der reichliche Schmierflecken von Kohlenstaub und Teer zeigte, hatte Asche in seinem Bart und roch schon von Ferne nach halbverschlackten Kohlen. Der Mann sah zwar schmutzig, aber dabei doch nicht übel aus und war mit einem Worte Mr. Toodle in der Tracht seines Berufs.
»Ich werde die Ehre haben, Euch hinunterzuheizen, Sir«, sagte Mr. Toodle. »Bitt' um Verzeihung, Sir, ich hoffe, es ergeht Euch gut?«
Zum Dank für diese teilnehmende Frage sah Mr. Dombey den Mann an, als könnte ihm derselbe schon durch seinen Anblick Schmutz in die Augen streuen.
»Nichts für ungut, Sir«, sagte Toodle, als er bemerkte, daß man sich seiner nicht recht erinnerte, »aber mein Weib Polly, die man in Eurer Familie Richards nannte –«
In Mr. Dombeys Gesicht ging ein Wechsel vor, der eine auftauchende Erinnerung anzudeuten schien. Mr. Dombey erkannte zwar den Arbeiter jetzt, drückte dies aber ärgerlich in sehr demütigender Weise aus, so daß Mr. Toodle nicht wenig betroffen wurde.
»Vermutlich braucht Euer Weib Geld?« sagte Mr. Dombey in seinem gewöhnlichen stolzen Tone, während er die Hand in seine Tasche steckte.
»Nein, ich danke, Sir«, entgegnete Toodle, »kann es nicht sagen. Ich wenigsten« brauche keines.«
Die Reihe des Betroffenwerdens kam jetzt an Mr. Dombey, der linkisch mit der Hand in der Tasche dastand.
»Nein, Sir«, sagte Toodle, wieder und wieder seine Teermütze drehend. »Es geht uns ziemlich gut, Sir, und was das Weltliche betrifft, so haben wir keine Ursache, uns zu beklagen, Sir. Wir haben seitdem vier weiter gehabt, Sir, aber wir schlagen uns durch.«
Mr. Dombey hätte sich gern nach seinem eigenen Wagen durchgeschlagen, und wenn er dabei hätte den Heizer unter die Räder drängen müssen; aber seine Aufmerksamkeit wurde jetzt durch etwas an der Mütze gefesselt, die noch immer in der Hand des Mannes ihre Kreisbewegungen machte, »Wir haben ein Büblein verloren«, bemerkte Toodle. »Ich kann's nicht leugnen.«
»Erst kürzlich?« fragte Mr. Dombey, nach der Mütze hinsehend.
»Nein, Sir, es sind schon bald drei Jahre; aber alles übrige ist frisch und wohl. Und was das Lesen betrifft, Sir«, sagte Toodle, indem er sich abermals duckte, als wolle er Mr. Dombey an das erinnern, was in betreff des bewußten Gegenstandes vor langer Zeit zwischen ihnen vorgegangen war, »so habe ich's zuletzt doch noch von meinen Buben gelernt. Die Jungen haben etwas aus mir gemacht, Sir.«
»Kommt, Major!« sagte Mr. Dombey.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, fuhr Toodle fort, indem er einen Schritt vortrat und die Mütze noch immer in der Hand ehrerbietig zurückhielt, »ich würde Euch nicht mit einer solchen Sache behelligt haben, wär's nicht wegen meines Sohnes Sieder – sein Taufname ist Robin – derselbe, den Ihr zu einem barmherzigen Schleifer zu machen so gut wart.«
»Nun, Mann«, sagte Mr. Dombey in seiner strengsten Weise. »Was ist mit ihm?«
»Ei, Sir«, entgegnete Toodle, indem er mit sehr betrübtem Gesichte den Kopf schüttelte, »ich muß sagen, daß er auf Abwege geraten ist.«
»So, wirklich?« sagte Mr. Dombey mit einer Art bitterer Selbstbefriedigung.
»Ja seht, Genelmen, er ist in schlimme Gesellschaft gekommen«, fuhr der Vater fort, beide ernst ansehend und, augenscheinlich in der Hoffnung, die Teilnahme des Majors zu gewinnen, letzteren auch mit ins Gespräch ziehend. »So geriet er auf Abwege. Gott gebe, daß er wieder umkehre, Genelmen; aber jetzt ist er auf einem ganz falschen Pfad. Ihr könntet vielleicht auch davon hören, Sir«, fügte Toodle hinzu, »und so ist's besser, daß ich's ohne Rückhalt heraussage, wie mein Junge nicht am besten geraten ist. Polly ist schrecklich darüber in Sorgen, Genelmen«, sagte Toodle mit demselben niedergeschlagenen Gesicht und einer abermaligen Berufung an den Major.
»Ein Sohn dieses Mannes, den ich erziehen ließ, Major«, sagte Mr. Dombey, seinem Gefährten den Arm gebend. »Der gewöhnliche Dank!«
»Laßt Euch von dem einfachen alten Joe den Rat geben, an die Erziehung derartigen Volkes nie zu rühren«, entgegnete der Major. »Soll mich Gott holen, Sir, es geht nicht! Jedesmal nimmt es ein schlechtes Ende.«
Der einfache Vater war eben im Begriff, seine Ansicht auszudrücken, der ehemalige Schleifer – gepufft und geknufft, gepeitscht, mit einem Schild versehen und nach Papageienart von einem Unmenschen unterrichtet, der für das Amt eines Schulmeisters ebensowenig paßte, wie ein Hund – könne vielleicht in irgendeiner unentdeckten Beziehung nicht ganz nach einem rechten Plan geschult worden sein; aber Mr. Dombey wiederholte unmutig die Worte »der gewöhnliche Dank!« und ging mit dem Major weiter. Es hielt etwas schwer, den Major in Mr. Dombeys Wagen zu heben, und während er mitten in der Luft schwebte, schwur und fluchte er, sooft sein Fuß den Tritt verfehlte, er wolle dem Eingeborenen lebendig die Haut abziehen, ihm jedes Glied seines Leibes zerschlagen und ihn mit allen andern erdenklichen körperlichen Qualen heimsuchen. Dabei gewann er vor der Abfahrt kaum noch Zeit, heiser zu wiederholen, es gehe einmal nicht, habe stets ein schlimmes Ende genommen, und wenn er ›seinem eigenen Halunken‹ eine Erziehung beibringen wollte, so würde derselbe sicherlich an den Galgen kommen.
Mr. Dombey stimmte ihm in der Bitterkeit seines Herzens bei. Aber es lag etwas mehr in dieser Bitterkeit und in der verstimmten Weise, in der er im Wagen zurücksank, als das Fehlschlagen des edlen Erziehungssystems, wie es von der Gesellschaft der barmherzigen Schleifer gehandhabt wurde. Mit gerunzelter Stirn blickte er hinaus auf die stets wechselnden Gegenstände. Er hatte an der schlechten Mütze des Mannes ein Stück neuen Flors bemerkt und aus dessen ganzem Benehmen die Überzeugung gewonnen, er trage ihn um seinen – Mr. Dombeys – Sohn.
Also von oben herab bis unten – zu Haus oder auswärts – von Florencen in seinem großen Hause bis zu dem geringsten Knecht, der das vor ihnen dampfende Feuer schürte – alles erhob einen oder den andern Anspruch an seinen toten Sohn und trat ihm als Bieter gegenüber! Konnte er es je vergessen, wie jenes Weib über seinem Bettchen geweint und ihn ihr Kind genannt – wie Paul, aus seinem Schlaf erwachend, nach ihr verlangt, sich bei ihrem Eintritt aufgerichtet und sie mit leuchtenden Augen bewillkommt hatte!
Denken zu müssen, daß dieser anmaßende Heizer mit seinem Trauerzeichen vor ihnen herging – daß er es wagte, sogar durch eine so gewöhnliche Kundgebung sich zu beteiligen an dem Schmerz und den getäuschten Erwartungen, die an dem innersten Herzen eines stolzen Gentlemans zehrten – daß sein verlornes Kind, der vermeintliche künftige Genosse seiner Reichtümer, seiner Entwürfe und seiner Macht, in dessen Verbindung er die ganze Welt wie mit einer doppelten Tür von Gold ausgeschlossen haben würde, einem solchen Haufen Zutritt gestattete, um ihn zu kränken mit ihrer Kunde von seinen vernichteten Aussichten und mit ihrer Dreistigkeit, eine Gemeinschaft des Gefühls mit ihm, der so hoch über ihnen stand, anzusprechen! Ja, vielleicht hatten sie sich sogar eingeschlichen in den Platz, in dem er allein Herr sein wollte.
Die Reise bereitete ihm weder Vergnügen noch Erholung. Da er sich solchen quälenden Gedanken hingab, so brachte er Eintönigkeit in die lebensvolle Landschaft, und die reiche abwechselnde Gegend, in der er pfeilschnell dahinschoß, war für ihn nichts als eine Wildnis voll vereitelter Pläne und fressender Eifersucht. Sogar die Geschwindigkeit, mit der der Zug fortbrauste, erschien ihm wie ein Hohn über den schnellen Lauf des jungen Lebens, das mit so unerbittlicher Beharrlichkeit dem ihm bestimmten Ende zugeführt worden war. Die Gewalt, die sich selbst auf ihrem eigenen ehernen Wege vorwärts drängte, allen Pfaden und Straßen Trotz bietend, sich durch das Herz eines jeden Hindernisses bohrend und lebende Wesen von allen Klassen und Altersabstufungen hinter sich drein schleppend – war ein Bild des triumphierenden Ungeheuers Tod.
Dahin, pfeifend, brausend und rasselnd von der großen Stadt, sich eingrabend unter den Wohnungen der Menschen und die Straßen erdröhnen lassend, für einen Augenblick hinausguckend ins Gefild und wühlend durch die feuchte Erde in Nacht und dichter Luft, wieder hervorbrechend in den so klaren, sonnigen Tag – dahin mit Pfeifen, Brausen und Rasseln durch die Felder und Wälder, durch Getreide und Heu, durch Kalk, Geschiebe, Ton und Fels, an Gegenständen vorbei, so nahe der Hand, daß der Reisende sie fast fassen konnte, aber stets vor ihm fliehend und in trüglicher Ferne unablässig langsam mit sich fortbewegend – gerade so, wie auf dem Wege des erbarmungslosen Ungeheuers Tod!
Durch das Tal, auf der Höhe, über die Heide, über den Fluß – wo die Schafe werden, wo die Mühle geht, wo die Barke schwimmt, wo die Toten liegen, wo die Fabrik raucht, wo der Strom läuft, wo das Dorf sich zusammenschmiegt, wo der Dom steht, wo das öde Moor liegt und der unstete Wind nach Gutdünken Wellen aufwirft oder sie legt – dahin, mit Pfeifen, Brausen und Rasseln, keine Spur zurücklassend, als Staub und Dampf – geradeso wie auf dem Pfade des erbarmungslosen Ungeheuers Tod!
Durch Wind und Licht, Regen und Sonnenschein dahin und immer weiter rollt und brüllt in ungestümer Hast der Zug seinen glatten sicheren Weg. Große Werke, ungeheure Brücken kreuzen sich über ihm, fallen wie ein zollbreiter Schatten auf das Auge und sind dann entschwunden. Fort und immer weiter – stets vorwärts und vorwärts: vorbeihuschende Bauernhütten, Häuser und Paläste, reiche Güter und tätiges Treiben auf den Feldern – Menschen, alte Straßen und Pfade – alles sieht so klein, so verlassen und unbedeutend aus, sobald man es im Rücken hat – was sind sie anders, als die flüchtigen Bilder neben der Bahn des nicht zu bewältigenden Ungeheuers Tod!
Fort mit Pfeifen, Brausen und Rasseln – wieder hinein in die Erde und daselbst einen so wilden, beharrlichen Sturm erzeugend, daß in Mitte der Finsternis und des Wirbels die Bewegung umgekehrt erscheint, als wolle es wütend wieder rückwärts, bis der Strahl des Lichts die feuchte Oberfläche der Wand zeigt, die wie ein wilder Strom vorbeieilt. Wieder hinaus in den Tag und durch den Tag mit schrillem Jubelgezeter, brausend, rasselnd, rennend, alles mit seinem schwarzen Hauch befleckend, bisweilen eine Minute innehaltend, wo ein Häuflein Gesichter zusammengeschart ist, die in einer weiteren Minute verschwinden – bisweilen gierig Wasser leckend, und ehe der tränkende Brunnen zu träufeln aufgehört hat, durch die purpurne Entfernung schreiend, brausend, rasselnd.
Lauter und lauter noch das Getöse, wenn es widerstandslos dem Ziele zugeht und der Weg, noch immer gleich dem des Todes, sich dick mit Asche bestreut. Rings umher alles schwarz – dunkle Wasserlachen, schmutzige Gassen und erbärmliche Wohnungen weit unten. Dicht zur Hand stehen brüchige Wände und einstürzende Häuser; durch die löcherigen Dächer und zerbrochenen Fenster sieht man elende Stuben, wo Mangel und Fieber in vielen grausenhaften Gestalten sich verstecken, während Rauch, gedrängte Giebel, verkrümmte Schornsteine und Ungestalten von Ziegel und Mörtel, sowohl Häßlichkeit des Geistes als des Leibes einschließend, die düstere Ferne versperren. Während Mr. Dombey zu dem Fenster seines Wagens heraussieht, fällt es ihm nicht entfernt ein, das Ungeheuer, das ihn hierherbrachte, habe nur das Licht des Tages auf diese Dinge geworfen, nicht aber sie geschaffen oder Anlaß dazu gegeben. Es war passendes Ende der Fahrt und hätte vermöge seiner traurigen Trümmerhaftigkeit ebensogut das Ende von allem sein können.
So hatte er, dem Gedankengang folgend, das eine erbarmungslose Ungeheuer noch stets vor sich. Alles blickte ihn schwarz, kalt und totenartig an und erwiderte den Blick in derselben Weise. Überall eine Ähnlichkeit mit seinem Unglück. Um ihn her unbarmherziger Triumph, der, welche Gestalt er auch annehmen mochte, seinen Stolz, seine Eifersucht erbitterte und verwundete, am meisten aber, wenn irgend etwas die Liebe und das Andenken des verlorenen Knaben mit ihm teilen wollte.
Namentlich vergegenwärtigte sich ihm während der Fahrt oft ein Gesicht, das er am Abend zuvor gesehen und das ihn selbst anblickte mit Augen, die in seiner Seele lasen, obschon sie trüb waren von Tränen und sich bald hinter zwei bebenden Händen verbargen. Er hatte es gesehen mit dem Ausdruck der letzten Nacht – dem Ausdruck schüchterner Bitte. Es war nicht vorwurfsvoll; aber es lag etwas Zweifelndes – eine Hoffnung, die sich selbst nicht glauben wollte, darin, wenngleich für ihn in der trostlosen Sicherheit seiner Abneigung dieser Zug verschwand, so daß er Vorwurf darin zu lesen glaubte. Der Gedanke war ihm peinlich – der Gedanke an das Gesicht seiner Tochter.
Vielleicht, weil er in letzter Zeit Gewissensbisse fühlte? Nein. Weil das Gefühl, das es in ihm weckte und von dem er in früheren Tagen eine unklare Vorstellung gehabt hatte, jetzt Form gewann und sich deutlich aussprach; allerdings ergreifend und in einer Weise drohend, daß seine Fassung nicht davor standhalten konnte. Weil das Gesicht überall war mit dem Ausdrucke des Kummers und der Verfolgung, ja sogar ihn wie die Luft zu umgeben schien. Weil er die Pfeile jenes grausamen, erbarmungslosen Feindes, mit dem seine Gedanken rangen, mit Widerhaken versah und ihm ein zweischneidiges Schwert in die Hand drückte. Weil er, während er so dastand und in seinem Innern die wechselnde Szene vor ihm mit den krankhaften Farben seines Geistes ausmalte, stets nur ein Bild des Verfalls, nicht aber hoffnungsvolle Vielseitigkeit und die Aussicht auf Besseres darin sehend – recht wohl wußte, daß mit seinen Klagen das Leben ebensoviel zu schaffen hatte, wie der Tod. Ein Kind war dahin, eins ihm geblieben. Warum mußte ihm statt ihrer der Gegenstand seiner Hoffnungen entrissen werden?
Das ruhige, süße, sanfte Bild seiner Phantasie konnte keine andere Betrachtung in ihm wecken. Sie war ihm vom ersten Augenblick an unwillkommen gewesen – jetzt aber wurde sie ihm zum bitteren Verdruß. Hätte er in dem Sohn sein einziges Kind verloren, so würde er den Schlag schwer, aber doch unendlich leichter empfunden haben, als jetzt, weil er nicht diejenige betroffen, die er, wie er meinte, ohne Leid hätte missen können. Ihr vor ihm auftauchendes liebevolles, unschuldiges Antlitz übte auf ihn keinen beruhigenden, keinen gewinnenden Einfluß. Er wies den Engel zurück und gab dafür dem Quälgeiste Raum, der sein Innerstes zermalmte. Ihre Geduld, ihre Güte, ihre Jugend, ihre Hingebung, ihre Liebe – alles dies waren nur Atome in der Asche, auf die er seine Ferse setzte. Ihr Bild schwebte ihm stets in der ihn umgebenden Nacht vor, erhellte sie aber nicht, sondern machte das Düster nur noch tiefer. Mehr als einmal auf seiner Reise, und jetzt wieder, als er am Ziel derselben stand und mit seinem Stock Figuren in den Staub zeichnete, kam ihm der Gedanke, ob er denn gar nichts finden könne, um dieses leidige Gesicht von sich abzuwehren.
Der Major, der während des ganzen Weges wie eine zweite Dampfmaschine gepustet hatte und dessen Augen oft über der Zeitung weg ins Freie hinauswanderten, als quöllen aus dem Rauch der Lokomotive lange Prozessionen von geschlagenen Miß Toxes hervor, um nach einem Flug über die Felder hin sich an irgendeinem Zufluchtsorte zu verstecken, brachte seinen Freund mit der Nachricht zu sich, daß die Postpferde eingespannt seien und der Wagen bereitstehe.
»Dombey«, sagte der Major, ihn mit seinem Stock auf den Arm klopfend, »seid nicht so gedankenvoll. Das ist eine schlimme Gewohnheit. Der alte Joe, Sir, würde nicht so zäh sein, wie Ihr ihn seht, wenn er je eine solche Stimmung hätte aufkommen lassen. Ihr seid ein zu bedeutender Mann, Dombey, um gedankenvoll zu sein. In Eurer Stellung, Sir, seid Ihr weit über etwas der Art erhaben.«
Da der Major sogar in seinen freundschaftlichen Verweisen die Würde und Ehre eines Dombey in Rechnung brachte und ein lebhaftes Gefühl für ihre Bedeutsamkeit an den Tag legte, so fühlte sich sein Geführte mehr als je geneigt, einen so verständigen und rücksichtsvollen Gentleman gewähren zu lassen. Er gab sich daher, während sie miteinander ihre Straße gingen, alle Mühe, den Geschichten des Majors ein aufmerksames Ohr zu schenken, und der letztere säumte nicht, sich in seiner Glorie zu zeigen, da er fand, Schritt und Weg befähige ihn weit besser zu Entfaltung seiner Konversationsgabe, als die eben erst verlassene Reisemethode.
Diese Hochflut einer geistreichen Unterhaltung strömte den ganzen Tag fort und fort, und wurde nur durch die gewöhnlichen plethorischen Symptome des Sprechers einmal in Zwischenräumen durch ein Lunch und von Zeit zu Zeit durch einen heftigen Ausfall gegen den Eingeborenen unterbrochen, der in seinen dunkelbraunen Ohren große Ringe trug und dem seine europäische Kleidung ganz und gar nicht passen wollte; sie war nämlich eigensinnigerweise und ohne Rücksicht auf die Kunst des Schneiders lang, wo sie kurz, kurz, wo sie lang, knapp, wo sie weit, und weit, wo sie knapp sein sollte, und die ganze Figur gewann bei den gelegentlichen Stürmen des Majors eine neue Anmut, indem der Afrikaner bei solchen Anlässen sich in seine Hüllen hineinduckte, so daß er sich wie eine eingeschrumpfte Nuß oder ein frierender Affe ausnahm. Als der Abend herankam und der Wagen auf dem von Laub beschatteten Wege bei Leamington weiterrollte, war die Stimme des Majors vom Sprechen, Essen, Kichern und Keuchen so dumpf geworden, als töne sie aus dem Koffer unter dem Bedientensitze oder aus einem Heuschober hervor. In dem Royal-Hotel, wo Zimmer und ein Mahl bestellt worden waren, erging es dem Major gleichfalls nicht besser, denn er überlud seine Sprachorgane dermaßen mit Essen und Trinken, daß er, als er sich zu Bett begab, gar keine Stimme mehr hatte – ein Umstand, der ihn nötigte, sich seinem schwarzen Diener durch Husten und Ankeuchen verständlich zu machen.
Am andern Morgen aber stand er nicht nur wie ein frischer Riese auf, sondern benahm sich auch beim Frühstück wie ein sich erfrischender Riese. Über diesem Mahle wurde die tägliche Lebensweise besprochen. Der Major sollte die Verantwortlichkeit der Besorgung von Speise und Trank übernehmen; sie wollten jeden Morgen gemeinsam ein Gabelfrühstück nehmen und jeden Tag spät zusammen dinieren. Am ersten Tage ihres Aufenthalts in Leamington zog es Mr. Dombey vor, auf seinem Zimmer zu bleiben oder allein sich in der Gegend zu ergehen; aber am nächsten Morgen machte es ihm Vergnügen, den Major nach dem Kursaal und in die Stadt zu begleiten. So trennten sie sich bis zum Diner. Mr. Dombey ging auf sein Zimmer, um in seiner Weise heilsamen Gedanken nachzuhängen; der Major aber, dem der Eingeborene einen Feldstuhl, einen Überrock und einen Regenschirm nachtrug, stolzierte an allen öffentlichen Plätzen hin und her, sah in den Verzeichnissen der Kurgäste nach, wer schon anwesend war, schaute sich nach alten Damen um, von denen er viel bewundert wurde, versicherte, daß J.B. zäher sei als je, und strich auf allen Wegen und Stegen seinen reichen Freund Dombey heraus. Nie gab es einen Mann, der einen Freund kräftiger zu heben wußte, als der Major, sofern mit Erhebung desselben auch die eigene Persönlichkeit gehoben wurde.
Es war überraschend, welchen Redefluß der Major beim Diner ausströmen ließ, und wie sehr er Mr. Dombey Gelegenheit gab, seine gesellschaftlichen Eigenschaften zu bewundern. Am andern Morgen beim Frühstück wußte er, was die letzten Zeitungen Neues gebracht hatten, und deutete auf mehrere mit denselben in Verbindung stehende Gegenstände hin, über die ihn kürzlich Personen von so hoher Stellung, daß er sich nur dunkle Winke erlauben durfte, um seine Meinung gefragt hatten. Mr. Dombey, der selten über den Zauberkreis von Dombey und Sohns Wirksamkeit hinausgekommen und solange auf sich selbst angewiesen gewesen war, begann an eine Veränderung seines einsamen Lebens zu denken und machte, statt sich für den nächsten Tag zu entschuldigen, wie er anfänglich beabsichtigt hatte, Arm in Arm mit dem Major einen Ausgang.
Einundzwanzigstes Kapitel. NEUE GESICHTER.
Blaugesichtiger und glotzender – sozusagen überreifer als je, trat der Major, der manchmal räusperte – nicht aus Bedürfnis, sondern in einer freiwilligen Entladung von Bedeutsamkeit –, Arm in Arm mit Mr. Dombey einen Spaziergang auf der sonnigen Seite des Weges an, seine Backen schwollen dabei über der festanliegenden Halsbinde, seine Beine waren majestätisch gespreizt, und sein großer Kopf wackelte von Seite zu Seite, als wundere er sich in seinem Innern, daß er ein so anziehender Gegenstand sei. Alle paar Schritte begegnete der Major jemand, den er kannte; aber er schüttelte gegen sie nur im Vorbeigehen die Finger und führte Mr. Dombey weiter, ihm schöne Orte zeigend und die Zeit mit Geschichten kürzend, die sich an dieselben knüpften.
Mit vieler Behaglichkeit waren der Major und Mr. Dombey eine Weile in dieser Weise, die Arme eingehenkelt, umhergegangen, als sie einen Fahrstuhl auf sich zukommen sahen, in dem eine Dame saß. Letztere lenkte nachlässig ihr Fuhrwerk durch eine Art Steuer, das vorn angebracht war, während von hinten eine unsichtbare Gewalt die Bewegung veranlaßte. Obgleich die Dame nicht jung war, hatte sie doch ein sehr blühendes, eigentlich rosiges Gesicht, während ihr Anzug und ihre Haltung völlig jugendlich sich ausnahmen. Neben dem Stuhle ging, mit stolzer, erschöpfter Miene einen seidenen Sonnenschirm tragend, als ob eine so schwere Anstrengung bald aufgegeben und das Schirmchen weggeworfen werden müsse, eine viel jüngere Dame von großer Schönheit und hochtragender, eigensinniger Bewegung, die den Kopf in die Höhe warf und ihre Augenlider senkte, als wäre es sicherlich nicht die Erde oder der Himmel, wenn es überhaupt in der ganzen Welt außer dem Spiegel etwas gab, das Betrachtung verdiente.
»Ha, wen zum Teufel haben wir da, Sir!« rief der Major, beim Herannahen der kleinen Lokomotive haltmachend.
»Meine liebe Edith«, sprach in singendem Tone die Dame in dem Fahrstuhl, »Major Bagstock!«
Der Major hatte nicht so bald die Stimme gehört, als er Mr. Dombeys Arm losließ, vorwärts stürzte, die Hand der Dame in dem Fahrstuhl ergriff und sie an seine Lippen drückte. Mit nicht geringer vornehmer Bewegung faltete er seine beiden Handschuhe auf der Brust und verbeugte sich tief gegen die andere Dame. Als jetzt der Stuhl haltmachte, wurde die bewegende Kraft in der Gestalt eines hinten nachschiebenden glutroten Pagen sichtbar, der seine Kraft teils durch das Wachsen, teils durch die Anstrengung erschöpft zu haben schien; denn wenn er aufrecht dastand, war er ein langer, spindeldürrer Junge, dessen Zustand um so verkümmerter zu sein schien, weil er die Form seines Hutes ziemlich benachteiligt hatte, indem er die Lokomotive mit dem Kopf vorwärts zu drängen pflegte, wie solches in Ostindien bisweilen bei den Elefanten der Fall ist.
»Joe Bagstock ist ein stolzer und glücklicher Mann für den Rest seines Lebens«, sagte der Major zu den beiden Damen.
»Ihr falscher Mann«, sagte die alte Dame in dem Stuhle geziert. »Wo kommt Ihr her? Ich kann Euch nicht ausstehen.«
»Dann erlaubt dem alten Joe, als Grund, um geduldet zu werden, einen Freund vorzustellen, Ma'am«, entgegnete der Major, ohne sich irremachen zu lassen: »Mr. Dombey, Mrs. Skewton.« Die Dame in dem Stuhl benahm sich sehr gnädig. »Mr. Dombey, Mrs. Granger.« Die Dame mit dem Sonnenschirm schien kaum zu bemerken, daß Mr. Dombey den Hut abnahm und sich tief verbeugte. »Ich bin entzückt, Sir«, sagte der Major, »diese Gelegenheit zu haben.«
Es schien dem Major Ernst zu sein, denn er schaute sie alle an und schielte dabei in seiner häßlichen Art.
»Mrs. Skewton, Dombey«, sagte der Major, »richtet eigentlich eine Verheerung an in dem Herzen des alten Joes.«
Mr. Dombey deutete an, daß er sich darüber nicht wundere.
»Ihr treuloser Schelm«, sagte die Dame in dem Stuhl, »damit ist's vorbei. Wie lange seid Ihr schon hier, böser Mann?«
»Einen Tag«, versetzte der Major.
»Und könnt Ihr nur einen Tag«, erwiderte die Dame, ihre falschen Locken und Augenbrauen leicht fächernd und dabei ihre falschen Zähne als Folie zu der Schminke zeigend – »oder auch nur eine Minute in dem Garten von – wie nennt man's doch –«
»Vermutlich Eden, Mama«, unterbrach sie die jüngere Dame leichthin.
»Meine liebe Edith«, sagte die andere, »ich kann mir nicht helfen: diese schrecklichen Namen entfallen mir stets – von Eden Euch aufgehalten haben, ohne daß Eure ganze Seele und Euer Wesen begeistert sind von dem Anblick der Natur – von dem Wohlgeruch«, fügte Mrs. Skewton bei, indem sie ihr von Parfümerien getränktes Tuch schwenkte – »ihres unverfälschten Atems, Ihr böser Mensch?«
Der Widerstreit der frischen Begeisterung in Mrs. Skewtons Worten und ihrem hoffnungslos verblichenen Wesen war kaum weniger bemerkbar als der zwischen ihrem Alter, das vielleicht siebzig betragen mochte, und ihrem Anzug, der für eine Zwanzigjährige gepaßt haben würde. Ihre stets gleichbleibende Haltung in dem Fahrstuhl war so, wie sie etwa fünfzig Jahre früher von einem damals fashionablen Künstler, der seiner veröffentlichten Skizze den Namen Kleopatra beifügte, in einer Barutsche aufgenommen worden war; denn die Kritiker jener Zeit hatten die Entdeckung gemacht, das Porträt habe eine auffallende Ähnlichkeit mit dem jener Fürstin, wie sie an Bord ihrer Galeere zurückgelehnt saß. Mrs. Skewton war damals eine Schönheit, und die Wildfänge warfen sich ihr zu Ehren Weingläser dem Dutzend nach über die Köpfe. Die Schönheit und die Barutsche waren dahin; aber die Haltung behielt sie noch immer bei, und eben deshalb mußten auch der Fahrstuhl und der schiebende Page Dienste tun, da nur die Attitüde sie bewog, sich nicht ihrer Füße zu bedienen.
»Ich hoffe, Mr. Dombey ist ein Freund der Natur?« sagte Mrs. Skewton, an ihrer Diamantennadel rückend. Wir müssen hier beiläufig bemerken, daß sie hauptsächlich von dem Ruf einiger Diamanten und ihrer Familienverbindungen lebte.
»Mein Freund Dombey, Ma'am«, versetzte der Major, »ist ihr vielleicht im stillen zugetan; aber ein Mann, der so hoch steht in der größten Stadt des Universums –«
»Mr. Dombeys umfassender Einfluß kann niemand fremd sein«, sagte Mrs. Skewton.
Während Mr. Dombey dieses Kompliment mit einem Kopfnicken anerkannte, blickte die jüngere Dame nach ihm hin und begegnete seinen Augen.
»Ihr wohnt hier, Madam?« sagte Mr. Dombey, sie anredend.
»Nein, wir sind an vielen Orten herumgekommen. In Harrowgate, in Scarborough und in Devonshire. Wir machten Besuche und hielten uns hier und dort auf. Mama liebt die Veränderung.«
»Edith natürlich nicht«, versetzte Mrs. Skewton mit einer unheimlichen Schalkhaftigkeit.
»Ich habe nicht gefunden, daß solche Plätze überhaupt Abwechslung bieten«, lautete die mit stolzer Gleichgültigkeit hingeworfene Antwort.
»Auch mir sind sie verleidet. Es gibt nur einen einzigen Wechsel, Mr. Dombey«, bemerkte Mrs. Skewton mit einem leichten Seufzer, »der mir wirklichen Genuß brächte, und ich fürchte, daß es mir nicht vergönnt ist, mich je desselben zu erfreuen. Die Menschen schonen einen so gar nicht. Aber Abgeschiedenheit und Betrachtung sind für mich – wie nennt man's doch –«
»Wenn Ihr ein Paradies meint, Mama, so sprecht Euch lieber aus, um Euch verständlich zu machen«, sagte die jüngere Dame.
»Meine liebe Edith«, erwiderte Mrs. Skewton, »du weißt, daß ich mich wegen dieser häßlichen Namen ganz auf dich verlassen muß. Ich versichere Euch, Mr. Dombey, die Natur hat mich für ein Arkadien geschaffen. So aber bin ich in die Gesellschaft gelangt. Kühe sind meine Leidenschaft. Nach was ich stets verlangte, war die Einsamkeit einer Schweizerhütte, wo ich leben könnte ganz umgeben von Kühen – und Porzellan.«
Dieses wunderliche Zusammenbringen von Gegenständen, die an den berühmten Ochsen erinnert, der irrtümlicherweise in einen Töpferladen geriet, wurde von Mr. Dombey mit großem Ernst aufgenommen, und er gab seiner Ansicht dahin Ausdruck, daß die Natur ohne Zweifel eine sehr achtbare Einrichtung sei.
»Was mir fehlt«, mäkelte Mrs. Skewton, indem sie sich in ihren welken Hals kniff, »ist Herz.« Sie sprach in einem Sinne eine fürchterliche Wahrheit, wenn auch nicht in dem, wie sie die Phrase brauchte. »Nach was ich verlange, ist Offenheit, Vertrauen, weniger Konvenienz und ein freieres Spiel der Seele. Wir leben in einem schrecklich gekünstelten Zustande.«
Die Herren stimmten bei.
»Kurz«, sagte Mrs. Skewton, »ich sehne mich überall nach Natur. Es würde so ungemein entzückend sein.«
»Die Natur ruft uns fort von hier, Mama, wenn Ihr bereit seid«, sagte die jüngere Dame, ihre schönen Lippen aufwerfend.
Auf diesen Wink verschwand der spindeldürre Page, der über der Lehne des Fahrstuhls hinweg der Gesellschaft zugeschaut hatte, in dem Hintergrunde, als sei er vom Boden verschluckt worden.
»Halt, einen Augenblick, Withers!« rief Mrs. Skewton, als der Stuhl sich zu bewegen begann, dem Pagen mit der ganzen matten Würde zu, mit der sie vorzeiten den Kutscher mit seiner Perücke, dem Blumenstrauß und seidenen Strümpfen zu befehlen pflegte. »Wo wohnt Ihr, Abscheulicher?«
Der Major wohnte mit seinem Freund Dombey im Royal-Hotel.
»Wenn Ihr ordentlich sein wollt, so könnt Ihr uns jeden Abend besuchen«, lispelte Mrs. Skewton, »Will Mr. Dombey uns beehren, so wird es uns freuen. Withers, fort!«
Der Major drückte die Fingerspitzen, die nach dem Kleopatramodell mit studierter Nachlässigkeit auf der Lehne des Fahrstuhls lagen, abermals an seine Lippen, und Mr. Dombey verbeugte sich. Die ältere Dame grüßte beide mit einem sehr huldreichen Lächeln und einem mädchenhaften Schwenken ihrer Hand, während die jüngere ihren Kopf nur so leicht verneigte, als es die gewöhnlichste Höflichkeit gebot. Der letzte Blick auf das runzlige geschminkte Gesicht der Mutter, das sich in der Sonne unendlich hagerer und unheimlicher ausnahm, als solches bei dem Mangel des Rot je hätte geschehen können, und auf die stolze Schönheit der Tochter mit ihrer anmutigen Gestalt und aufrechten Haltung weckte sowohl in dem Major als in Mr. Dombey unwillkürlich die Lust, ihnen nachzusehen, so daß sich beide in dem gleichen Moment umdrehten. Der Page fast so schräg, wie sein eigener Schatten, arbeitet sich bergauf wie ein langsamer Sturmbock dem Fahrstuhle nach; der obere Teil von Kleopatras Hut flatterte auf den Zoll hin genau in derselben Ecke wie zuvor, und die Schönheit, die der Lokomotive ein wenig vorausging, drückte in ihrer eleganten Form von Kopf bis zum Fuß die nämliche stolze Rücksichtslosigkeit gegen Dinge und Personen aus.
»Ich will Euch etwas sagen, Sir«, begann der Major, als sie ihren Spaziergang wieder aufnahmen. »Wenn Joe Bagstock ein jüngerer Mann wäre, so gäbe es in der ganzen Welt kein Frauenzimmer, das er als Mistreß Bagstock jenem dort vorziehen würde. Beim Georg, Sir«, fügte der Major bei, »sie ist prächtig!«
»Meint Ihr die Tochter?« fragte Mr. Dombey.
»Ist Joey B. ein Pinsel, Dombey«, versetzte der Major, »daß er die Mutter meinen könnte?«
»Ihr machtet doch der Mutter so viele Komplimente«, entgegnete Mr. Dombey.
»Eine alte Flamme, Sir«, kicherte Major Bagstock. »Verteufelt alt. Ich habe meinen Spaß mit ihr.«
»Sie macht auf mich den Eindruck, als ob sie vollkommen gentil sei«, sagte Mr. Dombey.
»Gentil, Sir?« versetzte der Major, indem er stehenblieb und seinem Begleiter erstaunt ins Gesicht schaute. »Die hochgeborne Mrs. Skewton ist eine Schwester des verstorbenen Lord Feenix und eine Tante des gegenwärtigen Lords. Die Familie ist nicht reich – ja sogar arm – und sie lebt von einer kleinen Rente; aber wenn's aufs Blut ankommt, Sir!«
Der Major stieß seinen Stock heftig auf und ging weiter, wie es schien in Verzweiflung, daß er nicht zu sagen wußte, was dann war, wenn es auf das ankam.
»Ich bemerkte, daß Ihr die Tochter als Mrs. Granger anredetet«, nahm Mr. Dombey nach einer kurzen Pause das Wort wieder auf.
»Edith Skewton, Sir«, entgegnete der Major, der jetzt wieder haltmachte und mit seinem Stock, um sie darzustellen, ein Zeichen in den Boden schlug, »heiratete mit achtzehn Granger.« Der Major deutete ihn durch eine zweite Kerbe an. »Granger, Sir«, fuhr der Major mit Nachdruck fort, indem er das letztere ideale Porträt berührte und dabei den Kopf wiegte, »war Obrist in unserer Armee – ein verteufelt schöner Bursche von einundvierzig, Sir. Er starb im zweiten Jahr seiner Ehe.«
Der Major strich den Repräsentanten des hingeschiedenen Granger mit seinem Spazierstock durch und ging dann wieder weiter, diesen über die Schulter legend.
»Wie lange ist das schon her?« fragte Mr. Dombey, der aufs neue stehenblieb.
»Edith Granger, Sir«, versetzte der Major, indem er das eine Auge schloß, den Kopf seitwärts neigte, den Stock in seine Linke nahm und mit der Rechten seinen Bruststreif glättete, »ist zurzeit nicht ganz dreißig. Und der Teufel soll mich holen, Sir«, beteuerte der Major, abermals seinen Stock schulternd und wieder weitergehend, »sie ist ein unvergleichliches Frauenzimmer!«
»War Familie da?« fragte Mr. Dombey sogleich.
»Ja, Sir«, antwortete der Major. »Ein Knabe.«
Mr. Dombeys Augen suchten den Boden, und ein Schatten überflog sein Gesicht.
»Er ertrank, Sir«, fuhr der Major fort, »als er kaum vier oder fünf Jahre alt war.«
»Wirklich?« entgegnete Mr. Dombey, den Kopf erhebend.
»Durch das Umschlagen eines Bootes, in das ihn seine Wärterin nicht hätte setzen sollen«, sagte der Major. »Das ist seine Geschichte. Edith Granger ist noch immer Edith Granger; aber wenn der alte Joe B. ein wenig jünger und ein wenig reicher wäre, so sollte der Name dieses herrlichen Geschöpfes Bagstock lauten!«
Bei diesen Worten zuckte der Major die Achseln, blies seine Backen auf und lachte mehr als je wie ein übermästeter Mephistopheles.
»Vorausgesetzt, daß die Dame nichts dagegen hätte, will ich doch meinen?« entgegnete Mr. Dombey kalt.
»Bei Gott, Sir«, erwiderte der Major, »das Geschlecht der Bagstocke ist nicht an ein derartiges Hindernis gewöhnt. Freilich hat es vollkommen seine Richtigkeit, daß Edith schon zwanzigmal hätte heiraten können – aber sie ist stolz, Sir – stolz!«
Mr. Dombeys Gesicht schien auszudrücken, daß er um dessenwillen nicht schlechter von ihr denke.
»'s ist im Grund eine schöne Eigenschaft«, sagte der Major. »Bei Gott 's ist eine hohe Eigenschaft. Dombey, Ihr seid selbst stolz, und Euer Freund, der alte Joe, achtet Euch darum.«
Mit diesem Tribut für den Charakter seines Gefährten, der ihm durch die Gewalt der Umstände und die unwiderstehliche Richtung ihres Gesprächs abgerungen zu sein schien, schloß der Major die Angelegenheit und ging zu einer allgemeinen Auseinandersetzung über, wie er seinerzeit von herrlichen Frauen und prächtigen Geschöpfen geliebt und gehätschelt worden sei.
Zwei Tage später begegnete Mr. Dombey und der Major der hochgeborenen Mrs. Skewton und ihrer Tochter in dem Kursaal, tags darauf wieder in der Nähe desselben Platzes, wo sie das erstemal mit ihnen zusammengetroffen waren. Nachdem es etwa drei- oder viermal im ganzen geschehen, wurde es um der alten Bekanntschaft willen ein Punkt bloßer Höflichkeit, daß der Major einen Abendbesuch machte. Mr. Dombey hatte ursprünglich nicht beabsichtigt, jemand zu besuchen; aber als ihm der Major sein Vorhaben mitteilte, erklärte er, daß er sich das Vergnügen machen werde, ihn zu begleiten. Der Major beauftragte deshalb den Eingeborenen, noch vor dem Diner den Damen sein und Mr. Dombeys Empfehlung zu melden und zu sagen, daß sie sich die Ehre geben würden, einen Abendbesuch zu machen, falls die Damen allein wären. Als Antwort brachte der Eingeborene ein sehr kleines Billet, das sehr stark nach Parfüm roch und in dem die hochgeborene Mrs. Skewton dem Major Bagstock kurz erklärte: »Ihr seid ein abscheulicher Bär, und ich habe gute Lust, Euch gar nicht mehr zu verzeihen; aber wenn Ihr recht lieb sein wollt«, die letzten Worte waren unterstrichen, »so dürft Ihr kommen. Empfehlungen von mir und Edith an Mr. Dombey.«
Die hochgeborene Mrs. Skewton und ihre Tochter Mrs. Granger bewohnten während ihres Aufenthalts zu Leamington ein Quartier, das vornehm und teuer genug, aber in Raum und Bequemlichkeit etwas beschränkt war, so daß die hochgeborene Mrs. Skewton, wenn sie im Bette lag, ihre Füße im Fenster und den Kopf im Kamin hatte, während ihr Mädchen ihre Schlafstätte in einem so ungemein kleinen Alkoven des Besuchszimmers hatte, daß sie, um sich der ganzen Ausgiebigkeit ihres Lagers zu erfreuen, durch die Tür hinein und heraus sich winden mußte, wie eine zierliche Schlange. Withers, der spindeldürre Page, schlief außerhalb des Hauses unmittelbar unter den Dachziegeln eines benachbarten Milchladens, und die Lokomotive, dieser Stein unseres Sisyphus, verbrachte ihre Nächte in einem Schuppen, zu dem besagten Milchladen gehörig, wo stets frisch gelegte Eier zu finden waren und das mit der Milcherei in Verbindung stehende Geflügel unablässig auf einem zerbrochenen Eselkarren stand, allem Anschein nach fest überzeugt, daß es daselbst gewachsen sei und sich von dem Baume nicht losmachen könne.
Mr. Dombey und der Major fanden Mrs. Skewton in den Kissen eines Sofas als Kleopatra gruppiert – sehr luftig gekleidet und sicherlich ohne Ähnlichkeit mit Shakespeares Kleopatra, die das Alter nicht zum Welken bringen konnte. Als sie die Treppe hinaufstiegen, hörten sie den Ton einer Harfe, die aber, sobald sie angemeldet waren, zu spielen aufhörte. Edith stand neben dem Instrument, reizender und schöner als je. Die Schönheit dieser Dame hatte die merkwürdige Eigenschaft, daß sie ihre Rechte zu behaupten schien sogar ohne Beihilfe und gegen den Willen ihrer Besitzerin. Edith wußte, daß sie schön war, denn das Gegenteil wäre unmöglich gewesen; aber sie sah aus, als wolle sie mit ihrem Stolze sich selbst trotzen.
Ob sie Reize, die nur eine für sie wertlose Bewunderung hervorrufen konnten, gering anschlug, oder ob sie durch einen solchen Gebrauch derselben sie nur wertvoller zu machen beabsichtigte, – mit Ermittlung dieser Frage hielten sich die Bewunderer, die sie zu schätzen wußten, selten auf.
»Ich hoffe, Mrs. Granger«, sagte Mr. Dombey, indem er sich ihr um einen Schritt näherte, »wir sind nicht schuld, daß Ihr Eurem Spiel ein Ende machtet?«
» Ihr? O nein!«
»Warum spielst du dann nicht weiter, meine liebe Edith?« fragte Kleopatra.
»Ich hörte aus demselben Grunde auf, der mich anfangen ließ – aus Laune.«
Die Gleichgültigkeit, mit der sie das sagte – eine Gleichgültigkeit, die sich nichts weniger als blöde ausnahm, sondern absichtlich stolz gehalten war – stand sehr im Gegensatz zu der Unbekümmertheit, mit der sie ihre Hand über die Saiten gleiten ließ, um sodann nach der vorderen Wand des Zimmers zu treten.
»Ihr müßt wissen, Mr. Dombey«, sagte die schmachtende Mutter, indem sie mit einem Handschirm spielte, »daß hin und wieder meine liebe Edith und ich wirklich fast uneinig werden –«
»Nicht bisweilen ganz, Mama?« entgegnete Edith.
»O, nie ganz, meine Liebe! Pfui, pfui, es würde mir das Herz brechen«, erwiderte die Mutter mit einem leichten Versuch, Edith mit ihrem Schirme zu pätscheln, obschon letztere sich nicht rührte, um dieser Liebkosung entgegenzukommen, – »wegen jener kalten Konventionalitäten, die auch in den kleinsten Dingen beobachtet werden sollen. Warum sind wir nicht natürlicher! Ach, Himmel, mit all dem Sehnen, Trachten und instinktartigen Pochen, das unseren Seelen eingepflanzt ist und einen so hinreißenden Zauber ausübt – warum sind wir nicht natürlicher!«
Mr. Dombey entgegnete, das sei sehr wahr – sehr wahr.
»Wir könnten, glaube ich, natürlicher sein, wenn wir es versuchten«, sagte Mrs. Skewton.
Mr. Dombey meinte, es sei möglich.
»Der Teufel auch, Madame«, sagte der Major. »Wir könnten's nicht. Wenn nicht die Welt mit J.B.'s bewohnt ist – zähen und derben alten Joes, Ma'am, einfachen Bücklingen mit harten Rogen, Sir – so können wir's nicht. Nein, durchaus nicht.«
»Ihr garstiger Ungläubiger«, versetzte Mrs. Skewton, »schweigt!«
»Kleopatra befiehlt«, erwiderte der Major, ihr die Hand küssend, »und Antonius Bagstock gehorcht.«
»Der Mann besitzt keine Empfindsamkeit«, sagte Mrs. Skewton, grausam den Handschirm so haltend, daß der Major ausgeschlossen wurde – »keine Sympathie! Und für was leben wir, wenn nicht für Sympathie! Was anderes wäre so ungemein beglückend. Nie könnten wir's nur aushalten ohne diesen Sonnenstrahl auf unserer öden, kalten Erde?« fuhr Mrs. Skewton fort, indem sie ihren Spitzenkragen ordnete und wohlgefällig die Wirkung ihres bloßen mageren Arms vom Handgelenk an aufwärts betrachtete. »Mit einem Worte, verstockter Mann!« sie blickte um den Schirm herum nach dem Major hin, »ich möchte, daß meine Welt voll Seele wäre; und der Glaube daran ist so ungemein beglückend, daß ich Euch nicht gestatten werde, ihn zu stören. Hört Ihr das?«
Der Major versetzte, es sei hart von Kleopatra, daß sie von der ganzen Welt verlange, voll Seele zu sein, und doch sich selbst die Seelen und Herzen aller Welt zueignen möchte. Das nötigte Kleopatra, ihn zu erinnern, daß Schmeichelei ihr unerträglich sei, und wenn er sich erlaube, sie wieder in solchen Worten anzureden, so werde sie ihn bestimmt nach Hause schicken.
Da jetzt Withers, der Spindeldürre, den Tee herumbot, so wandte sich Mr. Dombey wieder an Edith.
»Es scheint, daß noch nicht viel Gesellschaft hier ist«, sagte Mr. Dombey in seiner wichtigen gentlemanischen Art.
»Ich glaube nicht. Wir empfangen keine.«
»Ja, wahrhaftig«, bemerkte Mrs. Skewton von ihrem Sofa aus. »Es sind noch nicht viele Personen hier, an deren Umgang uns etwas gelegen ist.«
»Sie haben nicht genug Seele«, sagte Edith mit einem Lächeln – das wahre Zwielicht von einem Lächeln – so eigentümlich waren Hell und Dunkel darin gemischt.
»Ihr seht, meine liebe Edith neckt mich«, sagte ihre Mutter, ihren Kopf schüttelnd, der zuweilen von selbst ein wenig wackelte, als wolle er mit dem zitternden Licht der Diamanten konkurrieren, »Gottlose!«
»Wenn ich nicht irre, seid Ihr schon früher hier gewesen?« sagte Mr. Dombey – noch immer zu Edith.
»O ja, schon öfter. Ich denke, wir waren schon überall.«
»Eine schöne Gegend!«
»Ich glaube so. Alle Welt sagt es.«
»Dein Vetter Feenix wütet darüber, Edith«, nahm ihre Mutter von dem Sofa her das Wort.
Die Tochter erhob leicht ihren anmutigen Kopf, zog die Augen um Haaresbreite in die Höhe, als wolle sie damit andeuten, daß der Vetter Feenix von allen Sterblichen am wenigsten Beachtung verdiene, und wandte sich dann wieder Mr. Dombey zu.
»Ich hoffe zur Ehre meines guten Geschmacks, daß ich der Umgebung müde bin«, sagte sie.
»Ihr habt fast Grund dazu, Madame«, versetzte er, mit einem Blick auf verschiedene reichlich im Zimmer hängende Landschaftszeichnungen, die, wie er bemerkte, zum Teil Partien aus der nächsten Gegend darstellten, »wenn diese schönen Bilder von Eurer Hand sind.«
Sie gab ihm keine Antwort, sondern saß in stolzer Schönheit da – ganz entzückend.
»Haben sie dieses Interesse?« fragte Dombey. »Sind sie von Euch?«
»Ja.«
»Ihr spielt die Harfe, wie ich bereits weiß?«
»Ja.«
»Und singt?«
»Ja.«
Sie beantwortete alle diese Fragen mit einem auffallenden Widerwillen und mit jener merkwürdigen Miene des Selbstwiderspruchs, die, wie wir bereits bemerkten, ihrer Schönheit angehörte. Dabei war sie übrigens nicht verlegen, sondern vollkommen ruhig. Dennoch schien sie das Gespräch nicht vermeiden zu wollen, denn sie wandte ihm ihr Gesicht und – so weit sie konnte – auch ihre Aufmerksamkeit zu, selbst dann, wenn er schwieg.
»Es stehen Euch wenigstens eine Menge Hilfsmittel zu Gebot, um Euch die Zeit zu verkürzen«, sagte Mr. Dombey.
»Wie sie mir auch zustatten kommen mögen«, erwiderte sie, »so kennt Ihr sie jetzt alle. Ich besitze keine weiteren.«
»Darf ich hoffen, daß ich sie näher kennenlerne?« sagte Mr. Dombey mit feierlicher Stimme und Geste, indem er eine Zeichnung, die er in der Hand hielt, niederlegte und nach der Harfe hinwinkte.
»O gewiß, wenn Ihr es wünscht.«
Mit diesen Worten erhob sie sich, ging an dem Sofa ihrer Mutter vorbei und warf ihr einen scharfen Blick zu, der zwar nur einen Moment dauerte, aber (wenn es jemand hätte bemerken können) viele Ausdrücke in sich schloß, unter denen der des Zwielichtslächelns ohne das Lächeln selbst alle übrigen überschattete. Damit verließ sie das Zimmer.
Der Major, der vollkommene Verzeihung erhalten hatte, rückte einen kleinen Tisch vor Kleopatra hin und setzte sich nieder, um mit ihr eine Partie Piquet zu spielen. Mr. Dombey, der das Spiel nicht kannte, nahm sich gleichfalls einen Stuhl und sah ihnen zu, bis Edith zurückkehrte.
»Ich hoffe, wir werden ein wenig Musik erhalten, Mr. Dombey«, sagte Kleopatra.
»Mrs. Granger war so freundlich, mir das zu versprechen«, versetzte Mr. Dombey.
»Ach, das ist aber hübsch. Gebt Ihr vor, Major?«
»Nein, Ma'am«, erwiderte der Major. »Kann's nicht.«
»Ihr seid ein barbarischer Mensch«, sagte die Dame. »Ich kann nichts machen. Ihr seid ein Liebhaber der Musik, Mr. Dombey?«
»Sehr«, lautete Mr. Dombeys Antwort.
»Ja. Es ist sehr hübsch«, sagte Kleopatra, nach ihren Karten sehend. »So viel Seele darin – unentwickelte Erinnerungen aus einem früheren Zustande des Daseins – und dergleichen – was in der Tat bezaubernd ist. Wißt Ihr auch«, kakelte Kleopatra, den Pique-Buben umkehrend, der mit den Schuhen zu oberst in ihre Karten gekommen war, »daß, wenn mich etwas verlocken könnte, meinem Leben ein Ziel zu setzen, das die Neugierde wäre, zu erfahren, was in allen Dingen steckt und was sie zu bedeuten haben? Es gibt in der Tat so viele herausfordernde Geheimnisse, die vor uns verborgen sind. Major, Ihr habt auszuspielen!«
Der Major spielte aus, und Mr. Dombey, der zu seiner Belehrung zusah, würde wohl durch die Feinheiten des Spiels bald in die größte Verwirrung gekommen sein. Statt demselben aber Aufmerksamkeit zu schenken, machte er sich Gedanken, wann wohl Edith zurückkommen würde.
Endlich erschien sie und setzte sich zu ihrer Harfe nieder. Mr. Dombey stand auf und trat zuhörend an ihre Seite. Er hatte nur wenig Sinn für Musik und kannte die gespielte Arie nicht; aber er sah, wie sie sich niederbeugte, und hörte vielleicht unter den tönenden Saiten eine ferne Musik seiner eigenen Art, die das Ungeheuer der Eisenbahn zähmte und es weniger unerbittlich machte.
Kleopatra hatte beim Piquet ein sehr kritisches Auge. Es glänzte wie das eines Vogels und beschäftigte sich nicht allein mit dem Spiel, sondern durchlief das Zimmer von einem Ende zum andern, in seiner Schnelligkeit bald die Harfe, bald die Spielerin, bald den Zuhörer – kurz alles erfassend.
Nachdem die stolze Schönheit ihr Spiel beendigt hatte, erhob sie sich, den Dank und die Komplimente Dombeys ganz in derselben Weise wie früher hinnehmend, ging, ohne sich eine Pause zu gönnen, nach dem Piano und begann abermals.
Edith Granger, jeden Gesang, nur diesen nicht. Edith Granger, du bist sehr schön; deine Finger greifen herrlich in die Tasten, und deine Stimme ist tief und reich; aber nicht jenes Lied, das die vernachlässigte Tochter seinem sterbenden Sohne vorsang!
Ach, er kannte es nicht, und wenn es vielleicht auch der Fall war, wie hätte eine von ihren Weisen den starren Mann anregen können! Schlaf, einsame Florence – schlaf! Friede sei mit deinen Träumen, obschon die Nacht dunkel geworden ist und Wolken aufsteigen, die sich in Hagel zu entladen drohen!
Zweiundzwanzigstes Kapitel. WIE MR. CARKER, DER GESCHÄFTSFÜHRER, EIN KLEINES GESCHÄFT BETREIBT.
Mr. Carker, der Geschäftsführer, saß so geschmeidig und glatt wie gewöhnlich an seinem Schreibpult und las die Briefe, die ihm zum Öffnen vorbehalten geblieben waren, indem er gelegentlich, je nachdem es ihr Inhalt verlangte, Notizen auf ihre Rückseiten schrieb und sie dann in kleine Haufen abteilte, damit diese an die verschiedenen Departements des Hauses abgegeben werden könnten. Die Post war am Morgen sehr schwer gewesen, und Mr. Carker, der Geschäftsführer, hatte viel zu tun.
Die allgemeine Haltung eines so beschäftigten Mannes, der einen Bündel Papiere in der Hand hat, sie in verschiedene Haufen verteilt, ein anderes Paket aufnimmt, mit zusammengekniffenen Brauen und aufgeworfenen Lippen den Inhalt untersucht, ausgibt, sortiert und zwischendurch nachdenkt, könnte leicht an die eines Kartenspielers erinnern. Das Gesicht Mr. Carkers, des Geschäftsführers, stand im vollen Einklang mit einer derartigen Vorstellung. Es war das Gesicht eines Mannes, der schlau sein Spiel studierte, alle starken und schwachen Punkte desselben genau kannte, seine Karten im Geiste genau nach ihrem Werte ordnete und verschmitzt genug war, die Blätter der andern Spieler zu entdecken, ohne daß er je die in seiner eigenen Hand verriet.
Die Briefe waren in verschiedenen Sprachen geschrieben; aber Mr. Carter, der Geschäftsführer, las sie alle. Wäre in dem Bureau von Dombey und Sohn etwas gewesen, das er nicht lesen konnte, so würde in dem Spiel eine Karte gefehlt haben. Er las fast mit einem Blicke, und kombinierte in schnellem Verlauf einen Brief mit dem andern, ein Geschäft mit dem andern, in solcher Weise dem Häuflein neuen Stoff zufügend – gerade so wie ein Mensch, der die Karten vom Ansehen kennt und im Geiste seine Rechnungen macht, sobald er sie aufgenommen hat. Etwas zu schlau für einen Partner und viel zu schlau für einen Gegner, saß Mr. Carker, der Geschäftsführer, in den Strahlen der Sonne, die schräg durch das Oberlicht der Fenster auf ihn niederfielen, um seinem Spiel allein zuzusehen.
Und obschon es nicht zu dem Instinkt der wilden oder in Häusern wohnenden Katzenzunft gehört, mit Karten zu spielen, war doch Mr. Carker, der Geschäftsführer, katzenartig vom Wirbel bis zur Zehe, während er sich in dem Streifen Sommerlicht wärmte, das auf seinen Tisch und den Boden fiel, als wären letztere eine gebrochene Sonnenuhr und er die einzige Zahl darauf. Mit Haar und Backenbart, die zu allen Zeiten der Farbe ermangelten, nie aber mehr dem Felle einer gelbfleckigen Katze ähnlich, als in dem reichen Sonnenschein, – mit langen, sauber beschnittenen und geschärften Nägeln, mit einem natürlichen Widerwillen gegen jeden Schmutzflecken, der ihn bewog, manchmal innezuhalten, die fallenden Sonnenstäubchen zu beobachten und sie von seiner glatten weißen Hand oder der schneeweißen Leinwand wegzupusten, saß Mr. Carker, der Geschäftsführer, schlau in seinem Benehmen, mit scharfen Zähnen, leis auftretend, wachsamen Auges, mit glatter Zunge, grausamen Herzens und pünktlich aus Gewohnheit, in geleckter Beharrlichkeit und Geduld an seiner Arbeit, als ob er vor einem Mauseloch lauere. Endlich waren die Briefe abgefertigt, einen einzigen ausgenommen, den er für eine besondere Audienz zurücklegte. Nachdem er die vertraulichere Korrespondenz in ein Schubfach eingeschlossen hatte, läutete er mit seiner Klingel.
»Warum kommst du?« waren die Worte, mit denen er seinen Bruder empfing.
»Der Laufbursche ist unterwegs, und ich bin der nächste«, lautete die unterwürfige Antwort.
»Du der nächste!« murmelte der Geschäftsführer. »Ja! sehr ehrenvoll für mich! Da!«
Er deutete dabei auf den Haufen geöffneter Briefe und wandte sich in seinem Armstuhl verächtlich ab, um das Siegel des Schreibens zu erbrechen, das er noch in seiner Hand hielt.
»Es tut mir leid, dich behelligen zu müssen, James«, sagte der Bruder, sie aufnehmend, »aber – –«
»O, du hast etwas zu sagen. Ich dachte mir's. Nun?«
Mr. Carker, der Geschäftsführer, erhob seine Augen nicht, um sie auf seinen Bruder zu richten, sondern ließ sie auf dem Briefe haften, obschon er ihn nicht öffnete.
»Nun?« wiederholte er mit Schärfe.
»Ich bin unruhig wegen Harriet.«
»Welcher Harriet? was für einer Harriet? Ich kenne niemand dieses Namens.«
»Sie ist nicht wohl und hat sich in letzter Zeit sehr verändert.«
»Sie hat sich schon vor vielen Jahren sehr verändert«, versetzte der Geschäftsführer. »Weiter kann ich nichts darüber sagen.«
»Ich glaube, wenn du mich anhören würdest –«
»Warum sollte ich dich anhören, Bruder John?« erwiderte der Geschäftsführer, einen sarkastischen Nachdruck auf die beiden letzten Worte legend und den Kopf in die Höhe werfend, obschon er seine Augen nicht aufschlug. »Ich sage dir, Harriet Carker hat schon vor vielen Jahren ihre Wahl getroffen zwischen ihren beiden Brüdern, Vielleicht bereut sie's, aber sie muß dabei bleiben.«
»Mißverstehe mich nicht. Ich sage nicht, daß sie es bereut. Es wäre schwarzer Undank von mir, wenn ich etwas der Art andeuten wollte«, erwiderte der andere. »Aber glaube mir, James, ihr Opfer tut mir ebenso leid wie dir.«
»Wie mir?« rief der Geschäfteführer. »Wie mir?«
»Ich beklage ihre Wahl – das, was du ihre Wahl nennst – da du darüber zürnst«, sagte der Junior.
»Zürne?« entgegnete der andere und zeigte dabei seine weißen Zähne.
»Oder mißvergnügt bist – wie du willst. Du weißt, was ich sagen will. Es lag nichts Beleidigendes in meiner Absicht.«
»In allem, was du tust, liegt Beleidigung«, erwiderte der Bruder, plötzlich finster nach ihm hinschauend, obschon unmittelbar darauf ein noch weiteres Lächeln folgte, als das letzte. »Sei so gut, diese Papiere fortzunehmen. Ich habe zu tun.«
Seine Höflichkeit war um so viel schneidender als sein Zorn, daß sich der Junior nach der Tür begab. Dort aber machte er noch einmal halt, sah sich um und sagte:
»Als Harriet es vergeblich versuchte, bei deinem ersten gerechten Unwillen und meiner ersten Schmach ein Fürwort für mich einzulegen – als sie dich verließ, James, um meinem Unglück zu folgen und sich in mißverstandener Liebe einem zugrunde gerichteten Bruder zu weihen, weil er ohne sie niemand hatte und verloren gewesen wäre, war sie jung und hübsch. Ich meine, ich könne sie jetzt noch sehen. Wenn du sie besuchen wolltest, so würde sie deine Bewunderung und dein Mitleid erregen.«
Der Geschäftsführer senkte den Kopf und zeigte seine Zähne, als wolle er als Antwort auf ein unbedeutendes Gerede sagen: »Ach, Himmel, ist's möglich?« aber es kam keine Silbe über seine Lippen.
»Du und ich, wir beide dachten damals, sie werde jung heiraten und ein glückliches frohes Leben führen können«, fuhr der andere fort. »O, wenn du wüßtest, wie freudig sie auf alle diese Hoffnungen verzichtete, wie getrost sie auf dem gewählten Pfade fortging, ohne auch nur ein einziges Mal zurückzuschauen, so könntest du nicht wieder sagen, ihr Name sei fremd in deinen Ohren. Nein, gewiß nicht!«
Wieder senkte der Geschäftsführer den Kopf, zeigte seine Zähne und schien zu sagen: »In der Tat merkwürdig! Du setzt mich in Erstaunen!« Doch abermals verlautete kein Wort.
»Darf ich weitergehen?« fragte John Carker mild.
»Auf deinem Wege?« versetzte der Bruder lächelnd. »Wenn du die Güte haben willst.«
John Carker war im Begriffe, mit einem Seufzer langsam durch die Tür zu schreiten, als ihn die Stimme seines Bruders noch auf der Schwelle zurückhielt.
»Wenn sie so freudig ihren Weg gegangen ist und noch geht«, sagte er, den noch immer ungeöffneten Brief auf das Pult werfend und die Hände fest in seine Taschen steckend, »so kannst du ihr sagen, daß ich ebenso wohlgemut den meinigen verfolge. Hat sie auch nicht ein einziges Mal zurückgeschaut, so magst du ihr bedeuten, ich habe das bisweilen getan, um mir ins Gedächtnis zurückzurufen, wie sie für dich Partei nahm. Meine Entschlüsse sind so fest« – er lächelte jetzt sehr süß – »wie Marmor.«
»Ich sage ihr nichts von dir. Wir sprechen nie von dir. Einmal im Jahr, an deinem Geburtstag, versäumt Harriet nicht, zu sagen: ›Wir wollen uns des Namens James erinnern und ihm Glück wünschen.‹ Weiter reden wir nicht.«
»So sag' es meinetwegen dir selbst«, erwiderte der andere. »Du kannst es dir nicht oft genug wiederholen, als eine Lehre, den fraglichen Gegenstand gegen mich nie zu berühren. Ich kenne keine Harriet Carker. Für mich gibt es keine solche Person, Du magst eine Schwester haben; mache aus ihr, was du willst. Ich habe keine.«
Mr. Carker, der Geschäftsführer, nahm den Brief wieder auf und winkte mit einem Lächeln höhnischer Höflichkeit nach der Tür hin. Der Junior entfernte sich, und er sah ihm eine Weile finster nach; dann drehte er sich wieder in seinem Lehnstuhl, öffnete den Brief und las aufmerksam dessen Inhalt.
Die Handschrift war die seines großen Prinzipals Mr. Dombey und der Brief von Leamington aus datiert. Obschon Mr. Carker mit allen andern Briefen sehr schnell fertig war, las er diesen doch sehr langsam; er erwog jedes Wort, und alle seine Zähne wirkten dabei aufmerksam mit. Nachdem er damit fertig war, fing er wieder von vorn an und beachtete namentlich folgende Stellen: ›Die Veränderung bekommt mir gut, und ich kann noch keine Zeit für meine Rückkehr bestimmen.‹ ›Ich wünsche, Carker, Ihr möchtet es so einrichten, daß Ihr mich einmal hier besucht und mich persönlich über den Geschäftsgang unterrichtet.‹ ›Ich habe vergessen, mit Euch über den jungen Gay zu sprechen. Wenn er noch nicht mit dem Sohn und Erben abgereist ist oder der Sohn und Erbe noch im Dock liegt, so gebt den Auftrag einem andern jungen Menschen und behaltet ihn vorderhand noch in der City. Ich bin noch unschlüssig.‹ »Schade!« sagte Mr. Carker, der Geschäftsführer, und erweiterte seinen Mund, als wäre er aus Gummi-Elastikum, »denn er ist schon weit weg.«
Gleichwohl fesselte diese Stelle, die in der Nachschrift vorkam, noch einmal seine Aufmerksamkeit und seine Zähne.
»Ich glaube«, sagte er, »mein guter Freund, Kapitän Cuttle, erwähnte etwas vom Fortgetautwerden im Kielwasser jenes Tages. Wie schade, daß er so weit weg ist!«
Er legte das Schreiben wieder zusammen, spielte damit, stellte es der Länge und der Breite nach auf den Tisch und drehte es über und über nach allen Seiten – vielleicht mit seinem Inhalt so ziemlich das gleiche vornehmend. Während er noch in diesem Geschäft begriffen war, klopfte Mr. Perch, der Bote, leise an die Tür, kam auf den Zehenspitzen herein, beugte seinen Körper bei jedem Schritt, als ob Verbeugungen die Wonne seines Lebens seien, und legte einige Papiere auf den Tisch.
»Beliebt es Euch, beschäftigt zu sein, Sir?« fragte Mr. Perch, die Hände reibend und ehrerbietig den Kopf auf die eine Seite neigend, wie ein Mann, der fühlt, daß er nicht befugt sei, denselben in einer solchen Gegenwart aufrechtzuhalten, und ihn deshalb so viel als möglich aus dem Weg schaffen möchte.
»Wer will etwas von mir?«
»Ei, Sir«, versetzte Mr. Perch mit sehr sanfter Stimme, »in der Tat niemand, Sir, bei dem sich's sonderlich der Mühe verlohnte. Mr. Gills, der Schiffs-Instrumentenmacher, Sir, hat vorgesprochen – wegen einer kleinen Zahlung, wie er sagt; aber ich deutete ihm an, Sir, daß Ihr sehr beschäftigt seid.«
Mr. Perch hustete einmal hinter seiner Hand und wartete auf weitere Befehle.
»Sonst niemand?«
»Ich möchte mir nicht die Freiheit nehmen, Sir«, entgegnete Mr. Perch, »zu erwähnen, daß sonst jemand da gewesen sei; aber der gleiche junge Bursche, der gestern und die letzte Woche hier war, Sir, hat um den Platz herum geschlendert, und es sieht schrecklich ungeschäftsmäßig aus, Sir«, fügte Mr. Perch bei, indem er innehielt, um die Tür zu schließen, »wenn man so mitanschauen muß, wie er den Sperlingen im Hof drunten pfeift und sie veranlaßt, ihm zu antworten.«
»Ihr sagtet, er wünsche Beschäftigung – ist's nicht so, Perch?« fragte Mr. Carker, indem er sich in seinen Stuhl zurücklehnte und den Boten ansah.
»Ei, Sir«, versetzte Mr. Perch, abermals hinter seiner Hand hustend, »er sprach allerdings davon, daß es ihm an Arbeit fehle und er meine, man könne ihm etwas an den Docks zu tun geben, weil er sich auf das Fischen mit der Rute und Leine verstehe: aber –«
Mr. Perch schüttelte sehr bedenklich den Kopf.
»Was sagt er, wenn er kommt?« fragte Mr. Carker.
»Ja, Sir«, entgegnete Mr. Perch mit einem weiteren Husten hinter seiner Hand – seiner gewöhnlichen Zuflucht als einer Demutsäußerung, wenn ihm nichts anderes einfiel – »seine Bemerkung ist in der Regel, daß er untertänigst einen von den Gentlemen zu sehen wünschte, und daß er gerne etwas verdienen möchte. Aber Ihr seht, Sir«, fügte Perch hinzu, indem er seine Stimme zu einem Flüstern ermäßigte und in der Unverletzlichkeit seines Vertrauens sich umwandte, um mit Hand und Knie der Tür einen Stoß zu geben, als ob dann das bereits Geschlossene noch fester schließe, »es ist kaum zu verwinden, daß ein gemeiner Bursche, wie dieser da, spionierend hierher kommt und behauptet, seine Mutter sei die Amme von unseres Hauses jungem Gentleman gewesen, und daß er von unserem Hause hoffe, man werde ihm darum eine Anstellung geben. Gewiß und wahrhaftig«, bemerkte Mr. Perch, »obgleich meine Frau damals ein so kleines Mädchen nährte, als wir nur je mit einem unsere Familie zu vermehren so frei waren, so würde ich mir doch nicht erlaubt haben, eine Bemerkung fallen zu lassen, daß sie fähig sei, Nahrung abzutreten – nein, und wenn's zehnmal mehr gewesen wäre!«
Mr. Carker grinste nach ihm hin wie ein Haifisch, aber mit einer zerstreuten, gedankenvollen Miene.
»Ob es nicht wohl das beste wäre«, deutete Mr. Perch nach einem kurzen Schweigen und einem weiteren Husten an, »wenn ich ihm sagte, daß man ihn einsperren lasse, falls er sich wieder hier sehen lasse? Was leibliche Frucht betrifft«, fügte er bei, »so bin ich von Natur aus selbst so schüchtern, Sir, und meine Nerven sind durch Mistreß Perchs Zustand so abgespannt, daß ich's leicht auf mein Gewissen nehmen könnte.«
»Laßt mich diesen Burschen sehen, Perch«, sagte Mr. Carker. »Bringt ihn herein.«
»Ja, Sir. Aber ich bitt' um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Perch, indem er an der Tür zögernd stehenblieb–»er ist grob von Aussehen.«
»Gleichwohl. Wenn er da ist, so soll er hereinkommen. Ich will nachher mit Mr. Gills sprechen. Heißt ihn warten!«
Mr. Perch verbeugte sich, schloß die Tür so genau und sorgfältig, als gedenke er, eine Woche auszubleiben, und ging, um die gewünschte Person unter den Sperlingen des Hofs aufzusuchen. Während seiner Abwesenheit nahm Mr. Carker seine Lieblingsstellung vor dem Kamin ein und schaute nach der Tür hin, so daß er, die untere Lippe zu einem Lächeln verzogen, das die ganze obere Zahnreihe zeigte, ein eigentümlich lauerndes Aussehen gewann.
Der Bote ließ nicht lange auf sich warten, und ihm folgten ein Paar schwere Stiefel, die gleich Koffern den Gang entlang polterten. Mit den unzeremoniösen Worten: »Nur herein mit Euch!« – eine sehr ungewöhnliche Einführungsformel von seinen Lippen – brachte nun Mr. Perch einen kräftig gebauten Knaben von Fünfzehn, mit rundem, rotem Gesicht, rundem, glattem Kopf, runden, schwarzen Augen, runden Gliedern und rundem Leib, der außer der allgemeinen Rundung seines Äußeren einen völlig krempenlosen, runden Hut in der Hand trug, zur Tür herein.
Auf einen Wink von Mr. Carker hatte Perch kaum den Burschen vorgestellt, als er sich wieder entfernte. Sobald die beiden sich allein gegenüber standen, faßte Mr. Carker ohne ein Wort der Einleitung denselben bei der Kehle und schüttelte ihn, bis ihm der Kopf von den Schultern zu fallen schien.
Der Knabe konnte sich trotzdem seines Erstaunens nicht erwehren, den Gentleman mit seinen vielen weißen Zähnen, der ihn würgte, und die Bureauwände wild anzuglotzen, als sei er entschlossen, wenn es ihm wirklich ans Leben gehe, so solle doch sein letzter Blick noch den Geheimnissen gewidmet sein, für deren aufdringliche Erspähung er so schwere Strafe erleiden sollte. Endlich brachte er die Worte hervor:
»Ei, Sir, so laßt mich doch los!«
»Dich loslassen!« rief Mr. Carker. »Wie! Ich habe dich jetzt einmal – he?« Ohne Zweifel war die« der Fall, und zwar recht fest. »Du Hund«, fügte Mr. Carker durch die geschlossenen Kiefer sprechend, bei, »ich will dich erdrosseln!«
Die unverhoffte Art dieses Empfangs schlug den Mut Sieders, der sich doch sonst auch aufs Raufen verstand, völlig nieder, und als sein Kopf endlich stationär wurde und er dem Gentleman ins Gesicht oder vielmehr in die Zähne sah, die nach ihm hinkläfften, so vergaß er endlich seine Mannheit so weit, daß er zu heulen begann.
»Ich habe Euch ja nichts getan, Sir«, sagte Sieder, sonst auch Rob oder Schleifer und stets Toodle.
»Du junger Halunke!« entgegnete Mr. Carker, indem er ihn langsam losließ und rücklings wieder in seine Lieblingsstellung zurücktrat, »was soll das heißen, daß du dich unterstehst, hierherzukommen?«
»Ich habe nichts Unrechtes damit gemeint, Sir«, winselte Rob, indem er die eine Hand an den Hals und die Knöchel der andern an seine Augen legte. »Ich will nie wiederkommen, Sir. Ich wollte nur Arbeit.«
»Arbeit, du junger Kain?« wiederholte Mr. Carker, ihn scharf ansehend. »Bist du nicht der faulste Tagedieb in London?«
Die Beschuldigung war zwar sehr kränkend für Mr. Toodle junior, paßte aber so gut auf seinen Charakter, daß er kein Wort der Widerrede vorzubringen wußte; er sah daher den Gentleman mit erschreckter, selbstanklagender und reuevoller Miene an. Wir müssen bemerken, daß Mr. Carkers Anblick so schreckhaft auf ihn wirkte, daß er seine runden Augen keinen Moment von ihm wandte.
»Bist du nicht ein Dieb?« sagte Mr. Carker, dessen Hände in den Hosentaschen staken.
»Nein, Sir«, entgegnete Rob.
»Ja!« sagte Mr. Carker.
»Nein, gewiß nicht, Sir«, sagte Rob schüchtern. »Ihr dürft mir's glauben, daß ich in meinem Leben nicht gestohlen habe, Sir. Ich weiß zwar, daß ich auf unrechten Wegen ging, Sir, seit ich das Vogelfangen und Wettlaufen anfing. Ein junger Bursch kann freilich denken«, fügte Mr. Toodle junior, mit einem Reueausbruch bei, »daß singende Vögel eine unschuldige Gesellschaft sind; aber niemand weiß, welches Unheil in den kleinen Geschöpfen steckt und wie sie einen herunterbringen können.«
Ihn schienen sie bis auf eine Velpeljacke, sehr abgetragene Hosen, eine besonders kleine rote Weste, die schon einem Brustlätzchen glich, ein darunter hervorsehendes blau kariertes Hemd und auf den erwähnten Hut heruntergebracht zu haben.
»Ich bin nicht zwanzigmal nach Hause gekommen, seit mir's die Vögel angetan hatten«, sagte Rob, »und das ist jetzt zehn Monate her. Wie kann ich auch in die Heimat gehen, wo alles sich unglücklich fühlt, wenn es mich zu Gesicht kriegt! Ich wundere mich nur«, fuhr Sieder mit einem lauten Weinen fort, indem er sich die Augen mit dem Rockärmel beschmierte, »daß ich mir nicht schon lange das Leben genommen habe!«
Alles das, samt der erstaunten Äußerung, daß das letztere seltene Kunststück nicht gelungen war, sprach der Knabe so, als zögen es Mr. Carkers Zähne aus ihm heraus, und als liege es nicht in seiner Macht, irgend etwas zu verhehlen, solange diese Anziehungsbatterie in voller Tätigkeit war.
»Du bist mir ein sauberes Früchtlein!« sagte Mr. Carker, den Kopf gegen ihn schüttelnd. »Für dich ist Hanf gesät, du feiner Patron!«
»Jawohl, Sir«, erwiderte der unglückliche Sieder, abermals heulend und aufs neue seine Zuflucht zu dem Rockärmel nehmend, »und bisweilen würde ich mich auch nicht darum kümmern, wenn er schon aufgegangen wäre. Mein ganzes Unglück hat mit dem Schwänzen angefangen, Sir; aber was konnte ich auch anderes tun, als schwänzen?«
»Als was?« fragte Mr. Carker.
»Schwänzen, Sir. Die Schule schwänzen.«
»Willst du damit sagen, du habest getan, als gehest du hin, obschon du es unterließest?« fragte Mr. Carker.
»Ja, Sir – das ist schwänzen, Sir«, erwiderte der vormalige Schleifer sehr gedrückt. »Wenn ich hinging, wurde ich durch die Straßen verfolgt, Sir, und war ich dort, so bekam ich Schläge. Deshalb schwänzte ich und verbarg mich irgendwo – und so fing die Sache an.«
»Und du willst mir sagen«, erwiderte Mr. Carker, indem er ihn wieder an die Kehle packte, auf Armeslänge vor sich hinhielt und eine Weile schweigend betrachtete, »daß du einen Platz wünschest?«
»Ich würde es dankbar annehmen, wenn man es mit mir versuchen wollte, Sir«, entgegnete Toodle junior in ersticktem Tone.
Mr. Carker, der Geschäftsführer, drückte ihn rücklings in eine Ecke – der Knabe ließ sich's ruhig gefallen und wagte kaum zu atmen, ja nicht einmal ein Auge abzuwenden vom Gesicht des Gentleman – und zog die Klingel.
»Sagt Mr. Gills, er solle herkommen.«
Mr. Perch war zu ehrerbietig, um über die Gestalt in der Ecke ein Merkmal der Überraschung oder des Erkennens auszudrücken, und unmittelbar darauf trat Onkel Sol ein.
»Nehmt Platz, Mr. Gills«, sagte Carker mit einem Lächeln. »Wie geht es Euch? Ich hoffe, Ihr erfreut Euch einer guten Gesundheit.«
»Danke, Sir«, versetzte Onkel Sol, sein Taschenbuch herausnehmend und einige Banknoten überreichend. »Meinen Körper belästigt nichts als das Alter. Fünfundzwanzig, Sir.«
»Ihr seid so pünktlich, Mr. Gills, wie einer von Euren Chronometern«, entgegnete der lächelnde Geschäftsführer und nahm aus einem seiner vielen Schubfächer ein Papier heraus, auf dessen Hinterseite er eine Bemerkung verzeichnete, während Onkel Sol ihm über die Schulter zusah. »Ganz richtig.«
»Ich lese in den Seeberichten, Sir, daß der Sohn und Erbe nicht angetroffen worden ist, Sir«, sagte Onkel Sol mit einiger Erhöhung des gewöhnlichen Zitterns in seiner Stimme.
»Dem Sohn und Erben ist keiner begegnet«, versetzte Carker. »Er scheint stürmisches Wetter gehabt zu haben, Mr. Gills, und wurde wahrscheinlich von seinem Kurse abgetrieben.«
»Gebe Gott, daß er in Sicherheit ist«, sagte der alte Sol.
»Ja, gebe es der Himmel!« pflichtete Mr. Carker in jener stimmlosen Art bei, die den aufmerksamen jungen Toodle wieder zittern machte. »Mr. Gills«, fuhr er laut fort, indem er sich in seinen Stuhl zurückwarf, »Ihr werdet wohl Euren Neffen sehr vermissen.«
Onkel Sol, der an seiner Seite stand, nickte mit dem Kopf und seufzte tief auf.
»Mr. Gills«, sagte Carker, seine weiche Hand um den Mund spielen lassend und dem Instrumentenmacher ins Gesicht sehend, »es wäre doch kurzweiliger für Euch, wenn Ihr jetzt einen jungen Menschen in Eurem Laden hättet, und ich würde es als Gefälligkeit ansehen, wenn Ihr vorderhand einem solchen Quartier geben wolltet. Nein, ich weiß natürlich wohl«, fügte er hastig bei, um dem, was der alte Mann sagen wollte zuvorzukommen, »daß es bei Euch nicht viel zu tun gibt; aber Ihr könnt ihn das Haus fegen, die Instrumente polieren und sonstige geringe Arbeit verrichten lassen, Mr. Gills. Der dort ist der Junge!«
Sol Gills drückte die Brille von der Stirne nach den Augen nieder und betrachtete Toodle junior, der aufrecht in der Ecke stand. Sein Kopf sah, wie es gewöhnlich der Fall war, aus, als sei er frisch aus einem Eimer kalten Wassers gezogen worden, seine kleine Weste hob sich und fiel rasch unter dem Spiel der inneren Erregungen, und seine Augen hafteten unausgesetzt auf Mr. Carker, ohne die mindeste Berücksichtigung des ihm vorgeschlagenen Dienstherrn.
»Wollt Ihr ihm Quartier geben, Mr. Gills?« fragte der Geschäftsführer.
Ohne gerade in Begeisterung zu geraten, erwiderte der alte Sol, er freue sich über jede Gelegenheit, wie gering sie auch sein möge, Mr. Carker einen Gefallen zu erweisen, da ihm dessen Wunsch in einer solchen Sache Befehl sei; der hölzerne Midshipman werde sich glücklich schätzen, einen Gast, den Mr. Carker auserlesen, in sein Berth aufzunehmen.
Mr. Carkers ganzes Zahnfleisch wurde sichtbar, so daß der achtsame Toodle junior nur noch mehr zitterte. Der Geschäftsführer dankte dem Instrumentenmacher für seine Höflichkeit freundlichst.
»Ich will ihn also bei Euch unterbringen, Mr. Gills«, sagte er, indem er aufstand und den alten Mann bei der Hand nahm, »bis ich mich entschlossen habe, was ich mit ihm anfangen will und was er verdient. Da ich durch meine Empfehlung eine Verantwortlichkeit für ihn übernehme, Mr. Gills«, er warf jetzt Rob ein so weites Lächeln zu, daß dieser am ganzen Leibe bebte, »so wird es mir lieb sein, wenn Ihr ihm scharf auf die Nähte geht und über sein Betragen mir Bericht erstattet. Diesen Nachmittag will ich auf meinem Heimwege seinen Eltern, die achtbare Leute sind, einige Fragen vorlegen und über einige Einzelheiten seiner eigenen Angaben weitere Auskunft einholen. Ist das geschehen, Mr, Gills, so will ich ihn morgen früh zu Euch schicken. Gott befohlen!«
Sein Abschiedslächeln war so voll von Zähnen, daß der alte Sol ganz verwirrt wurde und sich nicht recht behaglich dabei fühlte. Er ging jedoch nach Hause und dachte unterwegs an tobende Wellen, scheiternde Schiffe, ertrinkende Menschen, an eine alte Flasche Madeira, die vielleicht nie ans Licht kam, und an andere unheimliche Dinge.
»Jetzt, Bursche«, sagte Mr. Carker, indem er den jungen Toodle an die Schulter faßte und in die Mitte des Zimmers zog – »hast du mich verstanden?«
»Ja, Sir«, lautete Robs Antwort.
»Du begreifst nun vielleicht«, fuhr sein Gönner fort, »daß du, statt hierher zu kommen, in der Tat besser getan hättest, ins Wasser zu springen, wenn es dir je einfallen sollte, mich zu täuschen oder mir irgendeinen Streich zu spielen.«
Nichts schien Rob klarer zu sein als das.
»Würdest du mich einmal belogen haben, so komm mir nie wieder in den Weg«, sagte Mr. Carker. »Wenn nicht, so warte heute nachmittag in der Nähe des Hauses deiner Mutter auf mich. Ich reite um fünf Uhr von hier weg. Gib mir die Adresse.«
Rob nannte langsam Straße und Hausnummer, die Mr. Carker aufschrieb; auch buchstabierte sie Rob noch einmal durch, als glaube er, das Auslassen eines Striches oder eines Tüpfelchens könnte ihn zugrunde richten. Mr. Perch führte ihn dann zur Tür hinaus, und Rob, der bis zum letzten Moment seine runden Augen nicht von seinem Gönner gewandt hatte, verschwand für eine Weile.
Mr. Carker hatte im Laufe des Tages noch sehr viel zu tun und zeigte verschiedenen Leuten seine Zähne. Im Bureau, im Hof, auf der Straße und auf der Börse glänzten und starrten sie in ihrer ganzen Fülle. Punkt fünf Uhr langte Mr. Carkers Fuchs an. Der Geschäftsführer saß auf und schlug den Weg nach Cheapside ein.
Da um diese Stunde niemand, selbst wenn er Lust dazu hat, leicht schnell durch das Gedränge der City reiten kann, so ließ Mr. Carker sein Tier zwischen den Karren und Wagen hindurch gemächlich im Schritt gehen. Er mied dabei, wo es immer auch war, die feuchten, schmutzigen Plätze der Straße und gab sich ungemein viel Mühe, sich selbst und sein Roß reinzuhalten. Während er so weiterritt und die Vorübergehenden betrachtete, fiel sein Blick plötzlich auf die runden Augen des glattköpfigen Rob, die so fest auf seinem Gesichte hafteten, als hätten sie sich nie von demselben losgelöst, während der Knabe selbst ein Taschentuch, zusammengedreht wie ein gefleckter Aal, um den Leib geknüpft trug und sich augenscheinlich anschickte, seinen Beschützer zu begleiten, mochte dieser nun im Schritt, Trab oder Galopp gehen.
Diese schmeichelhafte Aufmerksamkeit war von so ungewöhnlicher Art und fesselte auch die Aufmerksamkeit der Passanten so, daß Mr. Carker bei erster Gelegenheit eine saubere Straße benutzte und sein Tier zu traben anfangen ließ. Rob tat augenblicklich dasselbe. Mr. Carker ließ sein Roß schärfer ausgreifen, aber Rob verhielt sich auch hier nicht flau. Dann kam ein kurzer Galopp – auch das brachte den Jungen nicht in Verlegenheit. So oft Mr. Carker seine Blicke nach der Wegseite hinüber richtete, sah er Toodle junior stets mit ihm gleichen Schritt halten, ohne daß es denselben anzufechten schien; denn Rob arbeitete sich nach der erprobtesten Weise der Wettläufer mit dem Ellenbogen vorwärts.
Wie lächerlich sich diese Begleitung auch ausnehmen mochte, war sie doch ein Zeichen des über den Knaben gewonnenen Einflusses, und Mr. Carker ritt, wenn er schon nicht dergleichen tat, als ob er darauf achte, in die Gegend von Mr. Toodles Haus. Dort ließ er sein Tier langsamer schreiten, und Rob ging voraus, um ihm den Weg durch die Straßen anzudeuten. Als endlich Mr. Carker einen an einem benachbarten Tore stehenden Mann herbeirief, der während seines Besuches in den Gebäuden, die an die Stelle von Staggs Gärten getreten waren, das Roß in Verwahrung nehmen sollte, hielt Rob dem absteigenden Geschäftsführer dienstfertig den Steigbügel.
»Nun, Bürschlein«, sagte Mr. Carker, indem er ihn bei der Schulter faßte, »komm mit!«
Dem verlorenen Sohne war es wahrscheinlich nicht sehr wohl zu Mute beim Besuch der elterlichen Wohnung; da ihn aber Mr. Carker vor sich hinschob, so blieb ihm keine andere Wahl, als die rechte Tür zu öffnen und sich in die Mitte seiner Brüder und Schwestern, die in erstaunlicher Anzahl den Teetisch der Familie umstanden, hineinschieben zu lassen. Beim Anblick des Verlorenen, den ein Fremder am Kamisol hatte, brach die ganze zarte Verwandtschaft in ein allgemeines Geheul aus, das Rob durch seine eigene Stimme verstärken half, sobald er in der Mitte der Familie seiner Mutter ansichtig wurde, die den Jüngsten in den Armen hielt und bei seinem Eintritt blaß und zitternd sich erhob.
Fest überzeugt, der Fremde müsse, wenn er nicht Meister Knüpfauf in Person sei, doch zu dessen Gesellschaft gehören, wehklagte die junge Familie nur um so lauter, während die kindlicheren Mitglieder derselben, die die ihrem Alter eigentümlichen Erregungen nicht zu zügeln vermochten, sich wie junge Vögel, wenn sie durch einen Habicht erschreckt werden, auf den Rücken warfen und ungestüm mit den Füßen zappelten. Endlich gelang es der armen Polly, sich Gehör zu schaffen und mit bebenden Lippen zu sprechen:
»Ach, Rob, mein armer Junge, was hast du getan!«
»Nichts, Mutter«, versetzte Rob mit kläglicher Stimme. »Fragt den Gentleman.«
»Ihr braucht nicht zu erschrecken«, sagte Mr. Carker. »Ich habe etwas Gutes mit ihm vor.«
Bei dieser Ankündigung brach Polly, die bisher nicht geweint hatte, in Tränen aus, und die älteren Toodles, die eine Rettung beabsichtigt hatten, öffneten die geballten Fäuste wieder. Die jüngeren Toodles scharten sich um den Schoß ihrer Mutter und sahen unter ihren eigenen runden Armen nach dem banditenmäßigen Bruder und dessen unbekannten Freunde hin. Alles segnete den Gentleman mit den schönen Zähnen, der in so guter Absicht gekommen war.
»Dieser Bursche ist Euer Sohn«, sagte Mr. Carker zu Polly, indem er Rob leicht rüttelte. »Nicht wahr, Ma'am?«
»Ja, Sir«, schluchzte Polly mit einem Knix. »Ja, Sir.«
»Ich fürchte, ein schlimmer Sohn?« fragte Mr. Carker.
»Nie schlimm gegen mich, Sir«, entgegnete Polly.
»Gegen wen sonst?« fragte Mr. Carker.
»Er ist ein bißchen wild gewesen, Sir«, antwortete Polly, den Jüngsten festhaltend, der mit Armen und Beinen strampelte, um sich durch die Luft auf Sieder niederzulassen, »und ist mit schlimmen Kameraden umgegangen. Aber ich hoffe, er hat seinen Fehler eingesehen, Sir, und wird wieder gut werden.«
Mr. Carker betrachtete Polly, das reinliche Zimmer, die reinlichen Kinder und das einfache Toodle-Gesicht, das, das Bild von Vater und Mutter vereint gebend, sich überall um ihn her reflektierte und wiederholte. Der eigentliche Zweck seines Besuches schien erfüllt zu sein.
»Euer Mann ist wohl nicht zu Hause?« fragte er.
»Nein, Sir«, antwortete Polly. »Er ist mit dem Zug fort.«
Der verlorene Rob schien bei dieser Kunde sich sehr erleichtert zu fühlen, obschon seine Geistesfähigkeiten noch immer von seinem Gönner so in Anspruch genommen waren, daß er seine Augen nicht von dessen Gesicht abwandte, wenn er nicht etwa gelegentlich einen Moment erstahl, um der Mutter einen bekümmerten Blick zuzuwerfen.
»So will ich Euch sagen«, fuhr Mr. Carker fort, »wie mir Euer Junge da in den Wurf kam, wer ich bin und was ich für ihn zu tun beabsichtige.«
Mr. Carker tat das in seiner eigenen Art, indem er sagte, er habe sich anfänglich vorgenommen, namenlose Schrecken auf Robs anmaßendes Haupt zu häufen, weil er es wagte, sich in Dombey und Sohns Bereich zu zeigen; aus Rücksicht auf seine Jugend, seine Reue aber habe sich später sein Herz erweicht. Er fürchte zwar, eine Übereilung zu begehen, wenn er sich für den Knaben interessiere, da er sich dadurch leicht den Tadel anderer Menschen zuziehen könne; er tue es übrigens aus freien Stücken und nehme die Verantwortlichkeit auf sich, denn die frühere Beziehung der Mutter zu Mr. Dombeys Familie und Mr. Dombey selbst habe damit durchaus nichts zu schaffen, so daß er, Mr. Carker, in dieser Sache ganz allein die handelnde Person sei. Nachdem er seine gute Absicht ins beste Licht gestellt und von der ganzen anwesenden Familie den wärmsten Dank entgegengenommen hatte, deutete er zwar mittelbar, aber doch ziemlich deutlich an, daß Robs unbedingte Treue und Anhänglichkeit dessen Pflicht der allergeringste Dank sei, den er erwarten könne. Rob fühlte diese große Wahrheit so tief, daß er, mit über die Backen rollenden Tränen seinen Gönner ansehend, heftig mit dem Kopf nickte, bis er fast so wackelig zu sein schien, wie am Morgen unter den Händen des Gentleman.
Polly, die weiß der Himmel wie viele schlaflose Nächte wegen ihres verirrten Erstgeborenen verbracht und denselben seit Wochen nicht mehr gesehen hatte, fühlte sich so ergriffen, daß sie vor Mr. Carker, dem Geschäftsführer, trotz seiner Zähne, wie vor einem guten Geiste hätte niederknien mögen. Da sich jedoch Mr. Carker zum Gehen erhob, so dankte sie ihm nur mit ihren mütterlichen Gebeten und Segenswünschen – ein reicher Dank, wenn er vom Herzen kommt, ja, überreich für alle Dienstleistungen Mr. Carkers, so daß er wohl hätte einen großen Überschuß herauszahlen dürfen.
Als der Geschäftsführer durch den Kinderschwarm zur Tür ging, eilte Rob auf seine Mutter zu und schloß sie und den Jüngsten in die gleiche reuige Umarmung ein.
»Ich will mir jetzt alle Mühe geben, liebe Mutter. Bei meiner Seele, das will ich!« sagte Rob.
»O, tu' es doch, mein lieber Sohn! Ich bin überzeugt, du wirst Wort halten, um unserer und deiner selbst willen«, erwiderte Polly, die ihn unter Tränen küßte. »Aber du kommst doch wieder zurück, um mir zu erzählen, wenn du den Gentleman begleitet hast?«
»Ich weiß nicht, Mutter«, versetzte Rob zögernd und schaute zu Boden. »Der Vater – wann kommt er nach Hause?«
»Nicht vor morgen früh um zwei Uhr.«
»So will ich kommen, liebe Mutter!« rief Rob.
Und er eilte durch das schrille Geschrei, mit dem seine Brüder und Schwestern dieses Versprechen aufnahmen, um Mr. Carker zu folgen.
»Wie?« fragte Mr. Carker, der das Abschiedsgespräch mitangehört hatte, »du hast wohl einen schlimmen Vater?«
»Nein, Sir«, versetzte Rob erstaunt, »Es gibt auf der ganzen Welt keinen besseren oder liebevolleren Vater, als der meinige ist.«
»Warum weichst du ihm aus?« fragte ihn sein Gönner.
»Es ist ein mächtiger Unterschied zwischen einem Vater und einer Mutter, Sir«, entgegnete Rob nach einigem Stocken. »Er würde mir kaum glauben, daß ich mich wirklich bessern wolle – obschon ich weiß, daß er's gerne tun würde; aber eine Mutter – sie glaubt immer, was gut ist, Sir; wenigstens weiß ich das von meiner Mutter, und Gott möge sie dafür segnen.«
Mr. Carkers Mund öffnete sich zum Sprechen; er schwieg jedoch, bis er sein Pferd bestiegen, und den Mann, der es gehalten, entlassen hatte. Dann schaute er aus seinem Sattel scharf auf das achtsame Gesicht des Knaben nieder und sagte:
»Du kommst morgen früh zu mir. Man wird dir dann sagen, wo der alte Gentleman wohnt, der heute morgen bei mir war. Du hast von mir gehört, daß du zu ihm gehen sollst.«
»Ja, Sir«, versetzte Rob.
»Ich nehme großen Anteil an jenem alten Herrn, und wenn du ihm dienst, dienst du mir – hast du mich verstanden? Schon gut«, fügte er bei, denn er sah das runde Gesicht des Knaben bei dieser Frage zur Antwort erglänzen. »Ich sehe, du verstehst mich. Ich will alles von diesem Gentleman erfahren – wie es ihm von Tag zu Tag ergeht; es ist mir angelegentlich darum zu tun, ihm Dienste zu leisten – und ich muß namentlich wissen, wer ihn besucht. Du begreifst?«
Rob neigte das sich nicht von Mr. Carker abwendende Gesicht und sagte – »Ja, Sir.«
»Es wäre mir lieb, wenn ich hörte, daß er Freunde hat, die ihm Aufmerksamkeit erweisen und mit ihm gut sind – denn der arme Mann lebt jetzt sehr verlassen. Deshalb will ich wissen, wer an ihm und seinem Steffen im Ausland Anteil nimmt. Vielleicht kommt eine sehr junge Lady zu ihm auf Besuch. Namentlich über die möchte ich Auskunft erhalten.«
»Ich will Sorge tragen, Sir«, sagte der Knabe.
»Und nimm dich in acht«, erwiderte der Gönner, indem er sein grinsendes Gesicht dem des Knaben näher brachte und ihn mit dem Handgriff seiner Peitsche auf die Schulter klopfte – »nimm dich in acht, daß du über meine Aufträge mit niemand sprichst, als mit mir.«
»Mit niemand in der Welt, Sir«, entgegnete Rob, mit dem Kopf nickend.
»Weder dort«, fuhr Mr. Carker fort, nach dem Platze hindeutend, den sie eben verlassen hatten, »noch sonst irgendwo. Ich will dich auf die Probe stellen, wie treu und dankbar du sein kannst.«
Nach diesen Worten, die durch das Zeigen der Zähne und die Bewegung des Kopfes ebensogut zu einer Drohung als zu einem Versprechen wurden, wandte er sich von Robs Augen ab, die noch immer auf ihm hafteten, als habe er den Knaben mit Leib und Seele durch einen Zauber gewonnen, und ritt weiter. Er war noch nicht weit gekommen, als er bemerkte, daß sein getreuer Knappe, wie zuvor gegürtet, ihm zur großen Belustigung einiger Zuschauer die frühere Aufmerksamkeit schenkte. Das bewog ihn, sein Tier zu zügeln und Rob Gegenbefehl zu erteilen. Um sich zu überzeugen, daß ihm Gehorsam geleistet wurde, drehte er sich im Sattel und sah dem sich Entfernenden nach. Es war merkwürdig, daß selbst jetzt noch Rob seine Augen nicht ganz von dem Gesichte des Reiters abwenden konnte; denn er drehte noch öfter den Kopf herum, um ihm nachzuschauen, und verwickelte sich dadurch in ein wahres Gewitter von Püffen und Stößen, die er von den auf der Straße Laufenden erhielt, ohne aber daß er in der Verfolgung der einen unabweisbaren Idee etwas davon zu verspüren schien.
Mr. Carker, der Geschäftsführer, ritt mit der ruhigen Miene eines Mannes, der die Angelegenheiten des Tages in befriedigender Weise erledigt hat und deshalb sich im Gemüte behaglich fühlt, im Schritt weiter. So selbstgefällig und freundlich, wie es ein Mensch nur sein kann, summte er auf dem Wege durch die Straßen ein Liedchen vor sich hin. Sein Herz schien vor Freude schneller zu schlagen.
Und im Geiste wärmte sich auch Mr. Carker auf einem Herd. Gemächlich zusammengerollt war er bereit zum Springen, zum Kratzen, zum Zerreißen oder zum Samtpfötchen, je nachdem er Laune hatte oder die Gelegenheit sich darbot. Gab es vielleicht einen Vogel in einem Käfig, der seine Blicke auf sich zog?
»Eine sehr junge Dame!« dachte Mr. Carker während seines Liedchens. »Ja, als ich sie das letztemal sah, war sie ein kleines Kind. Ich erinnere mich, mit schwarzen Augen und Locken, und einem schönen Gesicht – einem sehr schönen Gesicht! Sie ist wahrhaftig hübsch.«
Noch freundlicher, behaglicher, und sein Liedchen vor sich hinsummend, bis seine vielen Zähne dazu vibrierten, trieb Mr. Carker sein Pferd weiter und bog endlich in die schattige Straße ein, wo Mr. Dombeys Haus stand. Er war so geschäftig gewesen, um für schöne Gesichter Gewebe zu stricken und sie mit Maschen zu verdunkeln, daß er kaum daran dachte, das Ende seines Rittes schon erreicht zu haben, und erst als er durch die kalte Perspektive der hohen Häuser hinunter schaute, hielt er einige Schritte vor der Tür rasch sein Pferd an. Um jedoch zu erklären, warum Mr. Carker sein Roß so hurtig zügelte, und was er jetzt mit nicht geringem Erstaunen bemerkte, müssen wir uns eine kleine Abschweifung erlauben.
Sobald Mr. Toots sich aus Blimbers Knechtschaft emanzipiert hatte und in den Besitz eines gewissen Teils seiner irdischen Habe gekommen war, der, wie er während des letzten Halbjahrs seiner Probezeit jeden Abend Mr. Feeder als neue Entdeckung mitzuteilen pflegte, ihm von den Testamentsvollstreckern nicht vorenthalten werden konnte, legte er sich mit großem Fleiß auf die Wissenschaft des Lebens. Von dem edlen Wetteifer beseelt, eine glänzende und ausgezeichnete Laufbahn zu verfolgen, hatte Mr. Toots eine Auswahl von Zimmern möbliert und unter denselben eines mit den Porträts von gewinnenden Rennpferden, die für ihn keine Spur von Interesse hatten, wie auch mit einem Diwan, auf dem es ihm ganz ärmlich zumute wurde, verschönert. In dieser künstlichen Wohnung widmete sich Mr. Toots der Kultur der schönen Künste, die das Dasein verschönern und humanisieren; sein Hauptlehrer darin war ein interessanter Charakter, der Preishahn genannt, der stets in der Schenkstube zum schwarzen Dachs lärmte, im wärmsten Wetter einen weißen Flaus trug, und dreimal wöchentlich für die kleine Entschädigung von zehn Schillingen sechs Pencen per Gang Mr. Toots um die Ohren klopfte.
Der Preishahn, der der eigentliche Apollo von Mr. Toots' Pantheon war, hatte bei ihm einen Marqueur eingeführt, der ihn Billardspielen lehrte, einen Leibgardisten, der Fechtstunden gab, einen Wechselreiter, der im Reiten Unterricht erteilte, einen Gentleman aus Cornwales, von dem im athletischen Fach Nutzen gezogen werden konnte, und zwei oder drei andere Freunde, die in die schönen Künste nicht weniger tief eingeweiht waren. Unter solchen Umständen konnte es kaum fehlen, daß Mr. Toots rasche Fortschritte machte, und er säumte nicht, den Unterricht dieser Lehrer bestens auszunutzen.
Wir wissen nicht, wie es kam, aber während sogar diese Gentlemen noch den Glanz der Neuheit für sich hatten, fühlte sich Mr. Toots, ohne sich dafür einen Grund angeben zu können, nicht ganz wohl und behaglich. Es gab Spreu in seinem Korn, die kein Preishahn herauspicken, und düstere Reisebilder vor seiner Phantasie, die nicht einmal ein Athlet niederzuschlagen vermochte. Nichts schien Mr. Toots so wohl zu bekommen, als wenn er stets Karten an Mr. Dombeys Tür abgeben konnte. Kein Steuereinnehmer in den britischen Domänen – das verbreitetste Gebiet, in dem die Sonne nie untergeht, und unablässig der Steuereinnehmer auf den Beinen ist – war so regelmäßig und beharrlich in seinen Besuchen, wie Mr. Toots.
Mr. Toots ging nie die Treppe hinauf, sondern verrichtete stets dieselbe Zeremonie, für die er sich reich herausputzte, an der Flurtür.
»Ah, guten Morgen«, lautete regelmäßig seine erste Bemerkung gegen den Diener. »Für Mr. Dombey« die zweite, indem er eine Karte abgab – »für Miß Dombey« die nächste, gleichfalls von einer Karte begleitet.
Mr. Toots wandte sich dann um, als ob er gehen wolle; aber der Diener kannte ihn zu gut und wußte, daß er das nicht tun würde.
»O, ich bitte um Verzeihung«, sagte Mr. Toots, als sei ihm plötzlich ein Gedanke gekommen. »Ist die junge Kammerfrau zu Hause?«
Der Diener glaubte es, wußte es aber nicht genau, deshalb zog er an einer aufwärts gehenden Klingel und schaute die Treppe hinauf. Dann pflegte er zu sagen, ja sie sei zu Haus und komme eben herunter. Miß Nipper erschien dann, und der Diener entfernte sich.
»Ah, wie geht es Euch?« fragte dann Mr. Toots stockend, indem er leicht errötete.
Susanna dankte ihm und erwiderte:
»Ganz gut.«
»Was macht Diogenes?« lautete Mr. Toots' zweite Frage.
Er hielt sich in der Tat recht gut. Miß Florence liebte ihn mit jedem Tage mehr. Mr. Toots versäumte nicht, diese Meldung mit einem Ausdruck von Kichern zu begrüßen, ähnlich dem, wenn eine Flasche mit schäumendem Getränk geöffnet wird.
»Miß Florence ist ganz wohl, Sir«, fügte Susanna meistens bei.
»O, es ist nicht von Belang – danke Euch«, lautete dann unabänderlich die Erwiderung des Mr. Toots, der sich alsbald schnell auf die Beine machte.
Nun ist gewiß, daß Mr. Toots eine Art Nebel in seinem Kopf hatte, der ihn zu der Folgerung führte, wenn er im Laufe der Zeit erfolgreich die Hand von Florence anstreben könnte, so dürfte er sich für den glücklichsten Menschen halten. Ferner hat es seine Richtigkeit, daß er auf einem weiten Umwege bis zu diesem Punkt gekommen und hier stehengeblieben war. Sein Herz fühlte sich verwundet und schmolz zusammen; er war verliebt. Einmal des Nachts hatte er in dem verzweifelten Versuch, ein Gedicht auf Florence zu schreiben, bis zum Morgen gesessen und sich damit bis zu Tränen gerührt, obschon er in der Ausführung nie mehr als die Worte zustande brachte: »Für dich, Geliebte«; denn die im voraus niedergeschriebenen sieben andern Anfangsbuchstaben verwirrten den Flug seiner Einbildungskraft dermaßen, daß er keine Silbe weiter zu finden wußte.
Außer der Erfindung jener schlauen und politischen Maßregel, täglich für Mr. Dombey eine Karte abzugeben, wußte Mr. Toots' Gehirn zur Annäherung an den Gegenstand, der seine Gefühle gefangen hielt, nichts zu ersinnen, bis er endlich nach tiefer Erwägung zu der Überzeugung kam, ein wichtiger Schritt vorwärts sei, wenn er sich in Miß Susanna Nippers Gunst einschleiche und sodann dieser Dame einen Wink über den Zustand seines Gemüts gebe.
Einige leichte, scherzhafte Aufmerksamkeiten gegen Miß Nipper schienen ihm da« beste Mittel zu sein, um sie für seinen Plan zu gewinnen. Da er jedoch mit sich selber nicht einig werden konnte, so befragte er den Preishahn, ohne jedoch diesen Gentleman ins Vertrauen zu ziehen, indem er ihm bloß andeutete, ein Freund aus Yorkshire habe sich brieflich von ihm (Mr. Toots) eine Auskunft über einen derartigen Fall erbeten. Der Preishahn antwortete, seine Losung sei stets: »Wagen gewinnt«, und meinte noch weiter: »Habt Ihr Euern Mann vor Euch und wißt Ihr, was zu tun ist, so geht hin und tut es.« Mr. Toots meinte, das unterstütze auch seine Meinung von der Sache, und faßte den heldenmütigen Entschluß, am andern Tag Miß Nipper zu küssen.
Tags darauf ließ sich Mr. Toots mit dem größten Wunder der Schneiderkunst versehen, das je von der Bude von Burgeß und Komp. gekommen war, und trat mit dem vorerwähnten Anschlag seinen Weg nach Mr. Dombeys Haus an. Je näher er aber dem Schauplatze des Handelns kam, desto mehr schwand ihm der Mut, und obgleich er schon nachmittags um drei Uhr in der Nähe des Hauses angelangt war, wurde es doch sechs Uhr, bis er an die Tür klopfte.
Alles verlief wie gewöhnlich bis zu dem Abschnitte, wo Susanna sagte, ihre junge Gebieterin sei wohl, und Mr. Toots darauf erwiderte, daß das nicht von Belang sei. Statt aber wie sonst gleich einer Rakete von hinnen zu schießen, blieb Mr. Toots nach dieser Bemerkung zu ihrem großen Erstaunen stehen und kicherte.
»Vielleicht wollt Ihr die Treppe hinaufgehen?« fragte Susanna.
»Ei, ja, ich denke, ich will hineinkommen«, versetzte Mr. Toots«.
Statt jedoch die Treppe hinaufzugehen, stürzte der kühne Toots, sobald die Tür geschlossen war, linkisch auf Susanna zu, umarmte dieses schöne Geschöpf und küßte sie auf die Wange.
»Fort mit Euch!« rief Susanna – »oder ich kratze Euch die Augen aus!«
»Nur noch einen!« sagte Mr. Toots.
»Macht, daß Ihr fort kommt!« entgegnete Susanna, indem sie ihm einen Stoß gab. Und noch obendrein so unschuldiges Volk, wie Ihr! Wer wird zunächst anfangen! Geht Eurer Wege, Sir!«
Susanna fühlte sich nicht sehr verlegen, denn sie konnte kaum sprechen vor Lachen; aber Diogenes hörte auf der Treppe das Rascheln von Kleidern an der Wand, ein Scharren von Füßen, und bemerkte durch das Geländer, daß gekämpft werde und eine fremde Kriegsmacht im Hause war. Da ihm nun das nicht gefiel, so eilte er zur Rettung herbei und hatte im Nu Mr. Toots bei den Waden.
Susanna kreischte, lachte, öffnete die Haustür und eilte die Treppe hinunter; der kühne Toots stolperte die Straße hinaus, während sich Diogenes an seiner Beinbekleidung festhielt, als seien Burgeß und Komp. Köche, die diesen leckeren Bissen zu einer Festtagslabung für ihn zubereitet hätten. Nachdem der Hund abgeschüttelt war, überkugelte er sich im Staub, stand wieder auf, kreiste um den schwindligen Toots her und schnappte nach ihm. Und all das Getümmel sah Mr. Carker, der in kleiner Entfernung sein Pferd hatte haltmachen lassen, zu seinem großen Erstaunen aus Mr. Dombeys stattlichem Hause herauskommen.
Mr. Carker behielt den unglücklichen Toots noch immer im Auge, während Diogenes hineingerufen und die Tür geschlossen wurde. Der junge Gentleman nahm jetzt seine Zuflucht nach einem nahegelegenen Torweg und verband das zerschlissene Bein seiner Pantalons mit einem kostbaren seidenen Taschentuch, das einen Teil der wertvollen Ausstattung für das heutige Abenteuer gebildet hatte.
»Ich bitte um Verzeihung, Sir«, sagte Mr. Carker, mit dem gewinnendsten Lächeln auf ihn zureitend. »Ich hoffe, Ihr habt keinen Schaden genommen.«
»O nein – ich danke Euch«, versetzte Mr. Toots, sein glührotes Gesicht erhebend; »es ist nicht von Belang.«
Mr. Toots hätte, wenn es tunlich gewesen wäre, gar gerne angedeutet, daß der Schaden ihn empfindlich schmerzte.
»Wenn die Zähne des Hundes ins Fleisch gegangen sind, Sir« – begann Carker mit einer Darstellung seiner eigenen –
»Nein, danke Euch«, sagte Mr. Toots. »Es ist alles recht und gut – danke Euch.«
»Ich habe das Vergnügen, Mr. Dombey zu kennen«, bemerkte Carker.
»Wirklich?« entgegnete Toots errötend.
»Und Ihr erlaubt mir vielleicht«, fuhr Mr. Carker fort, indem er den Hut abnahm, »in seiner Abwesenheit für ihn mein Bedauern und meine Verwunderung auszudrücken, wie dieser Unfall möglich gewesen ist.«
Mr. Toots ist über diese Höflichkeit und über den glücklichen Zufall, sich mit einem Freund von Mr. Dombey zu befreunden, so erfreut, daß er sein Kartenfutteral, das er nie zu benutzen versäumt, wo sich eine Gelegenheit dazu bietet, herauszieht und Mr. Carker seinen Namen und seine Adresse gibt. Letzterer erwidert diese Aufmerksamkeit damit, daß er ihm seine eigene gibt, und so trennen sie sich.
Wie Mr. Carker langsam an dem Haus vorbeireitet, nach dem Fenster hinaufblickt und das sinnige Gesicht hinter dem Vorhang, das nach den Kindern herunterschaut, zu erspähen sucht, kommt der rauhe Kopf des Hundes daneben zum Vorschein, und Diogenes bellt und knurrt ohne Rücksicht auf alle Beschwichtigungsversuche ihm von oben nach, als wolle er auf ihn niederspringen und ihn in Stücke zerreißen.
Wohl gesprochen, Di, so nahe deiner Gebieterin! Belle ihm in Ermangelung des anderen nur nach – wieder und wieder mit aufgerichtetem Kopf, funkelnden Augen und geiferndem Rachen. Belle nur zu, wie er dahinschleicht! Du hast eine gute Witterung, Di – fass', fass' die Katze!
Dreiundzwanzigstes Kapitel. FLORENCE IST EINSAM UND DER MIDSHIPMAN GEHEIMNISVOLL.
Florence lebte allein in dem traurigen großen Hause. Tag um Tag verging – sie blieb einsam, und die weißen Wände schauten mit leerem Stieren auf sie nieder, als hätten sie eine gorgonenartige Lust, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.
Kein verzauberter Platz eines Märchens, mitten im dichtesten Wald eingeschlossen, war je für die Phantasie einsamer und verlassener, als das lauernd in der Straße stehende Haus ihres Vaters in seiner grimmigen Wirklichkeit. Selbst bei Nacht, wenn aus den benachbarten Fenstern die Lichter blinkten, stand es mit seiner spärlichen Beleuchtung da wie ein dunkler Klecks, während es bei Tag ein düsteres Zürnen auf seinem nie lächelnden Gesichte zeigte.
Es standen zwar keine zwei Drachen-Schildwachen davor, die in den Märchen gewöhnlich die gefangene Unschuld hüten müssen; aber außer einem glotzenden Gesicht mit boshaft geöffneten dünnen Lippen, das über den Türbogen alle Kommenden anstarrte, sah man ein ungeheuerliches Phantasiestück von rostigem Eisen über der Schwelle, das sich wie eine versteinerte Laube ausnahm, in Speere und korkzieherartige Spitzen auslief und zu jeder Seite zwei unheilverkündende Löschhörner hatte, als sollte damit gesagt werden: »Wer hier eintritt, lasse das Licht hinter sich!« Auf dem Portal waren keine talismanischen Zeichen eingegraben, aber das Haus hatte ein so vernachlässigtes Aussehen, daß die Knaben, namentlich an der Seitenwand um die Ecke, das Geländer und Pflaster mit Kreide bemalten und Gespenster an die Stalltür zeichneten. Wenn dann Mr. Towlinson die gottlose Jugend verscheuchte, so machte sie zum Dank Porträts von ihm, an denen die Ohren wagerecht unter dem Hut hervorwuchsen. Lärm gab es unter dem Schatten des Daches nicht. Die Blechmusikbande, die einmal in der Woche morgens durch die Straße kam, ließ nie eine Note unter diesen Fenstern ertönen, und alle derartigen Musiken, bis zu der quieksenden, geistesschwachen Drehorgel herunter mit den zitterbeinigen Automatentänzern, die durch sich öffnende Türen hinein- und herauswälzten, wichen wie auf gemeinsamen Antrieb davor zurück, als scheuten sie den hoffnungslosen Platz.
Der Bann, der darauf lag, war giftiger, als derjenige, der verzauberte Häuser für eine Zeitlang in Schlaf legte und sie wieder frisch und unbeschadet erwachen ließ. Die Verödung des Nichtgebrauchs zeigte sich überall in stummer Klarheit. Im Hause selbst verloren die schwerfällig niederfallenden Vorhänge ihre früheren Falten und gewannen das Aussehen von Leichentüchern. Hekatomben von Möbeln, noch aufgeschichtet und zugedeckt, schrumpften ein wie gefangene, vergessene Menschen und veränderten sich unmerklich. Die Spiegel waren blind vom Hauch der Jahre. Die Farben der Teppiche verschossen und wurden matt, wie die Erinnerung an jene unbedeutenden Vorfälle des Jahres. Tische, die bei ungewohnten Fußtritten zusammenfuhren, knarrten und zitterten. Die Schlüssel rosteten in den Türschlössern. Feuchtigkeit bedeckte die Wände, und mit dem Hervortreten der weiß-grauen Stockflecken schienen die Bilder ins Innere zu kriechen und sich zu verbergen. Schimmel und Moder schlichen sich in den Schränken fort, und ganze Bäume von Pilzen wuchsen in den Kellerecken. Der Staub häufte sich derart an, daß niemand wußte, wie oder woher er kam, und jeden Tag hörte man von Spinnen, Motten und Maden. Auf Entdeckungsreisen ausgezogene schwarze Käfer fand man hin und wieder unbeweglich auf den Treppen oder in einem oberen Zimmer, als wunderten sie sich, wie sie dahin gekommen seien, und nachts begannen die Ratten durch die dunkeln Galerien, die sie hinter dem Getäfel untergruben, zu quieksen und zu scharren.
Die traurige Pracht der Gemächer, die in dem durch die geschlossenen Jalousien einfallenden zweifelhaften Lichte nur unvollkommen sichtbar wurden, stand ganz im Einklang mit dem Gedanken an einen verzauberten Platz – ebenso auch die fleckigen Pfoten der vergoldeten Löwen, die verstohlen unter ihren Umhüllungen hervorlugten – die auf Sockeln stehenden marmornen Büsten, die unheimlich durch ihre Schleier schauten – die Uhren, die nie die Stunde angaben, oder, wenn sie zufälligerweise aufgezogen wurden, falsche Zeiten andeuteten und gespenstische Zahlen schlugen, die nicht auf dem Zifferblatt standen – das gelegentliche Geklimper unter den Hängeleuchtern, das noch schauerlicher tönte als das Geläute von Lärmglocken – träge Luftzüge, die unter diesen Gegenständen umherschlichen, und eine geisterhafte Schar von andern Dingen, die sich vermummt wie auferstandene Leichen ausnahmen. Außerdem war auch noch die große Treppe vorhanden, auf die der Herr des Hauses so selten seinen Fuß setzte und vermittels welcher sein kleines Kind zum Himmel hinaufgestiegen war. Ferner andere Treppen und Gänge, die wochenlang von keinem Fuß betreten wurden, dann zwei geschlossene Zimmer mit ihren flüsternden Erinnerungen an tote Mitglieder der Familie; und in der ganzen Wohnung nur Florence, die sanfte Gestalt, die durch die Öde und das Düster wandelte – sie die einzige, welche den leblosen Dingen einen Anflug von menschlichem Interesse verlieh!
Denn Florence lebte allein in dem verlassenen Hause. Tag um Tag verging – sie blieb einsam, und die weißen Wände schauten mit leerem Stieren auf sie nieder, als hätten sie eine gorgonenartige Lust, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.
Auf dem Dach und in den Ritzen des Pflasters begann Gras zu wachsen. Eine schuppige zerbröckelnde Vegetation sproßte um die Fensterrahmen. Bruchstücke von Mörtel verloren ihren festen Halt an der Innenseite der unbenutzten Schornsteine und fielen polternd nieder. Die zwei Bäume mit den rauchbraunen Stämmen waren welk bis oben hinauf, und die dürren Zweige überragten die wenigen Blätter. Durch das ganze Gebäude hatte sich das Weiß in Gelb, das Gelb in Braun umgewandelt, und seit der Zeit, als die arme Dame starb, war es langsam zu einer schwarzen Lücke in der langen eintönigen Straße geworden.
Aber Florence blühte hier wie die schöne Königstochter im Märchen. Die Bücher, die Musik und die täglichen Lehrer waren ihre einzigen Gesellschafter, Susanna Nipper und Diogenes ausgenommen, von denen die erstere infolge der Aufmerksamkeit auf die Studien ihrer jungen Gebieterin selbst gelehrt zu werden begann, während der letztere, vielleicht durch denselben Einfluß besänftigt, den Kopf auf die Fensterbank zu legen und den ganzen Sommermorgen über behaglich seine Augen nach der Straße hin auf- und zuzumachen pflegte. Manchmal reckte er auch seinen Kopf, um mit großer Bedeutsamkeit nach einem lärmenden Wagen zu sehen, der durch die Straße rasselte, während er zu andern Zeiten in aufgebrachter und unerklärlicher Erinnerung an seinen vermeintlichen Feind in der Nachbarschaft nach der Tür hinstürzte, ein betäubendes Gebell anschlug und dann mit der possierlichen Selbstgefälligkeit, die ihm eigen war, und mit der Miene eines Hundes, der einen öffentlichen Dienst geleistet hat, wieder zurückkehrte, um seine Schnauze abermals auf die Fensterbank zu legen.
So lebte Florence in ihrer Wildnis von einer Heimat – in dem Kreis ihrer unschuldigen Beschäftigungen und Gedanken, ohne daß sie darin gestört wurde. Sie konnte jetzt, ohne eine Zurückweisung besorgen zu müssen, nach dem Zimmer ihres Vaters hinuntergehen, an ihn denken und ihr bebendes Herz ihm schüchtern nachsenden. Es war ihr nicht verwehrt, die Gegenstände zu betrachten, die ihn umgeben hatten in seinem Leid, und sich in die Nähe seines Stuhles zu schmiegen, ohne Angst vor dem Blicke, dessen sie sich so wohl erinnerte. Sie konnte ihm kleine Zeichen ihrer Aufmerksamkeit geben, indem sie eigenhändig alles für ihn ordnete, kleine Blumensträuße auf seinen Tisch stellte, sie fortwährend mit andern wechselte, da sie welkten, ehe er zurückkam, jeden Tag etwas für ihn zurichtete und in der Nähe seines gewöhnlichen Sitzes irgendein scheues Merkmal ihres Dagewesenseins zurückließ. Heute war es ein kleines, gemaltes Gestell für seine Taschenuhr; aber morgen hatte sie Angst, es dazulassen, und ersetzte es mit einer andern selbstgefertigten Kleinigkeit, die ihm vielleicht weniger auffiel. Wenn sie in den Nächten erwachte, so zitterte sie bei dem Gedanken, er könnte nach Hause kommen und ihr kleines Geschenk zornig zurückweisen; und dann eilte sie in ihren Pantoffeln und mit klopfendem Herzen hinunter, um es wegzuschaffen. Oft legte sie nur ihr Gesicht auf sein Pult, nichts zurücklassend als einen Kuß und eine Träne.
Doch keiner wußte davon. Wenn nicht in ihrer Abwesenheit das Gesinde ihr stilles Treiben entdeckte – aber alle hatten große Furcht vor Mr. Dombeys Zimmern – so blieb es ein tiefes Geheimnis in ihrer Brust. Florence pflegte sich zur Zeit der Dämmerung, früh am Morgen und wenn drunten das Essen ausgeteilt wurde, nach diesen Zimmern zu stehlen, und obgleich ihre Sorgfalt jede Ecke derselben verschönerte, ging sie doch so ruhig ein und aus wie ein Sonnenstrahl, nur mit dem Unterschied, daß sie ihr Licht zurückließ.
Eine schattenhafte Gesellschaft begleitete Florence auf und ab in dem widerhallenden Hause und setzte sich mit ihr in den öden Zimmern nieder. Als wäre ihr Leben ein Zaubergesicht, stiegen aus ihrer Einsamkeit dienende Gedanken auf, die sie mit phantastischen Wesenheiten bevölkerten. Sie vergegenwärtigte sich so oft, was ihr das Leben sein würde, wenn ihr Vater für sie ein Herz und er in ihr ein geliebtes Kind hätte, daß sie zuweilen für einen Augenblick fast glaubte, es sei wirklich so, und getragen von dem Strom dieser sinnigen Dichtung schien sie sich zu erinnern, wie sie beide dem verstorbenen Bruder ins Grab gesehen, wie sie dessen Herz unter sich geteilt, und wie sie die Erinnerung an ihn gemeinschaftlich empfunden hatten – wie oft sie jetzt noch von ihm sprachen, und wie ihr Vater liebevoll auf sie niedersah und ihr erzählte von ihrer gemeinsamen Hoffnung und von ihrem Vertrauen auf Gott. Zu andern Zeiten dachte sie sich ihre Mutter noch lebend. O, des Glückes, ihr um den Hals zu fallen und sich mit der Liebe und Zuversicht ihrer ganzen Seele an sie anzuklammern! Ach, und dann wieder die Verödung des einsamen Hauses, wenn der Abend kam und niemand da war!
Doch war ein Gedanke vorhanden – ein Gedanke kaum in ihr klar, aber gleichwohl glühend und kräftig in ihrem Innern – der Florence aufrecht erhielt, wenn sie sich bemühte, ihr so schwer geprüftes treues junges Herz mit Beharrlichkeit zu erfüllen. Wie in alle andern, die mit dem großen Leid unserer sterblichen Natur ringen, hatten sich auch in ihr Gemüt festliche Hoffnungen eingeschlichen, die einer unbestimmten jenseitigen Welt entstammten und ihr wie leise Musik von einer Wiedererkennung in dem fernen Lande, wo der Bruder und die Mutter ihrer harrten, zuflüsterten. Gewiß wußten beide von ihr, hatten Liebe und Mitleid für sie, waren unterrichtet von dem Weg, den sie auf Erden ging. Es gereichte Florence zum Trost, solchen Gedanken Raum zu geben, bis eines Tages – es war bald nachher, als sie ihren Vater nachts spät in seinem Zimmer gesehen hatte – die Vorstellung in ihr auftauchte, wenn sie um sein ihr entfremdetes Herz weine, so könnte sie die Geister der Toten gegen ihn aufregen. So ungereimt und kindisch das Zittern vor einem halbgebildeten derartigen Gedanken erscheinen mag, quoll es doch aus einer liebenden Seele hervor, und von Stunde an kämpfte Florence gegen die grausame Wunde in ihrem Herzen, indem sie versuchte, an den, dessen Hand ihr dieselbe geschlagen hatte, nur mit Hoffnung zu denken.
Ihr Vater wußte nicht – denn sie behielt es seit jener Zeit für sich – wie sehr sie ihn liebte. Sie war sehr jung, hatte keine Mutter, und leider war niemand vorhanden, der sie gelehrt hatte, ihrer Liebe die geeigneten Worte zu verleihen. Deshalb geduldete sie sich in der Erwartung, die Zeit werde sie in dieser Kunst unterrichten und es ihr möglich machen, ihm eine bessere Kenntnis von seinem einzigen Kinde beizubringen.
Dies machte sie sich zur Aufgabe ihres Lebens. Die Morgensonne leuchtete nieder auf das verblichene Haus und fand diesen Entschluß frisch und rege im Herzen seiner einsamen Bewohnerin. Durch alle Obliegenheiten des Tages beseelte er sie; denn Florence hoffte, je mehr sie lerne, je mehr sie sich ausbildete, desto größer werde seine Freude sein, wenn er einmal so weit gekommen sei, sie zu lieben. Bisweilen wunderte sie sich mit schwellendem Herzen und einer aufsteigenden Träne, ob sie sich auch in irgend etwas hinreichend vervollkommnet habe, um ihn zu überraschen, wann sie sich einmal näherstehen würden. Sie machte sich oft und oft Gedanken, ob es nicht irgendeinen Zweig des Wissens gebe, der sein Interesse mehr als ein anderer zu wecken geeignet sei. Bei ihren Büchern, ihrer Musik und ihrer Arbeit – auf ihren Morgenspaziergängen und in ihren nächtlichen Gebeten hatte sie stets nur dieses einzige Ziel im Auge. Eine seltsame Aufgabe für ein Kind, den Weg lernen zu müssen zu dem harten Herzen eines Vaters!
Wenn die Sommerabende sich zur Nacht vertieften, kamen manche Spaziergänger sorglos durch die Straße und sahen nach dem düstern Haus hinüber, wo sie, im Gegensatz zu diesem, die jugendliche Gestalt am Fenster bemerkten; und gewiß würde es ihren Schlaf getrübt haben, wenn sie gewußt hätten, mit welchen Gedanken sie so sehnsüchtig nach den blinkenden Sternen hinaufsah. Das Haus machte den Eindruck, als müßten Gespenster darin spuken, und das äußerliche Düster, das den auf ihren Geschäftswegen daran Hin- und Hergehenden auffiel, wäre noch erhöht worden, wenn sie in dem Antlitz, auf das die Schatten der Nacht fielen, seine Geschichte hätten lesen können. Aber Florence verfolgte ihr heiliges Vorhaben unbemerkt und unablässig. Ihr ganzes Sinnen ging nur darauf hin, wie sie ihren Vater zu der Überzeugung bringen könnte, daß sie ihn liebte, und kein einziger unsteter Gedanke ihres Innern trat als Kläger gegen ihn auf.
So lebte Florence allein in dem verödeten Hause. Tag um Tag entschwand ihr in der Einsamkeit, und die einförmigen Wände schauten mit dem gewohnten Starrblick auf sie nieder, als hätten sie die Lust der Meduse, ihre Jugend und Schönheit in Stein zu verwandeln.
Eines Morgens stand Miß Nipper ihrer jungen Gebieterin gegenüber, als diese eben ein zusammengelegtes Billett siegelte, und deutete durch ihre Miene an, daß sie den Inhalt des Schreibens billigte.
»Besser spät als nie, liebe Miß Floy«, sagte Susanna; »und glaubt mir, sogar ein Besuch bei den alten Skettlesen wird für uns eine Fügung Gottes sein.«
»Es ist sehr gütig von Sir Barnet und Lady Skettles«, versetzte Florence, ihrer Gefährtin in mildem Ton die vertrauliche Erwähnung der fraglichen Familie verweisend, »daß sie ihre Einladung so freundschaftlich wiederholen.«
Miß Nipper, die vielleicht auf der ganzen Erde die entschiedenste Parteigängerin war, indem sie die von ihr ergriffene Seite in allen Dingen, groß oder klein, verfocht und deshalb in ewigem Krieg mit der Gesellschaft lag, warf ihre Lippen auf und schüttelte den Kopf, als protestiere sie gegen jede Anerkennung von Uneigennützigkeit bei den Skettlesen, da Florences Gesellschaft für das Freundliche der Einladung reichen Ersatz biete.
»Wenn je Leute wußten, wie sie daran sind, so ist es bei diesen der Fall«, murmelte Miß Nipper, den Atem anhaltend: »o, lehrt mich die Skettles nicht erst kennen.«
»Ich gestehe, es ist mir nicht sonderlich um diesen Besuch in Fulham zu tun, Susanna«, entgegnete Florence gedankenvoll: »aber es wird recht sein, wenn ich gehe. Ich denke, es ist besser so.«
»Viel besser«, ergriff Susanna mit einem abermaligen, nachdrücklichen Kopfnicken das Wort.
»Zwar wäre ich lieber hingegangen«, sagte Florence, »wenn niemand dort ist; denn während der Ferien werden sich einige junge Leute im Hause aufhalten. Trotzdem habe ich dankbar zugesagt.«
»Und ich sage, Miß Floy, freut Euch darüber!« versetzte Susanna. »Ah! h –h!«
Dieser letzte Ausruf, mit dem Miß Nipper um jene Zeit oft einen Satz schloß, galt unter der Dienerschaft für eine allgemeine Bezugnahme auf Mr. Dombey und schien in Miß Nipper das Verlangen auszudrücken, diesem Gentleman ein wenig die Meinung zu sagen. Sie erklärte sich jedoch nie darüber, und der Laut verband demgemäß mit dem Vorteil eines sehr scharfen Ausdrucks den Zauber des Geheimnisses.
»Wie lange es doch ansteht, bis wir Kunde von Walter erhalten, Susanna!« bemerkte Florence nach einem kurzen Schweigen.
»Ja wohl lange, Miß Floy!« versetzte ihre Jungfer, »und Perch, der vor kurzem erst nachgesehen hat, ob keine Briefe eingelaufen sind, sagte – doch was liegt daran, was dieser sagt!« rief Susanna, indem sie errötend abbrach. »Was kann er davon wissen!«
Florence schlug rasch die Augen auf, und ein glühendes Rot breitete sich über ihr Gesicht.
»Wenn ich nicht«, sagte Susanna Nipper, augenscheinlich mit einer geheimen Beklommenheit kämpfend und ihre junge Gebieterin voll ansehend, während sie sich Mühe gab, sich in einen Zustand von Zorn gegen Mr. Perchs harmloses Bild zu versetzen – »wenn ich nicht mehr Männlichkeit besäße als dieser Einfältigste seines Geschlechtes, so würde ich nie wieder einen Stolz in meine Haare setzen, sondern sie hinter meinen Ohren aufbinden und eine grobe Haube trauen, ohne Spitzen und alles, bis mich der Tod von meiner Unbedeutsamkeit erlöste; ich bin zwar keine Amazone, Miß Floy, und möchte mich nicht durch eine solche Entstellung herabwürdigen; aber jedenfalls hoffe ich, daß ich nicht alles gleich aufgebe.«
»Was aufgebe?« rief Florence mit der Miene des Schreckens.
»Ach, nichts«, versetzte Susanna. »Du lieber Himmel, nichts! Es ist nur dieser nasse Papierwickel von einem Menschen, der Perch da, daß man ihm fast mit einem Fingerdruck den Garaus machen möchte, und in der Tat, es wäre für alle Teile ein glückliches Ereignis, wenn sich jemand einmal seiner erbarmen und die Güte haben möchte!«
»Gibt er das Schiff auf, Susanna?« fragte Florence sehr blaß.
»Nein, Miß«, erwiderte Susanna, »ich möchte wohl sehen, daß er so dreist wäre, mir etwas Derartiges ins Gesicht zu sagen! Nein, Miß; aber er geht immer mit einem einfältigen Ingwer um, den Mr. Walter Mrs. Perch schicken sollte, schüttelt dabei seinen erbärmlichen Kopf und sagt, er hoffe, daß er noch kommen werde; freilich, sagt er, könne er nicht zur rechten Zeit für die beabsichtigte Gelegenheit eintreffen, aber doch wohl für das nächste Mal, und dies« – fügte Miß Nipper mit sich steigerndem Unmut bei – »bringt mich in der Tat um alle Geduld mit dem Menschen; denn obschon ich viel ertragen kann, bin ich doch weder ein Kamel, noch bin ich« – schloß Susanna nach einer kurzen Überlegung – »wenn ich mich anders kenne, ein Dromedar.«
»Was sagt er sonst noch, Susanna?« fragte Florence dringend. »Willst du es mir nicht sagen?«
»Als ob ich Euch nicht alles und jedes sagen wollte. Miß Floy«, erwiderte Susanna. »Ach, Miß, er sagt, man fange schon überall von dem Schiff zu reden an, und es sei unerhört, daß ein Schiff nur die Hälfte Zeit zu dieser Reise gebraucht habe; das Weib des Kapitäns sei gestern im Bureau gewesen und habe darüber gejammert, aber jedermann konnte das sagen, und wir haben es fast vorher gewußt.«
»Ich muß, ehe ich meine Reise antrete, Walters Onkel besuchen«, sagte Florence hastig. »Ich will noch diesen Morgen zu ihm gehen. Komm, wir wollen nicht säumen, Susanna.«
Da Miß Nipper gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden hatte, sondern im Gegenteil vollkommen damit zufrieden war, so kleideten sie sich hastig an und machten sich auf den Weg zu dem kleinen Midshipman.
Die Gemütsstimmung, in der Walter an dem Tag, als der Makler Brogley zur Besitznahme gekommen war und in der Seele des armen Knaben sogar auf jedem Kirchturm eine Auspfändung vorgenommen zu werden schien, zu Kapitän Cuttle hineilte, glich vollkommen derjenigen, in der sich jetzt Florence nach Onkel Sols Wohnung begab. Es gab nur den einen Unterschied, daß die Qual des Mädchens durch den Gedanken erhöht wurde, sie sei vielleicht die unschuldige Ursache, die Walter in Gefahr gestürzt und allen, die ihn liebten, sich selbst mit eingeschlossen, die peinliche Angst der Ungewißheit bereitet hatte. Im übrigen glaubte sie aus allem Gefahr und Hoffnungslosigkeit lesen zu müssen. Die Wetterhähne auf den Türmen und Hausgiebeln warfen geheimnisvolle Winke über Stürme hin und zeigten gleich gespenstischen Fingern auf gefährliche Meere, wo vielleicht Trümmer großer Schiffe schaukelten und hilflose Menschen in einen Schlaf gewiegt wurden, so tief wie das unergründliche Wasser. Als Florence in das Stadtzentrum kam und an Gentlemen vorbeieilte, die miteinander sprachen, fürchtete sie, daß sie von dem Schiff und dessen Untergang reden könnten. Die Bilder und Kupferstiche von Fahrzeugen, die mit rollenden Wellen kämpften, erfüllten sie mit Schrecken. Der Rauch und die Wolken, obschon sie sich nur langsam weiter trieben, gingen viel zu schnell für ihre Besorgnisse und flößten ihr die Furcht ein, daß in diesem Augenblick auf dem Meere draußen ein Sturm wüte.
Mochte nun Susanna Nipper ähnliche Gedanken hegen oder nicht, – jedenfalls gewann es den Anschein, als habe sie auf dem Wege nicht viel Muße für grüblerische Gedanken, da sie, so oft die Menschenmassen sich dichter drängten, fortwährend mit Jungen zu kämpfen hatte, sie schien nämlich mit dieser Art des menschlichen Geschlechts in einer natürlichen Feindschaft zu leben, die unabänderlich losbrach, so oft eine Berührung stattfand.
Im Laufe der Zeit erreichten sie den Teil der Straße, der dem hölzernen Midshipman gegenüberlag, und blieben dort stehen, bis sie mit Sicherheit über den Weg hinüberkommen konnten. Zu ihrer Überraschung bemerkten sie aber unter der Haustür des Instrumentenmachers einen rundköpfigen Jungen, der sein pausbackiges Gesicht gen Himmel gerichtet hielt und, während sie nach ihm hinsahen, plötzlich zwei Finger einer jeden Hand in seinen weiten Mund steckte, um unter dem Beistand dieser Maschinerie in erstaunlich gellendem Ton einigen Tauben zu pfeifen, die in beträchtlicher Höhe durch die Luft flogen.
»Mrs. Richards' Ältester, Miß«, sagte Susanna, »und die Plage von Mrs. Richards' Leben.«
Da Polly von den wiedererwachten Aussichten ihres Sohnes und Erben Florence Mitteilung gemacht hatte, so war diese auf die Begegnung vorbereitet. Die beiden Mädchen achteten daher nicht weiter auf Mrs. Richards' Plage, sondern benutzten die erste günstige Gelegenheit, um über die Straße hinüberzueilen. Der vogelkundige Knabe, der von ihrer Annäherung nichts bemerkte, pfiff wieder aus Leibeskräften und schrie dann in entzückter Aufregung: »Hisch! hu– up! hisch!« – eine Kundgebung, die auf die erschrockenen Tauben eine solche Wirkung übte, daß sie, statt unmittelbar einer Stadt im Norden Englands zuzufliegen, wie ihre ursprüngliche Absicht gewesen zu sein schien, auseinanderzuflattern und zu zögern anfingen. Mrs. Richards' Erstgeborener begrüßte sie dann abermals mit einem gellenden Pfiff und schrie mit einer Stimme, die das Getümmel der Straße weit übertönte: »Hisch! hu–up! hisch!«
Aus dieser Verzückung rief ihn plötzlich ein Rippenstoß von Miß Nipper, der ihn durch die Ladentür hineinwarf, zu irdischen Gegenständen zurück.
»Ist das die Art, wie du deine Reue zeigst, nachdem sich Mrs. Richards Monate um Monate um dich abgehärmt hat?« lauteten die Worte, mit welchen Susanna ihre fühlbare Anrede begleitete. »Wo ist Mr. Gills?«
Rob milderte seinen ersten rebellischen Blick auf Miß Nipper, da er ihr Florence folgen sah, fuhr dieser zu Ehren mit den Fingern in sein Haar und antwortete seiner schönen Feindin, daß Mr. Gills ausgegangen sei.
»So hole ihn nach Hause«, versetzte Miß Nipper gebieterisch, »und sage ihm, daß meine junge Dame hier sei.«
»Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist«, entgegnete Rob.
»Ist das deine Reue?« rief Susanna mit beißender Schärfe.
»Aber, wie kann ich ihn holen, wenn ich nicht weiß, wo ich ihn suchen soll?« winselte der verwirrte Rob. »Wie könnt Ihr nur so unvernünftig sein!«
»Hat Mr. Gills gesagt, wann er zurückkommen werde?« fragte Florence.
»Ja, Miß«, antwortete Rob, der abermals seine Finger nach den Haaren führte. »Er sagte, er werde nachmittags früh zurückkommen – in ein paar Stunden etwa, Miß.«
»Ist er sehr in Sorge wegen seines Neffen?« fragte Susanna.
»Ja, Miß«, antwortete Rob, der es unter Vernachlässigung von Miß Nipper vorzog, sich an Florence zu wenden. »Ich kann wohl sagen, daß er sehr in Sorge ist. Es hält ihn gar nichts mehr zu Hause, Miß, und er kann keine Viertelstunde bleiben. Ja, es läßt ihm keine fünf Minuten Ruhe am nämlichen Platz. Er geht umher wie – wie verirrt«, sagte Rob und duckte sich, um durch das Fenster nach den Tauben zu sehen. Dabei hielt er plötzlich mit seinen Fingern inne, die schon zum Zweck eines abermaligen Pfeifens auf dem halben Wege nach dem Munde waren.
»Kennst du nicht einen Freund des Mr. Gills, der Kapitän Cuttle heißt?« fragte Florence nach kurzem Besinnen.
»Den mit dem Haken, Miß?« entgegnete Rob mit einem bildlichen Drehen an seiner linken Hand. »Ja, Miß, er war erst vorgestern hier.«
»Seitdem nicht wieder?« fragte Susanna.
»Nein, Miß«, erwiderte Rob, seine Antwort noch immer an Florence richtend.
»Vielleicht ist Walters Onkel dorthin gegangen, Susanna«, bemerkte Florence zu ihrer Begleiterin.
»Zu Kapitän Cuttle, Miß?« versetzte Rob; »o nein, dort ist er nicht, denn er hat mir ausdrücklich aufgetragen, wenn Kapitän Cuttle vorspräche, solle ich ihm sagen, sein gestriges Ausbleiben habe ihn sehr überrascht, und er solle warten, bis er wieder zurückkomme.«
»Weißt du, wo Kapitän Cuttle wohnt?« fragte Florence.
Rob antwortete mit Ja und griff nach einem schmierigen Pergamentbuch auf dem Ladentisch, aus dem er laut die Adresse las.
Florence wandte sich wieder an ihre Begleiterin und beriet leise mit ihr, während der rundäugige Rob, des geheimen Auftrags seines Gönners eingedenk, aufmerksam lauschte. Florence machte den Vorschlag, sie sollten zu Kapitän Cuttle gehen, von seinen eigenen Lippen hören, was er von dem langen Ausbleiben aller Nachrichten über den Sohn und Erben halte, und ihn, wenn es anginge, mitbringen, daß er Onkel Sol tröste. Susanna erhob anfangs einige Einwendungen wegen des weiten Weges. Da aber ihre Gebieterin von einer Mietkutsche sprach, so nahm sie ihren Einwand zurück und sagte zu. Es währte einige Minuten, bis sie zu diesem Entschlusse kamen, und Rob, der mit großen Augen dastand, schenkte beiden Sprecherinnen die größte Aufmerksamkeit, indem er abwechselnd sein Ohr der einen oder der andern zuwandte, als sei er der bestellte Schiedsrichter ihrer Gründe.
Endlich wurde Rob abgesandt, um eine Kutsche herbeizuholen, während die beiden Damen im Laden zurückblieben. Als er mit dem bestellten Wagen ankam, stiegen sie ein und trugen ihm auf, Onkel Sol zu melden, daß sie auf dem Rückweg bestimmt wieder vorsprechen würden.
Nachdem Rob der Kutsche nachgeschaut hatte, bis sie ebenso unsichtbar war, wie jetzt die Tauben, setzte er sich höchst diensteifrig hinter das Pult und machte, um ja nichts von dem Gehörten zu vergessen, unter einem ungeheuren Aufwand von Tinte auf verschiedene kleine Papierstreifen seine Notizen. Es war nicht zu besorgen, daß diese Dokumente, wenn sie etwa zufällig verlorengingen, etwas verrieten; denn lange, ehe die Worte trocken geworden, waren sie schon für Rob selbst ein so tiefes Geheimnis, als ob er nie beim Niederschreiben derselben beteiligt gewesen wäre.
Während er noch in dieser Arbeit begriffen war, machte die Mietkutsche, die allerlei unerhörte Schwierigkeiten von Drehbrücken, schmutzigen Straßen, hindernden Kanälen, Frachtwagen, Bohnengärten, Waschhäusern und ähnlichen in jener Gegend reichlich vorkommenden Hemmnissen zu bestehen hatte, an der Ecke von Brig-Place halt. Florence und Susanna Nipper stiegen hier aus und gingen zu Fuß die Straße hinab, um Kapitän Cuttles Wohnung aufzusuchen.
Zum Unglück war gerade einer von Mrs. Mac Stingers großen Scheuertagen. Bei solchen Gelegenheiten ließ sich Mrs. Mac Stinger morgens um drei Viertel auf drei Uhr durch den Polizeidiener wecken und kam dann selten vor nachts zwölf Uhr in die Federn. Die Hauptaufgabe dieser Einrichtung schien darin zu bestehen, daß Mrs. Mac Stinger früh mit dem Dämmern des Tages alles Möbelwerk in den hinteren Garten trug, während des ganzen Tages in Überschuhen das Haus durchlief und nach Einbruch der Dunkelheit ihre Möbel zurückholte. Diese Feierlichkeiten verstörten jene Täublein, die jungen Mac Stingers, in hohem Grade; denn sie konnten zu solchen Zeiten nicht nur kein Ruheplätzchen finden, sondern wurden auch im Verlauf der Zeremonie in der Regel von dem mütterlichen Vogel tüchtig gepickt und zerzaust.
In dem Augenblick, als Florence und Susanna Nipper sich unter Mrs. Mac Stingers Tür zeigten, war diese würdige, aber furchtbare Frauensperson eben im Begriff, Alexander Mac Stinger, alt zwei Jahre und drei Monate, durch den Hausflur zu tragen und ihn gewaltsam auf das Straßenpflaster niederzusetzen. Alexander war nämlich, weil er nach der Strafe den Atem an sich gehalten, ganz schwarz im Gesicht geworden, und ein kalter Pflasterstein erwies sich in der Regel als ein sehr kräftiges Heilmittel für solche Fälle.
Die weiblichen und mütterlichen Gefühle der Mrs. Mac Stinger wurden natürlich im höchsten Grade verletzt durch die mitleidige Miene, mit der Florence Alexander betrachtete, und so rüttelte und knuffte die empfindsame Dame, statt der Schwäche der Neugier nachzugeben, vor und während der Anwendung des Pflastersteins die Frucht ihres Leibes tüchtig, ohne daß sie den Fremden weitere Aufmerksamkeit schenkte.
»Ich bitte um Verzeihung, Ma'am«, sagte Florence, nachdem das Kind wieder zu Atem gekommen war und denselben zu brauchen anfing, »ist dies Kapitän Cuttles Haus?«
»Nein«, versetzte Mrs. Mac Stinger.
»Nicht Nummer neun?« fragte Florence zögernd.
»Wer hat gesagt, daß es nicht Nummer neun sei?« entgegnete Mrs. Mac Stinger.
Susanna Nipper fiel jetzt plötzlich ein und nahm sich die Freiheit, zu fragen, was Mrs. Mac Stinger damit wolle, und ob sie wisse, mit wem sie spreche.
Als Antwort dafür betrachtete Mrs. Mac Stinger Susanna vom Kopf bis zu den Füßen.
»Was wollt denn Ihr von Kapitän Cuttle? Dies möchte ich doch auch wissen«, sagte Mrs. Mac Stinger.
»Möchtet Ihr? Dann bedaure ich, daß Eure Neugierde nicht befriedigt werden wird«, entgegnete Miß Nipper.
»Sei so gut, zu schweigen, Susanna«, sagte Florence. »Vielleicht habt Ihr die Freundlichkeit, Ma'am, uns zu sagen, wo Kapitän Cuttle wohnt, wenn wir ihn hier nicht finden können.«
»Wer sagt, daß er nicht hier wohnt?« versetzte die ungefällige Mac Stinger. »Ich habe gesagt, es sei nicht Kapt'n Cuttles Haus – und es ist auch nicht sein Haus – Gott behüte, daß es je sein Haus werde – denn Kapt'n Cuttle weiß nicht, wie er ein Haus in Ordnung halten soll – und ist nicht wert, ein Haus zu haben – es ist mein Haus – und wenn ich den oberen Stock an Kapt'n Cuttle vermiete, so tue ich etwas sehr Undankbares und werfe Perlen vor die Säue.«
Mrs. Mac Stinger hatte bei Äußerung dieser Bemerkungen ihre Stimme für die oberen Fenster berechnet und ließ jede Silbe derselben gesondert krachen, als kämen sie aus einer Büchse mit zahllosen Läufen. Nach dem letzten Schuß ließ sich der Kapitän vernehmen, der von seinem Zimmer aus in schwacher Gegenvorstellung die Worte sagte:
»Nur ruhig da unten!«
»Wenn Ihr zu Kapt'n Cuttle wollt – da ist er!« rief Mrs. Mac Stinger mit einer zornigen Handbewegung.
Florence nahm sich jetzt die Freiheit, ohne weiteres Parlamentieren einzutreten, und da auch Susanna ihr folgte, so begann Mrs. Mac Stinger abermals ihre Leibesbewegung in Überschuhen. Alexander Mac Stinger, der noch immer auf dem Pflasterstein saß und zu weinen aufgehört hatte, um auf die Unterhaltung zu lauschen, begann nun wieder zu heulen und unterhielt sich während dieses schrecklichen Konzertes, das eigentlich mechanisch war, mit einer allgemeinen Musterung der Aussicht, die mit der Mietkutsche schloß.
Der Kapitän saß in seinem Zimmer, die Hände in die Taschen gesteckt und die Beine unter seinem Stuhl emporgezogen, auf einer sehr kleinen wüsten Insel, die mitten in einem Ozean von Seifenwasser lag. Seine Fenster, der Kamin und die Wände hatten sich dem Scheuerprozeß unterziehen müssen und waren naß und glänzend von Sand und weicher Seife, die mit ihrem Geruch die Luft erfüllte. In der Mitte dieser traurigen Szene sah sich der nach seiner Insel verschlagene Kapitän mit einer Jammermiene auf dem Meere von Wasser um und schien auf eine freundliche Barke zu harren, die des Weges kam, um ihn aufzulesen.
Als er jedoch den trüben Blick nach der Tür richtete und daselbst Florence mit ihrer Jungfer bemerkte, geriet er in ein Erstaunen, das keine Worte zu schildern vermögen, Mrs. Mac Stingers Beredsamkeit hatte alle andern Laute völlig unvernehmlich gemacht. Deshalb erwartete er denn auch keinen andern Besuch als den des Blutjungen oder des Milchmannes. Als daher Florence eintrat, sich seiner Insel bis an ihre Grenzen näherte und ihre Hand in die seinige legte, stand er entsetzt auf, als glaube er für einen Augenblick, irgendein junges Mitglied aus der Familie des fliegenden Holländers zu sehen.
Der Kapitän gewann jedoch schnell seine Fassung wieder und trug zuerst Sorge dafür, sie auf trockenes Land zu bringen, was durch eine einzige Bewegung seines Armes glücklich vonstatten ging. Dann stach er in die See, faßte Miß Nipper um den Leib und holte sie gleichfalls nach der Insel. Nachdem dies vollbracht war, erhob er mit großem Respekt Florences Hand zu seinen Lippen, steuerte, da die Insel für drei nicht groß genug war, ein wenig auswärts und drehte im Seifenwasser bei, wie eine neue Art von einem Triton.
»Ihr wundert Euch wohl sehr, uns zu sehen,« sagte Florence mit einem Lächeln.
Der unbeschreiblich erfreute Kapitän küßte zur Antwort seinen Hut und brummte, als läge ein besonders ausgesuchtes Kompliment in den Worten:
»Halt bei! halt bei!«
»Aber ich konnte nicht ruhen«, fuhr Florence fort, »bis ich Eure Ansicht gehört hatte, was Ihr von dem lieben Walter haltet – der jetzt mein Bruder ist. Ich wollte Euch fragen, ob etwas zu fürchten sei und ob Ihr nicht alle Tage seinen armen Onkel besuchen und ihn trösten wollt, bis wir Nachricht von ihm haben.«
Bei diesen Worten schlug Kapitän Cuttle wie in unwillkürlicher Gebärde mit der Hand an den Kopf, der für den Augenblick nicht mit dem harten Glanzhut belastet war, und machte eine Jammermiene.
»Seid Ihr in Sorge wegen Walters Sicherheit?« fragte Florence, von deren Gesicht der verzückte Kapitän seine Augen nicht abzuwenden vermochte, während sie ihrerseits ihn gleichfalls angelegentlich betrachtete, als wolle sie sich von der Aufrichtigkeit seiner Antwort überzeugen.
»Nein, meine Herzensfreude,« sagte Kapitän Cuttle, »ich fürchte nichts. Wal'r ist ein Junge, der durch viel schlimmes Wetter kommen wird. Wal'r ist ein Junge, der jener Brigg so viel Erfolg bringen muß, wie es nur irgendeinem jungen Menschen möglich ist. Wal'r«, fuhr der Kapitän fort, und seine Augen glänzten bei dem Lob des jungen Freundes, während sein Haken sich hob, um eine schöne Redewendung anzukündigen, »ist, was Ihr ein äußeres und ein sichtbares Zeichen der inneren geistigen Kraft nennen könnt – und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«
Florence, die ihn nicht ganz verstand, obschon der Kapitän augenscheinlich meinte, er habe sich sehr deutlich und befriedigend ausgedrückt, blickte ihn mild an, als erwarte sie etwas Weiteres.
»Ich bin völlig unbesorgt, meine Herzensfreude,« nahm der Kapitän seine Rede wieder auf. »Man kann freilich nicht leugnen, daß es in jenen Breiten ganz ungewöhnlich schlechtes Wetter gegeben hat, und die Schiffe sind schon getrieben und getrieben und verschlagen worden – vielleicht bis auf die andere Seite der Welt. Aber das Schiff ist ein gutes Schiff und der Junge ein guter Junge, und es ist, Gott sei Dank,« – der Kapitän machte eine kleine Verbeugung – »nicht leicht, Eichenherzen zu brechen, ob sie nun in Briggen sind oder in eines Menschen Brust. Hier haben wir sie nun in beiderlei Weise, so oder so, und wir dürfen deshalb bis jetzt nicht das mindeste fürchten.«
»Bis jetzt?« wiederholte Florence.
»Nicht das mindeste«, entgegnete der Kapitän, seinen Haken küssend, »und ehe es bei mir so weit kommt, meine Herzensfreude, wird Wal'r von der Insel oder von einem oder dem andern Hafen nach Haus geschrieben haben, so daß alles in Ordnung und schiffsgerecht ist. Und was den alten Sol Gills betrifft«, der Kapitän wurde jetzt feierlich, »so will ich bei ihm aushalten und ihn nicht verlassen, bis der Tod uns trennt, wie auch die stürmischen Winde wehen, wehen und wehen – seht im Katechismus nach,« sagte der Kapitän nebenher, »und dort werdet Ihr die Ausdrücke finden. Kann es übrigens Sol Gills trösten, wenn er die Ansicht eines seefahrenden Mannes hört, dessen Geist jedem Unternehmen gewachsen ist, das ihm in den Wurf kommt, – eines Mannes, der schon als Lehrling alles durchmachte, so daß er nur mit knapper Not das Leben davontrug, und dessen Name Bunsby ist, so soll ihm dieser Mann in seiner eigenen Stube ein Gutachten geben – ein Gutachten, sage ich Euch, daß ihm Hören und Sehen vergehen wird. Ja« – fügte Kapitän Cuttle prahlerisch bei – »gerade so, als hätte er sich halb den Kopf an der Tür eingerannt!«
»Wir wollen diesen Gentleman zu ihm bringen und mit anhören, was er sagt«, entgegnete Florence. »Ihr werdet doch mit uns gehen? Wir haben eine Kutsche hier.«
Der Kapitän schlug wieder mit der Hand an den seines harten Glanzhutes baren Kopf und schaute verblüfft umher. Doch in demselben Augenblick trug sich ein merkwürdiges Naturereignis zu. Ohne Anmeldung oder Vorbereitung öffnete sich wie von selbst die Tür, und der fragliche harte Glanzhut flog wie ein Vogel ins Zimmer herein, um vor den Füßen des Kapitäns schwerfällig niederzuplumpsen. Dann schlug die Tür ebenso ungestüm, wie sie aufgegangen war, wieder zu, und es erfolgte nichts weiter, um dieses Wunder aufzuklären.
Kapitän Cuttle las seinen Hut auf, betrachtete ihn mit einem Blick der Teilnahme und des Willkomms, drehte ihn und begann mit dem Ärmel daran zu polieren. Während dieser Beschäftigung schaute er gelegentlich nach seinen Gästen hin und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Ihr seht, ich hätte gestern und heute morgen zu Sol Gills hinuntersteuern sollen; aber sie – sie nahm ihn weg und gab ihn nicht heraus. Dies ist das Lange und Kurze von der Sache.«
»Du lieber Himmel, wer tat dies?« fragte Susanna Nipper.
»Die Hausfrau, meine Liebe«, versetzte der Kapitän mit grämlichem Flüstern und unter geheimnisvollen Zeichen. »Wir hatten einen kleinen Wortwechsel wegen des Schwapperns dieser Planken da, und sie – mit einem Wort«, fügte der Kapitän hinzu, indem er nach der Tür hinsah und sich durch einen langen Atemzug Erleichterung verschaffte, »sie hat mich meiner Freiheit beraubt.«
»O, ich wünschte nur, daß sie mit mir zu schaffen hätte!« sagte Susanna, in dem Ungestüm ihres Wunsches errötend. »Ich wollte mit ihr schon fertig werden.«
»Meint Ihr, dies ginge so leicht, meine Liebe?« entgegnete der Kapitän, zweifelhaft den Kopf schüttelnd, aber den rücksichtslosen Mut der jungen Schönen mit augenfälliger Bewunderung aufnehmend. »Ich weiß nicht. Es ist eine schwierige Schiffahrt. Es ist sehr schwer, mit ihr fortzukommen, meine Liebe. Seht Ihr, man kann nie sagen, wie sie ihren Schnabel stellen will. Die eine Minute hält sie ihn voll, die nächste geht's rund herum. Und wenn nicht sie ein Berserker ist« – fügte der Kapitän bei, und der Schweiß trat ihm auf die Stirne.
Der Satz schloß mit einem nachdrücklichen Pfeifen. Dann schüttelte der Kapitän den Kopf, kam abermals auf seine Bewunderung von Miß Nippers verzweifelter Tapferkeit zurück und wiederholte schüchtern:
»Meint Ihr, es ginge so leicht, meine Liebe?«
Susanna antwortete nur mit einem hochmütigen Lächeln, in dem jedoch so viel Trotz lag, daß der Kapitän vielleicht noch lange in verzückter Betrachtung dagestanden wäre, wenn nicht Florence in ihrer Angst wieder auf den Vorschlag zurückgekommen wäre, ohne Zögern den orakelhaften Bunsby zu Rate zu ziehen. So an seine Pflicht erinnert, drückte Kapitän Cuttle seinen Glanzhut fest auf den Kopf, griff nach einem andern Knotenstock, womit er den an Walter verschenkten ersetzt hatte, bot Florence seinen Arm und schickte sich an, sich durch den Feind Bahn zu brechen.
Es zeigte sich übrigens, daß Mrs. Mac Stinger schon wieder ihren Kurs geändert und den Schnabel, wie sie nach des Kapitäns Bemerkung oft zu tun pflegte, in eine ganz neue Richtung gestellt hatte. Als sie die Treppen hinunterkamen, fanden sie diese musterhafte Frau, wie sie eben auf der Hausschwelle die Matten ausklopfte, so daß der noch immer auf dem Pflasterstein sitzende Alexander in dem Staubnebel nur undeutlich zu erkennen war. Diese häusliche Verrichtung nahm Mrs. Mac Stinger dermaßen in Anspruch, daß sie, als Kapitän Cuttle und seine Gäste vorbeigingen, nur um so stärker klopfte und weder durch ein Wort noch durch eine Gebärde ein Bewußtsein von ihrer Nähe zu erkennen gab. Die Matten übten zwar auf den Kapitän einen Eindruck wie der reichliche Gebrauch des Schnupftabaks, so daß er niesen mußte, bis ihm die Tränen über das Gesicht herunterliefen. Trotzdem aber war er über dieses leichte Entkommen so erfreut, daß er kaum seinem guten Glück glauben konnte; denn selbst zwischen der Tür und der Mietkutsche schaute er mehr als einmal über seine Schulter zurück, augenscheinlich voll Furcht, Mrs. Mac Stinger möchte noch jetzt Jagd auf ihn machen.
Sie erreichten jedoch die Ecke von Brig-Place, ohne weiter von diesem Schrecknis belästigt zu werden, und der Kapitän stieg auf den Kutschbock, weil es ihm seine Galanterie nicht erlaubte, von dem Ersuchen der Damen, sich mit ihnen in den Wagen zu setzen, Gebrauch zu machen. Von hier aus lotste er den Kutscher in seinem Kurse nach Kapitän Bunsbys Schiff, das die »vorsichtige Klara« hieß und ganz in der Nähe von Ratcliffe lag.
Bei dem Kai, vor dem das Fahrzeug dieses großen Kommandeurs zwischen etwa fünfhundert Kameraden eingeklemmt war, so daß das wirre Takelwerk sich wie eine ungeheure Masse halb weggekehrter Spinnweben ausnahm, erschien Kapitän Cuttle an dem Kutschenschlag und lud Florence und Miß Nipper ein, ihn an Bord zu begleiten. Zugleich bemerkte er, Bunsby sei in Beziehung auf Damen im höchsten Grade weichherzig, und nichts könne mehr dazu beitragen, seinen gewaltigen Geist in einen Zustand von Harmonie zu bringen, als ihr Erscheinen auf der »vorsichtigen Klara«.
Florence entsprach sogleich seiner Aufforderung, und der Kapitän, der ihre kleine Hand in seine ungeheure Pfote nahm, führte sie mit einem gemischten Ausdruck von Gönnerschaft, väterlicher Liebe, Stolz und Feierlichkeit, der recht erbaulich anzusehen war, über verschiedene sehr schmutzige Decks, bis sie endlich zu der Klara gelangten. Dieses vorsichtige Fahrzeug, das außerhalb des Dammes lag, hatte seine Laufplanke abgetragen und stand etwa sechs Fuß von seinem nächsten Nachbar entfernt. Aus Kapitän Cuttles Erklärung schien hervorzugehen, daß der große Bunsby, wie er selbst, von seiner Hauswirtin grausam behandelt wurde; und wenn sie es ihm zuletzt so arg machte, daß er es nicht mehr auszuhalten vermochte, so brachte er als letzte Zuflucht einen Streifen Wasser zwischen sich und seine schöne Feindin.
»Klara, ahoi!« rief der Kapitän, seine Hand als Trichter für den Mund benutzend.
»Ahoi!« antwortete zum Echo ein Junge, der aus dem Raum heraufkam, des Kapitäns Ruf.
»Bunsby an Bord?« brüllte der Kapitän den Jungen mit einer Stentorstimme an, als sei das Fahrzeug wenigstens ein paar hundert Ruten, nicht aber bloß einige Ellen entfernt.
»Ja!« rief der Junge in dem gleichen Ton.
Der Junge schob sodann eine Planke auf Kapitän Cuttle zu, der sie sorgfältig auflegte und Florence hinüberführte. Nachdem das geschehen war, kehrte er zurück, um Miß Nipper zu holen. Sie befanden sich jetzt auf dem Deck der »vorsichtigen Klara«, in deren stehendem Takelwerk allerlei flatternde Kleidungsstücke in Gemeinschaft mit etlichen Zungen und Makrelen trockneten.
Unmittelbar darauf erhob sich langsam über die Scheidewände der Kajüte ein sehr großer menschlicher Kopf mit einem feststehenden Auge in dem Mahagoni-Gesicht, während das andere nach dem bei einigen Leuchttürmen angebrachten Grundsatze beweglich war. Dieser Kopf war mit zottigem, wergartigem Haar geziert, das keine vorherrschende Neigung gegen Nord, Ost, Süd oder West besaß, sondern nach allen vier Strichen des Kompasses und nach jedem einzelnen Punkte desselben hinging. Dem Kopf folgte eine wahre Wüste von Kinn, ein Hemdkragen samt Halstuch, eine unzerreißbare Lotsenjacke und ein Hosenpaar von demselben festen Gewebe. Dieses wurde durch einen so breiten und hohen Gurt festgehalten, daß er (d.h. der Gurt) zugleich die Stelle der Weste vertrat. Besagter Gurt war in der Nähe des Brustbeins mit einigen massiven hölzernen Knöpfen verziert, die einem Brettspiel entnommen zu sein schienen. Als die unteren Teile der Hose sichtbar wurden, zeigte sich Bunsby endlich in vollem Format, die Hände in seine ungeheuren Taschen gesteckt, während sein Blick sich nicht auf Kapitän Cuttle oder die Damen, sondern nach der Stengenspitze richtete.
Das tiefsinnige Aussehen dieses derben, kräftig gebauten Philosophen, auf dessen ungemein rotem Gesicht ein Ausdruck von Schweigsamkeit thronte, der in vollem Einklang stand mit dem augenfälligen Stolz seines Charakters, schüchterte fast Kapitän Cuttle ein, obschon er sonst gut Freund mit ihm war. Während er Florence zuflüsterte, Bunsby habe in seinem Leben nie Verblüfftsein an sich bemerken lassen, weshalb man im allgemeinen glaube, er wisse gar nicht, was dieser Ausdruck zu bedeuten habe, beobachtete er den Mann, der seine Stengenspitze betrachtete und nachher sich am Horizont umsah. Als endlich das sich drehende Auge in die Richtung des Kapitäns zu kommen schien, begann dieser:
»Bunsby, mein Junge, wie geht's?«
Eine tiefe, brummende, heisere Stimme, die in gar keiner Beziehung zu Bunsby zu stehen schien und jedenfalls auch nicht den mindesten Eindruck auf dessen Gesicht hervorrief, gab die Antwort:
»Hei, ja, Schiffskamerad, wie wird's gehen.«
Zu gleicher Zeit tauchte Bunsbys rechte Hand samt dem Arm aus der Tasche empor, schüttelte die des Kapitäns und kehrte wieder zurück. »Bunsby«, sagte der Kapitän, sogleich auf sein Ziel losgehend, »Ihr seid ein Mann von Geist und ein Mann, der eine Ansicht vertreten kann. Da ist nun eine junge Dame, die Euer Gutachten hören möchte in betreff meines Freundes Wal'r, und außerdem habe ich noch einen andern Freund, Sol Gills, eine Persönlichkeit, die wohl verdient, daß Ihr in ihre Rufweite kommt; denn er ist ein Mann der Wissenschaft, die eine Mutter der Erfindung ist und kein Gesetz kennt. Bunsby, wollt Ihr mir den Gefallen erweisen, zu fieren und mit uns zu kommen?«
Der große Kommandant, der dem Ausdruck seines Gesichtes zufolge stets nach irgendeinem Gegenstand in der weitesten Ferne auszulugen und für nichts, was im Bereich von vier Stunden lag, ein Auge zu haben schien, behielt die Antwort hartnäckig für sich.
»Hier ist ein Mann«, sagte der Kapitän, sich an seine schönen Zuhörerinnen wendend und mit seinem ausgestreckten Haken auf den Kommandanten deutend, »der mehr als irgendein lebender Mensch ausgestanden hat. Ihm sind mehr Unfälle begegnet, als allen den Leuten im Matrosenhospital zusammengenommen, und es sind ihm, als er noch jung war, so viele Spieren, Balken und Bolzen um den Kopf geflogen, daß man damit auf dem Chathamhof eine Lustjacht bauen könnte. Was daher in solchen Dingen seine Erfahrung betrifft, so bin ich überzeugt, daß ihm hierin nichts gleich kommt, weder zu Wasser noch zu Lande.«
Der dickköpfige Kommandant schien durch ein leichtes Zucken seines Ellenbogens einige Zufriedenheit über dieses Lob auszudrücken; aber wenn auch sein Gesicht ebenso fern gewesen wäre wie sein Blick, so hätte es die Anwesenden kaum weniger unterrichten können, was in seinem Innern vorging.
»Schiffskamerad«, sagte Bunsby mit einem Male, indem er sich niederbeugte, um unter eine im Wege liegende Spiere zu sehen, »was wollen die Damen trinken?«
Kapitän Cuttle, dessen Zartgefühl bei der Verbindung einer solchen Frage mit Florence sich entsetzte, zog den Weisen beiseite, schien ihm eine Aufklärung ins Ohr zu flüstern und begleitete ihn nach der Kajüte hinunter, wo er, um nicht Anstoß zu geben, sich selbst den Trunk belieben ließ, den, wie Florence und Susanna durch das offene Fenster sahen, der Weise, der zwischen seinem Berth und einem sehr kleinen Ofen kaum Raum fand, für sich selbst und seinen Freund eingoß. Sie erschienen bald wieder auf Deck, und Kapitän Cuttle führte Florence triumphierend über den Erfolg seines Unternehmens nach der Kutsche zurück, während Bunsby Miß Nipper, die er unterwegs zur großen Entrüstung dieser jungen Dame mit seinem Lotsenärmel wie ein grauer Bär umkrallte, in seine Obhut nahm.
Der Kapitän brachte sein Orakel im Wagen unter, überglücklich, daß er sich dieses Mannes versichert und einen solchen Geist in eine Mietkutsche gezwängt hatte. Auch konnte er sich nicht enthalten, durch das kleine Fenster hinter dem Kutscher oft nach Florence hineinzusehen und sein Entzücken durch Lächeln oder durch ein Klopfen an seine Stirne auszudrücken, um ihr damit anzudeuten, daß Bunsbys Gehirn in voller Tätigkeit sei. Mittlerweile behauptete Bunsby, der noch immer Miß Nipper umarmt hielt – denn sein Freund hatte die Weichheit seines Herzens nicht übertrieben – gleichförmig seine ernste Haltung und gab durch kein weiteres Zeichen kund, daß er der Anwesenheit seiner Nachbarin oder irgendeines andern Gegenstandes sich bewußt sei.
Onkel Sol, der nach Hause gekommen war, empfing sie an der Tür und führte sie sogleich nach dem kleinen Hinterstübchen, das sich seit Walters Abreise seltsam verändert hatte. Auf dem Tische und im Zimmer umher lagen die Karten, auf denen der betrübte Instrumentenmacher oft und oft das vermißte Schiff über die See verfolgte. Er hatte erst noch vor einer Minute mit einem Zirkel, den er noch immer in der Hand hielt, die Trifftung gemessen, die angenommen werden mußte, wenn das Fahrzeug da oder dorthin gekommen sein sollte. Aus diesen Berechnungen suchte er sich zu beweisen, daß man noch lange nicht die Hoffnung aufgeben dürfe.
»Ob es wohl verirrt ist«, sagte Onkel Sol, gedankenvoll über der Karte wegsehend; »aber nein, das ist fast unmöglich. Oder ob es durch ungestümes Wetter verschlagen wurde – aber das ist vernünftigerweise nicht wohl anzunehmen. Oder ob Hoffnung vorhanden ist, es habe den Kurs so weit geändert, um – doch ich kann das kaum hoffen!«
Mit solchen abgebrochenen Andeutungen streifte der arme alte Onkel Sol über die Karte hin, ohne auf ihr einen Flecken hoffnungsvoller Wahrscheinlichkeit zu finden, der groß genug gewesen wäre, um eine kleine Zirkelspitze darauf zu setzen.
Florence sah augenblicklich – es wäre auch schwer gewesen, das nicht zu bemerken –, daß mit dem alten Manne eine auffallende, unbeschreibliche Veränderung vorgegangen war; denn neben seinem viel unruhigeren und unsteteren Wesen zeigte er eine eigentümliche, nicht damit im Einklang stehende Entschiedenheit, über die sie sehr betroffen war. Einmal kam es ihr vor, er spreche ohne allen Zusammenhang und aufs Geratewohl; denn als sie gegen ihn ihr Bedauern ausdrückte, daß sie ihn am Morgen nicht getroffen habe, entgegnete er anfangs, er habe sie besuchen wollen, obschon er unmittelbar darauf die Antwort zu widerrufen schien.
»Ihr seid also bei mir gewesen?« fragte Florence. »Heute?«
»Ja, meine liebe junge Lady«, versetzte Onkel Sol, indem er sie ansah und dann in verwirrter Weise wegblickte. »Ich wollte Euch noch einmal mit meinen eigenen Ohren hören, ehe –«
Dann hielt er inne.
»Ehe? Was wollt Ihr mit diesem Ehe sagen?« entgegnete Florence, ihre Hand auf seinen Arm legend.
»Habe ich von ›Ehe‹ gesprochen?« erwiderte der alte Sol. »Wenn ich es tat, so muß ich gemeint haben, ehe wir Kunde von meinem lieben Jungen erhalten.«
»Ihr seid nicht wohl«, sagte Florence liebevoll. »Ihr habt so viel in Angst gelebt – gewiß. Ihr seid nicht wohl.«
»Nein, ich bin gesund«, entgegnete der alte Mann, indem er seine rechte Hand schloß und sie ausstreckte, um sie ihr zu zeigen – »so gesund und kräftig, wie es ein Mann von meinen Jahren nur erwarten kann. Seht – sie ist fest. Sollte ihr Herr nicht ebenso entschlossen und standhaft sein können, wie mancher Jüngere? Ich denke doch. Wir müssen abwarten.«
Sein Benehmen mehr als seine Worte, obgleich ihr auch letztere unvergeßlich blieben, machten auf Florence einen so tiefen Eindruck, daß sie gewünscht hätte, ihre Unruhe sogleich Kapitän Cuttle mitteilen zu können. Dieser aber ergriff die Gelegenheit, um den Stand der Dinge auseinanderzusetzen, über den man das Urteil des weisen Bunsby hören wollte, und bat diese gründliche Autorität, sein Gutachten abzugeben.
Bunsby, dessen Auge fortwährend auf irgendeiner Stelle etwa halbwegs zwischen London und Gravesend zu haften schien, streckte zwei- oder dreimal seinen rauhen rechten Arm aus, als wolle er diesen aus Begeisterung um die schöne Gestalt von Miß Nipper schlingen. Diese junge Dame hatte sich jedoch sehr unzufrieden nach der andern Seite des Tisches zurückgezogen, so daß das weiche Herz des Kommandanten der vorsichtigen Klara sich in unerwiderten Regungen erschöpfen mußte. Nach mehreren derartigen Fehlgriffen ließ sich der große Mann, ohne übrigens seine Worte an irgend jemanden zu richten, folgendermaßen vernehmen; oder vielmehr die Stimme in seinem Innern sprach aus eigenem Antrieb und ganz unabhängig aus dem Manne, als sei er von einem grämlichen Geiste besessen.
»Mein Name ist Jack Bunsby!«
»Er wurde John getauft!« rief der entzückte Kapitän Cuttle. »Hört ihn.«
»Und was ich sage«, fuhr die Stimme nach einiger Erwägung fort, »dabei bleibe ich auch.«
Der Kapitän, der Florences Arm in dem seinen liegen hatte, nickte dem Auditorium zu und schien zu sagen: »Jetzt rückt er mit seinen Offenbarungen heraus. Das wollte ich, als ich ihn hierher brachte.«
»Weswegen«, fuhr die Stimme fort, »und warum nicht, und wenn so, wozu ein Widerspruch? Kann jemand etwas anders sagen? Nein. Also Punktum!«
Nachdem seine Folgerung so weit gediehen war, hielt die Stimme inne und ruhte. Dann fuhr sie sehr langsam, wie folgt, fort:
»Glaube ich, daß jener Sohn und Erbe untergegangen ist, meine Jungen? Kann sein. Sage ich so? Wer behauptet es? Wenn ein Schiffer durch den St.-Georg-Kanal nach den Dünen hinaussteuert, was liegt gerade vor seinem Schnabel? Die Goodwins. Er ist nicht gezwungen, auf die Goodwins zu laufen, aber er kann es. Der Sinn dieser Bemerkung liegt in der Anwendung. Diese gehört nicht zu meinen Obliegenheiten. Also zu, legt gut nach vorne aus, und gut Glück für Euch!«
Die Stimme verließ jetzt das Hinterstübchen und begab sich in die Straße hinaus, den Kommandanten der vorsichtigen Klara mit fortnehmend und ihn mit aller bequemen Eile wieder an Bord begleitend, wo dieser sich ohne weiteres hineinbugsierte und seinen hohen Geist mit einem Schlaf erfrischte.
Es blieb also den Hörern dieser weisen Vorschriften überlassen, selbst ihre Anwendung darauf zu machen – nach einem Grundsatz, der stets das Hauptbein von Bunsbys Dreifuß war, wie er zufälligerweise auch die erste Stütze einiger andern Orakelstühle ist. Sie sahen sich gegenseitig mit einiger Ungewißheit an, während Rob, der Schleifer, der sich die harmlose Freiheit genommen hatte, durch das Hochfenster des Daches zu gucken und zu lauschen, in einem Zustand der größten Verwirrung langsam wieder herunterkam. Dagegen war Kapitän Cuttles Bewunderung gegen Bunsby durch die glänzende Art, wie er seinen Ruf mit einem so feierlichen Schluß gerechtfertigt hatte, wo möglich noch erhöht worden. Er schickte sich jetzt an, auseinanderzusetzen, daß Bunsby damit nichts anderes habe sagen wollen, als daß man am Vertrauen festhalten müsse. Bunsby habe kein Bedenken, und das Gutachten eines solchen Geistes sei der wahre Hoffnungsanker mit dem herrlichsten Verankerungsgrund. Florence versuchte zu glauben, daß der Kapitän recht habe, aber Miß Nippel, die mit dicht verschlungenen Armen dastand, schüttelte in entschlossenem Widerspruch den Kopf und setzte auf Bunsby nicht mehr Vertrauen, als sogar auf Mr. Perch.
Der Philosoph schien Onkel Sol so ziemlich in dem nämlichen Zustand verlassen zu haben, in dem er ihn gefunden; denn der alte Mann streifte, den Zirkel in der Hand, noch immer auf der wässerigen Welt umher und konnte keinen Ruheplatz entdecken für die Spitzen seines Instrumentes. Während er noch immer bei diesem Geschäfte begriffen war, flüsterte Florence Kapitän Cuttle etwas ins Ohr, worauf dieser seine schwere Hand auf die Schultern seines Freundes legte.
»Wie ist's Euch, Sol Gills?« rief der Kapitän in herzlichem Ton.
»Nur so so, Ned«, versetzte der Instrumentenmacher. »Ich habe den ganzen Nachmittag an den Abend denken müssen, an dem mein Junge zum ersten Male aus Dombeys Hause zurückkam. Er saß dort, wo Ihr jetzt steht, beim Essen; wir sprachen von Sturm und Schiffbruch, und es wurde mir kaum möglich, ihn von diesem Gegenstand abzubringen.«
Jetzt begegnete sein Blick dem von Florence, der angelegentlich forschend auf seinem Gesicht ruhte. Der alte Mann hielt inne und lächelte.
»Haltet dichter, alter Freund!« rief der Kapitän. »Macht nur ein munteres Gesicht! Ich will Euch was sagen, Sol Gills; sobald ich die Herzensfreude da glücklich nach Haus gebracht habe« – er küßte dabei seinen Haken gegen Florence – »so komme ich zurück und nehme Euch für den Rest dieses lieben Tages ins Schlepptau. Ihr kommt dann mit mir, und wir nehmen irgendwo unsere Mahlzeit ein, Sol.«
»Heute nicht, Ned!« sagte der alte Mann rasch und augenscheinlich sehr bestürzt über diesen Vorschlag. »Heute nicht. Ich kann nicht!«
»Warum nicht?« entgegnete der Kapitän, ihn erstaunt ansehend.
»Ich – ich habe so viel zu tun. Ich – ich wollte sagen, so viel zu denken und zu ordnen. Ich kann in der Tat nicht, Ned. Ich muß wieder ausgehen und dann allein sein. Es gehen mir heute so viele Dinge durch den Kopf.«
Der Kapitän sah zuerst den Instrumentenmacher, dann Florence und dann wieder den Instrumentenmacher an.
»Also morgen«, sagte er endlich.
»Ja, ja, morgen«, versetzte der alte Mann. »Vergeßt mich morgen nicht. Also morgen.«
»Wohl gemerkt, Sol Gills, ich komme früh«, machte der Kapitän zur Bedingung.
»Ja, ja, morgen so früh Ihr wollt«, entgegnete der alte Sol. »Und nun lebt wohl, Ned Cuttle. Gott behüte Euch.«
Während er das sagte, drückte er die Hand des Kapitäns mit ungewöhnlicher Wärme. Dann wandte er sich an Florence, nahm ihre beiden Hände in die seinen und führte sie an seine Lippen, worauf er in sehr befremdlicher Hast mit ihr nach der Kutsche eilte. Sein auffallendes Benehmen machte einen solchen Eindruck auf den Kapitän, daß er zurückblieb und Rob nachdrücklich einschärfte, er solle bis zum Morgen ja recht achtsam auf seinen Gebieter sein. Diese Ermahnung bekräftigte er mit der Vorausbezahlung eines Schillings und dem Versprechen weiterer sechs Pence, die noch vor dem andern Mittag bezahlt werden sollten. Nach Erfüllung dieses freundlichen Dienstes bestieg er, da er sich als die natürliche und gesetzliche Leibwache Florences betrachtete, nicht wenig stolz auf seine Schutzbefohlene, den Bock und geleitete sie nach Hause. Zum Abschied gab er Florence die Versicherung, er werde sich treulich Sol Gills' annehmen; und da ihm Susanna Nippers mutige Worte in betreff der Mrs. Mac Stinger noch immer durch den Kopf gingen, so fragte er schließlich noch einmal die heldenkühne Jungfrau: »Meint Ihr noch immer, dies ginge so leicht, meine Liebe?«
Als sich das verödete Haus hinter den beiden Mädchen geschlossen hatte, kehrten die Gedanken des Kapitäns wieder zu dem alten Instrumentenmacher zurück. Es war ihm nicht recht wohl zumut bei der Sache. Statt daher nach Hause zu gehen, spazierte er etliche Male auf der Straße auf und ab, dehnte seine Muße bis zum Abend aus und speiste spät in einem gewissen Winkelkneipchen der City, dessen keilförmige Wirtsstube von Glanzhüten reichlich benutzt wurde. Seine Hauptabsicht war, nach Einbruch der Dunkelheit noch einmal an der Wohnung seines alten Freundes vorbeizugehen und durchs Fenster hineinzuschauen. Das geschah. Da Hinterstübchen stand offen, und er konnte Sol Gills sehen, wie er an dem Tisch drinnen eifrig schrieb, während der kleine Midshipman, der bereits zum Schutz gegen den Nachttau unter Dach gebracht worden war, von dem Ladentisch aus nach ihm hinschaute. Unter dem letzteren machte sich Rob, der Schleifer, sein Bett zurecht und schickte sich an, den Laden zu schließen.
Durch die Ruhe, die im Bann des hölzernen Midshipmans herrschte, zufriedengestellt, richtete der Kapitän seinen Schnabel nach Brig-Place, fest entschlossen, am andern Morgen in aller Frühe wieder den Anker zu lichten.
Vierundzwanzigstes Kapitel. DAS STUDIUM EINES LIEBENDEN HERZENS.
Sir Barnet und Lady Skettles, sehr achtbare Personen, bewohnten bei Fulham ein hübsches, an den Ufern der Themse gelegenes Landhaus – eine der angenehmsten Wohnungen von der Welt, wenn etwa wettrudernde Fahrzeuge daran vorbeikamen, obschon sie zu andern Zeiten manche kleine Unbequemlichkeiten bot. Darunter müssen wir namentlich den gelegentlichen Besuch des Flußes im Geschäftszimmer und das zeitweilige Verschwinden des Hofs mit seinem Gesträuch berühren.
Sir Barnet Skettles legte seine persönliche Bedeutsamkeit hauptsächlich durch eine altertümliche goldene Schnupftabaksdose und ein schweres seidenes Taschentuch an den Tag, das er in eindrucksvoller Weise wie ein Banner herauszuziehen und mit beiden Händen zugleich in Anwendung zu bringen pflegte. Die erste Aufgabe seines Lebens bestand unablässig darin, die Kette seiner Bekanntschaften auszudehnen. Wie bei einem ins Wasser geworfenen schweren Körper – wir wollen übrigens durch eine solche Vergleichung den würdigen Gentleman nicht herabsetzen – lag es in der Natur der Dinge, daß Sir Barnet stets einen weiter und weiter greifenden Kreis um sich verbreitete, bis kein Raum mehr übrigblieb. Oder gleich dem Schall, der nach der Theorie eines scharfsinnigen neueren Naturforschers für immer fortschwingen kann in dem unermeßlichen Raum, vermochte nichts in der Entdeckungsreise durch das gesellschaftliche Leben dem wackern Sir Barnet Skettles Einhalt zu tun, als das Ende seines moralischen Spannseils.
Sir Barnet tat sich ungemein viel darauf zu gut, wenn er Leute mit Leuten bekannt machen konnte. Er liebte diese Aufgabe um ihrer selbst willen und auch deshalb, weil sie seinen Lebenszweck begünstigte. Wenn er zum Beispiel so glücklich war, sich eines ungeleckten Neulings oder eines Dorfgentlemans zu bemächtigen und ihn nach seiner gastfreundlichen Villa zu verlocken, so pflegte er ihn schon am andern Morgen anzureden: »Mein teurer Sir, ist jemand da, den Ihr kennenzulernen wünscht – mit dem Ihr zusammentreffen möchtet? Nehmt Ihr Interesse an Schriftstellern, Malern, Bildhauern, Schauspielern oder derartigen Leuten?« Vielleicht antwortete der Unglückliche mit Ja und nannte irgend jemanden, den Sir Barnet ebensowenig persönlich kannte wie Ptolemäus den Großen. Sir Barnet antwortete aber, es sei nichts leichter, als mit diesem Mann in Berührung zu kommen, da er ihn persönlich sehr gut kenne. Dann ging es zugleich zu dem besagten Jemand. Sir Barnet ließ seine Karte dort, schrieb ein kurzes Billett – »Mein teurer Sir, – Strafe Eurer ausgezeichneten Stellung – ein Freund in meinem Hause hegt natürlich den Wunsch – Lady Skettles und ich teilen ihn – hoffen, das Genie sei erhaben über Förmlichkeiten; Ihr werdet uns die ausgezeichnete Gunst zuteil werden lassen, uns das Vergnügen zu schenken – usw., usw.« – und so waren zwei Vögel mit einem Stein tot geworfen – mausetot.
Mit der Schnupftabaksdose und dem wehenden Banner stellte Sir Barnet Skettles am ersten Morgen nach ihrer Ankunft die gewöhnliche Frage an Florence. Als Florence ihm dankend erwiderte, sie kenne niemanden besonders, den sie zu sehen wünsche, flogen natürlich ihre Gedanken dem armen verlorenen Walter zu. Vielleicht war es ebenso natürlich, daß sie ihr Köpfchen ein wenig sinken ließ und mit weicher, bebender Stimme ihre Verneinung vorbrachte, als Sir Barnet Skettles, sein freundliches Anerbieten weiter verfolgend, mit der Frage kam: »Meine teure Miß Dombey, könnt Ihr Euch denn wirklich an niemanden erinnern, von dem Euer trefflicher Papa – ich bitte, ihm, wenn Ihr ihm schreibt, meine und meiner Gattin besten Grüße zu bestellen – wünschen könnte, daß Ihr ihn kennenlernt?«
Skettles junior mit sehr steifer Krawatte und mit sehr ernüchtertem Geist brachte zu Haus seine Ferien zu und schien sehr ärgerlich zu sein über das Drängen seiner trefflichen Mutter, die ihm stets anlag, er solle doch Florence alle Aufmerksamkeit erweisen. Eine zweite und noch schwerere Qual, unter der die Seele des jungen Barnet keuchte, war die Gesellschaft des Doktor und der Mrs. Blimber, die zu einem Besuch unter das elterliche Dach eingeladen worden, und von denen der junge Gentleman oft sagte, es wäre ihm lieber, wenn sie ihre Ferien in Jericho zubrächten.
»Könnt Ihr Euch auf niemanden entsinnen, Doktor Blimber?« sagte Sir Barnet Skettles, sich an diesen Gentleman wendend.
»Ihr seid sehr gütig, Sir Barnet«, versetzte Doktor Blimber. »In der Tat, es fällt mir niemand besonders bei, und ich lerne meine Nebenmenschen lieber nur im allgemeinen kennen, Sir Barnet. Wie sagt Terenz? ›Jeder, der Vater eines Sohnes ist, hat Interesse für mich‹.«
»Hat nicht etwa Mrs. Blimber den Wunsch, irgendeine merkwürdige Person kennenzulernen?« fragte Sir Barnet höflich.
Mrs. Blimber erwiderte mit süßem Lächeln und mit Schütteln ihrer himmelblauen Haube, wenn Sir Barnet sie mit Cicero bekannt machen könnte, so möchte sie ihn wohl bemühen; da aber eine solche Vorstellung nicht möglich sei und sie sich bereits Sir Barnets und seiner liebenswürdigen Lady Freundschaft erfreue, außerdem diese beiden verehrlichen Personen sie und den Doktor mit ihrem vereinten Vertrauen hinsichtlich ihres lieben Sohnes erfreut hätten – man bemerkte, daß der junge Barnet hierbei seine Nase aufwarf – so bleibe ihr nichts weiter zu wünschen übrig.
Unter solchen Umständen mußte sich Sir Barnet vorderhand mit der versammelten Gesellschaft zufrieden geben. Florence war froh darüber; denn sie hatte unter ihrer Umgebung ein Studium zu verfolgen, das ihr sehr am Herzen lag und für sie zu kostbar und wichtig war, als daß sie es irgendeinem andern Interesse hätte nachsetzen können.
Es hielten sich einige Kinder im Hause auf – Kinder, die sich gegen ihre Väter und Mütter so frei und glücklich benahmen, wie jene rosigen Gesichter, die ihrem Haus gegenüber wohnten – Kinder, die ihrer Liebe keinen Zwang anzutun nötig hatten und diese unverhohlen zeigten. Florence gab sich alle Mühe, ihnen ihr Geheimnis abzulernen, und suchte herauszubekommen, worin sie gefehlt hatte. Es war ihr sehr darum zu tun, die einfache Kunst sich anzueignen, die ihr unbekannt war – wie sie es nämlich angreifen sollte, ihrem Vater zu zeigen, daß sie ihn liebte, um dessen Gegenliebe zu gewinnen.
Manchen Tag beobachtete Florence gedankenvoll diese Kinder, und oft verließ sie an einem schönen Morgen, wenn die Sonne sich in ihrer Pracht herrlich erhob, ihr Lager, um, noch ehe jemand im Hause wach war, am Flußufer hin und her zu wandeln, nach den Fenstern ihrer Schlafgemächer hinaufzublicken und sich die Kleinen, die so liebevoll gepflegt wurden, in ihrem Schlummer zu vergegenwärtigen. In solchen Augenblicken fühlte sich Florence einsamer, als wenn sie in dem großen Haus allein war, und sie sehnte sich bisweilen nach diesem zurück, weil es ihr einen größeren Frieden brachte, wenn sie sich verbergen konnte, als wenn sie mit ihren Altersgenossen umgehen sollte und dabei finden mußte, wie wenig Ähnlichkeit sie mit ihr selbst hatten. Aber wie auch jedes kleine Blatt, das sie in dem schweren Lesebuch umschlug, ihr in die Seele schnitt, so fuhr sie doch eifrig fort in ihrem Studium und blieb in ihrem Kreise mit der geduldigen Hoffnung, am Ende dennoch die Kenntnis zu erringen, an der ihr so viel gelegen war.
Aber wie an den Kern zu gelangen – wie vorderhand nur erst die harte Schale zu zerbrechen? Es waren Töchter da, die morgens aufstanden und nachts sich zur Ruhe legten – aber sie besaßen bereits die Herzen ihrer Väter. Sie hatten keine Zurückweisung zu überwinden, keine Kälte zu fürchten, keine finstere Stirne zu glätten. Wenn der Morgen fortschritt, die Fenster nacheinander sich öffneten, der Tau auf Gras und Blumen zu trocknen begann und die jungen Füße den Rasen belebten, sah sich Florence im Kreise der frohen Gesichter um und machte sich Gedanken, was sie wohl von diesen Kindern lernen könne. Aber es war zu spät, ihnen etwas abzusehen, denn jedes durfte sich furchtlos seinem Vater nähern, seine Lippen zu dem bereits fertigen Kuß erheben und den Arm um den Nacken schlingen, der sich liebkosend niederbeugte. Mit einer solchen Kühnheit konnte sie nicht anfangen. O, war es möglich, daß die Hoffnung mehr und mehr sich verlor, je eifriger sie sich ihrem Studium hingab?
Sie erinnerte sich noch, daß sogar die Alte, von der sie in ihrer frühen Jugend beraubt worden war – ihr Bild, ihre Wohnung, ihre Worte und ihre Handlungen waren mit der nachhaltigen Schärfe eines fürchterlichen Eindrucks aus einer frühen Lebensperiode ihrem Gedächtnis eingeprägt – liebevoll von ihrer Tochter gesprochen und in dem Schmerz einer hoffnungslosen Trennung von ihrem Kinde sogar bitter geweint hatte. Freilich – wenn sie weiter nachdachte, so mußte sie sich sagen, daß ihre eigene Mutter sie sehr geliebt hatte, und wenn dann ihre Betrachtungen von Zeit zu Zeit schnell durch den weiten Abstand hinglitten, der sich zwischen ihr und ihrem Vater befand, so wandelte sie ein Zittern an. Tränen traten ihr in die Augen, weil sie sich der Vorstellung nicht erwehren konnte, wenn ihre Mutter noch am Leben wäre, würde sie vielleicht auch ihre Liebe entbehren müssen, weil es ihr an jener unbekannten Anmut fehle, die naturgemäß einen Vater fesseln müsse – einer Anmut, die ihr von der Wiege an gefehlt hatte. Sie wußte zwar, daß sie mit dieser Vorstellung dem Andenken ihrer Mutter unrecht tat, da es solchen Gedanken an aller Wahrheit oder überhaupt an einer möglichen Grundlage gebrach; aber sie konnte doch in ihren Bemühungen, ihn zu rechtfertigen und die ganze Schuld nur bei sich zu suchen, nicht verhindern, daß derartige Bilder gleich einer schwarzen Wolke an dem fernen Horizont ihrer Seele hinschwebten.
Unter den übrigen Gästen traf bald nach Florence auch ein schönes Mädchen ein, das drei oder vier Jahre jünger als sie und eine Waise war. Mit ihr kam eine Tante, eine Dame mit grauem Haar, die sich oft mit Florence unterhielt, gleich allen übrigen sie am Abend gerne singen hörte und bei solchen Gelegenheiten stets mit mütterlicher Teilnahme in ihrer Nähe ihren Platz suchte. Sie waren erst zwei Tage im Hause, als Florence, die an einem warmen Morgen von einer Gartenlaube aus gedankenvoll einer jugendlichen Gruppe auf der Straße zusah und zugleich für den Kopf eines kleinen Wesens darunter, das der Liebling aller übrigen war, einen Blumenkranz wand – die erwähnte Dame und ihre Nichte, die in einem nahen geschirmten Gartenwege auf und nieder gingen, von sich sprechen hörte.
»Ist Florence auch eine Waise wie ich, Tante?« fragte das Kind.
»Nein, meine Liebe. Sie hat zwar keine Mutter mehr, aber ihr Vater lebt noch.«
»Trägt sie ihr Trauerkleid um ihre verstorbene Mama?« fragte das Kind rasch.
»Nein; für ihren einzigen Bruder.«
»Hat sie keinen andern Bruder?«
»Nein.«
»Keine Schwester?«
»Nein.«
»O, wie bedaure ich sie!« sagte das kleine Mädchen.
Als sie eine Weile nachher stehenblieben, um schweigend einigen Booten nachzusehen, nahm Florence wieder Platz – sie war nämlich, als sie ihren Namen hörte, aufgestanden und hatte ihre Blumen gesammelt, um ihnen entgegenzugehen und dadurch anzuzeigen, daß sie sich in Hörweite befinde. In der Erwartung, daß sie nichts mehr hören werde, hatte sie sich wieder an ihr Geschäft gemacht; aber die Unterhaltung begann im nächsten Augenblicke aufs neue.
»Florence wird hier von jedem Menschen geliebt, und gewiß, sie verdient es auch«, sagte das Kind eifrig. »Wo ist ihr Papa?«
Nach einer kurzen Pause versetzte die Tante, daß sie es nicht wisse. Der Ton ihrer Stimme erregte die Aufmerksamkeit Florences, die eben wieder von ihrem Sitz aufgesprungen war, und fesselte sie an die Stelle. Sie drückte hastig ihren Kranz an die Brust und hielt ihn mit beiden Händen fest, damit die Blumen nicht auf den Boden niederfielen.
»Er ist doch in England, hoffe ich, Tante?« fragte das Kind.
»Ich glaube es. – Ja – ich weiß es gewiß.«
»Ist er nie hier gewesen?«
»Soviel ich weiß, nein.«
»Kommt er nie her, um sie zu besuchen?«
»Ich glaube nicht.«
»Ist er lahm, oder blind, oder krank, Tante?« fragte das Kind.
Die Blumen, die Florence an ihre Brust gedrückt hielt, begannen auf den Boden zu fallen, als sie diese verwundert ausgesprochenen Worte hörte. Sie lauschte aufmerksamer, und ihr Antlitz senkte sich.
»Kätchen«, sagte die Dame nach einer weiteren kurzen Pause, »ich will dir über Florence die ganze Wahrheit sagen, wie ich sie gehört habe, und wie ich glaube, daß es sich verhält. Du mußt aber niemandem etwas davon sagen, meine Liebe, weil es vielleicht hier nur wenig bekannt ist und du ihr dadurch wehtun könntest.«
»Ich will schweigen!« rief das Kind.
»Ich weiß, du wirst dies«, entgegnete die Dame. »Ich kann dir so gut trauen, wie mir selbst. So höre denn, Kätchen – ich fürchte, Florences Vater kümmert sich nur wenig um sie; er sieht sie selten, war in ihrem ganzen Leben nie freundlich gegen sie und meidet sie namentlich jetzt. Sie würde ihn zärtlich lieben, wenn er es ihr gestatten wollte; aber er tut das nicht – obschon sie dabei keine Schuld trifft; auch ist sie bei allen gefühlvollen Herzen sehr beliebt, und man hat großes Mitleid mit ihr.«
Mehr von den Blumen in Florences Händen fielen flatternd zu Boden, und die zurückbleibenden waren feucht, aber nicht von Tau. Das Antlitz des Mädchens senkte sich auf die vollen Hände nieder.
»Arme Florence! Liebe, gute Florence!« rief das Kind.
»Weißt du, warum ich dir das gesagt habe, Kätchen?« fragte die Dame.
»Damit ich recht freundlich gegen sie sei und mir alle Mühe gebe, ihr gefällig zu werden; ist dies der Grund, Tante?«
»Zum Teil«, versetzte die Dame, »aber nicht ganz. Obschon wir sie so heiter sehen und sie ein freundliches Lächeln für jeden hat, indem sie gerne uns allen verbindlich sein und ihren Anteil zur allgemeinen Unterhaltung beitragen möchte, so kann sie doch kaum recht glücklich sein. Meinst du, das sei möglich, Kätchen?«
»Ich fürchte, nein«, entgegnete die Kleine.
»Und du kannst wohl begreifen«, fuhr die Dame fort, »warum der Anblick von Kindern, deren Eltern liebevoll sind – wir haben eben jetzt viele hier – ihr im geheimen schmerzlich werden muß?«
»Ja, meine liebe Tante«, erwiderte das Kind. »Ich begreife das sehr wohl. Die arme Florence!«
Noch mehr Blumen fielen auf den Boden, und die, welche sie an ihre Brust gedrückt hielt, zitterten, als ob ein winterlicher Wind durch sie wehe.
»Mein Kätchen«, sagte die Dame mit ernster, aber ruhiger und linder Stimme, die vom ersten Augenblick an einen tiefen Eindruck auf Florence gemacht hatte, »von allen den jugendlichen Geschöpfen hier bist du ihre natürliche und harmlose Freundin. Es fehlen dir die unschuldigen Mittel, in deren Besitz glücklichere Kinder sind –«
»Es gibt hier keine glücklicheren, Tante!« rief die Kleine, die sich an ihre Verwandte anzuklammern schien.
»– in deren Besitz andere Kinder sind, liebes Kätchen, um sie an ihr Unglück zu erinnern. Deshalb wäre es mir lieb, wenn du versuchen wolltest, ihr eine kleine Freundin zu sein. Der Verlust, der dich betroffen hat – dem Himmel sei Dank, daß du ihn erlittest, ehe du sein Gewicht zu würdigen vermochtest – gibt dir einen Anspruch und einen sicheren Halt bei der armen Florence.«
»Aber es fehlt mir nicht an elterlicher Liebe, Tante – es hat mir nie daran gefehlt, so lange ich Euch hatte«, versetzte das Kind.
»Wie dem auch sein mag, meine Liebe«, entgegnete die Dame, »dein Unglück ist kleiner als das der Florence; denn in der ganzen weiten Welt kann keine Waise so verlassen sein, wie das Kind, das eines seiner Eltern durch den Tod verloren hat und sich nicht in der Liebe des andern für den Verlust trösten kann.«
Die Blumen flogen wie Staub über den Boden hin; die leeren Hände breiteten sich vor dem Gesicht aus, und die verwaiste Florence, die sich niederkauerte, weinte lang und bitterlich.
Aber voll treuen Herzens hielt Florence entschlossen an ihrem guten Vorsatz fest, wie ihre sterbende Mutter sie selbst festgehalten hatte an dem Tag, der Paul das Leben gab. Er wußte nicht, wie sehr sie ihn liebte, und wie lang es auch dauern mochte, sie wollte fort und fort versuchen, eines Tages wenigstens diese Kunde dem Herzen ihres Vaters beizubringen. Mittlerweile wollte sie sich hüten, ja nicht durch ein gedankenloses Wort, einen unbedachten Blick oder einen zufällig hervorgerufenen Gefühlsausbruch eine Klage gegen ihn erkennbar werden zu lassen oder Veranlassung zu ihm nachteiligen Gerüchten zu geben.
Sogar im Verkehr mit dem verwaisten Kind, dem sie so sehr zugetan war und dessen Worte ihr nie aus ihrem Gedächtnis wichen, blieb Florence ihres Vorsatzes eingedenk. Wenn sie die Kleine allzu deutlich vor den übrigen auszeichnete, so meinte sie, daß sie dadurch jedenfalls in einem Sinne, vielleicht sogar in mehreren den Glauben bekräftigte, ihr Vater sei grausam und unnatürlich, und das Vergnügen, das sie in ihrem Umgange fand, war nicht imstande, diesen Schmerz aufzuwiegen. Was sie gehört hatte, war ein Grund, nicht sich selbst zu beruhigen, sondern ihn nur um so mehr zu schonen, und Florence tat dies im Einklang mit dem Verlangen ihres Herzens.
So hielt sie es immer. Wenn aus einem Buche laut vorgelesen wurde und in der Geschichte etwas vorkam, was auf einen unfreundlichen Vater hindeutete, so fühlte sie sich schmerzlich berührt, nicht um ihretwillen, sondern weil man eine Anwendung auf ihn machen konnte. Ebenso erging es ihr bei allen kleinen Vorkommnissen – wenn z.B. ein Bild gezeigt oder unter ihnen ein Spiel gemacht wurde. Der Anlässe, ihm eine solche Zärtlichkeit zu erweisen, gab es so viele, daß es ihr oft sehr schwer zumute wurde, und sie verlor sich nicht selten in den Gedanken, es dürfte in der Tat besser sein, wenn sie wieder nach dem alten Haus zurückkehrte und ungestört in dem Schatten seiner düstern Wände lebte. Wie wenige, welche die holde Florence in dem Lenz ihres jungen Lebens sahen, hatten wohl einen Sinn für den Gedanken, daß die bescheidene kleine Königin jener unschuldigen Spiele eine schwere Last heiligen Kummers in ihrer Seele trug! Wie wenige von denen, die in der erkältenden Atmosphäre ihres Vaters erstarrten, hatten eine Ahnung, welch einen Haufen feuriger Kohlen sie auf dessen Haupt sammelte!
Florence verfolgte geduldig ihre Aufgabe, und da es ihr nicht gelang, unter der jugendlichen Gesellschaft, die im Hause versammelt war, das Geheimnis jener unnennbaren Anmut zu entdecken, die ihr so sehr am Herzen lag, so ging sie in frühen Morgenstunden allein aus, um sich unter den Kindern der Armen umzusehen. Aber auch sie waren schon zu weit vorgerückt, als daß sie von ihnen hätte lernen können. Längst waren ihnen ihre Plätze im Hauswesen angewiesen, und sie standen nicht gleich ihr außen vor der Tür, die durch einen Querbalken abgesperrt war.
Bei diesen Gelegenheiten bemerkte sie mehrere Male einen Mann, der sehr früh an der Arbeit war, und ein Mädchen von ihrem eigenen Alter pflegte sich dann in dessen Nähe aufzuhalten. Er war ein sehr armer Mann, der keine regelmäßige Beschäftigung zu haben schien, sondern bald zur Ebbezeit an den Flußufern hinging, ob er in dem Schlamm nicht ein und das andere auffinde, bald in dem schlechten Gärtchen vor seiner Hütte sich beschäftigte, wohl auch an einem schlechten alten Boot, das ihm gehörte, zimmerte oder sonst irgendeine Arbeit, die ihm der Zufall darbot, für einen Nachbar besorgte. Wie auch der Mann seine Zeit verbringen mochte, das Mädchen war nie beschäftigt, sondern saß in der Regel untätig und verdrossen in seiner Nähe.
Florence hatte oft gewünscht, ihn anzureden, aber nie den Mut dazu finden können, da er ihr in keiner Weise entgegenkam. Eines Morgens jedoch führte sie der Weg, der unter Bandweiden nach dem Kieselgestade zwischen seiner Wohnung und dem Wasser hinlief, plötzlich auf ihn zu. Er hatte ein Feuer angemacht, um das Pech zu erhitzen, mit dem er das mit aufwärts gekehrtem Kiel daliegende alte Boot ausdichten wollte. Als er den Ton ihres Fußtrittes hörte, richtete er den Kopf empor und wünschte ihr guten Morgen.
»Guten Morgen«, versetzte Florence, näher herankommend. »Ihr seid früh an der Arbeit.«
»Ich wollte oft gerne noch früher anfangen, Miß, wenn ich nur Arbeit hätte.«
»Ist es denn so schwer, Beschäftigung zu erhalten?« fragte Florence.
» Mir wenigstens wird es schwer genug«, antwortete der Mann.
Florence blickte nach der Stelle hin, wo das Mädchen zusammengekauert saß; es hatte die Ellbogen auf die Knie gestützt, während die Hände dem Knie als Unterlage dienen mußten.
»Ist das Eure Tochter?« fragte Florence.
Er richtete hastig den Kopf auf, schaute mit leuchtendem Blicke nach dem Mädchen und sagte »ja«. Florence sah gleichfalls nach ihr hin und grüßte sie freundlich, das Mädchen aber stieß bloß eine verdrießliche, finstere Antwort aus.
»Fehlt es ihr auch an Beschäftigung?« fragte Florence.
Der Mann schüttelte den Kopf.
»Nein, Miß«, sagte er. »Mein Geschäft muß für uns beide ausreichen.«
»Ihr seid also nur Eurer zwei?« fragte Florence.
»Nur unserer zwei«, entgegnete der Mann. »Ihre Mutter ist schon seit zehn Jahren tot. Martha!« er richtete abermals den Kopf auf und pfiff ihr zu, »hast du nicht ein Wörtchen für die nette junge Dame?«
Das Mädchen machte mit ihren vorwärts gezogenen Schultern eine ungeduldige Gebärde und wandte den Kopf in eine andere Richtung. Ein häßliches, mißgestaltetes, launiges, verdrossenes, zerlumptes, schmutziges Geschöpf – aber es wurde geliebt! Ja – Florence hatte den Blick ihres Vaters gesehen und daraus erkannt, daß dieser Blick durchaus keine Ähnlichkeit habe mit dem Blicke eines gewissen andern.
»Ich fürchte, es ist diesen Morgen schlimmer mit meinem armen Mädchen«, sagte der Mann, in seiner Arbeit innehaltend und das verwahrloste Kind mit einer Teilnahme betrachtend, die in ihrer Rauheit nur um so inniger erschien.
»Sie ist also krank?« fragte Florence.
Der Mann seufzte tief auf.
»Ich glaube nicht, daß Martha in ebenso vielen langen Jahren nur fünf Tage guter Gesundheit hatte«, antwortete er, noch immer nach ihr hinsehend.
»Ja, und mehr als das, John«, sagte ein Nachbar, der heruntergekommen war, um ihm an dem Boote zu helfen.
»Mehr als das, sagt Ihr?« rief der andere, seinen zerbeulten Hut zurückschiebend und mit der Hand über die Stirne fahrend. »Jawohl. Es ist eine lange, lange Zeit.«
»Und je länger es dauerte«, fuhr der Nachbar fort, »desto mehr habt Ihr sie verzogen und ihr den Willen gelassen, John, bis sie zuletzt sich selbst und jedermann sonst zur Last wurde.«
»Mir nicht«, sagte der Vater, wieder an seine Arbeit gehend. »Mir nicht.«
Florence konnte fühlen – wer besser als sie? – welche tiefe Wahrheit in seinen Worten lag. Sie trat ein wenig näher auf den Mann zu. Wie gerne hätte sie dessen rauhe Hand berührt und ihm gedankt für die Güte gegen das unglückliche Geschöpf, das ihm in einem so ganz andern Lichte erschien als allen übrigen Menschen.
»Wer würde auch meinem armen Mädchen den Willen lassen – wer ihr etwas zu Gefallen tun, wenn ich's nicht täte?« fragte der Vater.
»Freilich, ja, aber alles mit Maß, John«, versetzte der Nachbar. »Ihr beraubt Euch selbst, um ihr geben zu können, und bindet Euch um ihretwillen Hände und Füße. Ihretwegen macht Ihr Euch das Leben elend – und was kümmert sie sich darum? Ich glaube nicht einmal, daß sie es weiß.«
Der Vater erhob abermals den Kopf und pfiff ihr zu. Martha machte mit ihren eingezogenen Schultern dieselbe ungeduldige Gebärde, und er war froh und glücklich.
»Nur deshalb, Miß«, sagte der Nachbar mit einem Lächeln, in dem mehr geheime Sympathie lag, als er in Worten ausdrückte – »nur um so viel von ihr zu sehen, läßt er sie nie aus seinen Augen.«
»Weil der Tag kommen wird, dem ich schon lang entgegensehen muß«, bemerkte der andere, sich tief über seine Arbeit niederbeugend, »wo nur halb soviel von meinem unglücklichen Kinde – das bloße Zittern eines Fingers oder das Wallen des Haares mir wie ein Auferstehen vom Tod erscheinen wird.«
Florence legte leise einiges Geld auf das alte Boot und entfernte sich.
Und jetzt begann sie sich Gedanken zu machen, ob er wohl dann erfahren würde, daß sie ihn geliebt hatte, wenn sie krank würde und hinschwände gleich ihrem lieben Bruder. Konnte sie dann seinem Herzen teurer werden – kam er vielleicht an ihr Bett, wenn sie schwach war und fast nicht mehr sehen konnte, um sie in seine Arme zu schlingen und die ganze Vergangenheit zunichte zu machen? Wenn sie sich in einer so veränderten Lage befand, vergab er ihr wohl, daß sie nicht imstande gewesen war, ihr kindliches Herz offen vor ihn hinzulegen – daß sie nicht vermocht hatte, ihm die Erregungen mitzuteilen, mit denen sie in jener Nacht sein Zimmer verlassen? O wie viel hätte sie ihm sagen mögen, wenn sie den Mut gehabt hätte, und wie viele Mühe gab sie sich nicht nachher, den Weg kennenzulernen, den sie in ihrer Jugend niemand lehrte!
Ja, wenn es mit ihr zum Sterben käme, dachte sie, so würde sich sicherlich sein Herz erweichen. Sie malte sich aus, wenn sie heiter und sterbensfähig daläge auf dem Bett, das so viele Erinnerungen an den lieben Paul umwebten, so würde er sich ergriffen fühlen und sagen: »Teure Florence, lebe für mich, und wir wollen einander lieben, wie wir es längst hätten tun sollen; ja wie glücklich hätte uns dies nicht seit so vielen Jahren machen können!« Sie dachte, wenn sie solche Worte von ihm hörte und ihre Arme um ihn geschlungen wären, so könnte sie ihm mit einem Lächeln antworten: »Es ist für alles zu spät, nur nicht für dieses. Ich hätte nie glücklicher sein können, mein teurer Vater!« Dies der Abschied von ihm mit einem Segenswunsche auf ihren Lippen.
Das goldene Wasser an der Wand, dessen sich Florence erinnerte, erschien ihr in dem Licht solcher Betrachtungen nur als ein Strom, der zu einem Ruhepunkt und in eine Gegend hineilte, wo die lieben Heimgegangenen Hand in Hand ihrer warteten. Und wenn sie auf den dunklen Fluß niederschaute, der zu ihren Füßen Wellen schlug, entsann sie sich mit heiliger Scheu, aber nicht mit Schrecken jenes wilden Wassers, von dem ihr Bruder so oft gesagt hatte, daß es ihn mit fortreiße.
Der Vater und seine kranke Tochter waren noch frisch in Florences Gedächtnis, überhaupt jene Begegnung kaum eine Woche alt, als Sir Barnet und seine Gattin eines Nachmittags ihr den Vorschlag machten, sie solle sich ihnen zu einem Spaziergang ins Freie anschließen. Da Florence bereitwillig zustimmte, so brachte Lady Skettles als eine Sache, die sich von selbst verstand, den jungen Barnet mit herbei; denn nichts bereitete der guten Dame ein größeres Entzücken, als wenn sie ihren jungen Sohn Arm in Arm mit Florence sehen konnte.
Die Wahrheit zu sagen, schien der junge Barnet die Sache in einem ganz andern Licht zu sehen, denn er ließ bei solchen Gelegenheiten oft den bestimmten Ausdruck fallen: »Immer mit dem Mädchen«. Da es jedoch nicht leicht war, Florences sanftes Gemüt zu erregen, so fügte sich der junge Gentleman in der Regel schon nach einigen Minuten gern in sein Schicksal. Sie schlenderten freundschaftlich weiter, während Lady Skettles und Sir Barnet in einem Zustand großer Selbstgefälligkeit und innerer Freude nachfolgten.
In derselben Reihenfolge machten sie auch an jenem Nachmittag ihren Spaziergang, und es war Florence fast gelungen, Skettles junior mit seinem augenblicklichen Schicksal zu versöhnen, als ein Gentleman an ihnen vorüberritt. Dieser sah sie aufmerksam an, packte sein Tier fester beim Zügel, ließ es eine Wendung machen und kam, den Hut in der Hand, wieder zurückgeritten.
Der Gentleman hatte hauptsächlich Florence ins Auge gefaßt, und als die kleine Gesellschaft bei seinem Umkehren haltmachte, verbeugte er sich gegen die junge Dame, noch ehe er Sir Barnet und dessen Gattin begrüßte, Florence konnte sich nicht erinnern, ihn je gesehen zu haben, sondern fuhr unwillkürlich zurück, als er in ihre Nähe kam.
»Mein Pferd ist vollkommen ruhig, darf ich Euch versichern«, sagte der Gentleman.
Es war nicht dieses, sondern etwas an dem Gentleman selbst – Florence konnte sich selbst nicht Auskunft darüber geben –, was sie zum Zurückweichen bewog, als ob ihr etwas Unangenehmes begegnet sei.
»Ich habe, wenn ich nicht irre, die Ehre, Miß Dombey anzureden?« sagte der Gentleman mit einem höchst gewinnenden Lächeln. Als Florence den Kopf neigte, fuhr er fort: »Mein Name ist Carker. Ich kann kaum hoffen, von Miß Dombey anders als dem Namen nach gekannt zu sein. Carker!«
Florence fühlte ungeachtet des heißen Tages eine eigentümliche Anwandlung von Schauder, stellte aber den Reiter ihren Gastfreunden vor, von denen er sehr höflich aufgenommen wurde.
»Ich bitte tausendmal um Verzeihung«, sagte Mr. Carker; »aber ich habe im Sinne, morgen Mr. Dombey in Leamington zu besuchen, und wenn Miß Dombey mir einen Auftrag mitzugeben hat, so brauche ich kaum zu sagen, wie überglücklich ich mich schätzen werde, ihn zu besorgen.«
Da Sir Barnet augenblicklich wußte, Florence wünsche ihrem Vater einen Brief zu schreiben, so machte er den Vorschlag, nach Hause zurückzukehren, und ersuchte zugleich Mr. Carker, ohne Umstände ein Diner bei ihm einzunehmen. Mr. Carker war unglücklicherweise schon zu einer Mahlzeit eingeladen; aber wenn Miß Dombey zu schreiben wünschte, so konnte ihm nichts ein größeres Vergnügen bereiten, als sie nach dem Hause zu begleiten und, solange es ihr beliebte, als ihr dienstwilliger Sklave zu harren. Während er das mit seinem breitesten Lächeln sprach, beugte er sich ganz zu ihr nieder und tätschelte zugleich den Hals seines Pferdes. Florence begegnete seinen Augen und sah weit mehr, als sie es hörte, ihn die Worte sprechen: »Von dem Schiff sind keine Nachrichten eingelaufen.«
Verwirrt, erschreckt und vor ihm zurückweichend – ja nicht einmal gewiß, ob er wirklich diese Worte gesagt hatte, weil es ihr vorkam, er habe sie in irgendeiner außerordentlichen Weise durch sein Lächeln, nicht aber in Lauten kundgegeben, entgegnete Florence mit leisem Ton, sie sei ihm sehr verbunden, wolle aber nicht schreiben, da sie nichts zu melden wisse.
»Nichts zu melden, Miß Dombey?« fragte der Mann, fast die Zähne nicht öffnend.
»Nein«, sagte Florence; »nichts als – als meine liebevollen Grüße – wenn Ihr so gut sein wollt.«
In ihrer Verwirrung erhob sie mit einer flehentlichen, ausdrucksvollen Miene ihre Augen zu seinem Gesicht. Es war auch für ihn deutlich darin zu lesen, was er zuvor schon wußte, daß jeder Verkehr zwischen ihr und ihrem Vater etwas Ungewöhnliches sei, und daß sie ihn deshalb um Schonung bitte. Mr. Carker lächelte, verbeugte sich tief, nahm Sir Barnets Auftrag, Mr. Dombey seine und seiner Gattin beste Grüße auszurichten, entgegen, verabschiedete sich und ritt weiter. Der Mann machte auf das Ehepaar einen sehr günstigen Eindruck. Florence aber wurde bei seinem Weiterreiten von einem so heftigen Schauder erfaßt, daß Sir Barnet, an eine alte volkstümliche Redeweise erinnernd, sagte, sie sähe aus, als ob jemand über ihr Grab gegangen sei. An einer Ecke wandte sich Mr. Carker noch einen Augenblick um, schaute zurück, machte eine Verbeugung und verschwand, als sei er willens, in dieser Absicht geraden Wegs nach dem Kirchhof zu reiten.
Fünfundzwanzigstes Kapitel. SELTSAME NEUIGKEITEN VON ONKEL SOL.
Obschon Kapitän Cuttle kein Langschläfer war, so kroch er am Morgen nach dem Tag, als er den schreibenden Sol Gills durch das Ladenfenster beobachtet hatte, während Rob der Schleifer sein Bett unter dem Tisch, auf dem der Midshipman stand, anfertigte – nicht so früh aus den Federn, und es hatte bereits sechs Uhr geschlagen, als er sich auf den Ellenbogen aufrichtete und in seinem kleinen Stübchen umherschaute. Die Augen des Kapitäns mußten einen schweren Dienst haben, wenn er sie beim Erwachen gewöhnlich so weit öffnete, wie an diesem Morgen, und erhielten für ihre Aufmerksamkeit nur einen rauhen Lohn, falls er sie in der Regel nur halb so zart zu reiben pflegte. Der Anlaß war übrigens auch kein gewöhnlicher; denn sicherlich hatte Rob der Schleifer nie zuvor unter der Schwelle von Kapitän Cuttles Schlafzimmer gestanden. Aber jetzt zeigte er sich daselbst keuchend und mit einem roten, schlaftrunkenen Gesicht, als komme er eben von seinem Bette her.
»Holla!« schrie der Kapitän. »Was gibt's?«
Ehe Rob ein Wort der Erwiderung stammeln konnte, war Kapitän Cuttle hurtig aus seinem Bett gefahren und hatte den Mund des Knaben mit seiner Hand bedeckt.
»Halt, mein Junge«, sagte der Kapitän. »Für jetzt noch keine Silbe!«
Nachdem er ihm diese Einschärfung gegeben, wobei er ihn mit großer Bestürzung betrachtete, drehte er ihn sacht an der Schulter ins nächste Zimmer hinaus. Dann verschwand er für einige Augenblicke und erschien bald darauf in dem blauen Anzuge wieder. Indem er die Hand erhob, als ob sein Verbot noch nicht aufgelöst sei, ging er auf den Schrank zu, goß sich selbst ein Gläschen ein und füllte ein zweites für den Boten. Hierauf stellte sich der Kapitän in eine Ecke gegen die Wand, als wolle er der Möglichkeit vorbeugen, daß die bevorstehende Mitteilung ihn rücklings zu Boden werfe, schluckte, ohne ein Äuge von dem Boten zu verwenden, seinen Branntwein hinunter und forderte dann mit einem Gesicht, so blaß als es bei dem seinigen nur möglich war, Rob auf, »loszuschieben«.
»Meint Ihr damit, daß ich sprechen solle, Kapitän?« fragte Rob, dem die frühere Warnung noch schwer auf dem Gemüte lag.
»Ja«, versetzte der Kapitän.
»Wohlan, Sir«, entgegnete Rob, »ich habe nicht eben viel zu sagen. Aber schaut her!«
Rob brachte einen Schlüsselbund zum Vorschein.
Der Kapitän betrachtete ihn von seiner Ecke aus und musterte dabei fortwährend den Boten.
»Und dieses hier!« fuhr Rob fort.
Der Knabe zog ein versiegeltes Paket hervor, das Kapitän Cuttle mit ebenso großen Augen anstaunte, wie er es zuvor bei den Schlüsseln gehalten hatte.
»Als ich heute morgen erwachte, Kapitän«, sagte Rob – »es mochte ungefähr Viertel auf sechs sein, fand ich das auf meiner Bettdecke. Die Ladentür war aufgeriegelt und offen, Mr. Gills aber fort!«
»Fort?« rief der Kapitän.
»Keine Spur mehr von ihm da, Sir«, versetzte Rob.
Die Stimme des Kapitäns war so furchtbar, und er kam in einer Weise aus seiner Ecke hervor, daß sich Rob vor ihm in eine andere flüchtete; dabei hielt letzterer den Schlüsselbund und das Paket vor sich hin, als wolle er den Kapitän hindern, daß er ihn nicht niederrenne.
»›Für Kapitän Cuttle‹, Sir«, rief Rob, »steht auf den Schlüsseln und auf dem Paket. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Cuttle, ich weiß weiter nichts von der Sache, und ich will sterben, wenn es nicht wahr ist! Das ist wohl ein Platz für einen jungen Burschen, der eben eine Stelle erhalten hat«, rief der unglückliche Schleifer, mit dem Rockärmel sein Gesicht bearbeitend. »Der Meister läuft davon, und ich soll am Ende die Schuld tragen!«
Diese Klagen bezogen sich auf Kapitän Cuttles Blick, in dem sich ein Ausdruck, gemischt aus Argwohn, Drohung und Anklage, kundgab. Nachdem der Kapitän das hingehaltene Paket in Empfang genommen hatte, öffnete er es und las, wie folgt:
»›Mein lieber Ned Cuttle. In der Anlage befindet sich mein letzter Wille und Testament!‹«
Der Kapitän wandte mit einer bedenklichen Miene das Blatt um. »Wo ist das Testament?« rief er, unverweilt auf den armen Schleifer losgehend. »Was hast du damit angefangen, Junge?«
»Ich hab' es nie gesehen,« winselte Rob. »Habt doch keinen solchen Argwohn gegen einen unschuldigen Jungen, Kapitän. Ich habe das Testament nie angerührt.«
Kapitän Cuttle schüttelte den Kopf, als wolle er damit andeuten, daß irgend jemand dafür verantwortlich gemacht werden müsse, und fuhr mit ernster Miene fort:
»›Ihr dürft es vor Jahresfrist nicht öffnen oder wenigstens nicht eher, bis Ihr bestimmte Nachrichten erhalten habt von meinem lieben Walter, der, wie ich überzeugt bin, auch Euch teuer ist, Ned.‹« Der Kapitän hielt inne und schüttelte in einiger Erregung den Kopf. Um jedoch bei diesem seinem Prüfungsamt seiner Würde nichts zu vergeben, schaute er unmittelbar darauf mit großer Strenge nach dem Schleifer hin. »›Wenn Ihr nichts mehr von mir hören oder sehen solltet, Ned, so bleibt liebevoll eingedenk eines alten Freundes, der auch Euch bis zum letzten Augenblick in der Erinnerung tragen wird. Bis mindestens die vorerwähnte Periode abgelaufen ist, haltet für Walter an dem alten Platz eine Heimat bereit. Es sind keine Schulden vorhanden; denn das Darlehen von Dombey ist abbezahlt, und ich sende Euch hiermit alle meine Schlüssel. Verhaltet Euch ruhig und stellt keine Nachforschungen nach mir an; denn es ist vergeblich. Weiter nichts, mein lieber Ned, von Eurem treuen Freunde Solomon Gills.‹« Der Kapitän atmete tief auf und las dann folgende unten hingeschriebenen Worte: »›Wie ich Euch sage, ist der Knabe Rob von Dombeys Hause wohl empfohlen. Wenn alles sonst zum Verkauf kommen sollte, Ned, so tragt Sorge für den kleinen Midshipman.‹«
Um der Nachwelt einen Begriff von der Art zu geben, wie der Kapitän, nachdem er den Brief wohl zwanzigmal überlesen hatte, in seinem Stuhle Platz nahm und in seinem Innern über den Gegenstand ein Kriegsgericht hielt, wäre wohl der vereinte Genius aller großen Männer erforderlich, die, ohne Rücksicht auf die ungünstigen Verhältnisse der Mitwelt, den Entschluß gefaßt hätten, auf die Nachwelt zu kommen, ohne daß es ihnen übrigens je gelänge. Anfangs war der Kapitän viel zu sehr verwirrt und beunruhigt, um an etwas anderes als den Brief zu denken, und selbst als seine Gedanken die verschiedenen begleitenden Tatsachen zu überblicken begannen, hätten sie sich vielleicht um des Lichtes willen, das sie brachten, ebensogut mit dem früheren Gegenstand beschäftigen können. In dieser Gemütsverfassung fand Kapitän Cuttle, der außer dem Schleifer niemanden vor seinem Gerichtshof hatte, eine große Erleichterung in dem allgemeinen Bescheid, daß letzterer ein verdächtiger Gegenstand sei, und er drückte das so deutlich in seinem Gesichte aus, daß Rob Einwände dagegen erhob.
»O, laßt es doch, Kapitän!« rief der Schleifer. »Ich begreife gar nicht, wie Ihr das könnt! Was habe ich denn getan, daß Ihr mich so anseht?«
»Mein Junge«, versetzte Kapitän Cuttle, »schrei nicht vor dem Streich, und was du auch tun magst, gib dir keine Blöße.«
»Ich tue dies nicht, und habe auch nichts getan, Kapitän«, antwortete Rob.
»So halt dein Schifflein frei«, sagte der Kapitän mit Nachdruck, »und laß es ruhig vor Anker liegen.«
Mit einem tiefen Gefühl der ihm obliegenden Verantwortlichkeit und des dringenden Bedürfnisses, die geheimnisvolle Angelegenheit durchaus zu ergründen, wie es einem Mann von seiner Beziehung zu allen Parteien zustand, beschloß Kapitän Cuttle, nach Sols Wohnung zu gehen, das Haus zu untersuchen und den Schleifer mitzunehmen. In Anbetracht der Tatsache, daß der junge Mensch vorderhand als Arrestant anzusehen war, blieb der Kapitän einigermaßen zweifelhaft, ob es nicht passend sein dürfte, ihm Handschellen anzulegen, seine Fußknöchel zusammenzubinden oder ein Gewicht an seine Beine zu hängen. Weil er indessen über die Gesetzlichkeit solcher Formalitäten nicht ganz mit sich ins klare kommen konnte, so beschränkte er sich darauf, ihn während des ganzen Wegs an der Schulter festzuhalten und im Falle einer Einwendung zu Boden zu schlagen, Rob ließ sich dies ruhig gefallen und erreichte deshalb das Haus des Instrumentenmachers, ohne daß weitere Zwangsmaßregeln gegen ihn nötig wurden. Die Läden waren noch nicht herabgenommen. Deshalb trug Kapitän Cuttle zuerst Sorge dafür, daß der Laden geöffnet wurde; und sobald das Tageslicht freien Zutritt gewonnen, schickte er sich, wie er sagte, zu weiterer Nachforschung an.
Sein erstes Geschäft bestand darin, daß er im Laden sich einen Stuhl verschaffte, um dem feierlichen Tribunal, das in seinem Innern Sitzung hielt, präsidieren zu können. Dann forderte er Rob auf, sich in sein Bett unter dem Ladentisch zu legen und genau anzudeuten, wie er bei seinem Erwachen den Schlüsselbund und das Paket entdeckt habe. Hierauf mußte der Junge zeigen, wie er die Tür gefunden, als er aufgestanden, um sie zu probieren, und wie er nach Brig-Place aufgebrochen sei. Dabei verhinderte er vorsichtigerweise den Knaben, das Manöver weiter als bis zur Schwelle auszuführen. So ging es denn bis zum Ende des Kapitels. Nachdem diese Prozeduren mehrere Male vorgenommen waren, schüttelte der Kapitän den Kopf und schien zu denken, daß die Sache ein gar übles Aussehen habe.
Zunächst stellte der Kapitän in der unbestimmten Vorstellung, er könnte möglicherweise eine Leiche finden, eine genaue Durchsuchung des ganzen Hauses an, indem er mit einer angezündeten Kerze in den Kellern herumtappte, seinen Haken hinter die Türen steckte, den Kopf oft in ungestümen Zusammenstoß mit Balken brachte und sich selbst mit Spinnweben bedeckte. Als sie nach dem Schlafzimmer des alten Mannes hinaufstiegen, fanden sie, daß er die Nacht zuvor nicht in seinem Bett gelegen, sondern sich nur leicht darauf hingeworfen hatte, wie aus dem noch vorhandenen Eindruck ersichtlich war.
»Und ich glaube, Kapitän«, sagte Rob sich im Zimmer umsehend, »daß Mr. Gills, als er die letzten paar Tage so oft ein- und ausging, jedesmal kleine Gegenstände mitgenommen hat, um keine Aufmerksamkeit zu wecken.«
»So?« versetzte der Kapitän geheimnisvoll. »Warum denn das, mein Junge?«
»Ei«, entgegnete Rob umherschauend, »ich sehe nichts von seinem Rasierzeug, Auch seine Bürsten fehlen, Kapitän. Es sind keine Hemden da. Und auch seine Schuhe sind fort.«
Während jeder dieser Gegenstände erwähnt wurde, schenkte Kapitän Cuttle dem entsprechenden erwähnten Gegenstand bei dem Schleifer eine besondere Aufmerksamkeit, ob nicht etwa dieser kürzlich davon Gebrauch gemacht habe oder noch im Besitz derselben sei. Aber Rob hatte keinesfalls schon einen Anlaß, sich zu rasieren, war augenscheinlich auch nicht ausgebürstet und trug – so viel war über jede Möglichkeit eines Irrtums erhaben – noch dieselben Kleider, in denen er seit langer Zeit sich blicken zu lassen pflegte.
»Und was sagt Ihr, ohne Euch selbst eine Blöße zu geben«, fuhr der Kapitän fort, »über die Zeit seines Abrückens, he?«
»Nun, ich denke, Kapitän«, versetzte Rob, »daß er bald darauf fortgegangen sein muß, nachdem ich zu schnarchen anfing.«
»Um welche Stunde kann das gewesen sein?« fragte der Kapitän, dem besonders viel daran gelegen zu sein schien, genau die Zeit zu ermitteln.
»Wie kann ich das sagen, Kapitän?« antwortete Rob. »Ich weiß nur, daß im Anfang mein Schlaf sehr fest ist und daß er gegen morgen hin leicht wird. Wäre nun Mr. Gills sogar auf den Zehenspitzen gegen Tagesanbruch durch den Laden gekommen, so bin ich ziemlich überzeugt, daß ich es jedenfalls gehört haben würde, wenn er die Tür schloß.«
Nach reifer Erwägung dieses Zeugnisses begann Kapitän Cuttle zu der Überlegung zu gelangen, daß der Instrumentenmacher wohl aus eigenem Antrieb verschwunden sein müsse, und in dieser logischen Folgerung unterstützte ihn der an ihn gerichtete Brief, der, da er unzweifelhaft von dem alten Mann selbst geschrieben war, ohne eine sehr gezwungene Annahme zu dem Schluß leitete, der Schreiber habe gehen wollen und sei demgemäß gegangen. Die nächsten Betrachtungen des Kapitäns beschäftigten sich nun mit dem Wohin und Warum, und da ihm die Lösung der ersten Frage eigentümliche Schwierigkeiten bot, so beschloß er, seine Gedanken der zweiten zuzuwenden.
Er erinnerte sich des auffallenden Benehmens, mit dem sich der alte Mann von ihm verabschiedet hatte. Damals war es ihm unerklärlich vorgekommen, aber jetzt schien es ihm ganz begreiflich. Der Kapitän kam dadurch auf den schrecklichen Argwohn, die Angst und Sorge um Walter hätte den alten Sol so weit getrieben, daß er einen Selbstmord verübte. Wie jener so oft erklärt hatte, war er nicht mehr imstande, das Leid und die Trübsal des täglichen Lebens zu ertragen, und da in letzter Zeit noch die Ungewißheit und eine stets sich verzögernde Hoffnung dazu gekommen waren, so schien die Annahme nicht zu gezwungen, sondern leider nur zu wahrscheinlich zu sein.
Der Mann war schuldenfrei und hatte weder etwas für seine persönliche Freiheit noch für sein Eigentum zu fürchten; was also sonst, wenn nicht ein Zustand von Wahnsinn, konnte ihn veranlaßt haben, sich allein und heimlich zu entfernen? Daß er einige Kleidungssachen mitgenommen hatte, wenn anders dies wirklich der Fall war – denn sie hatten nicht einmal hierüber Sicherheit – mochte nach des Kapitäns Vermutung darin begründet sein, daß er Nachforschungen verhindern, die Aufmerksamkeit von seinem wahrscheinlichen Schicksal ablenken oder das Gemüt des Mannes erleichtern wollte, der eben jetzt alle diese Möglichkeiten erwog. Dies war in einfacher und gedrungener Sprache das wesentliche Endergebnis von Kapitän Cuttles Betrachtungen, obschon er lange brauchte, um so weit zu kommen, und die dazu führenden Erörterungen nach dem Beispiel mancher öffentlicheren Verhandlungen sehr weitschweifig und ungeordnet waren.
Im höchsten Grade kleinmütig und niedergeschlagen, hielt es Kapitän Cuttle jetzt für billig, Rob aus seiner Haft zu entlassen und ihn in Freiheit zu setzen, zugleich aber fortwährend eine Art ehrenhafter Aufsicht über ihn zu führen. Er ließ sich von dem Makler Brogley einen Diener abtreten, der während ihrer Abwesenheit den Laden hüten sollte, worauf er in Begleitung Robs ausging, um einen traurigen Streifzug nach den sterblichen Resten des Solomon Gills anzutreten.
In der ganzen Hauptstadt gab es kein Stationshaus, keinen Kirchhof und kein Arbeitshaus, das einer Inspektion des harten Glanzhutes entgangen wäre. An den Kais, auf den Schiffszimmerplätzen, an den Ufern, flußauf und flußab, da, dort und überall glänzte er unter den dichtesten Menschenmassen, wie der Helm eines Helden in einer epischen Schlacht. Eine ganze Woche lang las der Kapitän die Zeitungen und sonstige Ankündigungen über gefundene und vermißte Leute, und keine Stunde des Tages war ihm zu viel, wenn es galt, von über Bord gefallenen armen Schiffsjungen und langen Fremden mit schwarzen Bärten, die sich vergiftet hatten, Einsicht zu nehmen – »um sich zu überzeugen«, sagte Kapitän Cuttle, »daß es nicht Solomon Gills sei«. Es war in der Tat eine saure Arbeit für ihn, die immer vergeblich sein sollte, obwohl einiger Trost für den guten Kapitän darin lag.
Endlich gab er diese Versuche als hoffnungslos auf und schickte sich an, zu überlegen, was weiterhin zu tun sei. Nachdem er den Brief seines armen Freundes noch einige Male aufs neue durchgelesen hatte, drängte sich ihm die Überzeugung auf, die Erhaltung »einer Heimat an dem alten Platz für Walter« sei die erste Pflicht, die ihm obliege. Er beschloß daher, die Wohnung von Solomon Gills selbst zu beziehen, sich mit dem Instrumentenhandel abzugeben und zu sehen, was dabei herauskomme.
Da jedoch dieser Schritt die Notwendigkeit in sich schloß, das Quartier bei Mrs. Mac Stinger aufzugeben, und der Kapitän wohl wußte, diese entschlossene Frauensperson werde nichts von einem Ausziehen hören wollen, so setzte er sich den verzweifelten Plan in den Kopf, ihr zu entlaufen.
»Nun, schau einmal her, Junge«, sagte der Kapitän zu Rob, nachdem dieser denkwürdige Entwurf zur Reife gediehen war, »ich werde mich auf dieser Reede hier nicht blicken lassen bis morgen nacht – vielleicht erst nach Mitternacht. Du hältst aber Wache, bis du mich klopfen hörst, und sobald das geschieht, kommst du, um die Tür zu öffnen.«
»Sehr gut, Kapitän«, versetzte Rob.
»Du wirst hier in den Büchern fortlaufen«, fügte der Kapitän herablassend bei, »und wer weiß, welche Beförderung dir bevorsteht, wenn wir beide miteinander kräftig weiterschieben. Sobald du mich aber morgen nacht klopfen hörst – gleichviel, um welche Zeit es sei – so wirst du dich mit der Tür eilen.«
»Daran soll's nicht fehlen, Kapitän«, entgegnete Rob.
»Denn du begreifst wohl«, fuhr der Kapitän fort, um ihm den Auftrag recht nachdrücklich ans Herz zu legen, »man kann nicht wissen, ob es nicht eine Jagd gibt, und ich könnte während des Wartens ergriffen werden, wenn du nicht hurtig mit der Tür bereit bist.«
Rob versicherte seinem nunmehrigen Gebieter abermals, daß er sich auf ihn verlassen dürfe, und nachdem der Kapitän diese kluge Maßregel getroffen hatte, kehrte er zum letztenmal nach Mrs. Mac Stingers Wohnung zurück.
Das Bewußtsein, daß es wirklich zum letzten Male war, und der fürchterliche Entschluß, der sich unter der blauen Weste barg, flößte dem Kapitän eine solche Todesangst vor Mrs. Mac Stinger ein, daß zu jeder Zeit des Tages schon der Fußtritt dieser Dame auf der Treppe ausreichte, ihn am ganzen Leibe zittern zu machen. Zufälligerweise befand sich auch Mrs. Mac Stinger in einer ganz bezaubernden Stimmung; sie war so mild und gefällig wie ein Lämmchen, und Kapitän Cuttle erlitt eine herbe Gewissensqual, als sie mit der Frage heraufkam, ob sie ihm nicht ein Diner zurichten solle.
»Einen appetitlichen kleinen Nierenpudding, Kapt'n Cuttle«, sagte die Hausfrau, »oder ein Schafsherz. Kümmert Euch nicht darum, ob es mir auch Mühe macht.«
»Nein, ich danke, Ma'am«, versetzte der Kapitän.
»Oder ein gebratenes Huhn mit etwas Füllung und einer Eiersauce«, sagte Mrs. Mac Stinger. »Na, Kapt'n Cuttle, tut Euch einmal ein bißchen was zugute.«
»Nein, ich danke Euch, Ma'am«, entgegnete der Kapitän sehr demütig.
»Wahrhaftig, Ihr seid dann nicht ganz wohl und braucht etwas Stärkendes«, sagte Mrs. Mac Stinger. »Wollt Ihr's nicht einmal mit einer Flasche Wein versuchen?«
»Na schön, Ma'am«, entgegnete der Kapitän, »wenn Ihr so gut sein wollt, ein Gläschen oder zwei mit zu genießen, so denke ich, daß ich dies versuchen könnte. Wollt Ihr mir den Gefallen erweisen, Ma'am«, fügte er in tiefer Gewissenszerknirschung hinzu, »eine Vierteljahrsmiete im voraus in Empfang zu nehmen?«
»Und warum das, Kapitän Cuttle?« erwiderte Mrs. Mac Stinger – in scharfem Ton, wie es ihrem Gefährten vorkam.
Der Kapitän war in den Tod erschrocken.
»Wenn Ihr es wollt, Ma'am«, sagte er mit großer Unterwürfigkeit, »so würdet Ihr mir einen großen Gefallen tun. Ich kann mein Geld nicht gut aufheben. Es ist, als ob es Flügel hätte. Es wäre mir recht lieb, wenn Ihr die Vorausbezahlung annähmet.«
»Na, Kapt'n Cuttle«, versetzte die arglose Mac Stinger, indem sie ihre Hände rieb. »Ihr könnt das halten, wie Ihr wollt. Mit meiner Familie steht es mir nicht zu, es zu verweigern, ebensowenig als ich es fordern möchte.«
»Und mögt Ihr wohl so gut sein, Ma'am«, fuhr der Kapitän fort, indem er die Zinnbüchse, in der er sein Geld aufbewahrte, von dem Schranksims herunterlangte, »jedem von der kleinen Familie ein Achtzehnpencestück zu geben? Oder wenn sich's einrichten ließe, Ma'am, so könntet Ihr die Kinder miteinander heraufkommen lassen. Es würde mich freuen, sie zu sehen,«
Die unschuldigen Mac Stingers waren ebenso viele Dolche für die Brust des Kapitäns, als sie in Haufen erschienen und mit der vertrauensvollen Anhänglichkeit, die er so wenig verdiente, an ihm herumzerrten. Das Auge von Alexander Mac Stinger, der sein Liebling gewesen, war ihm unerträglich, und die Stimme der Juliane Mac Stinger, dieses leibhaftigen Ebenbildes ihrer Mutter, machte ihn ganz und gar zur Memme.
Gleichwohl erhielt Kapitän Cuttle den Anschein ziemlich gut und ließ sich ein paar Stunden recht übel von den jungen Mac Stingers mitspielen, die in ihrer kindlichen Fröhlichkeit auch dem Glanzhut einigen Schaden zufügten, indem ihrer zwei zumal wie in einem Nest darin saßen und mit ihren Schuhen auf der Innenseite der Krone trommelten. Endlich entließ sie der Kapitän mit schwerem Herzen und verabschiedete sich von diesen Cherubs mit dem herben Weh eines Mannes, der zur Hinrichtung hinausgeführt wird.
In der Stille der Nacht packte der Kapitän sein schweres Eigentum in eine Truhe, die er in der Absicht verschloß, sie aller Wahrscheinlichkeit nach für immer hier zu lassen, wenn er nicht vielleicht eines Tages einen Mann fand, der hinreichend kühn und verzweifelt war, sie zu holen. Aus den leichten Habseligkeiten machte er ein Bündel, worauf er sein Silberzeug in die Tasche steckte und sich so zur Flucht anschickte. Um die Mitternachtsstunde, als Brig-Place in tiefem Schlummer und auch Mrs. Mac Stinger mit ihrem unschuldigen Nachwuchs in süßem Vergessen lag, schlich sich der schuldige Kapitän in der Dunkelheit die Treppe hinunter, öffnete die Tür, drückte sie leise zu und zahlte Fersengeld.
Verfolgt von dem Bilde der Mrs. Mac Stinger, die aus dem Bette sprang und ohne Rücksicht auf das mangelhafte Kostüm ihm folgte, um ihn zurückzubringen, zugleich auch von dem Bewußtsein seines ungeheuren Verbrechens gequält, griff Kapitän Cuttle nach Kräften aus und ließ zwischen Brig-Place und der Tür des Instrumentenmachers kein Gras unter seinen Füßen wachsen. Auf sein Klopfen wurde sogleich geöffnet; denn Rob hatte treue Wache gehalten, Nachdem die Tür wieder abgeschlossen und zugeriegelt war, fühlte sich Kapitän Cuttle einigermaßen in Sicherheit.
»Puh!« rief der Kapitän sich umsehend. »Das hat Atem gekostet.«
»Hat es etwas gegeben, Kapitän?« rief Rob, die Augen weit aufsperrend.
»Nein, nein!« versetzte Kapitän Cuttle, dem alle Farbe aus dem Gesicht wich, als er auf einen vorübergehenden Fußtritt in der Straße draußen lauschte, »aber merke dir, mein Junge: wenn, was immer für eine Dame – mit Ausnahme der beiden, die du letzthin hier sahst – hierher kommt und nach Kapitän Cuttle fragt, so melde ihr nur, daß man hier nichts von einer Person dieses Namens wisse und überhaupt nie von ihm gehört habe. Willst du es nicht vergessen?«
»Nein, Kapitän«, versetzte Rob.
»Du kannst meinetwegen auch sagen«, fuhr der Kapitän zögernd fort, »du habest in der Zeitung gelesen, ein Kapitän dieses Namens sei nach Australien ausgewandert mit einem ganzen Schiff voll Leuten, die alle geschworen hätten, nie wieder zurückzukommen.«
Rob nickte zur Andeutung, daß er den Befehl verstanden habe: und nachdem Kapitän Cuttle ihm für den Fall, daß er Ordre pariere, versprochen hatte, einen Mann aus ihm zu machen, entließ er ihn gähnend nach seinem Bett unter dem Ladentisch, um sich selbst nach dem Dachstübchen des alten Solomon Gills hinaufzubegeben.
Es läßt sich nicht beschreiben, was der Kapitän am nächsten Tage litt, so oft ein Damenhut vorbeiging, oder wie oft er au« dem Laden hinausstürzte, um eingebildeten Mac Stingers zu entwischen und in dem Dachstübchen Sicherheit zu suchen. Um übrigens die Erschöpfung zu vermeiden, die derartige Mittel der Selbsterhaltung mit sich führten, versah er die gläserne Verbindungstür zwischen dem Laden und dem Wohnstübchen von innen mit einem Vorhang, suchte den dazu gehörigen Schlüssel aus dem ihm überantworteten Bunde und bohrte ein kleines Spionierloch in die Wand. Der Vorteil dieser Verschalung war augenfällig! denn so oft sich ein Weiberhut blicken ließ, huschte der Kapitän augenblicklich in seine Garnison, schloß sich ein und stellte an dem Feind geheime Beobachtungen an. War es nur ein falscher Lärm gewesen, so kam er wieder heraus: aber die Weiberhüte waren in der Straße so sehr zahlreich und der falsche Lärm von ihrem Erscheinen so unzertrennlich, daß er den ganzen Tag fast ohne Unterlaß aus- und einhuschte.
Trotz dieses erschöpfenden Dienstes fand übrigens der Kapitän Zeit, die Ladenvorräte in Augenschein zu nehmen, und er hegte von ihnen die für Rob sehr lästige Vorstellung, daß sie nicht zu viel poliert werden könnten. Auch versah er einige anziehend aussehende Gegenstände aufs Geratewohl mit Zetteln, setzte die Preise auf zehn Schillinge bis zu fünfzig Pfund und legte sie zum großen Erstaunen des Publikums im Fenster aus.
Nachdem Kapitän Cuttle diese Verbesserungen angebracht hatte, begann er sich im Kreise der Instrumente als ein Mann zu fühlen, der von allen diesen Dingen eine tiefe Wissenschaft besitzt. Auch schaute er nachts, wenn er vor Schlafengehen in dem kleinen Hinterstübchen seine Pfeife rauchte, durch da« Oberlichtfenster nach den Sternen auf, als habe er dort eine Art Kapital angelegt. Als ein Kaufmann in der City begann er ein Interesse an dem Lord-Mayor, den Sheriffs und den Handelsgesellschaften zu nehmen: und außerdem hielt er sich verpflichtet, jeden Tag die Aufzeichnungen der Fonds zu lesen, obschon ihn sein Schiffahrtsgrundsatz zu belehren imstande war, was die Zahlen bedeuteten, und er die Bruchteile recht wohl hätte entbehren können. Unmittelbar nach Besitznahme de« Midshipman wollte der Kapitän Florence seine Aufwartung machen, um ihr die befremdliche Kunde von Onkel Sol zu überbringen: aber er traf sie nicht zu Hause. So setzte er sich nun in seiner veränderten Lebensstellung fest, ohne eine andere Gesellschaft zu haben als Rob, den Schleifer, und da er, wie es hin und wieder den Menschen zu gehen pflegt, wenn große Wechsel über sie kommen, bald auch die Zeitrechnung verlor, so dachte er oft an Walter, an Solomon Gills und sogar an Mrs. Mac Stinger wie an Dinge, die gewesen sind.
Sechsundzwanzigstes Kapitel. SCHATTEN DER VERGANGENHEIT UND DER ZUKUNFT.
»Euer Gehorsamster, Sir«, sagte der Major. »Gott verdamm mich, Sir, ein Freund meines Freundes Dombey ist auch mein Freund, und ich freue mich, Euch kennenzulernen.«
»Ich bin Major Bugstock sehr Verpflichtet für seine Gesellschaft und seine Unterhaltung, Carker«, fügte Mr. Dombey erklärend hinzu. »Major Bagslock hat mir einen großen Dienst geleistet, Carker.«
Mr. Carker, der Geschäftsführer, der den Hut noch in der Hand hatte, war eben zu Leamington angelangt und zeigte dem Major, dem er vorgestellt wurde, seine ganze Doppelreihe von Zähnen. Er hoffe sich die Freiheit nehmen zu dürfen, ihm von Herzen zu danken, daß es ihm gelungen sei, in Mr. Dombeys Aussehen und Stimmung eine so wesentliche Verbesserung zu erwirken.
»Bei Gott, Sir«, entgegnete der Major, »ich verdiene hier keinen Dank; denn die Einwirkung ist gegenseitig. Ein großer Mann wie unser Freund Dombey, Sir«, fuhr der Major fort, indem er seine Stimme dämpfte, aber doch nicht so weit, daß seine Worte nicht auch dem fraglichen Gentleman verständlich wurden, »muß notwendig einen erhebenden Einfluß auf seine Freunde ausüben. Dombey kräftigt und belebt einen, Sir, durch sein moralisches Wesen.«
Mr. Carker schnappte nach dem Ausdruck. Durch sein moralische Wesen. Ganz richtig. Die nämlichen Worte, die er selbst andeuten wollte.
»Aber wenn mein Freund Dombey von dem Major Bagstock mit Euch spricht, Sir«, fügte der Major bei, »so muß ich mir erlauben, ihn und Euch auf den richtigen Standpunkt zu stellen. Er will damit einfach Joe sagen, Sir – Joey B. – Josh Bagstock – Joseph – den rauhen, zähen, alten J., Sir, Euch zu dienen.«
Mr. Carker verbeugte sich ungemein freundlich gegen den Major, und die Bewunderung über dessen rauhe, zähe Einfachheit glänzte aus jedem Zahn seines Kopfes.
»Und nun, Sir«, sagte der Major, »habt Ihr wohl einen wahren Teufelshaufen von Geschäftssachen mit Dombey zu besprechen.«
»Keineswegs, Major«, bemerkte Mr. Dombey.
»Dombey«, erwiderte der Major herausfordernd, »ich weiß das besser. Ein Mann von Eurer Bedeutsamkeit – der Koloß der Handelswelt – darf nicht gestört werden. Eure Augenblicke sind kostbar. Wir sehen uns wieder beim Diner. Bis dahin wird sich der alte Joseph rar machen. Punkt sieben wird gespeist, Mr. Carker.«
Nach diesen Worten entfernte sich der Major mit sehr aufgeblähtem Gesicht, steckte aber unmittelbar darauf den Kopf wieder zur Tür herein und sagte:
»Ich bitte um Verzeihung. Dombey, habt Ihr nichts dorthin aufzutragen?«
Mit einiger Verlegenheit und nicht ohne einen Blick auf den höflichen Bewahrer seines geschäftlichen Vertrauens machte Mr. Dombey dem Major seine Komplimente.
»Beim Himmel, Sir«, sagte der Major. »Ihr müßt es etwas wärmer machen als so, oder der alte Joe wird nicht sonderlich willkommen sein.«
»So meldet meine Verehrung, wenn Ihr wollt, Major«, entgegnete Mr. Dombey. »Gott verdamm mich, Sir«, erwiderte der Major, scherzhaft seine Schultern und seine breiten Backen schüttelnd, »macht es etwas wärmer als so.«
»So handelt nach Eurem Gutdünken, Major«, bemerkte Mr. Dombey.
»Unser Freund ist schlau, Sir, schlau, Sir, verteufelt schlau«, sagte der Major, um die Tür herum nach Mr. Carter hinlugend. »Ganz wie Bagstock.« Dann hielt er plötzlich in einem Kichern inne, pflanzte sich in seiner vollen Höhe auf und rief feierlich, während er sich auf die Brust schlug: »Dombey, ich beneide Eure Gefühle. Gott behüte Euch!«
Und er entfernte sich.
»Ihr müßt in dem Gentleman einen wahren Schatz gefunden haben«, sagte Carker, ihm mit seinen Zähnen folgend.
»In der Tat«, versetzte Mr. Dombey.
»Er hat ohne Zweifel Freunde hier«, fuhr Carker fort. »Aus seinen Worten muß ich schließen, daß Ihr in Gesellschaft geht. Ich kann Euch versichern«, fügte er mit einem schrecklichen Lächeln bei, »es freut mich ungemein, daß Ihr Gesellschaft besucht.«
Mr. Dombey erkannte diese Kundgebung der Teilnahme von seiten seines Nächsten im Kommando dadurch an, daß er an seiner Uhrkette drehte und leicht den Kopf nickte.
»Ihr seid für die Gesellschaft geschaffen«, sagte Carker. »Von allen Menschen, die ich kenne, seid Ihr von Natur und durch Eure Stellung am meisten darauf hingewiesen. Ich gebe Euch mein Wort, schon oft war ich erstaunt darüber, daß Ihr Euch so lange fern von ihr gehalten habt.«
»Ich hatte meine Gründe, Carker. Ich war allein, und sie hatte kein Interesse für mich. Aber Ihr seid selber im Besitz guter geselliger Eigenschaften, und ich kann mir daher wohl denken, daß Ihr Euch darüber wundertet.«
»O, ich!« erwiderte der andere mit schnellfertiger Selbstgeringschätzung, »Bei einem Mann, wie ich, ist es etwa« ganz anderes. Mit einem Mann, wie Ihr es seid, kann ich mich gar nicht vergleichen.«
Mr. Dombey steckte seine Hand ins Halstuch, versenkte das Kinn darin, hustete und blickte seinen treuen Freund und Diener einige Augenblicke schweigend an.
»Ich werde das Vergnügen haben, Carker«, sagte endlich Mr. Dombey nach einer Anstrengung, als habe er etwas hinuntergeschluckt, was ein wenig zu groß für seine Kehle war – »Euch meinen – des Majors Freunden vorzustellen. Sehr angenehme Leute.«
»Vermutlich Damen darunter?« deutete der geschmeidige Geschäftsführer an.
»Lauter – das heißt beide sind Damen«, versetzte Mr. Dombey.
»Nur zwei?« – lächelte Carker.
»Ja, nur zwei. Ich habe meine Besuche auf ihr Haus beschränkt und keine andere Bekanntschaften hier angeknüpft.«
»Vielleicht Schwestern?« bemerkte Carker.
»Mutter und Tochter«, entgegnete Mr. Dombey.
Während Mr. Dombey seine Augen senkte und wieder an seinem Halstuch ordnete, wandelte sich im Augenblick und ohne eine Übergangsstufe das Lächeln auf dem Gesicht Mr. Carters, des Geschäftsführers, in ein angelegentliches, finsteres Spähen, in dem sich zugleich ein häßlicher Hohn bemerklich machte. Mr. Dombey erhob die Augen wieder, und Carkers Gesicht nahm nicht weniger schnell abermals den alten Ausdruck an, dabei das ganze Zahnfleisch seiner Mundhöhle zeigend.
»Ihr seid sehr gütig«, sagte Mr, Carker, »und ich werde mich glücklich schätzen, sie kennenzulernen. Doch da eben von Töchtern die Rede ist – ich habe Miß Dombey gesehen.«
Ein mächtiger Blutstrom ergoß sich plötzlich in Mr. Dombeys Gesicht.
»Ich habe mir die Freiheit genommen, ihr meine Aufwartung zu machen«, fuhr Carker fort, »und sie zu fragen, ob sie mir nicht einen kleinen Auftrag mitzugeben habe. Ich bin nicht so glücklich, Euch mehr überbringen zu können, als ihre – ihre liebevollen Grüße.«
Was für ein Wolfsgesicht, in dem sich sogar durch den vorgestreckten Mund die heiße Zunge sichtbar machte, als die Augen denen von Mr. Dombey begegneten!
»Was habt Ihr hier für Geschäftsangelegenheiten?« fragte der gleiche Gentleman nach einer Pause, während der Mr. Carker einige Papiere und andere Notizen hervorgezogen hatte.
»Sehr wenig«, antwortete Carker. »Im ganzen haben wir in letzter Zeit nicht unser gewöhnliche« Glück gehabt: aber das hat für Euch keine sonderliche Bedeutung. Zu Lloyds gibt man den Sohn und Erben für verloren. Na, er war versichert vom Kiel bis zur Mastspitze.«
»Carker«, bemerkte Mr. Dombey, neben dem Berichterstatter einen Stuhl nehmend, »ich kann nicht sagen, daß der junge Mensch, der Gay, je einen günstigen Eindruck auf mich gemacht hätte –«
»Auf mich auch nicht«, unterbrach ihn der Geschäfteführer.
»Aber es wäre mir doch lieb«, fuhr Mr. Dombey fort, ohne auf die Störung zu achten, »wenn er nicht an Bord jenes Schiffs gekommen wäre. Ich wünschte, man hätte ihn nicht hinausgeschickt.«
»Es ist recht schade, daß Ihr Euch nicht zur rechten Zeit hierüber ausgesprochen habt«, erwiderte Carker mit Kälte. »Ich glaube übrigens, daß es am Ende so am besten war. Ja, ich bin überzeugt, es hätte nicht besser gehen können. Habe ich Euch schon gesagt, daß eine Art kleinen Vertrauens zwischen Miß Dombey und ihm stattfand?«
»Nein«, sagte Mr. Dombey finster.
»Ich zweifle nicht daran«, fuhr Mr. Carker nach einer ausdrucksvollen Pause fort, »daß Gay, wo er jetzt auch sein mag, an einem passenderen Ort ist, als wenn er in der Heimat wäre. An Eurer Stelle würde ich mich vollkommen darüber zufrieden geben, wie denn auch ich die volle Überzeugung in mir trage, es hätte nicht besser kommen können. Wenn Miß Dombey je einen Fehler hat, so besteht er darin, daß sie ein allzu vertrauensseliges junges Wesen ist – vielleicht nicht stolz genug für Eure Tochter. Ich habe allerdings nicht im Sinn, ihr damit einen Vorwurf zu machen. Wollt Ihr diese Bilanzen mit mir vergleichen?«
Mr. Dombey lehnte sich in seinem Stuhl zurück und blickte, statt sich über die ihm vorgelegten Papiere niederzubeugen, dem Geschäftsführer fest ins Gesicht. Dieser, der seine Augenlider leicht erhob, tat dergleichen, als sei er bloß bei seinen Zahlen und warte, bis sein Chef Zeit gewinne. Dieses Benehmen war sichtlich erkünstelt und schien aus einem großen Zartgefühl hervorzugehen, das Mr. Dombeys Empfindungen schonen wollte. Auch erkannte dieser die wohlmeinende Rücksicht an, und sein Inneres sagte ihm, sein vertrauter Geschäftsführer hätte wohl noch viel mitteilen können, was Mr. Dombey durch Fragen herauslocken zu wollen zu stolz war. Mr. Carker pflegte es in Geschäftssachen oft so zu halten. Allmählich verlor Mr. Dombeys Blick seine Strenge, und die Aufmerksamkeit dieses Gentlemans wurde durch die Papiere vor ihm in Anspruch genommen. Aber selbst während er damit beschäftigt war, hielt er häufig inne und blickte wieder Mr. Carker an. So oft dies aber geschah, zeigte der Geschäftsführer sein früheres Zartgefühl und machte dadurch nur einen um so größeren Eindruck auf seinen Chef.
Während die beiden Männer so beschäftigt waren und unter der gewandten Leitung des Geschäftsführers in Dombey an die Stelle der kalten Abneigung, die dort gewöhnlich herrschte, zornige Gedanken gegen die arme Florence traten, ging der von den alten Damen Leamingtons so sehr bewunderte Major Bagstock im Geleite des Eingeborenen, der das gewöhnliche leichte Gepäck trug, auf der schattigen Seite des Weges weiter, um bei Mrs. Skewton einen Besuch zu machen. Es war schon Mittag, als der Major Kleopatras Palast erreichte; er hatte das Glück, seine Prinzessin wie gewöhnlich auf dem Sofa zu finden. Sie schmachtete über eine Tasse Kaffee, und das Zimmer war zum Zwecke einer schwelgerischen Ruhe so verdunkelt und schattig, daß der aufwartende Withers sich wie ein gespenstiger Page ausnahm.
»Was kommt da für ein unerträglicher Mensch!« sagte Mrs. Skewton. »Nein, es ist nicht auszuhalten. Geht nur wieder fort, wer Ihr auch sein mögt!«
»Ihr habt nicht das Herz, J. B. zu verbannen, Ma'am!« versetzte der Major, der, um seine Gegenvorstellungen anzubringen, mit dem Rohr über der Schulter in der Mitte des Zimmers haltmachte.
»O, Ihr seid es? Nun ja, wenn ich's weiter überlege, so könnt Ihr näher kommen«, bemerkte Kleopatra.
Demgemäß kam der Major näher, trat auf das Sofa zu und drückte ihre bezaubernde Hand an seine Lippen.
»Nehmt Platz«, sagte Kleopatra, leicht mit ihrem Fächer winkend, »aber nur recht weit von mir. Kommt mir nicht zu nahe, denn ich bin diesen Morgen schrecklich angegriffen und reizbar. Ihr riecht nach der Sonne und seid absolut tropisch.«
»Beim Georg, Ma'am«, entgegnete der Major, »es hat eine Zeit gegeben, in der Joseph Bagstock von der Sonne eigentlich gebraten wurde. Damals, Ma'am, brachte ihn die hohe Treibhaushitze Westindiens zu einem so üppigen Wachstum, daß er nur als die Blume bekannt war. In jenen Tagen hörte man nie etwas von Bagstock, Ma'am, sondern nur von der Blume – die Blume der Unsrigen. Die Blume mag mehr oder weniger verblüht sein, Ma'am«, bemerkte der Major, sich in einen viel näheren Stuhl niederlassend, als ihm von seiner grausamen Göttin angedeutet worden war, »aber es ist noch immer eine zähe Pflanze und beständig wie das Immergrün,«
Unter dem Schutz des dunkeln Zimmers schloß jetzt der Major das eine Auge, rollte seinen Kopf wie ein Harlekin und gelangte in seiner großen Selbstzufriedenheit vielleicht näher an die Grenzen eines Schlaganfalls, als dies je zuvor der Fall gewesen.
»Wo ist Mrs. Granger?« fragte Kleopatra ihren Pagen.
Withers glaubte, daß sie sich auf ihrem Zimmer befinde.
»Sehr gut«, versetzte Mrs. Skewton. »Geh jetzt und schließe die Tür. Ich bin beschäftigt.«
Nachdem Withers verschwunden war, drehte Mrs. Skewton ohne weitere Bewegung ihren Kopf matt gegen den Major hin und fragte, wie es seinem Freund ergehe.
»Dombey, Ma'am«, erwiderte der Major mit einem scherzhaften Gurgeln in seiner Kehle, »ist so munter, wie es ein Mann in seiner Lage nur sein kann. Aber sein Zustand ist ein verzweifelter, Ma'am, Dombey ist getroffen – tief getroffen!« rief der Major. »Ein Bajonett steckt ihm im Leibe.«
Kleopatra warf einen scharfen Blick auf ihren Gefährten, der einen lebhaften Gegensatz zu dem künstlich gedehnten Ton bot, in dem sie jetzt sagte:
»Major Bagstock, ich kenne die Welt nur wenig und kann in der Tat meine Unerfahrenheit bedauern, denn ich fürchte, es ist eine falsche Welt, voll von lähmenden gesellschaftlichen Rücksichten, wobei auf die Natur nur wenig Rücksicht genommen wird und die Musik des Herzens, der Erguß der Seele und dergleichen wahrhaft poetische Dinge nur selten gehört werden. Trotzdem kann ich mich nicht täuschen in dem, was Ihr sagen wollt, Ihr spielt mit Euren Worten auf Edith an – auf mein mir über die Maßen teures Kind« – fügte Mrs. Skewton bei, indem sie mit dem Zeigefinger über die Augenbrauen hinfuhr, »und da erbeben in der Tat die zartesten Saiten.«
»Derbheit, Ma'am«, erwiderte der Major, »ist stets ein charakteristischer Zug der Bagstock-Rasse gewesen. Ihr habt recht. Joe gibt es zu.«
»Und jene Anspielung«, fuhr Kleopatra fort, »betrifft, glaube ich, eines der ergreifendsten – wenn nicht entschieden das ergreifendste und heiligste Gefühl, dessen unsere kläglich gefallene Natur fähig ist.«
Der Major legte seine Hand auf die Lippen und warf Kleopatra einen Kuß zu, als wolle er dadurch das fragliche Gefühl näher bezeichnen.
»Ich bin sehr angegriffen. Ich fühle, daß es mir an jener Tatkraft fehlt, die in einer solchen Angelegenheit eine Mutter aufrecht erhalten sollte«, sagte Mrs. Skewton, ihre Lippen mit dem Spitzenrande ihres Taschentuchs berührend; »aber ich kann mich kaum ohne ein Gefühl, das an Ohnmacht grenzt, auf einen Gegenstand einlassen, der für meine teure Edith so ungemein wichtig ist. Da Ihr übrigens, schlimmer Mann, so kühn darauf losgegangen seid, so will ich ungeachtet des großen Schmerzes« – Mrs. Skewton berührte dabei ihre linke Seite mit dem Fächer – »den es mir bereitet hat, nicht vor meiner Pflicht zurückbeben.«
Unter dem Schutze der Dunkelheit ließ der Major sein mehr und mehr anschwellendes Purpurgesicht umherrollen; dabei blinzelte er mit den Hummer-Augen, bis er in einen Zustand von Kurzatmigkeit verfiel, die ihn zwang, sich zu erheben und einige Male im Zimmer auf und ab zu gehen, ehe seine schöne Freundin fortfahren konnte.
»Mr. Dombey«, nahm Mr. Skewton endlich das Gespräch wieder auf, »ist nun schon viele Wochen so gefällig, uns in Eurer Gesellschaft, mein teurer Major, mit seinen Besuchen zu beehren. Laßt mich offen gegen Euch sein. Es ist mein Fehler, daß ich ein Geschöpf des Impulses bin und mein Herz, sozusagen, außen trage. Ich bin mir meiner Mängel vollkommen bewußt, und mein Feind könnte sie nicht besser kennen. Aber es tut mir nicht leid, daß es so ist; denn ich möchte nicht einfrieren in dieser herzlosen Welt und lasse es mir gern gefallen, wenn man mir mit Recht einen solchen Vorwurf macht.«
Mrs. Skewton ordnete ihr Vorstecktuch, kniff ihren mageren Hals, um ihm eine glatte Oberfläche zu geben, und fuhr mit großer Selbstgefälligkeit fort:
»Es hat mir und zuverlässig auch meiner lieben Edith ein ungemeines Vergnügen gemacht, Mr. Dombey hier aufzunehmen. Da er Euer Freund ist, mein teurer Major, so waren wir natürlich schon zum vorhinein für ihn eingenommen, und es dünkt mich, ich habe an Mr. Dombey eine Überfülle von Herz wahrgenommen, die ungemein erfrischend ist.«
»Es ist jetzt ein verteufelt kleines Herz in Dombey, Ma'am«, versetzte der Major.
»Sie böser Mann!« rief Mrs. Skewton, schmachtend nach ihm hinblickend, »ich bitte, redet nicht so«.
»J. B. ist stumm, Ma'am«, sagte der Major.
»Mr. Dombey«, fuhr Kleopatra fort, indem sie die rosige Farbe auf ihren Wangen glättete, »hat später seine Besuche wiederholt. Vielleicht findet er etwas Anziehendes in der Einfachheit und Kunstlosigkeit unserer Gewohnheiten – denn es liegt stets ein Zauber in der Natur – ein so gar süßer Zauber –, und darum wurde er jeden Abend ein Glied unseres kleinen Kreises. Freilich dachte ich wenig an die schwere Verantwortlichkeit, die ich mir auflud, als ich Mr. Dombey ermutigte –«
»Diese Quartiere zu bestürmen, Ma'am«, ergänzte Major Bagstock.
»Roher Mensch!« sagte Mr. Skewton. »Ihr greift dem vor, was ich sagen wollte, obschon in einer sehr häßlichen Sprache.«
Mrs. Skewton legte jetzt ihren Ellenbogen auf den nebenstehenden kleinen Tisch, ließ, wie sie meinte, ihre Hand in einer anmutigen geziemenden Weise sinken, schwang ihren Fächer hin und her und bewunderte während ihrer Rede mit lässigem Blick ihre Finger.
»Die innere Pein, die ich erduldete«, fuhr sie geziert fort, »wie allmählich die Wahrheit in mir aufdämmerte, ist zu schrecklich gewesen, als daß ich mich weiter darüber verbreiten könnte. Mein ganzes Dasein ist an meine süße Edith gekettet, und es ist wirklich im höchsten Grade ergreifend, wenn ich mitansehen muß, wie mein schöner Liebling, der seit dem Tod jenes herrlichen Granger sein Herz eigentlich abgeschlossen hält, sich von Tag zu Tag verändert.«
Die Welt Mrs. Skewtons war keine durch Kritik sonderlich getrübte. Das mußte man aus der Art merken, wie selbst die ergreifendsten Dinge auf sie wirkten. Doch das nur nebenbei.
»Man sagt«, fuhr Mr. Skewton in geziertem Ton fort, »Edith, diese vollkommene Perle meines Lebens, habe Ähnlichkeit mit mir, und ich glaube, daß sie mein leibhaftiges Ebenbild ist.«
»Es gibt einen Mann in der Welt, der nie zugeben wird, daß irgend etwas mit Euch zu vergleichen sei, Ma'am«, sagte der Major; »und dieser Mann ist der alte Joe Bagstock.«
Kleopatra tat, als wolle sie mit ihrem Fächer dem Schmeichler das Gehirn einschlagen, kam übrigens doch auf eine mildere Gesinnung zurück und lächelte ihm zu, während sie weiter sprach:
»Boshafter Mann«, – hiermit war der Major gemeint – »wenn mein bezauberndes Mädchen irgend etwas Gutes von mir geerbt hat, so ist sie auch die Erbin meiner törichten Natur. Sie besitzt große Charakterstärke – auch an mir wollte man sie in ungemeinem Grade bemerkt haben, obschon ich es nicht glaube – aber einmal gerührt, ist sie ausnehmend empfänglich und gefühlvoll. Denkt Euch meine Empfindungen, wenn ich sehen muß, wie sie sich abhärmt! Wahrhaftig, sie bringen mich noch unter die Erde.«
Der Major schob sein Doppelkinn vor, legte in seine blauen Lippen einen beschwichtigenden Ausdruck und bekundete seine tiefste Teilnahme.
»Das Vertrauen, das zwischen uns bestanden hat«, sagte Mrs. Skewton – »die freie Entfaltung der Seele und die Offenheit der Empfindung – ach, wie ergreifend ist es nicht, nur daran zu denken. Wir lebten mehr wie Schwestern, als wie Mutter und Kind.«
»Ganz J. B.s Ansicht«, bemerkte der Major, »von J. B. schon fünfzigtausendmal ausgesprochen.«
»Unterbrecht mich nicht, roher Mann!« sagte Kleopatra. »Was müssen also meine Gefühle sein, wenn ich finde, daß e i n Gegenstand vorhanden ist, der von uns vermieden wird – daß (wie soll ich's doch nennen?) eine Meeresenge sich zwischen uns geöffnet hat – daß meine arglose Edith sich so gegen mich ändern könnte! Die« schneidet natürlich tief in die Seele ein.«
Der Major verließ seinen Stuhl und setzte sich auf einen andern, der dem kleinen Tische näher stand.
»Von Tag zu Tag muß ich das mit ansehen, mein teurer Major«, fuhr Mr. Skewton fort. »Von Tag zu Tag fühle ich es. Von Stunde zu Stunde mache ich mir Vorwürfe über das Übermaß der Vertrauensfülle, die zu so betrübenden Folgen führte, und fast von Minute zu Minute hoffe ich, Mr. Dombey werde sich erklären und mir die Folter abnehmen, die mich aufreibt. Aber nichts von alledem ergibt sich, mein teurer Major. Ich bin eine Sklavin meiner Gewissensbisse – nehmt doch die Tasse in acht; Ihr seid so ungeschickt – meine teure Edith ist ein ganz anderes Wesen, und ich sehe in der Tat nicht ein, was sich tun läßt oder mit welcher wohlmeinenden Person ich mich beraten kann.«
Vielleicht ermutigt durch den sanften und vertraulichen Ton, in den Mrs. Skewton mehrere Male für eine kurze Weile verfallen war, schien der Major geneigt zu sein, den Wohlmeinenden zu spielen; denn er streckte seine Hand über den kleinen Tisch aus und sagte mit einem Schielblick:
»Beratet Euch mit Joe, Ma'am.«
»O Ihr abscheuliches Ungeheuer«, versetzte Kleopatra, die eine Hand dem Major reichend und mit dem Fächer, den sie in der andern hielt, dessen Finger klopfend, »warum sprecht Ihr dann nicht mit mir? Ihr wißt, was ich meine. Warum sagt Ihr mir nicht etwas Sachgemäßes?«
Der Major lachte, küßte die ihm vertraute Hand und lachte abermals aus vollem Hals.
»Ist in Mr. Dombey so viel Herz, wie ich ihm zutraue?« sprach Kleopatra mit zärtlichem Schmachten. »Glaubt Ihr, es sei ihm Ernst, mein teurer Major? Ratet Ihr dazu, daß man mit ihm darüber spreche, oder soll man es unterlassen? So sprecht Euch aus wie ein lieber Mann, und sagt mir Eure Ansicht.«
»Sollen wir ihn mit Edith Granger verheiraten, Ma'am?« versetzte der Major mit heiserem Kichern.
»Geheimnisreicher Mensch!« entgegnete Kleopatra, ihren Fächer in die Nähe der Nase des Majors bringend. »Wie können wir ihn verheiraten?«
»Sollen wir ihn mit Edith Granger verheiraten, Ma'am? sage ich«, kicherte der Major abermals.
Mrs. Skewton gab keine Erwiderung in Worten, lächelte aber dem Major so schlau und lebhaft zu, daß der wackere Offizier, der hierin eine Herausforderung sah, ihren ungemein roten Lippen einen Kuß aufgedrückt haben würde, wenn sie nicht mit sehr gewinnender jugendlicher Gewandtheit den Fächer dazwischen gebracht hätte. Möglich, daß der Grund in ihrer Verschämtheit lag; vielleicht aber fürchtete sie auch Gefahr für ihr Rot.
»Dombey, Ma'am«, sagte der Major, »ist ein guter Fang.«
»O, Ihr jämmerlicher Geldmensch!« rief Kleopatra mit einem leichten Schrei. »Ihr entsetzt mich.«
»Und Dombey, Ma'am«, fuhr der Major fort, indem er den Kopf vorwärts schob und die Augen weit aufsperrte, »meint es ernsthaft. Joseph versichert Euch das. Bagstock weiß es, und J. B. hat ihn scharf auf dem Korn. Überlaßt es nur Dombey selbst, Ma'am. Benehmt Euch bloß wie bisher: tut nichts weiter und baut im übrigen auf J. B.«
»Glaubt Ihr dies wirklich, mein teurer Major?« entgegnete Kleopatra, die ihn ungeachtet ihrer gleichgültigen Haltung sehr behutsam und spähend ins Auge gefaßt hatte.
»Seid davon überzeugt, Ma'am«, antwortete der Major. »Kleopatra, die Unvergleichliche, und ihr Antonius Bagstock werden oft triumphierend davon sprechen, wenn sie an der Eleganz und dem Reichtum von Edith Dombeys Hause teilnehmen. Dombeys rechte Hand, Ma'am«, fügte der Major bei, indem er plötzlich in einem Kichern abbrach und sehr ernst wurde, »ist angekommen.«
»Heute morgen?« fragte Kleopatra.
»Ja, heute morgen, Ma'am«, antwortete der Major. »Und Dombeys sehnliches Verlangen nach ihm, Ma'am – nehmt J. B.s Wort dafür: denn Joe ist verteufelt schlau«, – der Major klopfte dabei an seine Nase und riß das eine seiner Augen weit auf, so daß seine natürliche Schönheit nicht sonderlich dadurch erhöht wurde – »hat bloß in dem Wunsch seinen Grund, daß dieser erfahre, wohin der Wind weht, ohne daß Dombey nötig hat, es ihm zu sagen, oder sich mit ihm zu beraten. Denn Dombey ist so stolz, Ma'am«, fügte der Major bei, »wie Luzifer.«
»Eine bezaubernde Eigenschaft«, lispelte Mrs. Skewton, »die sehr an die liebe Edith erinnert.«
»Gut, Ma'am«, sagte der Major. »Ich habe bereits Winke hingeworfen, und die rechte Hand versteht sie. Ich will noch mehr fallen lassen, ehe der Tag vorbei ist, Dombey ist heute auf den Gedanken gekommen, morgen nach einem Frühstück bei uns einen Ausflug nach Warwick Castle und Kenilworth zu machen. Ich übernahm die Besorgung dieser Einladung. Wollt Ihr uns so weit beehren, Ma'am?« fragte der Major, den Schlauheit und kurzer Atem geradezu aufblähten, als er ein Billet, der gefälligen Besorgung des Major Bagstock an die hochwohlgeborene Mrs. Skewton übergeben, hervorzog. Darin ersuchte ihr stets getreuer Paul Dombey sie und ihre liebenswürdige hochbegabte Tochter um die Gunst, sich dem beantragten Ausflug anzuschließen, während in einer Nachschrift derselbe stets getreue Paul Dombey seine schönsten Empfehlungen an Mrs. Granger ausrichten ließ.
»Pst!« sagte Kleopatra plötzlich. »Edith!«
Es läßt sich kaum beschreiben, wie die liebevolle Mutter bei diesem Ausrufe ihr lässiges und geziertes Wesen wieder annahm, da sie es eigentlich nie abgelegt hatte. Daß sie es jemals tun würde, konnte man an keinem andern Orte als etwa im Grabe für möglich halten. Indes beseitigte sie hastig jeden Schatten von Ernst, jedes leise Zugeständnis von löblicher oder arglistiger Absichtlichkeit, das sich für einen Augenblick in ihrem Gesicht, ihrer Stimme oder ihrem Wesen kundgegeben hatte, so daß sie, als Edith ins Zimmer trat, in ihrer trägsten und nachlässigsten Haltung wieder auf dem Sofa saß.
Edith, so schön und stattlich, aber doch so kalt und abstoßend! Mit einer leichten Verbeugung von der Gegenwart des Majors Bagstock Notiz nehmend, warf sie einen stechenden Blick auf ihre Mutter, zog von einem Fenster den Vorhang zurück, setzte sich vor diesem nieder und schaute hinaus.
»Meine teure Edith«, sagte Mrs. Skewton, »wo in aller Welt bist du denn gewesen? Ich habe dich kläglich vermißt, meine Liebe.«
»Ihr sagtet, daß Ihr beschäftigt seid, und deshalb blieb ich fort«, entgegnete Edith, ohne ihren Kopf umzuwenden.
»Es war eine Grausamkeit gegen den alten Joe, Ma'am«, sagte der Major in seiner Galanterie.
»Ich weiß, eine große Grausamkeit«, versetzte sie, noch immer zum Fenster hinaussehend, mit einer so ruhigen Verachtung, daß der Major sich geschlagen sah und nichts zu erwidern wußte.
»Major Bagstock, teure Edith«, sprach die Mutter in gedehntem Ton, »ist, wie du weißt, in der Regel der nützlichste und angenehmste Mann von der Welt –«
»Es ist in der Tat nicht der Mühe wert, solche Phrasen zu beachten, Ma'am«, entgegnete Edith zurückblickend. »Wir sind ja unter uns und kennen einander.«
Der ruhige Spott auf ihrem schönen Gesicht – ein Spott, der augenscheinlich ebensogut ihr selbst, wie den andern galt – war so nachdrücklich ausgeprägt, daß für den Augenblick ungeachtet ihrer sehr zähen Konstitution die Ziererei der Mutter davor weichen mußte.
»Mein liebes Mädchen«, begann sie wieder.
»Noch immer nicht Frau?« versetzte Edith mit einem Lächeln.
»Ach, wie bist du doch heute so seltsam, meine Liebe! Ich muß dir mitteilen, mein Kind, daß Major Bagstock ein sehr freundliches Billett von Mr. Dombey überbracht hat; er lädt uns ein, morgen bei ihm zu frühstücken und eine Fahrt nach Warwick und Kenilworth mitzumachen. Willst du dich anschließen. Edith?«
»Ob ich will!« wiederholte sie mit tiefem Erröten, und ihre Atemzüge flogen schneller, als sie nach ihrer Mutter hinblickte.
»Ich wußte es wohl, daß du damit einverstanden bist, mein Herz«, bemerkte die letztere gleichgültig, »und wie du sagst, frage ich nur um der Form willen. Hier ist Mr. Dombeys Brief, Edith.«
»Ich danke, es verlangt mich nicht danach, ihn zu lesen«, lautete die Antwort.
»Dann ist es vielleicht besser, wenn ich die Antwort übernehme«, sagte Mrs. Skewton, »obschon ich im Sinne hatte, dich zu bitten, daß du das Amt meines Sekretärs versehest.«
Da Edith keine Bewegung machte und auch nichts darauf erwiderte, bat Mrs. Skewton den Major, ihr den kleinen Tisch etwas näher zu rücken, das Pult darauf zu öffnen und für sie Feder und Papier herauszunehmen. Alle diese galanten Dienstleistungen versah der Major mit vieler Unterwürfigkeit und Ergebung.
»Deine Empfehlung, liebe Edith?« fragte Mrs. Skewton, als sie, die Feder in der Hand, bei der Nachschrift innehielt.
»Was Ihr wollt, Mama«, antwortete Edith mit ungemeiner Gleichgültigkeit, ohne daß sie den Kopf umwandte.
Mrs. Skewton schrieb, was sie wollte, ohne weitere bestimmtere Weisungen einzuholen, und übergab ihr Billett dem Major, der, als er die kostbaren Zeilen in Empfang nahm, tat, als wolle er das Blatt in der Nähe seines Herzens aufbewahren. Da jedoch seine Weste ein etwas unsicherer Platz war, so mußte er es der Tasche seiner Hosen anvertrauen. Der Major nahm sodann von den beiden Damen einen sehr höflich galanten Abschied, der von der älteren in der gewöhnlichen Weise aufgenommen wurde, während die jüngere, die mit ihrem Gesicht gegen das Fenster gekehrt dasaß, ihren Kopf nur so leicht verneigte, daß es für den Major ein größeres Kompliment gewesen wäre, wenn sie gar kein Zeichen von sich gegeben und ihn bei der Meinung gelassen hätte, sein »Auf Wiedersehen« sei gar nicht gehört worden.
Was die Veränderung an ihr betrifft, Sir, dachte der Major auf seinem Heimwege, auf dem er, da der Nachmittag sehr sonnig und heiß war, den Eingeborenen mit dem leichten Gepäck vorausgehen ließ, um in dem Schatten dieses aus dem Vaterland verbannten Prinzen wandeln zu können – was die Veränderung, das Abhärmen usw. betrifft, so muß man damit Joseph Bagstock nicht kommen wollen. Nichts da, Sir. Es verfängt hier nicht. Aber daß eine Art Spaltung zwischen ihnen herrscht – eine Meeresenge, wie es die Mutter nennt, – Gott verdamme mich, Sir, dies scheint richtig genug zu sein. Und es ist auch seltsam genug! Na, Sir, keuchte der Major, Edith Granger und Dombey sind sich gegenseitig trefflich gewachsen; sie mögen es miteinander ausfechten! Bagstock hält sich auf die Seite des gewinnenden Teils.
Da der Major in der Wärme seiner Gedanken diese letzteren Worte laut sprach, so blieb der unglückliche Eingeborene, der sich persönlich angeredet wähnte, stehen und schaute zurück. Über diesen Akt des Ungehorsams im höchsten Grade aufgebracht, stieß der Major, obschon er in jenem Augenblicke aus Freude über seinen eigenen Humor förmlich aufgedunsen war, sogleich seinen Stock zwischen die Rippen des Eingeborenen und fuhr fort, in kurzen Zwischenräumen diesen dauernd auf dem ganzen Weg nach dem Hotel in solcher Weise zu spornen.
Der Unmut des Majors hatte sich noch nicht gelegt, als er sich zum Diner ankleidete; denn während dieses Geschäfts war der schwarze Diener einem Schauer von unterschiedlichen Gegenständen ausgesetzt, die der Größe nach vom Stiefel bis zur Haarbürste wechselten und alles in sich schlossen, was in den Bereich des strengen Gebieters geriet. Der Major tat sich nämlich viel darauf zu gut, den Eingeborenen vollkommen einexerziert zu haben, und suchte daher auch das mindeste Abweichen von der pünktlichsten Mannszucht mit einer derartigen erschöpfenden Anstrengung heim. Dazu kam noch, daß der Eingeborene als ein Gegenmittel gegen Gicht und alle anderen, sowohl körperlichen wie geistigen Verdrießlichkeiten stets in seiner Nähe sein mußte, so daß der arme Schwarze augenscheinlich seinen nicht großen Lohn sauer verdiente.
Nachdem endlich der Major alle Wurfgeschoße, die ihm unter die Hand kamen, verbraucht und den Eingeborenen mit so vielen neuen Titeln beehrt hatte, daß dieser wohl allen Grund erhielt, sich über den Reichtum der Sprache seines Herrn zu wundern, ließ er sich seine Halsbinde anlegen. Sobald er nun angekleidet war und die Bemerkung machte, daß er durch die erwähnte Übung in einen hohen Geistesschwung versetzt worden, begab er sich die Treppe hinunter, um zu der Erheiterung von Dombey und dessen rechter Hand beizutragen.
Dombey befand sich noch nicht im Zimmer, aber die rechte Hand war da und hielt wie gewöhnlich die Zahnschätze für den Major bereit.
»Nun, Sir,« rief der Major, »wie habt Ihr die Zeit verbracht, seit ich das Glück hatte, zum erstenmal mit Euch zusammenzutreffen? Seid Ihr ausgegangen?«
»Ich bin kaum ein halbes Stündchen umhergeschlendert«, versetzte Carker. »Wir waren sehr in Anspruch genommen.«
»Vermutlich durch Geschäftsangelegenheiten?« fragte der Major.
»Es waren allerlei Kleinigkeiten zu verhandeln«, entgegnete Carker. »Ihr müßt übrigens wissen – das ist ganz ungewöhnlich für mich, denn ich bin in einer mißtrauischen Schule erzogen und in der Regel nicht zur Mitteilsamkeit geneigt.« Dann brach er plötzlich ab und sprach in einem bezaubernden Tone von Freimut: »Trotzdem ist es mir, als könne ich ganz vertraulich gegen Euch sein, Major Bagstock.«
»Sehr viele Ehre für mich, Sir«, entgegnete der Major, »Ihr dürft es übrigens unverhohlen.«
»So will ich Euch denn sagen«, fuhr Carker fort, »daß ich meinen Freund – oder unsern Freund, sollte ich ihn vielmehr nennen –«
»Ihr meint wohl Dombey, Sir?« erwiderte der Major. »Ihr seht mich, Mr. Carker, wie ich hier stehe – J.B. –?«
Er war gedunsen und blau genug anzusehen, und Mr. Carker entgegnete, daß er das Vergnügen habe.
»Dann seht Ihr einen Mann, Sir, der durch Feuer und Wasser gehen würde, um Dombey zu dienen«, entgegnete Major Bagstock.
Mr. Carker lächelte und entgegnete, daß er davon überzeugt sei.
»Um da fortzufahren, Major, wo ich stehenblieb«, nahm er wieder auf, »muß ich Euch sagen, daß ich unsern Freund heute nicht so aufmerksam auf Geschäftssachen fand, wie gewöhnlich.«
»Nicht?« bemerkte der entzückte Major.
»Er war etwas zerstreut und schien geneigt zu sein, seine Gedanken anderwärts umherirren zu lassen«, sagte Carker.
»Beim Jupiter, Sir«, rief der Major, »dann ist eine Dame mit im Spiel.«
»Ich fange in der Tat an, zu glauben, daß etwas Derartiges der Fall sein muß«, versetzte Carker. »Als Ihr heute einen Wink hinzuwerfen schienet, hielt ich es für einen Scherz, denn ich weiß, Ihr Herren vom Militär –«
Der Major ließ seinen Pferdehusten erschallen und schüttelte Kopf und Schultern, als wollte er sagen, »ja wir sind freilich lockere Zeisige; das ist nicht in Abrede zu stellen«. Dann faßte er Mr. Carker beim Knopfloch und flüsterte ihm mit weit vorspringenden Augen ins Ohr, sie sei ein Frauenzimmer von außerordentlichen Reizen, Sir – eine junge Witwe, Sir – von einer ausgezeichneten Familie, Sir – Dombey sei über Kopf und Ohren in sie verliebt, Sir, und es handle sich dabei um eine treffliche Partie von beiden Seiten. Sie besitze Schönheit, Blut und Talent, Dombey dagegen sei reich; was könne man also von einem Paar weiter verlangen. Da sich jetzt draußen Mr. Dombeys Fußtritt vernehmen ließ, so brach der Major kurz mit den Worten ab, Mr. Carter werde sie morgen früh sehen und könne sich dann selbst ein Urteil bilden. In dieser geistigen Aufregung und unter der Anstrengung, alles dies in einem kurzatmigen Flüstern zu sagen, blieb der Major mit gurgelnder Kehle und tränenden Augen sitzen, bis das Diner bereit war.
Wie einige andere edle Tiere nahm sich der Major bei der Fütterungszeit sehr vorteilhaft aus. Bei dieser Gelegenheit glänzte er eigentlich am einen Ende der Tafel, gehoben durch das mildere Strahlen Mr. Dombeys an dem anderen, während Mr. Carker sein Licht bald nach der einen Seite hin, oder nach Befund der Umstände nach beiden leuchten ließ.
Während der ersten paar Gänge war der Major gewöhnlich ernst; denn der Eingeborene sammelte gemäß der insgeheim an ihn erlassenen Weisungen alle Tellerchen und Näpfe um seinen Gebieter her, und gab ihm deshalb mit Herausnehmen der Stöpsel und Mischen des Inhalts auf seinem Teller viel zu schaffen. Außerdem hatte der schwarze Diener besondere Zugaben und Gewürze auf einem Seitentisch stehen, mit denen der Major sich täglich beizte, der seltsamen Maschinen gar nicht zu gedenken, aus denen er unbekannte Flüssigkeiten in das Getränk spritzen ließ. Doch auch bei dieser Gelegenheit und sogar in Mitte der vielen Beschäftigungen fand Major Bagstock Zeit, gesellig zu sein, und seine Unterhaltsamkeit bestand in einer ausnehmenden Schlauheit gegen Mr. Carker, wie auch im Bloßlegen von Mr. Dombeys Gemütszustand.
»Dombey«, sagte der Major; »Ihr eßt nicht; was fehlt Euch?«
»Ich danke«, entgegnete dieser Gentleman. »Ich befinde mich wohl, habe aber heute keinen sonderlichen Appetit.«
»Aber, Dombey, was ist denn daraus geworden?« fragte der Major. »Wo ist er geblieben? Ich will darauf schwören, Ihr habt ihn nicht bei unsern Freundinnen gelassen; denn ich stehe dafür, daß sie heute niemanden beim Lunch hatten. Für eine davon kann ich wenigstens Bürgschaft leisten, obschon ich nicht sagen will, für welche.«
Der Major blinzelte sodann Carker zu und wurde dabei so schrecklich schlau, daß der schwarze Diener ihn ohne Auftrag auf den Rücken klopfen mußte, weil sein Gebieter sonst wahrscheinlich unter dem Tisch verschwunden wäre.
In einem späteren Zeitpunkt des Diners – d.h. als der Eingeborene neben seinem Gebieter stand, um die erste Flasche Champagner einzugießen, wurde der Major noch schlauer.
»Fülle dies bis zum Rand, du Schurke«, sagte der Major, ihm sein Glas hinhaltend. »Gieße auch Mr. Carker randvoll ein – desgleichen Mr. Dombey. Bei Gott, Gentlemen«, fuhr der Major mit einem Blinzeln gegen seinen neuen Freund fort, während Mr. Dombey mit schuldbewußter Miene auf seinen Teller schaute, »wir wollen dieses Glas einer Gottheit weihen, die Joe mit Stolz unter seine Bekanntschaften zählt und die er aus dem Staube ehrerbietig bewundert. Edith ist ihr Name«, sagte der Major. »Die engelgleiche Edith.«
»Die engelgleiche Edith!« rief Carker lächelnd.
»Auf alle Fälle Edith!« sagte Mr. Dombey.
Das Eintreten der Kellner, die neue Schüsseln brachten, bewog den Major zu noch größerer Schlauheit, obschon er in eine ernstere Stimmung überging.
»Wenn wir unter uns sind, Sir«, sagte der Major, einen Finger an seine Lippen legend und halb beiseite zu Carker sprechend, »so liebt es Joe Bagstock wohl, in dieser Angelegenheit Scherz und Ernst zu mengen. Aber er hält den erwähnten Namen für viel zu heilig, als daß solche Kerle oder überhaupt gewöhnliche Kreaturen darin eingeweiht werden dürften. Keine Silbe darüber, Sir, solange sie hier sind!«
Das war anerkennenswert und achtungsvoll von seiten des Majors, und Mr. Dombey fühlte es vollkommen. Obschon in seiner kalten Weise durch die Anspielungen seines Freundes in einige Verlegenheit gebracht, hatte er doch nichts gegen solche Neckereien einzuwenden, sondern schien sich sogar darin zu gefallen. Vielleicht hatte der Major ziemlich die Wahrheit getroffen, als er sich heute morgen einbildete, der große Mann sei zu stolz, um sich in einer solchen Angelegenheit mit seinem Premierminister förmlich zu beraten oder ihn ins Vertrauen zu ziehen, obschon er wünschte, daß dieser vollkommen davon in Kenntnis gesetzt werde. Mochte dem übrigens sein, wie es wolle, Dombey schaute, während der Major seine leichten Geschosse spielen ließ, oft nach Mr. Carker hin und schien beobachten zu wollen, welche Wirkung sie auf seine rechte Hand machten.
Der Major aber, der sich einen aufmerksamen Zuhörer, einen Mann mit einem Lächeln, wie es in der ganzen Welt keines mehr gab, kurz »einen verdammt gescheiten und angenehmen Burschen«, wie er ihn später oft nannte, gesichert hatte, wollte ihn nicht bloß mit dem bißchen Schlauheit, die sich persönlich auf Mr. Dombey bezog, loslassen. Daher zeigte er sich nach Entfernung des Tischtuches als einen ganz erlesenen Geist in dem weit umfassenderen Bereiche des Erzählens von Regimentsgeschichten und Vorbringens von Soldatenspäßen. Das tat er mit einem so erstaunlichen Überströmen, daß Carker – wenn er nicht nur sich so anstellte, von Lachen und Bewunderung völlig erschöpft wurde, während Mr. Dombey über seiner steifen Halsbinde herausblickte, als sei er der Eigentümer des Majors oder irgendein Raritätenvorweiser, der sich darüber freute, daß sich sein Bär so gut aufs Tanzen verstand.
Nachdem der Major vom Essen, Trinken und der Kundgebung seiner gesellschaftlichen Fähigkeiten zu heiser geworden war, um sich länger verständlich zu machen, ging man zum Kaffee über. Dann fragte der Major Mr. Carker, den Geschäftsführer, scheinbar mit geringer Hoffnung auf eine bejahende Antwort, ob er Pikett spiele.
»Ja, ein wenig«, versetzte Mr. Carker.
»Vielleicht auch Brettspiel?« bemerkte der Major zögernd.
»Auch dies ein wenig«, versetzte der Mann der Zähne.
»Ich glaube, Carker versteht sich auf alle Spiele«, sagte Mr. Dombey, sich wie ein hölzerner Mann ohne Gelenk und ohne Scharnier auf das Sofa hinstreckend, »und zwar recht gut.«
In der Tat kannte er die fraglichen beiden Spiele so vollkommen, daß der Major ganz erstaunt wurde und aufs Geratewohl hin ihn fragte, ob er auch Schach spiele.
»Ja, ich kann es ein wenig«, antwortete Carker. »Bisweilen machte ich mir schon den Spaß zu spielen, und gewann, ohne daß ich auf das Brett hinsah.«
»Bei Gott, Sir«, sagte der Major, die Augen aufsperrend, »Ihr seid ein vollkommener Gegensatz von Dombey, der sich auf gar kein Spiel versteht.«
»O! er!« entgegnete der Geschäftsführer. »Er hat nie Gelegenheit gehabt, sich mit solchen kleinen Künsten abzugeben, während sie für Männer, wie ich bin, bisweilen nützlich werden können. Im gegenwärtigen Augenblick zum Beispiel, Major Bagstock, setzen sie mich in den Stand, meine Geschicklichkeit gegen Euch zu erproben.«
Der glatte, weite Mund war vielleicht nicht der rechte; aber doch schien unter der Demut und Unterwürfigkeit dieser kurzen Rede etwas zu lauern, gleich einem Knurren; und für einen Augenblick hätte man denken können, die weißen Zähne seien geneigt, die Hand zu beißen, der sie schmeichelten. Der Major machte sich übrigens keine Gedanken darüber, und Mr. Dombey lag während des ganzen Spiels, das bis zum Schlafengehen dauerte, mit halbgeschlossenen Augen nachsinnend da.
Obschon Mr. Carker gewann, stieg er doch hoch in der guten Meinung des Majors. Und zwar in dem Grade, daß dieser, als sich Carker nach seinem Schlafgemach begab, aus besonderer Aufmerksamkeit den Eingeborenen, der stets sein Lager auf einer Matratze vor der Tür seines Gebieters hatte, in die Galerie hinausschickte, um mit allem Prunk dem neuen Freunde nach seinem Zimmer zu leuchten.
Auf der Oberfläche des Spiegels in Mr. Carkers Gemach lag ein trüber Duft, so daß er vielleicht einen falschen Widerschein bot. Aber er zeigte in jener Nacht das Bild eines Mannes, der vor seinem geistigen Auge eine Menge zu seinen Füßen auf dem Boden schlummernder Menschen sah, ähnlich dem armen Eingeborenen vor der Tür seines Gebieters. Er schlich sich dazwischen durch und schaute boshaft darauf nieder, obschon er wenigstens vorderhand noch nicht auf ein aufwärts gekehrtes Gesicht trat.
Siebenundzwanzigstes Kapitel. TIEFERE SCHATTEN.
Mr. Carker, der Geschäftsführer, stand mit der Lerche auf und begab sich ins Freie, um sich in dem schönen Sommermorgen zu ergehen. Die Betrachtungen, denen er sich auf seinem Spaziergange mit gerunzelter Stirne hingab, schienen sich kaum so hoch aufzuschwingen wie die Lerche, oder die Richtung dieses heiteren Vogels einzuschlagen. Vielmehr hielten sie sich eher dicht an ihr Nest auf der Erde und sahen sich unter dem Staub und den Würmern um. Aber kein unsichtbar in der Luft singender Vogel befand sich weiter aus dem Bereich des menschlichen Auges als Mr. Carkers Gedanken. Er hatte sein Gesicht so vollkommen in seiner Gewalt, daß man über den Ausdruck desselben mit Bestimmtheit nicht viel weiter sagen konnte, als daß es lächelte oder tiefsinnig war. Eben jetzt war es sehr tiefsinnig, und je höher die Lerche sich erhob, desto tiefer senkten sich seine Gedanken. Je heller und kräftiger die Lerche ihre Melodien erschallen ließ, desto ernster und düsterer wurde sein Schweigen; und als endlich der glückliche Frühlingsvogel mit einem sich kräftigenden Gesangstrom zwischen dem in der Nähe grünenden und in der Morgenluft gleich einem Strome wallenden Weizen niedersank, sprang Mr. Carker aus seiner Träumerei auf und schaute plötzlich mit einem so geschmeidigen und sanften Lächeln umher, als wolle er zahllosen Beobachtern etwas Angenehmes sagen. Nachdem er also geweckt worden war, stellte sich kein Rückfall mehr ein; denn sein Gesicht klärte sich jetzt auf wie das eines Mannes, der bedacht hat, daß man allerlei darin lesen könnte; und er ging lächelnd weiter, als ob er sich in dieser Kunst üben wolle.
Vielleicht mit Rücksicht auf erste Eindrücke hatte Mr. Carker sich an jenem Morgen sehr sorgfältig und stattlich herausgeputzt. Obwohl er nach dem Beispiel des großen Mannes, dem er diente, stets etwas förmlich war in dem, was seine Kleidung anging, so trieb er es doch nicht bis zu Mr. Dombeys Steifheit. Denn er wußte vielleicht, daß er sich dadurch lächerlich gemacht haben würde und daß eben hierin ein weiteres Mittel lag, seine Anerkennung des Abstandes zwischen ihm und seinem Chef an den Tag zu legen. Manche Personen meinten zwar, er biete in dieser Beziehung einen merkwürdigen, nicht schmeichelhaften Kommentar zu seinem eiskalten Gebieter. Aber die Welt ist so geneigt zu Mißdeutungen, und man konnte Mr. Carker dafür nicht verantwortlich machen.
Reinlich, geschniegelt, hellen Teints, der in der Sonne sozusagen noch lichter wurde, und mit seinem zierlichen Tritt die Weichheit des Rasens noch erhöhend, ging Mr. Carker, der Geschäftsführer, in den Wiesen umher und glitt unter den Alleen weiter, bis es Zeit war, zum Frühstück zurückzukehren. Er wählte dafür, seine Zähne lüftend, einen nähern Weg und sprach dabei laut vor sich hin:
»Jetzt werden wir die zweite Mrs. Dombey sehen!«
Er war weit über die Stadt hinausgekommen und bog jetzt in einen angenehmen Spazierweg unter schattigen Bäumen ein, wo da und dort einzelne Bänke zur Ruhe einluden. Der Platz war nie sonderlich besucht und hatte namentlich in der stillen Morgenzeit ein sehr verlassenes, abgeschiedenes Aussehen, so daß Mr. Carker ganz allein zu sein glaubte. In der Stimmung eines müßigen Mannes, dem für Erreichung seines Bestimmungsortes, an dem er leicht in zehn Minuten anlangen konnte, noch zwanzig übrig blieben, ging Mr. Carker in einer Wellenlinie unter den großen Baumstämmen weiter, indem er den einen rechts, den andern links ließ, und so eine Kette von Fußstapfen auf den tauigen Boden zeichnete.
Er fand jedoch, daß er sich in seiner Ansicht, allein auf dem Spazierwege zu sein, getäuscht hatte; denn als er leise um den Stamm eines starken Baumes herumkam, an dem die harte Rinde knotig und rissig war, wie die Haut eines Nashorns oder irgendeines vorsintflutlichen Ungeheuers, sah er unerwartet auf einer nahe gelegenen Bank, um die er im nächsten Augenblick seine Kette geschlungen haben würde, eine Gestalt sitzen.
Es war die einer elegant gekleideten, sehr schönen Dame, deren dunkle, stolze Augen auf dem Boden hafteten, und in der irgendeine Leidenschaft oder ein Kampf zu toben schien. Während sie nämlich so niederschaute, hatte sie einen Teil ihrer Unterlippe eingekniffen, ihre Brust wogte, ihre Nasenlöcher dehnten sich aus, das Haupt bebte, auf ihrer Wange zeigten sich Tränen des Unmuts, und ihr Fuß war so fest auf das Moos gesetzt, als wolle sie es zu Nichts zertreten. Und doch belehrte ihn fast derselbe Blick darüber, daß die erwähnte Dame in der Haltung geringschätziger Sorgfalt aufstand und weiterging, ohne daß sich in ihrem Gesicht oder ihrer Figur etwas anderes ausdrückte, als eine unbekümmerte Schönheit und eine herrische Weltverachtung.
Auch ein welkes, sehr häßliches altes Weib, das weniger wie eine Zigeunerin, sondern eher wie jene Mischlingsrasse von Vagabunden gekleidet war, die abwechselnd unter Bettel, Diebstahl, Kesselflicken und Korbflechten das Land durchziehen, hatte der Dame aufgelauert; denn als sie sich erhob, trat ihr jene zweite Gestalt, die in seltsamer Weise fast aus dem Boden aufzusteigen schien, in den Weg.
»Ich will Euch prophezeien, meine schöne Dame«, sagte die Alte, die mit ihren Kinnbacken mummelte, als wolle der Totenkopf unter ihrer gelben Haut hervorbrechen.
»Ich kann das selbst«, lautete die Antwort.
»Ja, meine hübsche Dame, aber nicht recht. Ihr habt nicht gut prophezeit, als Ihr so dasaßet. Ich sehe Euch dies an! Gebt mir ein Silberstück, hübsche Dame, und ich will Euch Eure Zukunft der Wahrheit gemäß sagen. Es liegen Reichtümer in Eurem Gesicht, schöne Dame.«
»Ich weiß es«, entgegnete die Dame, mit düsterem Lächeln und stolzem Schritt an ihr vorbeigehend. »Es ist mir nichts Neues.«
»Wie – Ihr wollt mir nichts geben?« rief die Alte. »Ihr wollt mir nichts dafür geben, daß ich Euch Euer Glück voraussage, hübsche Dame? Wieviel erhalte ich dann, wenn ich es Euch nicht sage? Gebt mir etwas, oder ich rufe es Euch nach!« krächzte die Alte leidenschaftlich.
Mr. Carker, an dem die Dame eben vorbeizugehen im Begriff war, wich gegen einen Baum zurück, als sie seinen Pfad kreuzte, um in den Weg einzubiegen, und trat dann so weit vor, um sie von vorne zu sehen und seinen Hut vor ihr abziehen zu können. Dabei hieß er die Alte schweigen. Die Dame dankte für seine Dazwischenkunft mit Kopfneigen und ging ihres Weges.
»So gebt Ihr mir etwas, oder ich rufe es ihr nach!« schrie die Alte, ihre Arme aufwerfend und gegen seine ausgestreckte Hand vordringend. »Ja«, fügte sie bei, ihre Stimme plötzlich dämpfend, während sie ihn ernst ansah und für einen Augenblick den Gegenstand ihres Zorns zu vergessen schien, »gebt mir etwa«, oder ich rufe es Euch nach!«
» Mir, alte Frau?« entgegnete der Geschäftsführer, die Hand in seine Tasche steckend.
»Ja«, sagte da« Weib, in ihrer Musterung beharrlich fortfahrend und ihre welke Hand hinhaltend. »Ich weiß –«
»Was wißt Ihr?« fragte Carker, der ihr einen Schilling zuwarf. »Könnt Ihr mir sagen, wer die schöne Dame ist?«
Mummelnd gleich dem Matrosenweib der alten Sage mit den Kastanien im Schoß, und finster blickend, wie die Hexe, die vergeblich einige davon forderte, las die Alte den Schilling auf und ging dann rückwärts wie ein Krebs oder wie ein Haufen von Krebsen; denn ihre abwechselnd sich ausbreitenden und wieder zusammenziehenden Hände konnten recht gut zwei Tiere dieser Art, und ihr kriechendes Gesicht noch ein halbes Dutzend davon vertreten. Auf der Wurzel eines alten Baumes sich niederkauend, zog sie aus der Krone ihres Hutes eine kurze schwarze Pfeife hervor, zündete sie mit einem Schwefelhölzchen an und rauchte stillschweigend, während sie zugleich den Frager fest ins Auge faßte. Mr. Carker lachte und wandte ihr den Rücken zu.
»Gut!« sagte die Alte. »Ein Kind tot und ein Kind am Leben. Ein Weib tot und ein anderes, das kommt. Geht und seht sie.«
Der Geschäftsführer blickte unwillkürlich wieder zurück und machte halt. Die Alte, die ihre Pfeife nicht entfernt hatte und unter dem Rauchen fortwährend mummelte und schwatzte, als verkehre sie mit einem unsichtbaren vertrauten Geist, deutete mit dem Finger in die Richtung, in der er ging, und lachte.
»Was habt Ihr gesagt, Mütterchen?« fragte er.
Die Alte mummelte, rauchte fort und deutete noch immer vor sich hin, ohne ihr Schweigen zu unterbrechen. Mr. Carker brummte einen Abschied, der keineswegs schmeichelhaft war, und setzte seinen Weg fort. Als er jedoch am Ende des Platzes wieder nach dem alten Baum zurückschaute, konnte er sehen, wie der Finger noch immer in die Richtung seines Weges deutete, und er meinte das Weib kreischen zu hören: »Geht und seht sie!«
Er fand, daß im Gasthause Vorbereitungen zu einem auserlesenen Mahle getroffen worden waren. Mr. Dombey, der Major und das Frühstück harrten auf die Damen. Ohne Zweifel hat die individuelle Konstitution viel mit der Entwicklung solcher Tatsachen zu schaffen, aber in dem gegenwärtigen Falle zeigte sich der Appetit nur schlecht, der zarten Leidenschaft gegenüber. Mr. Dombey war sehr ruhig und gefaßt; der Major aber dampfte in einem Zustand großer Hitze und Aufregung. Endlich öffnete der Eingeborene die Tür, und nach einer Pause, die in seinem lässigen Schlendern durch die Galerie ihren Grund hatte, erschien eine sehr blühende, aber nicht sehr jugendliche Dame.
»Mein lieber Mr. Dombey«, begann die Dame, »ich fürchte, wir haben uns etwas verspätet; aber Edith ist schon aus gewesen, um einen günstigen Gesichtspunkt für eine Skizze zu suchen, und ließ mich warten. Treulosester aller Majore« – sie gab ihm ihren kleinen Finger – »wie geht es Euch?«
»Mrs. Skewton«, sagte Mr. Dombey, »erlaubt mir, meinem Freund Carter ein Vergnügen zu machen«, – Mr. Dombey legte unwillkürlich einen Nachdruck auf das Wort Freund, als wollte er sagen: ›Es ist nicht eigentlich so gemeint: ich erlaube ihm nur die Ehre einer solchen Auszeichnung‹, – »indem ich ihn Euch vorstelle. Ich habe Mr. Carkers bereits bei Euch gedacht.«
»Ich bin in der Tat ganz bezaubert«, entgegnete Mrs. Skewton huldreich.
Mr. Carker war natürlich auch bezaubert. Würde er es wohl noch mehr um Dombeys willen gewesen sein, wenn er in Mrs. Skewton, wie er anfangs glaubte, die Edith gefunden hätte, auf die sie abends zuvor den Toast ausbrachten?
»Ach, um Himmels willen, wo bleibt denn Edith?« rief Mrs. Skewton, sich umsehend. »Sie ist wohl noch an der Tür und gibt Withers Aufträge über das Einrahmen jener Zeichnungen. Mein lieber Dombey, wollt Ihr die Güte haben –«
Mr. Dombey war bereits fort, um sie aufzusuchen. Im nächsten Augenblick kehrte er zurück und brachte am Arm dieselbe elegant gekleidete, sehr schöne Dame herbei, der Mr. Carker unter den Bäumen begegnet war.
»Carker –« begann Mr. Dombey.
Aber ihr wechselseitiges Erkennen war so augenfällig, daß Mr. Dombey überrascht innehielt.
»Ich bin dem Gentleman verpflichtet«, sagte Edith mit einer stattlichen Verbeugung, »weil er vor kurzem die Aufdringlichkeit einer Bettlerin von mir abwehrte.«
»Ich habe es meinem guten Glück zu danken«, versetzte Mr. Carker mit einer tiefen Verbeugung, »daß mir die Gelegenheit zuteil wurde, einer Dame, deren Diener zu sein ich mir zum Stolze rechne, einen so geringen Dienst zu leisten.«
Als ihr Auge einen Augenblick auf ihm ruhte und dann sich zu Boden senkte, bemerkte er in dem hellen spähenden Blick den Argwohn, daß er nicht in dem Zeitpunkt seiner Einmengung auf sie zugekommen, sondern im geheimen sie schon früher beobachtet habe. Wie er dies bemerkte, erkannte sie aus seinem Blicke, daß ihr Mißtrauen nicht ohne Grund sei.
»In der Tat«, rief Mrs. Skewton, die diese Gelegenheit benützt hatte, um Mr. Carker durch ihr Glas zu besichtigen, und dabei, wie sie dem Major hörbar zuflüsterte, zu der Überzeugung gekommen war, daß er ganz Herz sei – »in der Tat, dies ist wohl das wunderbarste Zusammentreffen, von dem ich je gehört habe. Schon der Gedanke! Meine liebe Edith, es liegt hierin so augenfällig eine Bestimmung, daß man sich wahrhaftig fast veranlaßt sehen könnte, über dem Brusttuch die Arme zu kreuzen und mit den ungläubigen Türken zu sprechen: es gibt keinen, wie heißt er doch, als der So und So, und Dingsda ist sein Prophet!«
Edith würdigte dieses höchst bemerkenswerte Zitat aus dem Koran keiner Antwort; aber Mr. Dombey hielt es für nötig, einige höfliche Bemerkungen einzuflechten.
»Es macht mir ein großes Vergnügen«, sagte Mr. Dombey mit schwerfälliger Galanterie, »daß ein Gentleman, der zu mir in so naher Beziehung steht wie Carker, die Ehre und das Glück hatte, Mrs. Granger auch nur den mindesten Beistand zu leisten.« Er begleitete diese Worte mit einer Verbeugung. »Trotzdem ist es mir peinlich, und ich möchte wahrhaftig neidisch werden auf Carker –« er legte auf diese Worte einen unwillkürlichen Nachdruck, als fühle er, daß sie die Eigenschaft einer sehr überraschenden Voraussetzung in sich trügen – »neidisch werden auf Carker, daß nicht mir selbst diese Ehre und dieses Glück zuteil wurde.«
Mr. Dombey verbeugte sich abermals. Edith aber blieb vollkommen bewegungslos, wenn wir das leichte Aufwerfen ihrer Lippen ausnehmen.
»Beim Himmel, Sir«, rief der Major bei dem Anblick des Kellners, der zu Anmeldung des Frühstücks hereingekommen war, in eine Rede ausbrechend, »es ist für mich etwas Außerordentliches, daß man nicht die Ehre und das Glück haben kann, alle solche Bettlerinnen durch den Kopf zu schießen, ohne dafür ins Protokoll genommen zu werden. Doch hier ist ein Arm für Mrs. Granger, wenn sie J.B. die Ehre erweisen will, ihn anzunehmen. Eben jetzt ist es der größte Dienst, den Euch Joe erweisen kann, Euch zur Tafel zu führen.«
Mit diesen Worten gab der Major Edith seinen Arm, und Mr. Dombey ging mit Mrs. Skewton voran, während Mr. Carker lächelnd nachfolgte.
»Ich bin sehr erfreut, Mr. Carker«, sagte die mütterliche Dame beim Frühstück, nachdem sie den Angeredeten abermals durch ihr Glas gemustert hatte, »daß Ihr Euern Besuch so glücklich eingerichtet habt, um uns heute begleiten zu können. Ich verspreche mir den bezauberndsten Ausflug.«
»Jeder Ausflug muß bezaubernd sein in solcher Gesellschaft«, entgegnete Carker, »aber ich glaube, er ist an sich schon reich an Interessantem.«
»O«, rief Mrs. Skewton mit einem kleinen, matten Ausruf des Entzückens, »das Schloß ist bezaubernd! – mittelalterliche Erinnerungen und alles das, was in der Tat so köstlich ist. Seid Ihr nicht auch ein Verehrer des Mittelalters, Mr. Carker?«
»O ja, in hohem Grade«, versetzte der Geschäftsführer.
»Welch' entzückende Zeiten!« rief Kleopatra, »So voll von Wahrheit! So schwunghaft und kräftig! So malerisch! So vollkommen fern von allen Gemeinplätzen! Ach Himmel, wenn sie unserer schrecklichen Zeit nur ein wenig mehr Poesie des Daseins übrig gelassen hätte!«
Mrs. Skewton sah, während sie das sprach, scharf nach Mr. Dombey hin, der seinerseits keinen Blick von Edith abwandte. Letztere hörte zu, ohne ihr Auge zu erheben.
»Wir sind schrecklich nüchtern, Mr. Carker«, fuhr Mrs. Skewton fort. »Meint Ihr nicht?«
Nicht viele Leute hatten Grund, sich weniger über ihre Nüchternheit zu beklagen, als Kleopatra, da sie so viel Falsches an sich hatte, als sich nur immer mit dem nüchternen Dasein eines Individuums vereinbaren ließ. Gleichwohl bedauerte Mr. Carker unsere Nüchternheit und stimmte mit ihr überein, daß wir in dieser Beziehung allerdings sehr verwahrlost seien.
»Die Gemälde im Schloß sind wahrhaft göttlich!« sagte Kleopatra. »Ich hoffe, Ihr seid ein Freund von Gemälden?«
»Ich kann Euch die Versicherung geben, Mrs. Skewton«, ergriff jetzt Mr. Dombey in feierlicher Ermutigung seines Geschäftsführers das Wort, »daß Carker in Beziehung auf Gemälde einen feinen Geschmack und von Natur aus den Geist eines Kenners besitzt. Er versteht sich selbst nicht übel auf Führung des Pinsels und wird, wie ich überzeugt bin, ganz entzückt sein von Mrs. Grangers Geschmack und Kunstfertigkeit.«
»Gott verdamm mich, Sir«, rief Major Bagstock, »ich glaube wahrhaftig, Ihr seid der bewunderungswürdige Carker und versteht Euch auf gar alles.«
»O«, versetzte Carker mit einem Lächeln der Demut, »Ihr seid viel zu zuversichtlich, Major Bagstock. Ich kann nicht viel. Mr. Dombey ist nur so großmütig in Würdigung jeder kleinen Geschicklichkeit, deren Erwerbung für einen Mann, wie ich, fast notwendig ist, obwohl er selbst in einer viel zu hohen Sphäre lebt, als daß – –«
Mr. Carker zuckte die Achseln, als wolle er jedes weitere Lob ablehnen, und sprach nicht weiter.
Diese ganze Zeit über erhob Edith ihre Blicke bloß gelegentlich, wenn ihre Frau Mama den ihr innewohnenden Feuergeist in Worten entströmen ließ; als jedoch Carker zu sprechen aufhörte, sah sie für einen Moment nach Dombey hin. Aber nur für einen Moment, und ihr Antlitz zeigte dabei einen flüchtigen Ausdruck spöttischer Verwunderung, der auch dem über den Tisch herüberlächelnden Beobachter nicht entging.
Mr. Dombey erfaßte die dunkle Wimper, wie sie im Begriff war, sich wieder zu senken, und benützte die Gelegenheit, sie zu fesseln.
»Leider werdet Ihr schon oft in Warwick gewesen sein«, sagte er.
»Schon mehrere Male.«
»So wird, wie ich fürchte, ein abermaliger Besuch dieses Platzes Euch nur Langeweile bereiten können.«
»O nein, durchaus nicht.«
»Ach, meine liebe Edith, du bist wie dein Vetter Feenir«, sagte Mrs. Skewton. »Er ist schon fünfzig für einmal in Warwick Castle gewesen, und wenn er morgen wieder nach Leamington käme – ich wünschte, der süße Engel täte es – so würde er schon tags darauf zum zweiundfünfzigsten Male wieder hingehen.«
»Nicht wahr, Mama, wir sind alle sehr begeistert?« entgegnete Edith mit einem kalten Lächeln.
»Vielleicht viel zu sehr für unsern Frieden, meine Liebe«, erwiderte die Mutter. »Aber wir wollen uns nicht beklagen, denn wir finden einen Lohn dafür in unfern eigenen Gefühlen. Wenn, wie unser Vetter Feenir sagt, das Schwert die – wie nennt man's doch? –«
»Scheide vielleicht?« versetzte Edith.
»Ganz richtig – die Scheide ein wenig zu schnell abnützt, so geschieht es, wie du wohl weißt, meine Liebe, aus keinem andern Grunde, als weil es scharf und blank ist.«
Mrs. Skewton ließ einen leichten Seufzer ertönen, der wahrscheinlich einen Schatten werfen sollte auf die hölzerne Waffe, deren Scheide ihr empfänglicher Busen war. Dann neigte sie nach Kleopatra-Art ihren Kopf auf die eine Seite und blickte mit sinniger Zärtlichkeit nach ihrem geliebten Kinde hin.
Edith hatte, als Mr. Dombey sie anredete, diesem ihr Gesicht zugekehrt und blieb, während sie ihre Mutter und diese wiederum die Tochter anredete, in der gleichen Haltung, als ob sie ihm alle Aufmerksamkeit schenken wolle für den Fall, daß er etwas Weiteres vorzubringen habe. In der Art dieser einfachen Höflichkeit lag fast etwas Trotziges; und sie hatte den Anschein, als werde sie durch Zwang oder eine gewisse Spekulation bedingt, an der die Dame sich nur mit Widerwillen beteiligte – ein Zug, der dem gleichen über den Tisch herüberlächelnden Beobachter ebenfalls nicht entging. Er vergegenwärtigte sie sich, wie sie ihm zum erstenmal erschien, als sie sich unter den Bäumen allein glaubte.
Das Frühstück, bei dem der Major wie eine Boa Constrictor geschluckt und gewürgt hatte, war jetzt vorüber, und da Mr. Dombey nichts weiter zu sagen wußte, so machte er den Vorschlag, den Ausflug anzutreten. Dem Befehle dieses Gentlemans gemäß wartete ein Wagen vor dem Hotel, und die beiden Damen sowohl als er selbst und der Major nahmen jetzt im Innern desselben Platz, während der Eingeborene und der spindeldürre Page den Bock bestiegen. Mr. Carker bildete zu Pferde die Nachhut, und Towlinson mußte zu Hause bleiben.
Mr. Carker trabte in einer Entfernung von etwa hundert Schritten hinter dem Wagen her und verwandte während der ganzen Fahrt keinen Blick davon, als sei er eine Katze, deren Aufgabe es war, auf die vier Insassen des Wagens wie auf ebenso viele Mäuse zu lauern. Wohin er auch schauen mochte – rechts oder links vom Wege, über die ferne Landschaft mit ihren sanften Wellenlinien, den Windmühlen, den Wiesen und Getreidefeldern, den wilden Blumen, Gehöften, Heuschobern und dem aus dem Walde hervorsehenden Kirchturm, aufwärts in die sonnige Luft, wo Schmetterlinge über seinem Kopfe spielten und Vögel ihre Lieder erschallen ließen, abwärts, wo die Schatten der Zweige sich verwoben und einen zitternden Teppich über den Boden breiteten, oder nach vorn, wo die überhängenden Bäume Ausblicke und Bogengewölbe bildeten, düster in dem sanften Lichte, das durch die Blätter drang – so haftete doch stets der eine Winkel seines Auges an dem ihm zugekehrten stattlichen Haupt des Mr. Dombey und an der Hutfeder, die in ihrem Wallen dieselbe Geringschätzung zeigte, wie jenes stolze Auge, das er sich hatte senken sehen, und das von diesem Eindrucke nichts verlor, wenn das Gesicht davor dem der Dame begegnete. Einmal – aber nur ein einziges Mal – schweifte sein spähender Blick von diesen Dingen ab. Das geschah, als ein Satz über ein niedriges Gehege und ein Galopp über das Feld ihn befähigte, dem Wagen zuvorzukommen, damit er bereit wäre, am Ziel der Fahrt den Damen beim Aussteigen seine Hand zu bieten. Damals und nur damals begegnete er ihrem Auge für einen Augenblick in ihrer ersten Überraschung; als er sie jedoch beim Aussteigen mit seiner weißen weichen Hand berührte, schenkte sie ihm wieder so wenig Berücksichtigung wie zuvor.
Mrs. Skewton ließ es sich nicht nehmen, in eigener Person über Mr. Carker ihre schützenden Fittiche zu breiten und ihm alle Schönheiten des Schlosses zu zeigen. Er und der Major mußten ihr den Arm geben. Eine solche Gesellschaft konnte jenem unverbesserlichen Menschen, der im Punkte der Poesie ein so barbarischer Ungläubiger war, nur zustatten kommen. Diese ganz unabsichtliche Maßnahme setzte Mr. Dombey in die Lage, sich ausschließlich Edith zu widmen; und er säumte nicht, diese Gelegenheit zu benutzen, indem er ihr den Arm bot und mit kavaliermäßiger Feierlichkeit vor dem ebengenannten Kleeblatt her durch die Zimmer schritt.
»Die köstlichen Zeiten der Vergangenheit, Mr. Carker«, sagte Kleopatra, »mit ihren entzückenden Festungswerken, ihren lieben alten Kerkern, den herrlichen Folterkammern, der romantischen Blutrache, den malerischen Kämpfen und Belagerungen und allem, was das Leben so wahrhaft zauberisch macht! Wie schrecklich sind wir entartet!«
»Ja, wir sind kläglich zurückgekommen«, bemerkte Mr. Carker.
Das Eigentümliche ihrer Unterhaltung bestand darin, daß Mrs. Skewton trotz ihrer Entzückungen und Mr. Carker bei all seiner Leutseligkeit kein Auge von Mr. Dombey und Edith verwandten. Eine Folge davon war, daß das Gespräch, ungeachtet der gesellschaftlichen Eigenschaften der Beteiligten, einen etwas zerstreuten, unzusammenhängenden Charakter gewann.
»Es ist entschieden keine Treue mehr übrig geblieben«, fuhr Mrs. Skewton fort, indem sie ihr welkes Ohr vorwärts schob, weil Mr. Dombey eben etwas zu Edith sagte. »Es fehlt uns die Treue jener köstlichen alten Ritter, der lieben Bischöfe, die selbst so kriegerische Männer waren, oder sogar die aus den herrlichen goldenen Tagen der unschätzbaren Königin Beß, Beß ist Abkürzung für Elisabeth (Königin von England, 1558-1603, Tochter Heinrichs VIII.) die wir an der Wand dort sehen. Welch ein köstliches Wesen! Sie war ganz Herz! Und dann ihr entzückender Vater! Ich hoffe, Ihr seid ein Verehrer Heinrichs VIII.?« König Heinrich VIII., geb. 1491, gest. 1547, war sechsmal vermählt. Er gründete die anglikanische Kirche.
»Er hat meine Bewunderung in hohem Grade«, versetzte Mr. Carker.
»So rauh und derb – meint Ihr nicht?« entgegnete Mrs. Skewton. »So wahrhaft englisch. Welchen Eindruck macht nicht sein Bild mit den lieben blinzelnden kleinen Augen und dem wohlwollenden Kinn!«
»Ah, Ma'am«, erwiderte Carker, plötzlich stehenbleibend, »weil Ihr eben von Bildern sprecht, so haben wir hier eine herrliche Komposition. Welche Gemäldegalerie der Welt wäre imstande, ein Gegenstück dazu zu bieten!«
Als der lächelnde Gentleman so sprach, deutete er durch eine Tür nach der Stelle hin, wo Mr. Dombey und Edith in der Mitte eines anderen Gemaches allein standen.
Sie wechselten weder Wort noch Blick, und während sie so – Arm in Arm – dastanden, hatte es den Anschein, als finde eine Trennung zwischen ihnen statt; weiter als die Scheidung durch endlose Meere. Auch in dem Stolz der beiden lag ein Unterschied, der sie sich gegenseitig mehr entfremdete, als wäre der eine Teil das hochmütigste, der andere das bescheidenste Wesen in der ganzen Schöpfung. Er dünkelvoll, unbeugsam, förmlich, streng – sie in ausgezeichnetem Grade lieblich und anmutig, ohne daß sie übrigens Rücksicht nahm auf sich selbst, auf ihn oder auf ihre Umgebung, da sie im Gegenteil mit hochmütigem Spott auf ihre eigenen Reize zu blicken schien, als seien sie nur ein ihr verhaßtes Abzeichen der Dienstbarkeit. Welch ungleiches Paar, sich so widerstrebend und durch eine von widrigen Zufällen geschmiedete Kette so ungereimt aneinandergefesselt, daß die Phantasie dem Gedanken Raum geben konnte, selbst die Bilder an der Wand hätten ihr Erstaunen über die unnatürliche Verbindung ausgedrückt und seien zu aufmerksamen Beobachtern geworden. Grimmige Ritter und Krieger schauten finster auf sie nieder. Ein Diener der Kirche erhob seine Hand in bitterer Anklage über den Hohn, daß ein solches Paar vor Gottes Altar treten wolle. Ruhige Wasserflächen in Landschaften mit der widerstrahlenden Sonne auf ihrer Tiefe fragten, ob es denn nicht ein besseres Mittel gebe zum Entrinnen, und ob ihr eigener feuchter Schoß nicht einen glücklicheren Ausweg biete. Ruinen riefen: ›Schaut her und seht, was wir sind in unserm Bunde mit einer uns nicht befreundeten Zeit‹. Tiere, von der Natur einander gegenübergestellt, befehdeten sich, als wollten sie ihnen zur Lehre dienen. Amoretten und Liebesgötter ergriffen entsetzt die Flucht, und das Märtyrertum zeigte keine ähnliche Qual in seiner gemalten Leidensgeschichte.
Gleichwohl war Mrs. Skewton von dem Anblick, auf den Mr. Carker ihre Aufmerksamkeit gelenkt hatte, so bezaubert, daß sie es sich nicht versagen konnte, halblaut vor sich hin zu sprechen, wie süß, wie so voll von Seele das sei. Edith, die es hörte, blickte zurück, und der Scharlach der Entrüstung breitete sich bis unter ihre Locken.
»Meine liebe Edith weiß, wie mein Herz an ihr hängt!« sagte Kleopatra, fast schüchtern mit ihrem Sonnenschirm sie auf den Rücken klopfend. »Mein süßes Leben!«
Abermals bemerkte Mr. Carker den Kampf, dessen unerwarteter Zeuge er unter den Bäumen gewesen. Aufs neue sah er, wie die stolze nachlässige Gleichgültigkeit ihr Antlitz überflog und es wie eine Wolke beschattete.
Sie erhob ihre Blicke nicht zu ihm; aber mit einem leichten entschiedenen Winke gegen das Kleeblatt hin schien sie ihrer Mutter zu befehlen, daß sie näher komme. Mrs. Skewton hielt es für zweckmäßig, dieser Andeutung Folge zu geben, und trat rasch mit ihren beiden Kavalieren heran, um sich fortan stets in der Nähe ihrer Tochter zu halten.
Da für Mr. Carker nichts mehr vorhanden war, was seine Aufmerksamkeit zerstreuen konnte, so begann er von den Gemälden zu sprechen, die besten auszuwählen und Mr. Dombey darauf aufmerksam zu machen. Er benahm sich dabei mit der gewohnten vertraulichen Anerkennung der Größe seines Chefs, dem er außerdem noch weitere Huldigungen darbrachte, indem er das Augenglas für ihn zurechtmachte, im Katalog die betreffende Nummer aufsuchte, Mr. Dombeys Stock hielt und dergleichen mehr. Allerdings gingen diese Dienstleistungen weniger von Mr. Carker selbst, als vielmehr von Mr. Dombey aus, der gerne seine Oberherrlichkeit an den Tag zu legen pflegte, indem er mit gedämpfter Würde und in nachlässiger Weise die Worte hinwarf – »da, Carker; wollt Ihr nicht die Güte haben, mir ein wenig beizustehen?« – eine Andeutung, welcher der lächelnde Gentlemen stets mit Vergnügen entsprach.
Sie machten ihren Rundgang durch die Gemäldesäle, an den Wänden hin usw., und da sie noch immer eine einzige kleine Partie bildeten, so kam der Major ziemlich in den Schatten zu stehen, weil er infolge des Verdauungsprozesses etwas schläfrig war, Mr. Carker aber in hohem Grade den Angenehmen und Mitteilsamen spielte. Dieser wandte sich anfänglich hauptsächlich an Mrs. Skewton; die empfindsame Dame geriet jedoch über die Kunstwerke so sehr in Verzückungen, daß sie nach der ersten Viertelstunde nur noch gähnen konnte – eine Reaktion auf die Begeisterung, wie sie es nannte, und ein Beweis des Übermaßes ihrer Wonne. Dies bewog ihn, seine Aufmerksamkeit mehr auf Mr. Dombey zu richten, der jedoch nicht viel weiter darauf erwiderte, als daß er gelegentlich ein »Sehr wahr, Carker«, oder ein »Wirklich, Carker?« hinwarf. Gleichwohl ermutigte er schweigend seinen Geschäftsführer und fand in seinem Innern dessen Benehmen sehr löblich. Er hielt es nämlich für passend, daß jemand redete, und er dem Gedanken Raum gab, Carkers Bemerkungen, die sozusagen von einem Zweig des Hauptgeschäfts ausgingen, könnten Mrs. Granger angenehm sein. Mr. Carker besaß Takt genug, sich nie die Freiheit zu nehmen, diese Dame unmittelbar anzureden, und sie wiederum schien zuzuhören, obschon sie nie nach ihm hinblickte. Nur ein- oder zweimal, wenn er seine eigentümliche Demut besonders nachdrücklich zeigte, schlich sich das gedämpfte Lächeln über ihr Gesicht, nicht aber wie ein Licht, sondern wie ein tiefer dunkler Schatten.
Warwick-Castle war endlich erschöpft und der Major ebenso, der Mrs. Skewton nicht zu gedenken, deren eigentümliche Wonneäußerungen in der Tat zuletzt sehr häufig geworden waren. Sofort wurde der Wagen wieder in Anspruch genommen, und sie fuhren nach den schönsten Stätten in der Umgegend. Bei einer von diesen Gelegenheiten machte Mr. Dombey in seiner förmlichen Manier die Bemerkung, daß eine Skizze – gleichviel, wie leicht hingeworfen – von der schönen Hand der Mrs. Granger ein teures Erinnerungszeichen an diesen angenehmen Tag für ihn sein würde, obschon natürlich – Mr. Dombey machte hier abermals eine Verbeugung – keine künstliche Beihilfe nötig sei, um dem heutigen Glück für ihn stets einen hohen Wert zu verleihen. Withers, der Spindeldürre, der Ediths Skizzenbuch unter dem Arm hatte, wurde unverzüglich von Mrs. Skewton aufgeboten, und der Wagen machte halt, damit Edith eine Zeichnung anfertige, die Mr. Dombey unter seinen Schätzen aufbewahren konnte.
»Aber ich fürchte, Euch allzusehr zu belästigen«, sagte Mr. Dombey.
»Keineswegs. Von welchem Punkt aus wünscht Ihr die Aufnahme?« antwortete sie, indem sie mit ihrer früheren erzwungenen Aufmerksamkeit sich an ihn wandte.
Mit einer weiteren Verbeugung, unter der die Stärke in der Halsbinde krachte, wollte Mr. Dombey dieses der Künstlerin überlassen.
»Es wäre mir lieber, wenn Ihr selbst eine Wahl träfet«, versetzte Edith.
»Wollen wir sagen, von hier aus?« entgegnete Mr. Dombey. »Die Stelle scheint sehr ansprechend zu sein – oder – was haltet Ihr davon, Carter?«
Zufälligerweise befand sich in einiger Entfernung eine Baumgruppe, derjenigen nicht unähnlich, in der Mr. Carker am Morgen seine Kette von Fußtritten gezogen hatte, und unter einem der Bäume stand ein Sitz, fast ganz so gelegen wie der Punkt, wo jene Kette unterbrochen worden war.
»Darf ich es wagen, Mrs. Granger anzudeuten«, sagte Carker, »daß jene Gruppe dort einen interessanten – fast bedeutsamen Gegenstand darbietet?«
Sie folgte mit ihren Augen der Richtung seiner Reitpeitsche und erhob sie dann rasch zu dem Gesicht des Sprechers. Es war der zweite Blick, den sie seit ihrer näheren Bekanntschaft ausgetauscht hatten, und er hatte große Ähnlichkeit mit dem ersten, nur daß sein Ausdruck viel verständlicher war.
»Gefällt Euch die Partie?« fragte Edith Mr. Dombey.
»Ich werde ganz bezaubert sein«, versetzte Mr. Dombey.
Der Wagen mußte deshalb nach der Stelle hinausfahren, die für Mr. Dombey so bezaubernd werden sollte, und Edith öffnete, ohne von ihrem Sitz aufzustehen, mit ihrer gewöhnlichen stolzen Gleichgültigkeit die Mappe, um ihre Skizze zu beginnen.
»Alle meine Bleistifte sind stumpf«, sagte sie, indem sie innehielt und die gedachten Zeichnungswerkzeuge musterte.
»Ich bitte, erlaubt mir«, entgegnete Mr. Dombey, »der Carker kann es vielleicht besser, da er sich auf dergleichen Dinge versteht. Carker, habt die Güte, für Mrs. Grangers Bleistifte zu sorgen.«
Mr. Carker ritt auf Mrs. Grangers Seite an den Kutschenschlag heran, ließ die Zügel auf den Hals seines Pferdes fallen, nahm mit einer lächelnden Verbeugung die Bleistifte aus ihrer Hand und setzte sich im Sattel zurecht, um sie zu spitzen. Nachdem er das getan hatte, bat er um die Erlaubnis, sie halten und ihr einhändigen zu dürfen, wie sie dieselben brauchte, und so blieb er unter vielen Lobsprüchen über ihre außerordentliche Geschicklichkeit, namentlich im Baumschlag, dicht an ihrer Seite und sah dem Fortschritt der Zeichnung zu. Mr. Dombey, der mittlerweile gleich einem hochachtbaren Gespenst kerzengerade im Wagen stand, verwandte gleichfalls keinen Blick von dem Papier, während Kleopatra und der Major wie ein paar alte Tauben miteinander schäkerten.
»Seid Ihr zufrieden damit, oder soll ich es noch ein wenig weiter ausführen?« fragte Edith, indem sie Mr. Dombey die Skizze zeigte. Mr. Dombey bat, sie möchte ja keinen Strich mehr daran machen, da das bereits Gelieferte etwas Vollkommenes sei.
»Es ist etwas Außerordentliches«, sagte Carker, sein Lob mit der ganzen Masse seines Zahnfleisches begleitend. »Auf etwas so Schönes und zugleich so Ungewöhnliches war ich nicht vorbereitet.«
Das ließ sich ebensogut auf die Zeichnerin als auf die Skizze anwenden. Aber Mr. Carkers Benehmen war die Offenheit selbst, nicht nur in Beziehung auf seinen Mund, sondern auch auf seinen ganzen Geist. So blieb es auch, während die Skizze für Mr. Dombey beiseite gebracht und das Zeichnungsmaterial wieder eingepackt wurde. Nachdem Mr. Carker die Bleistifte wieder abgegeben hatte – dies geschah unter einem abgemessenen Danke für seine Beihilfe, aber ohne Begleitung eines Blickes – griff er den Zügel wieder auf, blieb zurück und folgte aufs neue dem Wagen.
Während seines Rittes dachte er vielleicht, daß sogar diese unbedeutende Skizze gefertigt und dem Besteller überliefert wurde, als habe ein Kauf dabei stattgefunden. Vielleicht dachte er, obschon sie mit so vollkommener Bereitwilligkeit auf das Ersuchen einging, so sei doch ihr stolzes Gesicht, das sich über die Zeichnung niederbeugte oder auf die nachzubildenden fernen Gegenstände blickte, das einer hochmütigen Frau, die sich mit einem schmutzigen, erniedrigenden Geschäft abgeben mußte. Möglich, daß dergleichen Dinge sich seinem Geist vergegenwärtigten. Soviel ist aber gewiß, daß er lächelte und, während er in der Behaglichkeit der frischen Luft frei um sich her zu schauen schien, jenen Augenwinkel stets scharf nach dem Wagen spähen ließ.
Es folgte nun ein Spaziergang durch die unheimlichen Ruinen von Kenilworth, Gemeint ist das aus Walter Scotts Roman berühmt gewordene ehemalige Schloß Kenilworth, das einst Eduard II. zum Kerker diente. und dann fuhr man nach weiteren schönen Plätzen, von denen, wie Mrs. Skewton gegen Dombey bemerkte, Edith bereits die meisten aufgenommen hatte, wie ihm aus der Betrachtung ihrer Zeichnungen noch erinnerlich sein werde. So näherte sich der Ausflug dieses Tages seinem Ende zu. Mrs. Skewton und Edith fuhren nach ihrer Wohnung. Kleopatra lud noch Mr. Carker huldreich ein, abends mit Mr. Dombey und dem Major einen Besuch zu machen, damit er auch etwas von Ediths musikalischer Fertigkeit hören könne, und die drei Gentlemen begaben sich dann nach ihrem Hotel, um das Diner einzunehmen.
Das Mahl bildete ein Gegenstück zu dem gestrigen mit der einzigen Ausnahme, daß der Major um vierundzwanzig Stunden triumphierender und minder geheimnisvoll war. Abermals wurde auf Ediths Gesundheit angestoßen, und Mr. Dombey geriet wieder in eine angenehme Verlegenheit, während Mr. Carker der Lobpreisungen kein Ende finden konnte.
Mrs. Skewton empfing in ihrem Hause keine andern Besuche. Ediths Zeichnungen lagen vielleicht ein wenig reichlicher als gewöhnlich im Zimmer umher zerstreut, und Withers, der spindeldürre Page, wartete mit etwas stärkerem Tee auf. Die Harfe war da, das Piano war da, und Edith sang und spielte. Aber auch die Musik wurde von Edith nur auf Mr. Dombeys Wunsch in derselben unverheißungsvollen Weise sozusagen ausbezahlt. Wenigstens hatte es ganz diesen Anschein.
»Meine liebe Edith«, sagte Mrs. Skewton eine halbe Stunde nach dem Tee, »ich weiß, Mr. Dombey stirbt vor Verlangen, dich zu hören.«
»Ohne Zweifel ist in Mr. Dombey noch Leben genug übrig, um das selbst zu sagen, Mama«, versetzte die Tochter.
»Ich werde mich über die Maßen glücklich schätzen«, pflichtete Mr. Dombey bei.
»Was wünscht Ihr?«
»Das Piano?« entgegnete Mr. Dombey verlegen.
»Wie Euch beliebt. Es steht ganz in Eurer Wahl.«
Demgemäß begann sie mit dem Piano. Ebenso ging es mit der Harfe, mit dem Gesang und mit der Auswahl der Stücke, die sie singen und spielen sollte. Ein so kaltes und gezwungenes, aber doch so bereitwilliges Eingehen auf die Wünsche, die er gegen niemanden anders als gegen sie äußerte, daß es sogar durch alle die Geheimnisse des Piquets hinreichend auffallen mußte und Mr. Carkers scharfer Beobachtung nicht entgehen konnte. Auch die Tatsache wurde ihm klar, daß Mr. Dombey augenscheinlich stolz war auf seine Macht und sie gern zur Schau trug.
Gleichwohl spielte Mr. Carker so gut – bald eine Partie mit dem Major, bald eine mit Kleopatra, deren Wachsamkeit über Mr. Dombey und Edith kein Luchs hätte übertreffen können – daß er nur um so höher in der Gunst der gnädigen Mama stieg. Als er nämlich beim Abschied sein Bedauern ausdrückte, daß er am nächsten Morgen nach London zurückkehren müsse, gab Kleopatra der Hoffnung Raum, es werde wohl nicht das letztemal sein, daß sie zusammenträfen, denn einer solchen wechselseitigen Sympathie begegne man nicht jeden Tag.
»Ich hoffe das«, sagte Mr. Carker mit einem ausdrucksvollen Blick nach dem in der Ferne stehenden Paare hin, als er sich in Begleitung des Majors nach der Tür zurückzog. »Ich denke es.«
Nachdem Dombey einen pompösen Abschied von Edith genommen hatte, beugte er sich, so gut es bei seiner Steifheit gehen wollte, über Cleopatras Sofa nieder und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Ich habe Mrs. Granger um die Erlaubnis gebeten, sie in einer gewissen Angelegenheit morgen besuchen zu dürfen, und sie nannte mir zwölf Uhr. Darf ich wohl auf das Vergnügen hoffen, Madame, Euch nachher zu Hause zu finden?«
Ob dieser unbegreiflichen Sprache war natürlich Kleopatra so ergriffen und verwirrt, daß sie nur ihre Augen schließen, den Kopf schütteln und Mr. Dombey ihre Hand geben konnte, die dieser, da er nichts damit anzufangen wußte, wieder sinken ließ.
»Dombey, so kommt doch!« rief der Major zur Tür herein, »Gott verdamm mich, Sir, der alte Joe hat gute Lust, im Namen des Royal-Hotel eine Veränderung zu beantragen und es uns und Carker zu Ehren die drei fidelen Junggesellen nennen zu lassen.« Mit diesen Worten klopfte der Major Mr. Dombey auf den Rücken, blinzelte mit schrecklich rotem Kopf über seine Schulter nach den Damen hin und führte ihn ab.
Mrs. Skewton blieb in ihrer gestellten Pose auf dem Sofa, während Edith stumm bei ihrer Harfe saß. Die Mutter, die mit ihrem Fächer spielte, warf der Tochter mehr als einmal verstohlene Blicke zu, ohne daß diese sich dadurch stören ließ; denn sie brütete mit niedergeschlagenen Augen düster vor sich hin.
So verging eine lange Stunde in ununterbrochenem Schweigen, bis wie gewöhnlich Mrs. Skewtons Mädchen eintrat, um ihre Gebieterin allmählich für die Nacht vorzubereiten. Bei dieser Obliegenheit mochte die Dienerin eher wie ein Skelett mit Stundenglas und Hippe als wie ein Frauenzimmer erscheinen; denn ihre Berührung war die des Todes. Der bemalte Gegenstand welkte unter ihrer Hand. Die Gestalt sank zusammen, das Haar fiel ab, die gewölbten dunkeln Augenbrauen veränderten sich in dürftige graue Bürstchen, die blassen Lippen schrumpften ein, und die Haut wurde schlaff und leichenhaft. An Kleopatras Platz blieb nur ein altes, dürres, gelbes, nickendes Weib zurück, mit roten Augen, das wie ein Bündel schmutziger Wäsche in einen schmierigen Flanellappen eingewickelt war.
Sogar die Stimme, mit der sie Edith anredete, hatte sich verändert, als sie wieder allein waren.
»Warum sagst du mir nichts«, fragte sie in scharfem Tone, »daß du ihn auf morgen herbestellt hast?«
»Weil Ihr es schon wißt, Mutter«, entgegnete Edith.
Welch ein höhnischer Nachdruck, den sie auf das letzte Wort legte!
»Ihr wißt«, nahm sie wieder auf, »daß er mich gekauft hat, oder daß er es morgen tun wird. Die Ware mußte zuvor von seinem Freund beaugenscheinigt werden; er tut sich sogar etwas darauf zu gut, meint, sie könnte ihm passen und sei hinreichend billig zu haben, und deshalb will er morgen den Kauf abschließen. Gott, daß ich das erleben – daß ich dies fühlen muß!«
Drängt in ein einziges schönes Gesicht das Bewußtsein der Selbsterniedrigung und die glühende Entrüstung von hundert Frauen, stark in Leidenschaft und in Stolz, zusammen, und ihr habt dieses Bild hier hinter zwei weißen schaudernden Armen verborgen.
»Was meinst du damit?« erwiderte die Mutter zornig. »Hast du nicht von Kindheit auf –«
»Von Kindheit auf?« entgegnete Edith, nach ihr hinsehend. »Wann hatte ich eine Kindheit? Welche Kindheit habt Ihr mir je gelassen? Ich war alt an Arglist, Intrigen, habgieriger Gesinnung, und mußte den Männern Schlingen legen, noch ehe ich mich selbst und Euch kannte – noch ehe ich die Grundlage und den schändlichen Zweck eines jeden neuen Spieles verstand, das ich lernen mußte. Ihr habt mich zu einem Weibe geboren. Betrachtet sie – seht sie diesen Abend in ihrem Stolze.«
Und während sie so sprach, schlug sie mit ihrer Hand auf die schöne Brust, als wolle sie sich selbst niederschlagen.
»Seht mich an«, fuhr sie fort, »Ihr, die Ihr nie erfahren habt, was es ist um ein ehrliches Herz und um Liebe. Seht mich an, die gelehrt wurde, Anschläge zu schmieden, wo Kinder sich noch im Spiele umtreiben – die in ihrer Jugend, obschon alt an Ränken, zusammengekuppelt wurde mit einem Mann, für den sie kein anderes Gefühl hatte als Gleichgültigkeit. Seht mich an, die er als Witwe zurückließ, noch ehe sein Erbe auf ihn übergegangen war – ein wohlverdientes Gericht über Euch – und sagt mir, was seit zehn Jahren mein Leben gewesen ist.«
»Wir haben uns alle Mühe gegeben, dir eine gute Versorgung zu sichern«, versetzte die Mutter. »Das war die Aufgabe deines Lebens, und du hast sie jetzt erreicht.«
»Nie hat es eine Sklavin, nie ein Pferd auf dem Markt gegeben, die so angeboten, geprüft und zur Schau ausgestellt wurden, Mutter, wie ich im Lauf dieser zehn schimpflichen Jahre!« rief Edith mit glühender Stirne und demselben bitteren Nachdruck auf das nämliche in gesperrter Schrift gedruckte Wort. »Ist es nicht so? Habe ich nicht das Schlagwort für Männer aller Art abgeben müssen? Haben nicht Toren, Wüstlinge, Knaben und alte Gecken mit mir gespielt, und einer um den andern trat wieder zurück, weil Ihr mit aller Eurer Klugheit Euch zu plump benahmt – ja, und zu wahr auch mit allen jenen unaufrichtigen Vorspiegelungen – bis wir zuletzt fast allenthalben verschrien wurden? Bin ich nicht der Zügellosigkeit des Blickes und der Berührung preisgegeben worden« – fuhr sie mit blitzenden Augen fort – »an fast allen Sammelplätzen der Gesellschaft, die auf der Karte Englands zu finden sind? Wurde ich nicht da und dort verhökert und verkauft, bis der letzte Funke von Selbstachtung in mir erstarb und ich mir selbst zum Ekel war? Ist dies meine späte Kindheit gewesen? denn eine frühe kannte ich nicht. Ha, widersprecht mir das von allen Nächten meines Lebens nur nicht in der heutigen!«
»Du hättest wenigstens schon zwanzigmal gute Partien treffen können, Edith«, versetzte die Mutter, »wenn du dich ermutigender benommen haben würdest.«
»Nein! Wer den Abfall haben will, der ich bin und der ich zu sein verdiene«, erwiderte sie, indem sie den Kopf aufrichtete und in der Fülle ihrer Scham und ihres stürmischen Zornes erzitterte, »soll mich haben, wie dieser Mann, ohne daß von meiner Seite eine Kunst aufgeboten wird, um ihn zu verlocken. Er sieht mich in der Versteigerung und meint, es sei ganz passend, mich zu kaufen. Also schön! Da er kam, um mich in Augenschein zu nehmen und dann vielleicht sein Angebot zu machen, wollte er sich zuerst von der ganzen Liste meiner Eigenschaften überzeugen. Ich gab sie ihm. Verlangt er, daß ich ihm eine davon zeige, um den Kauf vor seinen Dienern rechtfertigen zu können, so soll er sagen, welche er fordert, und ich entspreche seinem Geheiß. Weiter will ich nichts tun. Er schließt den Handel aus freiem Willen und nach eigener Würdigung von dem Wert des zu Erstehenden in dem Vertrauen auf die Gewalt seines Geldes. Gebe Gott, daß er sich nicht täuschen möge. Ich habe nicht geprahlt und ihm die Ware aufgedrängt; auch von Euch ist es nicht geschehen, so weit es mir möglich war, Euch daran zu hindern.«
»Du sprichst heute seltsam mit deiner Mutter, Edith.«
»So scheint es mir – für mich wohl noch seltsamer, als für Euch«, erwiderte Edith. »Aber meine Erziehung ist schon längst beendigt. Ich bin jetzt zu alt und allmählich zu tief gesunken, um eine neue Bahn einzuschlagen, Euch in der Eurigen Einhalt zu tun und mir selbst zu helfen. Der Keim von allem, was ein weibliches Herz reinigt und es wahr und gut macht, hat in dem meinigen nie sein Leben gezeigt, und es bleibt mir nichts anderes, um mich aufrechtzuerhalten, als die Selbstverachtung.« Eine rührende Wehmut lag in ihrer Stimme, als sie dies sprach; aber sie entschwand schnell wieder, als Edith mit stolz aufgeworfener Lippe fortfuhr: »Da wir in vornehmer Armut leben, so füge ich mich darein, durch solche Mittel zu Reichtum zu gelangen, und ich sage nichts weiter, als daß ich den einzigen Entschluß, den ich an der Seite meiner Mutter zu bilden die Kraft hatte, zur Ausführung brachte. Ich habe diesen Menschen nicht verlockt.«
»Diesen Menschen?« entgegnete die Mutter. »Du sprichst, als ob du ihn hastest.«
»Und Ihr habt wohl geglaubt, daß ich ihn liebe?« entgegnete Edith, in ihrem Gang durch das Zimmer haltmachend und sich nach ihr umsehend. »Soll ich Euch sagen«, fuhr sie, die Augen fest auf ihre Mutter gerichtet, fort, »wer uns bereits vom Grund aus kennt, uns vollkommen richtig sieht, und vor dem ich sogar weniger Selbstachtung oder Vertrauen besitze als vor meinem eigenen Innern, weil mich diese seine Kunde von meinem Ich so tief herabwürdigt?«
»Vermutlich soll dies ein Angriff sein«, erwiderte ihre Mutter mit Kälte, »auf den armen unglücklichen – wie heißt er doch – Mr. Carker! Dein Mangel an Selbstachtung und Vertrauen, meine Liebe, in Beziehung auf diesen Mann, der mir sehr angenehm vorkommt, wird wahrscheinlich nicht viel Einfluß üben auf deine Versorgung. Warum siehst du mich so an? Bist du unwohl?«
Ediths Gesicht erblaßte plötzlich wie unter einem tiefen Schmerz, und während sie die Hand auf ihre Stirne drückte, bebte ein heftiges Zittern über ihren ganzen Körper. Das war jedoch schnell vorüber, und sie verließ mit ihrem gewöhnlichen Schritte das Zimmer.
Das Kammermädchen, das die Stelle des Sensenmannes so gut vertreten haben würde, trat nun wieder ein, reichte ihrer Gebieterin, die mit dem falschen Zauber auch ihr ganzes früheres Wesen abgelegt zu haben und mit dem Flanellgewand die Lähmung des Alters aufgenommen zu haben schien, den einen Arm, umfaßte mit dem anderen die Asche Kleopatras und trug sie zur Auferstehung am andern Morgen von hinnen.
Achtundzwanzigstes Kapitel. VERÄNDERUNGEN.
»So ist endlich der Tag gekommen, Susanna«, sagte Florence zu der trefflichen Nipper, »der uns zurückbringen soll nach unserer ruhigen Heimat.«
Susanna atmete mit einem Ausdruck, der sich nicht gut beschreiben läßt, tief ein, erleichterte ihre Gefühle noch weiter mit einem kurzen Husten und erwiderte:
»In der Tat sehr ruhig. Miß Florence, ohne Zweifel, im höchsten Grade ruhig.«
»Hast du, als ich noch jünger war«, fuhr Florence nach einem kurzen Nachsinnen gedankenvoll fort, »je den Gentleman gesehen, der sich nun schon dreimal die Mühe nahm, herunterzureiten, um mit mir zu sprechen – ich denke, es war dreimal, Susanna?«
»Ja, dreimal, Miß«, versetzte die Nipper. »Einmal waret Ihr auf einem Spaziergang ausgegangen mit jenen Sket –«
Florence blickte sie sanft an, und Miß Nipper hielt inne.
»Mit Sir Barnet und seiner Lady, wollte ich sagen. Miß, und mit dem jungen Gentleman. Und seitdem wieder an zwei Abenden.«
»Sahst du jenen Gentleman je in unserm Hause, Susanna, als ich noch ein Kind war und Gesellschaft zu kommen pflegte, um den Papa zu besuchen?« fragte Florence.
»Ach, Miß«, entgegnete Susanna, »wenn ich mich auch hin und her besinne, kann ich wahrhaftig doch nicht sagen, daß ich ihn je gesehen hätte. Als Eure liebe arme Ma starb, Miß Florence, war ich, Ihr wißt es ja, noch sehr neu in der Familie, und mein Element« – Miß Nipper warf sich in die Brust, als sei sie der Ansicht, daß ihre Verdienste von Mr. Dombey stets in den Schatten gestellt wurden – »bestand in dem Dachstübchen unter dem Boden.«
»Da konntest du natürlich alle die nicht kennenlernen«, versetzte Florence, noch immer gedankenvoll, »die ins Haus kamen. Ich habe das ganz vergessen.«
»Nein, Miß«, sagte Susanna; »aber wir sprachen viel von der Familie und den Besuchen, und da hörte ich allerlei, obschon die Wärterin vor Mrs. Richards in meiner Gesellschaft allerlei unangenehme Bemerkungen machte und gerne von kleinen Nasenweisen sprach, doch dies konnte nur seinen Grund in der Trunksucht des armen Geschöpfs haben« – fügte Miß Nipper mit gefaßter Nachsicht bei – »um derentwillen sie das Haus verlassen mußte.«
Florence, die an dem Fenster ihres Gemaches saß, das Gesicht auf ihrer Hand ruhen ließ und zum Fenster hinaussah, war so in Gedanken vertieft, daß sie kaum zu hören schien, was Susanna sagte.
»Jedenfalls erinnere ich mich sehr gut, Miß«, fuhr Susanna fort, »daß der gleiche Gentleman, Mr. Carker, in der guten Meinung Eures Vaters damals fast eben, wo nicht ganz so hoch stand, wie jetzt. Man pflegte zu jener Zeit im Hause zu sagen, Miß, er stehe in der City an der Spitze von allen Angelegenheiten Eures Vaters und verwalte das Ganze, Euer Vater nehme mehr Rücksicht auf ihn, als auf irgend jemanden, was, mit Eurer Erlaubnis, Miß Florence, nicht eben hoch geschworen ist, da er sich um andere Personen gar nicht kümmert. Dies merkte ich wohl, wie sehr ich auch ein Naseweis gewesen sein mag.«
In beleidigtem Hinblick auf die Wärterin vor Mrs. Richards legte Susanna Nipper auf das Wort »Naseweis« einen besonders kräftigen Nachdruck.
»Und daß Mr. Carker nicht in Ungnade geriet, Miß«, sagte sie weiter, »sondern seinen Boden behauptete und stets bei Eurem Vater in Kredit blieb, weiß ich aus dem, was jener Perch, so oft er ins Haus kommt, unter unsern Leuten erzählte. Dabei ist Perch das schwächste Rohr in der Welt, Miß Floy, und niemand kann es auch nur einen Augenblick mit dem Menschen aushalten, indes weiß er doch ziemlich gut, was in der City vorgeht, und er sagt, Euer Vater unternehme nichts ohne Mr. Carker, überlasse alles Mr. Carker, handle stets nach Mr. Carkers Rat und habe Mr. Carker stets an seiner Seite. Deshalb glaube ich auch, dieser schwächste von allen Perchen ist der Ansicht, daß nach Eurem Vater der Kaiser von Indien nur ein neugeborenes Kind sei gegen Mr. Carker.«
Nicht ein Wort dieses Redeschwalls ging an Florence verloren, die, nachdem Miß Nippers Vortrag ihr Interesse geweckt hatte, nicht länger zerstreut ins Freie hinausschaute, sondern nach ihrer Gefährtin zurückblickte und ihr aufmerksam zuhörte.
»Ja, Susanna«, sagte sie, nachdem diese junge Dame zum Schluß gekommen war, »es kann nicht fehlen, daß er ein Freund meines Papas ist und in dessen Vertrauen steht.«
Florences Geist hatte sich schon seit einigen Tagen viel mit diesem Gegenstand beschäftigt. Bei Gelegenheit der zwei Besuche, die jenem ersten folgten, hatte sich Mr. Carker eine Vertraulichkeit gegen sie herausgenommen – ein gewisses Recht, den Geheimnisvollen zu spielen, indem er ihr sagte, daß von dem Schiff noch immer keine Nachrichten eingelaufen – eine Art milder verhaltener Gewalt und Autorität über sie, die sie in Erstaunen setzte und ihr nicht wenig Unruhe bereitete. Sie hatte nicht die Mittel, diese Aufdringlichkeit zurückzuweisen oder sich von dem Gewebe zu befreien, das er allmählich um sie spann; denn einer solchen Annäherung zu begegnen, wären Schlauheit und Weltkenntnis erforderlich gewesen, die Florence abgingen. Allerdings hatte er nichts weiter zu ihr gesagt, als daß keine Neuigkeiten von dem Schiff eingelaufen seien und er darum das Schlimmste fürchte; aber wie konnte er wissen, daß sie sich für das Schiff interessierte. Welches Recht aber hatte er, seine Kunde davon ihr so schleichend und rätselhaft mitzuteilen? Das waren Umstände, die Florence sehr beunruhigten.
Mr. Carkers Benehmen und die Tatsache, daß Florence so oft staunend und besorgt sich Gedanken darüber machte, begannen dem Geschäftsführer in den Augen des armen Mädchens einen unheimlichen Zauber zu verleihen. Wenn sie sich sein Gesicht, seine Stimme und sein Wesen, das sie bisweilen vor sich heraufbeschwor, vergegenwärtigte und seine Persönlichkeit durch eine andere ihr liebevolle Gestalt zu überwinden suchte, war jener schattenhafte Eindruck nicht zu beseitigen. Und doch war sein Gesicht nie finster. Er blickte sie nie mit der Miene der Abneigung oder Feindseligkeit an, sondern benahm sich stets heiter und lächelnd.
Wenn dann Florence wieder auf den Entschluß zurückkam, den sie ihrem Vater gegenüber gefaßt hatte, und sie sich vorhielt, daß die zwischen ihnen bestehende Entfremdung, freilich ohne ihre Absicht, in ihr selbst begründet sei, so fiel der Gedanke nunmehr doppelt ins Gewicht, dieser Gentleman sei sein vertrauter Freund. Sie fragte sich mit klopfendem Herzen, ob nicht das in ihrem Innern kämpfende Gefühl der Abneigung und Furcht ein Teil jenes Unglücks sei, das ihr die Liebe des Vaters geraubt und sie so einsam in die Welt hingestellt hatte. Sie fürchtete, dies möchte der Fall sein, und glaubte es bisweilen sogar. Deshalb beschloß sie, diese ungerechte Gesinnung zu unterdrücken, und überredete sich, in der Aufmerksamkeit eines Freundes ihres Vaters liege eine Ehre und eine Ermutigung für sie, und das Vertrauen, das sie in ihn setze, werde zuletzt ihre wunden Füße über den steinigen Pfad wegführen, der in dem Herzen ihres Vaters endete.
In solcher Weise und allen Rats entbehrend – denn sie konnte sich niemandem gegenüber aussprechen, ohne daß es den Anschein gewann, als wollte sie Klage erheben – trieb sich die arme Florence auf einem stürmischen Meer von Zweifeln und Hoffnungen umher, während Mr. Carker gleich einem schuppigen Ungeheuer der Tiefe unten schwamm und sein funkelndes Auge auf sie geheftet hielt.
Bei alledem hatte Florences einen neuen Grund, sich wieder in die Heimat zu wünschen. Das einsame Leben paßte besser zu dem Strom ihrer scheuen Hoffnungen und Besorgnisse, und bisweilen fürchtete sie, daß durch ihre Abwesenheit irgendein verheißungsvoller Zufall, dem Vater ihre Liebe kundzugeben, versäumt werden könne. Der Himmel weiß, in dieser Beziehung hätte sich das erniedrigte Kind wohl beruhigen dürfen. Aber das verschmähte Herz pochte in ihr, selbst während des Schlafes, flog fort in ihren Träumen und schmiegte sich gleich einem zurückkehrenden Zugvogel an die väterliche Brust.
Auch an Walter dachte sie oft – ach, wie oft, wenn in düsteren Nächten der Wind um das Haus brauste. Aber die Hoffnung lebte kräftig in ihrem Innern. Selbst bei Erfahrungen wie den ihrigen wurde es einer warmen jugendlichen Seele schwer, der Vorstellung Raum zu geben, Jugend und Feuer könnten erlöschen wie eine schwache Flamme und der helle hoffnungsstarke Tag sich mitten auf seiner Lebenshöhe zur Nacht umwandeln. Zwar vergoß sie häufig Tränen über Walters mutmaßliche Leiden; aber der Gedanke an seinen Tod konnte nur selten und nie für lange in ihrem Innern Boden gewinnen.
Sie hatte dem alten Instrumentenmacher geschrieben; aber sie hatte keine Antwort erhalten, da letztere überhaupt nicht verlangt worden war. So standen die Angelegenheiten an dem Morgen, als Florence freudig den Heimweg antrat, um ihr einsames Leben wieder aufzunehmen.
Doktor und Mrs. Blimber waren in Begleitung ihres nur ungern mitziehenden Pfleglings, des Master Barnet, bereits nach Brighton zurückgekehrt, wo der junge Gentleman mit den übrigen Wallfahrern zum Parnaß ohne Zweifel unablässig beschäftigt war, die Studien wieder aufzunehmen. Die Ferien waren vorüber, die meisten jugendlichen Gäste hatten sich entfernt, und auch Florences langer Besuch nahm jetzt ein Ende.
Es war indessen noch ein anderer Gast zugegen, der zwar nicht im Hause wohnte, aber doch der Familie seine größte Aufmerksamkeit widmete und ihr fortwährend sehr zugetan blieb. Wir meinen niemanden anders als Mr. Toots. Dieser Gentleman hatte vor einigen Wochen die Bekanntschaft wieder aufgenommen, die ihn an jenem Abend, der ihn der Blimberschen Knechtschaft entriß und ihm mit dem Ring am Finger den Aufschwung in die Luft der Freiheit öffnete, so glücklich mit Skettles junior zusammenführte. Man machte regelmäßig jeden zweiten Tag einen Besuch. Bei diesen Gelegenheiten verbrauchte er an der Hallentür ein ganzes Paket Karten, so daß es den Anschein gewann, als sei Mr. Toots in einer Whist-Partie der Ausgeber und der Diener die mitspielende Person.
In der kühnen und glücklichen Idee, die wahrscheinlich ihren Ursprung in dem gärenden Hirn des Preishahns gewonnen, die Familie zu hindern, daß sie sein nicht vergesse, hatte sich Mr. Toots einen sechsruderigen Kutter angeschafft, der von den fahrlustigen Freunden des besagten Preishahns bemannt und von diesem hohen Charakter in Person gesteuert wurde. Der edle Steuermann trug zu diesem Zweck einen hellroten Feuermannsrock und verbarg das blaue Auge, mit dem er stets behaftet war, unter einem grünen Schirme. Vor der Erwerbung dieses Fahrzeugs holte Mr. Toots den Preishahn über einen hypothetischen Fall aus, indem er ihn fragte, wie er wohl das Schifflein nennen würde, wenn es ihm selbst gehörte und er in eine junge Dame, namens Mary, verliebt wäre. Der Preishahn erwiderte unter verschiedenen kräftigen Beteuerungen, daß unter solchen Umständen der Kutter den Namen »Poll« oder »des Preishahns Lust« führen müßte. Auf dieser Idee fortbauend, und unter Anwendung tiefen erfinderischen Studiums beschloß Mr. Toots, das Fahrzeug »Toots' Freude« zu taufen – als zartes Kompliment auf Florence, das nicht wohl jemand, der die beteiligten Personen kannte, mißverstehen konnte.
In seiner wackern Barke auf ein Scharlachpolster ausgestreckt und die Schuhe am Bordsrand trocknen lassend, war Mr. Toots wochenlang Tag um Tag den Fluß heraufgekommen. Bei solchen Gelegenheiten ließ er in der Nähe von Sir Barnets Garten die kunstgerechtesten Schwenkungen ausführen und die »Toots' Freude« in so bewunderungswürdiger Weise manöverieren, daß die Uferbewohner in das größte Erstaunen gerieten. So oft er aber jemand in dem bis ans Wasser hinunterlaufenden Garten des Sir Barnet bemerkte, tat er stets, als müsse er infolge einer Verkettung der auffallendsten Umstände daselbst hart am Lande vorbeifahren.
»Wie geht es Euch, Toots?« pflegte ihm Mr. Barnet zuzurufen und winkte vom Rasen aus ihm mit der Hand zu, während der verschmitzte Preishahn scharf uferwärts steuerte.
»Wie geht es Euch, Sir Barnet?« lautete Mr. Toots' Antwort. »Wie überraschend, daß ich Euch hier sehe.«
In seiner Schlauheit brauchte Mr. Toots stets die Phrase, als ob nicht Sir Barnets Haus in Flußnähe stände, sondern das, was er sah, irgendein verlassenes Gebäude an den Ufern des Nil oder des Ganges wäre.
»In meinem Leben ist mir nie eine solche Überraschung vorgekommen«, konnte Mr. Toots rufen. – »Ist Miß Dombey da?«
Vielleicht war sie in der Nähe und kam herzu.
»O, Diogenes ist ganz wohl, Miß Dombey«, pflegte dann Mr. Toots zu sagen. »Ich bin heute morgen dort gewesen, um nachzufragen.«
»Ich danke Euch recht sehr«, erwiderte Florences liebliche Stimme.
»Wollt Ihr nicht ans Land kommen, Toots?« nahm vielleicht Barnet das Gespräch wieder auf. »Ihr habt ja keine Eile. Kommt und macht uns einen Besuch.«
»O, es ist nicht von Belang – danke Euch!« konnte Toots errötend entgegnen. »Ich dachte nur, es könnte für Miß Dombey von Interesse sein, dies zu erfahren – das ist alles. Gott befohlen!«
Und der arme Toots, der vor Sehnsucht verging, die Einladung anzunehmen, gab mit blutendem Herzen dem Preishahn das Signal, worauf »Toots' Freude« wie ein Pfeil durch das Wasser weiterschoß.
An dem Morgen vor Florences Abreise lag der Kutter im Zustande außerordentlichen Glanzes vor der Treppe zum Garten, und als Miß Dombey aus ihrem Gemach herunterkam, um sich zu verabschieden, fand sie im Besuchszimmer Mr. Toots, der sie erwartete.
»O, wie geht es Euch, Miß Dombey?« begann der junge Gentleman, der, wenn er den sehnlichsten Wunsch seines Herzens, sie sprechen zu können, erreicht hatte, stets schrecklich verlegen war. »Im übrigen – ich bin in der Tat recht wohl und hoffe, bei Euch ist es auch der Fall. Auch bei Diogenes habe ich es gestern so gefunden.« »Ihr seid sehr gütig«, versetzte Florence.
»Danke Euch, – es ist nicht von Belang«, entgegnete Mr. Toots. »Ich dachte, Ihr hättet vielleicht Lust, bei diesem schönen Wetter die Rückreise zu Wasser zu machen, Miß Dombey. Das Boot hat Platz genug für Euch und Euer Mädchen.«
»Ich bin Euch sehr verbunden«, erwiderte Florence zögernd. »Ich weiß in der Tat – nein, ich will es lieber nicht tun.«
»O, es macht ja nichts«, sagte Mr. Toots. »Guten Morgen!«
»Wollt Ihr nicht ein wenig warten, bis Lady Skettles kommt?« fragte ihn Florence freundlich.
»O nein, danke Euch«, versetzte Mr, Toots, »es macht durchaus nichts.«
So scheu und verwirrt benahm sich Mr. Toots bei derartigen Anlässen! Da jedoch in diesem Augenblicke Lady Skettles eintrat, so wurde er plötzlich von einer wahren Leidenschaft ergriffen, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen und seine Hoffnung auszudrücken, daß sie recht wohl sei. Auch konnte er nicht aufhören, ihr die Hand zu reichen, bis Sir Barnet erschien, an den er sich sodann mit der Zähigkeit der Verzweiflung anklammerte.
»Ich kann Euch versichern, Toots«, sagte Sir Barnet mit einem Hinweis auf Florence, »daß wir heute das Licht unseres Hauses verlieren.«
»O, es macht – – ja, freilich etwas aus, wollte ich sagen«, stotterte Toots. »Recht guten Morgen!«
Ungeachtet dieser sehr nachdrücklichen Verabschiedung blieb doch Mr. Toots, statt sich zu entfernen, mit großen Augen stehen und blickte ausdruckslos umher. Um ihm aus seiner Verlegenheit zu helfen, sagte Florence der Lady Skettles unter vielen Dankesbezeugungen Lebewohl und reichte Sir Barnet ihren Arm.
»Meine teure Miß Dombey«, bemerkte Sir Barnet, als er den scheidenden Gast nach dem Wagen hinführte, »darf ich Euch bitten, Eurem lieben Papa meine besten Grüße auszurichten?«
Dieser Auftrag setzte Florence in große Betrübnis, denn es kam ihr vor, als täusche sie Sir Barnet, wenn sie ihn in dem Glauben lasse, eine ihr bewiesene Liebe gelte ebensogut auch ihrem Vater. Da sie jedoch hierüber keine Erklärung geben konnte, so neigte sie bloß das Haupt und dankte ihm. Dabei machte sie sich Gedanken, daß das einsame Haus, wo sie mit solchen Verlegenheiten, die nur ihren Schmerz erhöhen konnten, verschont blieb, die natürlichste und beste Zuflucht sei.
Diejenigen unter ihren neuen Bekannten, die sich noch in der Villa befanden, kamen jetzt aus dem Hause und Garten herbei, um sich von ihr zu verabschieden. Alle hatten sie lieb gewonnen und sagten ihr ein herzliches Lebewohl. Sogar dem Gesinde tat es leid, daß sie ging, und die Dienerschaft sammelte sich jetzt unter Knixen und Verbeugungen um den Kutschenschlag. Florence sah sich unter den freundlichen Gesichtern um. Sir Barnet mit seiner Gattin war zugegen, und in der Ferne bemerkte sie den kichernden Mr. Toots, der mit großen Augen nach ihr hinschaute. Das erinnerte sie an den Abend, an dem sie mit Paul Doktor Blimbers Anstalt verließ, und als der Wagen abfuhr, war ihr Antlitz feucht von Tränen.
Schmerzliche Tränen, aber zugleich auch Tränen des Trostes, denn jetzt tauchten alle die sanften Erinnerungen wieder in ihr auf, die ihr das öde alte Haus, nach dem sie zurückkehrte, teuer machten. Wie lange erschien ihr nicht der Zwischenraum, seit sie durch die schweigenden Zimmer gewandelt war – seit sie zum letzten Male leise und verstohlen nach dem Gemach ihres Vaters hinuntergeschlichen – seit sie den ernsten, aber doch beschwichtigenden Einfluß des geliebten Toten in jeder Handlung ihres Lebens empfunden hatte! Außerdem erinnerte sie dieser Abschied an ihr Lebewohl von dem armen Walter – an seine Blicke und Worte an jenem Abend, an das liebliche Zusammen von entschlossenem Mut und inniger Zärtlichkeit für die Zurückbleibenden, das sie an ihm bemerkt hatte. Auch seine kleine Geschichte stand im Zusammenhang mit dem alten Haus und verlieh diesem neue Ansprüche an ihr Herz.
Sogar Susanna Nipper fühlte eine mildere Stimmung gegen die Heimat so vieler Jahre, als sie auf dem Rückweg nach ihr hin begriffen waren, und obschon sie dem Düster des Hauses nur strenge Gerechtigkeit widerfahren lassen wollte, konnte sie ihm doch auch viel Nachsicht nicht versagen.
»Ich leugne es nicht, daß ich mich freue, wieder hinzukommen, Miß«, sagte die Nipper. »Das Haus hat zwar nicht viel, dessen es sich rühmen kann; aber ich möchte doch nicht, daß es in Flammen aufginge oder niedergerissen würde.«
»Du wirst froh sein, wieder durch die alten Zimmer gehen zu können – meinst du nicht, Susanna?« versetzte Florence lächelnd.
»Nun, Miß«, entgegnete die Nipper, deren Stimmung immer milder und milder wurde, je näher sie der Wohnung kamen, »ich will das nicht in Abrede stellen, obschon es recht wohl möglich ist, daß ich sie morgen wieder hassen werde.«
Für ihre Person fühlte Florence, daß dort ein größerer Friede zu finden sei als anderswo. Sie konnte ihr Geheimnis weit besser und leichter bewahren, wenn sie es in den hohen düstern Wänden einschloß, als wenn sie es mit sich ins Licht hinausnahm und versuchen mußte, es vor einer Menge glücklicher Augen zu verbergen. Sie konnte in der Einsamkeit dem Studium ihres liebenden Herzens viel mehr obliegen und hatte keine liebenden Herzen um sich her, die entmutigend auf sie wirkten. In dem ruhigen Heiligtum ihrer Erinnerungen konnte sie viel leichter und unbekümmerter hoffen, beten und fortlieben, ob auch alles um sie her moderte, rostete und verfiel. Ein neuer Schauplatz, wie heiter er auch sein mochte, gab ihr keine Gelegenheit dazu. Der alte Zaubertraum ihres Lebens war ihr willkommen, und sie sehnte sich darnach, wieder einmal die alte dunkle Tür hinter sich abschließen zu können.
Während sie mit solchen Gedanken erfüllt war, bog der Wagen in die lange düstere Straße ein. Florence saß nicht auf der Seite, die ihrem Hause zugekehrt war, und als sie diesem sich hinreichend genähert hatte, blickte sie zu den Fenstern hinaus nach den Kindern über der Straße drüben.
Als sie noch damit beschäftigt war, bewog sie ein Ausruf ihrer Gefährtin, plötzlich zurückzuschauen.
»Gütiger Himmel!« rief Susanna atemlos. »Wo ist denn unser Haus?«
»Unser Haus?« versetzte Florence.
Susanna, die den Kopf aus dem Kutschenfenster zurückgezogen hatte, steckte ihn wieder hinaus, und als der Wagen haltmachte, blickte sie abermals zurück, mit großem Erstaunen ihre Gebieterin ansehend.
Um das ganze Haus her von der Grundmauer an bis zum Dach war ein Labyrinth von Gerüsten aufgeschlagen. Ladungen von Ziegeln und Steinen, Haufen von Mörtel und hohe Holzschichten versperrten auf dieser Seite die halbe Breite und Länge der weiten Straße. An den Wänden lehnten Leitern, an denen Arbeiter auf- und niederstiegen. Auf den Brettern des Gerüstes waren Männer eifrig beschäftigt. Im Innern trieben sich Anstreicher und Dekorateure um. Aus einem Wagen vor der Tür wurden große Rollen von Tapeten abgeladen. Auch ein Tapeziererwagen versperrte den Weg. Durch die offenen und zerbrochenen Fenster der Zimmer war nirgends Möbelwerk zu sehen, und von der Küche unten bis hinauf zur Dachkammer wimmelte es von Arbeitern, die sich mit ihren verschiedenen Arbeitsgeräten umhertummelten. Innen und außen die gleiche Verwirrung. Maurer, Zimmerleute und Gipser – Hämmer, Sägen, Spitzäxte und Mörteltröge – alles zusammen arbeitend in vollem Chor.
Florence stieg aus der Kutsche, halb im Zweifel, ob dies wirklich das rechte Haus sein könne, bis sie Towlinson erkannte, der mit sonnverbranntem Gesichte unter der Tür stand, um sie zu bewillkommen.
»Es ist doch nichts vorgefallen?« fragte Florence.
»O nein, Miß.«
»Ich bemerke, daß hier große Veränderungen vorgehen.«
»Ja, Miß – große Veränderungen«, sagte Towlinson.
Als sei alles nur ein Traum, ging Florence an ihm vorbei und eilte die Treppe hinauf. Durch die lang verdunkelten Besuchszimmer strahlte das grellste Licht. Tritte und Plattformen waren darin angebracht, und auf den erhöhten Plätzen standen Männer mit Papiermützen. Das Porträt ihrer Mutter war samt den übrigen Möbeln fortgeschafft worden, und an der Stelle, wo ersteres gehangen, stand mit Kreide angeschrieben: »Dieses Zimmer in Fächern. Grün und Gold.« Wie die Außenseite des Gebäudes bestand auch das Treppenhaus aus einem Irrgewinde von Pfählen und Brettern, während ein ganzer Olymp von Bleigießern und Glasern in verschiedenen Haltungen an den Hochlichtfenstern lehnten. Das Innere ihres eigenen Gemachs war noch nicht berührt worden, aber außen hatte man Balken und Bretter aufgerichtet, die das Tageslicht ausschlossen. Sie eilte schnell nach jenem andern Schlafgemach, wo das kleine Bett stand. Ein schwarzer, riesiger Mann mit einer Pfeife im Mund, dessen Kopf mit einem Taschentuch umwickelt war, glotzte zum Fenster herein.
Hier fand Susanna Nipper ihre Gebieterin, die sie aufgesucht hatte, und sagte zu ihr, ob sie nicht zu ihrem Papa hinuntergehen wolle, da dieser sie zu sprechen wünsche.
»Er ist zu Haus und wünscht mich zu sprechen?« rief Florence zitternd.
Susanne, die noch viel verwirrter war als ihre Gebieterin, wiederholte ihren Auftrag, und Florence eilte blaß und aufgeregt ohne Zögern wieder hinunter. Auf dem Wege dachte sie, ob sie es wohl wagen dürfe, ihn zu küssen. Ihr sehnendes Herz antwortete auf diese Frage mit Ja.
Ihr Vater hätte dieses Herz pochen hören können, als es in seine Nähe kam. Ein einziger Augenblick, und es würde an seiner Brust geschlagen haben.
Aber er befand sich nicht allein. Es waren zwei Damen zugegen, und Florence hielt inne. Sie rang einen so schweren Kampf mit der Erregung ihres Innern, daß sie ohnmächtig zu Boden gesunken sein würde, wenn nicht ihr unvernünftiger Freund Di hereingestürmt wäre und sie mit seinen Liebkosungen bewillkommnet hätte. Über diesen ungebetenen Gast stieß eine der Damen einen leichten Schrei aus, und das lenkte die Aufmerksamkeit Florences von ihr selbst ab.
»Florence«, sagte ihr Vater, indem er seine Hand so steif ausstreckte, daß die Tochter ihm nicht nahen konnte, »wie geht es dir?«
Florence ergriff die Hand mit der ihrigen, drückte sie schüchtern an ihre Lippen und fügte sich geduldig, als er sie wieder zurückzog. Diese Hand hätte nicht kälter eine Tür zudrücken können, als sie das arme Mädchen berührte.
»Was ist das für ein Hund?« fragte Mr. Dombey mißvergnügt.
»Es ist ein Hund, Papa – – von Brighton.«
»Schon gut!« versetzte Mr. Dombey, und eine Wolke ging über sein Gesicht; denn er verstand sie.
»Er ist ein sehr gutmütiges Thier«, sagte Florence, sich mit ihrer natürlichen Anmut und Milde an die beiden fremden Damen wendend, »und freut sich nur, mich zu sehen. Ich bitte für ihn um Verzeihung.«
Der Austausch der Blicke belehrte sie, daß die sitzende Dame, die geschrien hatte, alt und die andere, die neben ihrem Vater stand, sehr schön und von eleganter Gestalt war.
»Mrs. Skewton«, sagte der Vater, sich an die erstere wendend und seine Hand ausstreckend, »dies ist meine Tochter Florence.«
»Wahrhaftig ganz bezaubernd«, bemerkte die Dame, von ihrem Augenglas Gebrauch machend. »So natürlich! Meine herzige Florence, Ihr müßt mich küssen, wenn Ihr so gut sein wollt.«
Nachdem Florence dieser Aufforderung entsprochen hatte, wandte sie sich an die andere Dame, an deren Seite ihr Vater stand.
»Edith«, sagte Mr. Dombey, »dies ist meine Tochter Florence. Florence, diese Dame wird bald deine Mama sein.«
Florence fuhr zusammen und blickte zu dem schönen Gesicht auf. Sie tat dies unter einem Widerstreit von Erregungen, in denen die Tränen, die dieser Name weckte, für einen Augenblick mit Überraschung, Teilnahme, Bewunderung und einer unbestimmten Furcht kämpften.
»O, Papa, mögt Ihr glücklich sein – sehr glücklich Euer ganzes Leben lang!« rief sie endlich und sank weinend der Dame an die Brust.
Es folgte ein kurzes Schweigen. Die schöne Dame, die anfangs nicht recht zu wissen schien, ob sie Florence entgegenkommen sollte oder nicht, hielt das Mädchen an ihrer Brust fest und drückte die sie umschlingende Hand, als wolle sie Florence ermutigen und trösten. Kein Wort glitt über ihre Lippen. Sie beugte sich zu Florence nieder und küßte sie auf die Wange, ohne jedoch zu sprechen.
»Wollen wir durch die Zimmer gehen und nachsehen, welche Fortschritte unsere Arbeiter machen?« fragte Mr. Dombey. »Gestattet mir, bitte, meine teure Madame.«
Mit diesen Worten bot er Mrs. Skewton seinen Arm. Diese hatte fortwährend Florence durch ihr Glas gemustert, als vergegenwärtige sie sich, was aus dem Mädchen werden könne, wenn demselben – ohne Zweifel aus ihrem eigenen, reichlich versehenen Vorratshaus – ein wenig mehr Herz und Natur eingegossen würde. Florence schluchzte noch immer an der Brust der jungen Dame und hielt sich an ihr fest, als man Mr. Dombey in dem Unterhaltungsraum sagen hörte:
»Wir wollen Edith fragen. Aber wo bleibt sie denn?«
»Edith, meine Liebe«, rief Mrs. Skewton, »wo bist du? Ich weiß, sie wird sich irgendwo nach Mr. Dombey umsehen. Wir sind hier, meine Liebe.«
Die schöne Dame ließ Florence los, drückte hastig noch einen Kuß auf ihr Antlitz und eilte fort, um sich den beiden anzuschließen. Florence blieb glücklich und bekümmert, freudig und in Tränen, allezumal, ohne daß sie wußte, wie dies kam, auf derselben Stelle stehen, bis ihre neue Mama zurückkehrte und sie wieder in ihre Arme nahm.
»Florence«, sagte die Dame rasch, indem sie ihr mit großem Ernst ins Gesicht sah, »du wirst gewiß nicht damit anfangen, daß du mich hassest?«
»Daß ich Euch hasse, Mama?« rief Florence, indem sie den Arm um ihren Hals schlang und den Blick mit Innigkeit erwiderte.
»Still! Fange damit an, daß du gut von mir denkst«, sagte die schöne Dame. »Glaube, daß ich versuchen will, dich glücklich zu machen, und daß ich darauf vorbereitet bin, dich zu lieben. Florence, Gott sei mit dir. Wir werden uns bald wiedersehen. Lebe wohl! Du darfst jetzt nicht hier bleiben.«
Sie drückte sie aufs neue an die Brust – ihre Worte waren zwar hastig, aber fest gewesen – und Florence sah, daß sie zu den andern in das nächste Zimmer zurückkehrte.
Florence begann jetzt der Hoffnung Raum zu geben, sie werde von ihrer neuen schönen Mama lernen können, wie sie die Liebe ihres Vaters gewinnen müsse. Als sie die erste Nacht wieder in ihrer alten Heimat schlief, lächelte ihre eigene Mama mit leuchtendem Antlitz dieser Hoffnung zu und segnete sie. Arme träumende Florence!
Neunundzwanzigstes Kapitel. WIE MRS. CHICK DIE AUGEN AUFGEHEN.
Miß Tox wußte nicht das mindeste von den merkwürdigen Erscheinungen um Mr. Dombeys Haus, als da waren Gerüste, Leitern und Männer, die ihre Köpfe mit Taschentüchern umwickelten und gleich fliegenden Genien oder fremden Vögeln zu den Fenstern hineinschauten. In dem gegenwärtigen verhängnisvollen Zeitpunkt unserer Geschichte hatte sie eines Morgens in der gewohnten Weise ihr Frühstück eingenommen, das aus einer französischen Semmel, einem angeblich frisch gelegten Ei und einem kleinen Teetopf bestand, worin ein kleiner Kaffeelöffel voll des würzigen Krauts ihrer selbst wegen und ein anderer wegen des Teetopfs übergossen worden war – ein Phantasieflug, an dem gute Haushälterinnen eine besondere Freude zu haben scheinen. Nachdem sie ihr Mahl eingenommen, ging sie die Treppe hinauf, um auf ihrem Klavier den Vogelwalzer zu quälen, ihre Blumen zu begießen und zu ordnen, ihre Siebensachen abzustäuben und der täglichen Gewohnheit zufolge ihr kleines Wohnzimmer zur Zierde des Prinzessinnenplatzes zu machen.
Miß Tox pflegte diese Obliegenheiten in alten Handschuhen, die wie welke Blätter aussahen und die sonst vor allen menschlichen Blicken in der Tischlade verborgen waren, zu vollbringen. Dabei verfuhr sie ganz methodisch, indem sie mit dem Vogelwalzer anfing und infolge einer sehr natürlichen Ideenverknüpfung auf ihren Vogel überging – ein hochschultriges Exemplar der Kanarienzunft, der weit in den Jahren vorgerückt und sehr stutzfederig, aber dabei, wie der Prinzessinnenplatz wohl wußte, ein gellender Sänger war. Zunächst kam die Reihe an die kleinen Nippes-Sachen, an das Pechpapier für die Fliegen usw., bis endlich im Lauf der Zeit auch die Pflanzen bedacht wurden, die in der Regel aus einem botanischen Grund, der für Miß Tox sehr wichtig war, da und dort des Beschneidens mit der Schere bedurften.
Miß Tox kam jenen Morgen erst spät zu ihren Pflanzen. Das Wetter war warm, und der südliche Wind wehte wie ein Sommerseufzer über den Prinzessinnenplatz, so daß ihre Gedanken sich unwillkürlich dem Lande zuwandten. Der Bierjunge aus dem Prinzessinnenwappen stand unten mit einer Gießkanne und befeuchtete den ganzen Prinzessinnenplatz in kühnen Schnörkeln, dadurch dem grasigen Grund einen frischen Duft verleihend – ein richtiger Geruch des Wachsens, wie Miß Tox sagte. Von der großen Straße um die Ecke aus ließ sich ein kleiner Sonnenblick unterscheiden, und die rauchbraunen Sperlinge hüpften darüber hin und her, während des Durchgangs frisch erglänzend, oder badeten sich darin wie in einem Strome und wurden zu verklärten Sperlingen, die in keiner Beziehung zu den Schornsteinen standen.
Legenden zum Preise des Ingwerbiers mit malerischen Illustrationen von durstigen Kunden, die ihre Nasen im Schaum stecken hatten oder von fliegenden Stöpseln betäubt waren, sah man in dem Fenster des Prinzessinnenwappens zur Schau ausgestellt. Irgendwo außerhalb der Stadt wurde Heu eingeerntet, und obgleich der Duft davon einen weiten Weg zu machen und mit allerlei widerstreitenden Gerüchen zu kämpfen hatte – Gottes Lohn über die würdigen Gentlemen, die für die Pest als für eine weise Einrichtung unserer Vorfahren Partei nehmen und nach ihren kleinen Kräften ihr Möglichstes aufbieten, um solche Wohnungen elend zu erhalten – so wehte er doch leicht nach dem Prinzessinnenplatz herüber und flüsterte von Natur und gesunder Luft. Das pflegen dergleichen Dinge ja auch unter Gefangenen und unterdrückten Unglücklichen zu tun, ohne sich an Aldermen und Ritter zu kehren; denn wie weise diese Ehrenmänner auch ihre Köpfe schütteln können – und sie können's sicherlich in hohem Grade – so nimmt doch die rollende Welt fortwährend ihren alten Gang.
Miß Tox nahm an dem Fenstersitz Platz, sich in Gedanken an ihren guten Papa ergehend, an den seligen Zolleinnehmer Mr. Tox, und an ihre Kindheit, die sie unter einer beträchtlichen Menge kalten Teers und einiger Ländlichkeit in einer Hafenstadt zugebracht hatte. Sie erinnerte sich dabei der alten Zeiten mit ihren Wiesen, die sich im Schmuck ihrer gelben Butterblumen wie umgekehrte Firmamente mit zahllosen goldenen Sternen ausgenommen hatten. Sie gedachte der Ketten aus Löwenzahnstengeln, die sie für unterschiedliche, in Nanking gekleidete jugendliche Versicherer ewiger Liebe angefertigt hatte, obschon diese Fesseln gar bald welkten und zerbrachen.
Von ihrem Fenstersitze aus nach den Sperlingen und dem Sonnenblick hinschauend, dachte Miß Tox auch an ihre gute selige Mama, die Schwester eines Mannes mit gepudertem Kopf und Haarbeutel, an ihre Tugenden und an ihren Rheumatismus. Und als endlich ein latschbeiniger Mann mit rauher Stimme und auf dem Kopfe einen schweren Korb, der seinen Hut zu einer bloßen schwarzen Semmel zusammendrückte, durch den Prinzessinnenplatz herunter Blumen zum Verkauf ausbot, so daß bei jedem Ruf die schüchternen kleinen Maßliebchensprossen zitternd zusammenschauderten, als sei der Träger ein Werwolf, der mit kleinen Kindern hausiere, – da wurden in Miß Tox die Sommererinnerungen so übermächtig, daß sie den Kopf schüttelte und vor sich hinmurmelte, sie werde beziehungsweise wohl alt werden, ehe sie es erfahre – eine Vermutung, die große Wahrscheinlichkeit für sich hatte.
Die Kette ihrer Gedanken folgte auch Mr. Dombeys Spur – ohne Zweifel, weil der Major wieder in seine Wohnung zurückgekehrt war und sich eben erst von seinem Fenster aus gegen sie verbeugt hatte. Welchen andern Grund konnte Miß Tox haben, Mr. Dombey mit ihren Sommertagen und den Löwenzahnketten in Verbindung zu bringen? War er heiterer? dachte sie. Hatte er sich in den Schluß des Schicksals gefunden? Heiratete er wohl wieder und – falls diese Frage zu bejahen war – wen? Was für eine Person mochte ihm jetzt zusagen?
Eine Glut – es war warm Wetter – breitete sich über ihr Gesicht, als sie im Laufe dieser Betrachtungen ihren Kopf umwandte und überrascht in dem Spiegel über dem Kamin ihres eigenen Abbildes ansichtig wurde. Diese Glut wiederholte sich bei dem Einfahren einer kleinen Equipage in den Prinzessinnenplatz, die geradewegs nach ihrer Tür einbog. Miß Tox stand auf, griff hastig nach ihrer Schere, um endlich an ihre Pflanzen zu kommen, und war eben eifrig mit diesen beschäftigt, als Mrs. Chick ins Zimmer trat.
»Wie geht es meiner teuersten Freundin?« rief Miß Tox mit offenen Armen.
In dem Benehmen der teuersten Freundin machte sich ein etwas vornehmes Wesen bemerklich; sie küßte jedoch Miß Tox und erwiderte:
»Danke Euch, Lukretia – es geht mir ziemlich gut, und ich hoffe von Euch dasselbe. Hem!«
Mrs. Chick litt an einem eigentümlichen, kurzen, einsilbigen Husten – er war eine Art ABC-Buchübung – eine leichte Einführung in die Kunst, zu husten.
»Wie freundlich ist es von Euch, daß Ihr mich so früh besucht, meine Liebe«, fuhr Miß Tox fort. »Habt Ihr schon gefrühstückt?«
»Ja, ich danke Euch, Lukretia«, versetzte Mrs. Chick. »Ich nahm es bei meinem Bruder ein«, fuhr sie fort und sah sich auf dem ganzen Prinzessinnenplatz um, der ein besonderes Interesse für sie gewonnen zu haben schien, »der wieder zurückgekehrt ist.«
»Ich hoffe, meine Liebe, er befindet sich besser?« stotterte Miß Tox.
»O ja – viel besser, ich danke Euch. Hem!«
»Meine liebe Louisa muß sich mit diesem Husten in acht nehmen«, bemerkte Miß Tox.
»Es macht nichts«, versetzte Mrs. Chick. »Nur die Veränderung des Wetters. Wir sehen einem Wechsel entgegen.«
»Des Wetters?« fragte Miß Tox in ihrer Einfalt.
»In allem«, erwiderte Mrs. Chick. »Es ist natürlich. Wir leben in einer Welt voll Wechsel. Ich müßte mich sehr wundern, Lukretia, und meine gute Meinung von dem Verstand der Person aufgeben, die es versuchen wollte, einer so augenfälligen Wahrheit zu widersprechen oder auszuweichen. Ja, Veränderung«, fuhr sie mit strenger Philosophie fort. »Du, mein Himmel, wo ist etwas, das sich nicht veränderte! Sogar der Seidenwurm, von dem man wahrhaftig so etwas am allermindesten erwarten sollte, verändert sich in alle Arten unglaublicher Objekte.«
»Meine liebe Louisa ist immer sehr glücklich in ihren Bildern«, versetzte Miß Tox sanft.
»Ihr seid, glaube ich«, entgegnete Mrs. Chick ein wenig milder, »so gütig, zu sprechen, wie Ihr denkt, ich hoffe, Lukretia, wir beide werden nie Anlaß finden, von uns gegenseitig eine geringere Meinung zu gewinnen.«
»Gewiß nicht«, sagte Miß Tox.
Mrs. Chick hustete wieder wie zuvor und zog mit der Elfenbeinspitze ihres Sonnenschirms Linien auf den Teppich. Miß Tox, die ihre schöne Freundin aus Erfahrung kannte und recht wohl wußte, daß sich bei ihr unter der leichten Maske der Erschöpfung oder des Verdrusses eine Art redseliger Reizbarkeit zu verbergen pflegte, benutzte diese Pause, um auf einen andern Gegenstand überzugehen.
»Verzeiht mir, meine teure Louisa«, sagte sie, »aber ich glaube, in Eurem Wagen die männliche Gestalt des Mr. Chick bemerkt zu haben.«
»Er ist mitgekommen«, versetzte Mrs. Chick; »aber ich bitte, laßt ihn nur unten. Er hat seine Zeitung und ist damit für die nächsten paar Stunden vollkommen zufriedengestellt. Fahrt nur an Euren Blumen fort und erlaubt mir, daß ich hier niedersitze und ausruhe.«
»Meine Louisa weiß«, bemerkte Miß Tox, »daß zwischen Freundinnen, wie wir, von Förmlichkeiten entfernt nicht die Rede sein kann. Deshalb – –«
Deshalb endigte Miß Tox ihren Satz nicht mit Worten, sondern durch die Tat, indem sie die abgenommenen Handschuhe wieder anlegte, sich aufs neue mit der Schere bewaffnete und diese mit mikroskopischer Emsigkeit unter den Blättern arbeiten ließ.
»Florence ist auch zurückgekehrt«, sagte Mrs. Chick nach einer Weile, während der sie, den Kopf auf die Seite gesenkt, ihre Zeichnungen mit der Sonnenschirmspitze fortgesetzt hatte; »und in der Tat, sie ist jetzt viel zu alt, um länger das einsame Leben zu führen, das ihr zur Gewohnheit wurde. Dies fehlt nicht – es kann kein Zweifel darüber obwalten. Ich könnte wahrhaftig nicht viele Achtung vor der Person haben, die einer andern Ansicht das Wort reden wollte. Nein, ich vermöchte es wirklich nicht, sie zu achten, wie sehr sie auch das Gegenteil wünschte; denn so weit können wir nicht über unsere Gefühle gebieten.«
Miß Tox pflichtete ihr bei, obschon sie nicht recht begreifen konnte, was ihre Freundin eigentlich damit wollte.
»Wenn sie ein seltsames Mädchen ist«, fuhr Mrs. Chick fort, »und wenn sich mein Bruder nach allen den traurigen Vorgängen und den schrecklich getäuschten Erwartungen nicht recht behaglich fühlen kann in ihrer Gesellschaft – was läßt sich dann sagen? Daß er eine Anstrengung machen muß. Daß es seine Pflicht ist, eine Anstrengung zu machen. Wir sind stets eine Familie gewesen, die sich durch Anstrengungen auszeichnete. Paul steht an der Spitze der Familie – ist fast der einzige noch übrig gebliebene Repräsentant – denn was bin ich? Ich komme nicht in Betracht –«
»Meine Teuerste«, verwies ihr Miß Tox.
Mrs. Chick trocknete die Augen, die für einen Augenblick zum Überlaufen gekommen waren, und sprach weiter:
»Folglich ist er mehr als je verpflichtet, eine Anstrengung zu machen. Und obwohl er es getan hat, wandelt es mich doch wie eine Art Schauder an; denn meine Natur ist sehr schwach und töricht, was ich gewiß nicht als einen Segen betrachten kann. Ich wünsche oft, mein Herz möchte eine Marmorplatte sein oder ein Pflasterstein –«
»Meine süße Louisa«, stellte ihr Miß Tox abermals vor.
»Dennoch liegt für mich ein Triumph in dem Bewußtsein, daß er sich so treu bleibt und daß sein Name Dombey ist – obwohl ich natürlich nichts anderes von ihm erwarten konnte. Ich hoffe nur«, sagte sie nach einer Pause, »daß sie sich auch des Namens würdig erweisen möge.«
Miß Tox füllte aus einem Krug ein grünes Gießkännchen, und als sie nach Verrichtung dieses Geschäftes zufällig aufblickte, wurde sie von der Fülle des Ausdrucks, den Mrs. Chick in ihr Gesicht legte, so überrascht, daß sie das kleine Kännchen auf den Tisch niedersetzte und neben diesem Platz nahm.
»Meine teure Louisa«, sagte Miß Tox, »würde es Euch vielleicht ein bißchen befriedigen, wenn ich daraufhin zu sagen habe, daß meiner geringen Ansicht nach Eure süße Nichte ein in jeder Beziehung vielversprechendes Mädchen ist?«
»Was wollt Ihr damit sagen, Lukretia?« entgegnete Mrs. Chick mit erhöhter Vornehmheit in ihrem Wesen. »Auf welche meiner Worte bezieht Ihr diese Erwiderung, meine Liebe?«
»Daß sie sich dieses Namens würdig erweisen werde, teure Luisa«, sagte Miß Tox.
»Wenn ich mich nicht klar ausgedrückt habe«, versetzte Mrs. Chick mit feierlicher Geduld, »so liegt der Fehler natürlich an mir. Es ist vielleicht kein Grund vorhanden, warum ich mich überhaupt darüber aussprechen sollte – wenigstens kein anderer, als die so lange zwischen uns bestehende Vertraulichkeit, und ich hoffe von Herzen, Lukretia – hoffe es zuversichtlich, daß sich nichts ereignen wird, was ihr Abtrag tun könnte. Warum sollte ich nicht? Ich wüßte keinen Gegenanlaß dafür – es wäre ungereimt. Aber ich wünsche mich klar auszudrücken, Lukretia; und um wieder auf jene Bemerkung zurückzukommen, muß ich sagen, daß sie sich in keiner Weise auf Florence bezog.«
»Nicht?« erwiderte Miß Tox.
»Nein«, sagte Mrs. Chick kurz und entschieden.
»Verzeiht mir, meine Liebe«, versetzte ihre milde Freundin; »so habe ich Euch wohl nicht verstanden. Ich fürchte, daß ich etwas schwer begreife.«
Mrs. Chick sah sich in dem Zimmer um und über den Weg hinüber, nach den Pflanzen, dem Vogel, der Gießkanne und fast allem Erblickbaren, nur nicht nach Miß Tox. Endlich traf ihr Auge auf dem Weg nach dem Boden diese Dame und blieb einen Augenblick auf ihr haften. Dann sagte sie, während ihre erhobenen Augenbrauen nach dem Teppich gelichtet waren:
»Wenn ich von der spreche, Lukretia, die seines Namens würdig sein soll, so meine ich die zweite Gattin meines Bruders Paul. Ich glaube, Euch, wenn auch nicht gerade mit den gleichen Worten, mitgeteilt zu haben, daß er sich wieder zu vermählen gedenkt.«
Miß Tox stand hastig von ihrem Sitz auf und kehrte zu ihren Pflanzen zurück, wo sie unter den Blättern und Stengeln ebenso unbarmherzig zwickte, wie ein Barbier, der einem Häuflein Armer die Haare schneidet.
»Ob sie die Auszeichnung, die ihr zuteil wird, vollkommen fühlt«, fuhr Mrs. Chick in hohem Ton fort, »ist eine ganz andere Frage. Ich hoffe, sie wird es. Es ist unsere Pflicht, von unsern Nebenmenschen Gutes zu denken, und ich hoffe, sie wird es. Ich bin darüber noch nicht einig geworden; und hätte ich ihm mit meinem Rat kommen wollen, so würde er wohl nur eine kurz angebundene Aufnahme gefunden haben. Es ist daher unendlich besser so, wie es ist. Die bestehende Sachlage ist mir lieber.«
Miß Tox schnitt mit gesenktem Haupte noch immer unter den Pflanzen fort, während Mrs. Chick unter jeweiligem energischen Kopfschütteln, als wollte sie jemanden herausfordern, in ihrer Rede fortfuhr:
»Wenn sich mein Bruder Paul mit mir beraten hätte – er tut es mitunter, oder vielmehr, er pflegte es mitunter zu tun; denn jetzt wird es natürlich nicht mehr vorkommen, und das ist ein Umstand, den ich als eine Entladung von schwerer Verantwortlichkeit betrachte«, sagte Mrs. Chick in hysterischer Aufregung, »da ich, dem Himmel sei Dank, nicht eifersüchtig bin« – – ein abermaliger Tränenerguß; »aber wenn mein Bruder Paul zu mir gekommen wäre und gesagt hätte: ›Louisa, rate mir, auf welche Eigenschaften soll ich vornehmlich bei der Wahl meiner Gattin sehen?‹ so würde ich zuverlässig geantwortet haben: ›Paul, du brauchst Familie, Schönheit, Würde und Verbindungen.‹ So hätte ich ihm geantwortet – ja, wahrhaftig, und wenn ich unmittelbar darauf zum Henkerblock geführt worden wäre«, fügte Mrs. Chick bei, als ob sie selbst an die Wahrscheinlichkeit einer solchen Folge glaube. »Ich würde zu ihm gesagt haben: ›Paul, du zum zweitenmal heiraten ohne Familie? Du heiraten ohne Schönheit? Du heiraten ohne Würde? Du heiraten ohne Verbindungen? Nur ein Hirnverrückter könnte glauben, daß du fähig wärest, einen so irrsinnigen Gedanken in dir aufkommen zu lassen!‹«
Miß Tox hielt mit dem Schneiden inne und hörte, den Kopf unter den Pflanzen verbergend, aufmerksam zu. Vielleicht dachte sie, in dieser Einleitung und in Mrs. Chicks Wärme liege Hoffnung. »Solche Vorstellungen hätte ich ihm machen müssen«, fuhr die weise Dame fort, »weil ich hoffe, daß ich nicht auf den Kopf gefallen bin. Ich erhebe keinen Anspruch darauf, als eine Person von überlegenem Verstand angesehen zu werden, – obschon ich glaube, gewisse Personen lassen es sich einfallen, mich dafür zu halten. Freilich bin ich nicht viel verzogen, und da wird man bald belehrt, wes Geistes Kind man wirklich ist. Aber ich hoffe, daß ich nicht ganz auf den Kopf gefallen bin. Wenn nun mir jemand sagen wollte«, fügte Mrs. Chick mit unaussprechlicher Verachtung bei, »daß mein Bruder Paul Dombey je an die Möglichkeit denken könnte, sich mit jemandem – gleichviel, wer sie auch sein möchte« – diese kurze Einschaltung wurde mit größerem Nachdruck vorgetragen als der ganze übrige Teil der Rede – »zu verbinden, die nicht alle diese Eigenschaften hat, so wäre das eine Beleidigung des Verstandes, den ich wirklich besitze, geradeso wie wenn man mir erklärte, ich sei als Elefant geboren und erzogen – denn ebensogut«, setzte sie mit Ergebung hinzu, »könnte man dies dann von mir behaupten. Es würde mich überhaupt gar nicht überraschen, und ich müßte es erwarten.«
Während der kurzen Pause, die nun folgte, hörte man die Schere ein- oder zweimal schnipsen; aber das Antlitz der Miß Tox blieb noch immer unsichtbar, und ihr Morgenkleid verriet große Aufregung. Mrs. Chick blickte durch die hindernden Pflanzen von der Seite nach ihr hin und sprach im Ton milder Überzeugung, wie wenn es sich um eine Tatsache handle, die keiner ausführlicheren Erörterung bedürfe, weiter:
»Darum hat mein Bruder natürlich gehandelt, wie von ihm zu erwarten stand und wie in dem Fall einer zweiten Vermählung vorauszusehen war. Ich gestehe zwar, es ist mir etwas überraschend gekommen, wie sehr ich mich auch freute; denn als Paul London verließ, dachte ich nicht entfernt daran, er könnte außerhalb der Stadt ein Verhältnis anknüpfen, obschon er bei seiner Abreise vollkommen frei war. Die Sache scheint jedoch von jedem Gesichtspunkte aus ungemein wünschenswert zu sein. Die Mutter ist ohne Zweifel eine sehr manierliche, elegante Frau, und ich habe durchaus kein Recht, mich darüber zu äußern, ob es klug sei, wenn sie bei den Eheleuten bleibt. Das ist Pauls Sache, nicht die meinige – und was Pauls Wahl betrifft, so habe ich bis jetzt nur das Porträt gesehen, das übrigens in der Tat schön ist. Sie hat auch einen schönen Namen«, sagte Mrs. Chick mit nachdrücklichem Kopfschütteln, indem sie sich in ihrem Stuhl zurechtsetzte. »Edith lautet ebenso ungewöhnlich, wie er meiner Meinung nach vornehm klingt. Ich zweifle daher nicht, Lukretia, die Kunde wird Euch freuen, daß die Vermählung in allernächster Zeit stattfinden soll. Natürlich freut Ihr Euch« – abermals ein großer Nachdruck – »und seid entzückt über diesen Wechsel in der Lage meines Bruders, der Euch bei verschiedenen Gelegenheiten so viele Aufmerksamkeit erwiesen hat.«
Die Erwiderung der Miß Tox bestand nicht in Worten, sondern sie nahm nur mit zitternder Hand die kleine Gießkanne auf und schaute hohlen Blicks umher, als gehe sie mit sich zu Rate, welcher Teil des Hausgerätes des Begießens wohl am bedürftigsten sein möchte. Bei diesem Wendepunkte ihrer Gefühle tat sich die Zimmertüre auf. Miß Tox fuhr zusammen, lachte laut hinaus und fiel in die Arme der eintretenden Person, zum Glück mit ebensowenig Bewußtsein von dem entrüsteten Gesichte der Mrs. Chick, als von dem an seinem Fenster stehenden Major, der sein doppelröhriges Augenglas in volle Tätigkeit setzte und dessen Gesicht und Gestalt breiter wurde in mephistophelischer Freude.
Nicht so erging es dem aus seinem Vaterland gebannten Eingeborenen, dem erstaunten Unterstützer von Miß Toxs ohnmächtiger Gestalt, der entsprechend den boshaften Weisungen seines Gebieters sich höflich nach der Gesundheit von Miß Tox erkundigen sollte und zufälligerweise eben im rechten Augenblick angekommen war, um die zarte Last mit seinen Armen und den Inhalt der kleinen Gießkanne in seinen Schuh aufzunehmen. – Diese Umstände machten ihn im Verein mit dem Bewußtsein von der aufmerksamen Wachsamkeit des zornigen Majors, der im Falle des Mißlingens ihm jeden Knochen unter der Haut zu zerschlagen gedroht hatte, zu einem lebendigen Schauspiel leiblicher und geistiger Not.
Einige Augenblicke hielt der bestürzte Ausländer mit einem Nachdruck, der in merkwürdigem Gegensatz zu seinem betroffenen Gesicht stand, Miß Tox an sein Herz gedrückt, während diese arme Dame langsam den Inhalt der Gießkanne bis auf den letzten Tropfen an ihm niedergleiten ließ, als sei er eine zarte exotische Pflanze, die vielleicht zum Blühen gebracht werden könnte, während der sanfte Regen auf sie niederfiel. Nachdem endlich Mrs. Chick Geistesgegenwart genug gewonnen hatte, um einzugreifen, befahl sie ihm, Miß Tox auf das Sofa niederzulassen und sich zu entfernen – eine Weisung, welcher der schwarze Diener schnelle Folge leistete. Dann schickte sie sich an, das Ihre beizutragen, um Miß Tox wieder zur Besinnung zu bringen.
Indes machte sich in Mrs. Chicks Benehmen nichts von jener zarten Sorgfalt, durch die sich Evas Töchter in der Regel bei ihrer gegenseitigen Pflege auszeichnen – überhaupt nichts von jener Freimaurerei beim Ohnmächtigwerden bemerklich, durch die sie in der Regel zu einem geheimnisvollen Schwesternbund verkettet sind. Mrs. Chick bediente sich der Riechflasche, des Klopfens auf die Hände, des Besprengens mit kaltem Wasser und anderer erprobter Hilfsmittel eher nach Weise des Henkers, der sein Opfer vor Anwendung der Folter zur Besinnung bringen will. Als nun endlich Miß Tox ihre Augen aufschlug und wieder zu Leben und Bewußtsein kam, trat Mrs. Chick wie vor einer Verbrecherin zurück, um sie im Gegensatz zu dem Vorgang des ermordeten dänischen Königs mehr mit zornglühenden, als mit bekümmerten Blicken zu betrachten.
»Lukretia!« sagte Mrs. Chick. »Ich will nicht versuchen, zu bemänteln, was ich fühle. Die Augen sind mir mit einem Male aufgegangen. Ich würde das nicht für möglich gehalten haben, selbst wenn es mir eine Heilige gesagt hätte.«
»Es war recht töricht von mir, daß ich mich von dieser Ohnmacht anwandeln ließ«, stotterte Miß Tox. »Aber es wird mir bald besser sein.«
»Es wird Euch bald besser sein, Lukretia?« wiederholte Mrs. Chick mit ungemeiner Verachtung. »Meint Ihr, ich sei blind? Glaubt Ihr etwa, ich stehe bereits in meiner zweiten Kindheit? Nein, Lukretia – da muß ich schönstens danken.«
Miß Tox richtete einen flehenden, hilflosen Blick auf ihre Freundin und verbarg ihr Gesicht mit dem Taschentuche.
»Wenn mir jemand das gestern oder auch nur vor einer halben Stunde gesagt hätte«, fuhr Mrs. Chick mit Majestät fort, »so hätte ich ihn wohl zu Boden geschlagen. Lukretia Tox, meine Augen sind mir mit einem Male über Euch aufgegangen. Die Schuppen sind abgefallen. – Mit der Blindheit meines Vertrauens ist es vorbei, Lukretia. Ihr habt es mißbraucht, Euer Spiel damit getrieben, und ich gebe Euch die Versicherung, daß von Ausflüchten nicht weiter die Rede sein kann.«
»Ach, auf was spielt Ihr denn so grausam an, meine Liebe?« fragte Miß Tox unter Tränen.
»Lukretia«, entgegnete Mrs. Chick, »laßt Euch Euer eigenes Herz darüber belehren. Ich muß Euch bitten, mich nicht mehr mit einem so vertraulichen Ausdruck anzureden, wie Ihr eben getan habt. Es ist mir noch einige Selbstachtung übrig geblieben, obschon Ihr das Gegenteil denken mögt.«
»O Louisa!« rief Miß Tox. »Wie könnt Ihr so mit mir sprechen!«
»Wie ich so mit Euch sprechen kann? entgegnete Mrs. Chick, die sich, um einen recht vernichtenden Eindruck zu machen, hauptsächlich auf solche Wiederholungen verließ, wenn es ihr an irgendeinem besonderen Unterstützungsgrund fehlte. »So sprechen? Ihr habt in der Tat allen Grund zu dieser Frage!«
Miß Tox schluchzte kläglich.
»Schon der Gedanke«, fuhr Mrs. Chick fort, »daß Ihr Euch wärmtet an dem Herd meines Bruders wie eine Schlange und durch meine Vermittlung Euch fast in sein Vertrauen einschlicht, Lukretia, um im geheimen hinterlistige Absichten auf ihn zu hegen und den dreisten Gedanken an die Möglichkeit zu pflegen, er könnte sich je mit Euch verbinden! Ha, der Gedanke ist so abgeschmackt«, rief Mrs. Chick mit sarkastischer Würde, »daß der Unsinn desselben fast seine Tücke überbietet!«
»Ich bitte, Louisa«, drängte Miß Tox, »sagt mir nicht so schreckliche Dinge.«
»Schreckliche Dinge?« wiederholte Mr«. Chick. »Jawohl, schreckliche Dinge! Ist es nicht eine Tatsache, Lukretia, daß Ihr eben erst nicht einmal imstande wart, Eure Gefühle auch nur vor mir zu verbergen, deren Augen Ihr so vollständig verblendet hattet?«
»Ich habe mich über nichts beklagt«, schluchzte Miß Tox – »habe gar nichts gesagt. Wenn Eure Neuigkeit mich ein wenig überwältigte, Louisa, wenn ein leiser Gedanke in mir Raum fand, daß mir Mr. Dombey besondere Zuneigung schenke, so werdet sicherlich Ihr mich nicht verdammen.«
»Sie will sagen«, rief Mrs. Chick, sich mit einem inhaltsschweren Blick von Ergebung und Appellation an das gesamte Möbelwerk wendend – »ich wußte es ja, sie will auch noch sagen, ich habe sie ermutigt?«
»Es kommt mir nicht in den Sinn, Gegenvorwürfe zu erheben, meine teure Louisa«, schluchzte Miß Tox. »Auch ich will mich durchaus nicht beklagen. Aber zu meiner eigenen Rechtfertigung –«
»Ja«, rief Mrs. Chick, sich mit einem prophetischen Lächeln im Zimmer umsehend, »das ist es, was ich sagen will. Ich wußte es ja. Es ist am besten, Ihr bekennt jetzt Farbe. Sprecht nur offen! Sagt unverhohlen, Lukretia Tox«, fügte Mrs. Chick mit verzweifeltem Ernst bei, »was Euch auf dem Herzen liegt.«
»Zu meiner eigenen Rechtfertigung«, stotterte Miß Tox, »und nur als Abwehr Eurer unfreundlichen Worte, meine teure Louisa, will ich Euch nur fragen, ob Ihr nicht oft eine solche Vorstellung begünstigt und sogar gesagt habt, man könne nicht wissen, was noch geschehe.«
»Da haben wir den Kern«, entgegnete Mrs. Chick, sich in einer Weise erhebend, als ob sie nicht auf der schlechten Erde bleiben, sondern sich hoch aufschwingen wolle zu ihrem heimischen Himmel, »über den hinaus jede Geduld lächerlich, wo nicht zum Verbrechen wird. Ich kann viel ertragen, aber was zuviel ist, ist zuviel. Ich weiß nicht, welcher Zauber mich anwandelte, daß ich heute in dieses Haus kommen mußte. Aber ich hatte eine Ahnung – eine schwarze Ahnung«, fügte Mrs. Chick mit einem Schauder bei, »daß etwas vorgehen würde. Wohl war Grund dafür vorhanden, Lukretia, da ich finden mußte, wie das Vertrauen so vieler Jahre in einem Augenblick zerstört wurde. Die Augen sind mir jetzt aufgegangen, und ich sehe Euch in Euren wahren Farben. Lukretia, ich hatte mich in Euch getäuscht, und es ist für uns beide besser, daß die Sache hier ein Ende nehme. Ich wünsche Euch alles Glück – werde Euch stets nur Gutes wünschen. Aber als eine Person, die in ihrer geringen Stellung, wie diese nun sein oder nicht sein mag, sich selbst treu bleiben will – als die Schwester meines Bruders – als die Schwägerin der Gattin meines Bruders – als eine Verwandte der Mutter meiner Schwägerin – es ist mir wohl gestattet, auch noch beizufügen, als eine Dombey! – kann ich Euch nichts anderes wünschen als guten Morgen.«
Mit diesen Worten, die mit schneidender Milde, gedämpft und geläutert durch die stolze Haltung moralischer Rechtschaffenheit, vorgetragen wurden, gelangte die Sprecherin nach der Tür. Dort neigte sie noch einmal den Kopf in gespenstischer, statuenartiger Weise, um sich nach ihrem Wagen zurückzuziehen und in den Armen Mr. Chicks, ihres Gebieters, Trost zu suchen.
Das heißt – symbolisch gesprochen; denn Mr. Chicks Arme waren voll von seiner Zeitung. Auch richtete dieser Gentleman seine Augen nur verstohlen auf die Gattin, ohne daß er tat, als wolle er ihr Trost spenden. Mit einem Wort, er saß lesend da, summte die Schlußverse von Liedern vor sich hin und warf gelegentlich einen Seitenblick nach ihr, ohne in Gutem oder Bösem eine Silbe verlauten zu lassen.
Inzwischen nahm Mrs. Chick mit aufgeblasenem Hochmut Platz und warf ihren Kopf auf, als spreche sie noch immer die feierliche Abschiedsformel an Lukretia Tox vor sich hin. Endlich rief sie laut:
O, wie weit sind mir heute nicht die Augen aufgegangen!«
»Über was sind dir die Augen aufgegangen, meine Liebe?« fragte Mr. Chick.
»Ach, rede nicht mit mir!« versetzte Mrs. Chick. »Wenn du es ertragen kannst, mich in diesem Zustand zu sehen, ohne zu fragen, was vorgefallen ist, so tust du am besten, für immer den Mund zu halten.«
»Nun, was hat es denn gegeben, meine Liebe?« fragte Mr. Chick.
»Schon der Gedanke«, sagte Mrs. Chick wie im Selbstgespräch, »daß sie sich je die schnöde Einbildung anwandeln lassen konnte, durch eine Heirat mit Paul in unsere Familie zu gelangen! Der Gedanke, daß sie, als sie mit dem lieben Kinde, das jetzt im Grabe liegt, Pferdchen spielte – es hat mir schon damals nicht gefallen – einen so tückischen Anschlag in ihrem Innern barg! Ich wundere mich, daß sie nie fürchtete, es könnte ihr etwas zustoßen; und sie darf von Glück sagen, daß es nicht geschah.«
»Ich habe wahrhaftig geglaubt, meine Liebe«, sagte Mr. Chick langsam, nachdem er eine Weile den Sattel seiner Nase mit der Zeitung gerieben hatte, »du seist bis auf heute morgen immer derselben Spur nachgegangen. Es kam mir vor, die Sache wäre angemessen genug, wenn sie zustande gebracht werden könnte.«
Mrs. Chick brach hierüber in Tränen aus und erklärte Mr. Chick, wenn er sie mit Füßen zu treten wünsche, so solle er es lieber gleich tun.
»Aber mit Lukretia Tox bin ich fertig«, sagte Mrs. Chick, nachdem sie sich zu Mr. Chicks großem Schrecken einige Minuten ihren Gefühlen hingegeben hatte. »Ich kann es ertragen, auf Pauls Vertrauen zugunsten einer Person zu verzichten, die, wie ich hoffe und glaube, es verdienen wird, und mit der er, wenn er will, die arme Fanny zu ersetzen vollkommen berechtigt ist. Ich kann es ertragen, daß mir Paul in seiner kalten Weise eine solche Veränderung seiner Pläne mitteilt, ohne mich je beraten zu haben, bis alles abgetan und im reinen war. Aber Hinterlist ertrage ich nicht, und mit Lukretia Tox bin ich fertig. Es wird besser sein, wie es ist«, sagte Mrs. Chick mit frommem Augenaufschlag; »viel besser. Nach diesem Vorgang würde es lang gedauert haben, ehe ich mich wieder gut mit ihr hätte stellen können, und ich weiß wahrhaftig nicht, ob das überhaupt angängig gewesen wäre und mir nicht Unehre gemacht haben würde, da es Paul so gar großartig nimmt. Es waltet eine Vorsehung in allem; was geschieht, muß ihren weisen Zwecken dienen, und wie schwer ich auch heute heimgesucht wurde, so kann ich es im ganzen nicht bedauern.«
Mit diesen christlichen Gedanken trocknete Mrs. Chick ihre Augen, strich ihr Kleid zurecht und nahm eine Haltung an, wie sie einer Dame zusteht, die unter einem großen Unrecht leidet. Mr. Chick ersah, ohne Zweifel im Gefühl seines Unwertes, ehestens eine Gelegenheit, um sich an einer Straßenecke absetzen zu lassen, und ging, die Hände in die Tasche gesteckt und mit sehr erhobenen Schultern, pfeifend weiter.
Inzwischen befeuchtete die arme gebannte Miß Tox, die in ihrer tiefen Verehrung vor der Großartigkeit des Mr. Dombey wenigstens eine ehrliche und beständige Wohldienerin und stets eine treue Freundin ihrer Anklägerin gewesen war, ihre Blumen mit Tränen und fühlte, daß es auf dem Prinzessinnenplatz Winter sei.
Dreißigstes Kapitel. DIE ZEIT VOR DER HOCHZEIT.
Obgleich das gespenstische Haus nicht mehr vorhanden war und die eingebrochenen Arbeiter, die den ganzen Tag treppauf und treppab mit ihren Werkzeugen und schweren Stiefeln einen unerhörten Lärm machten, von Sonnenaufgang bis zum Sonnenuntergang Diogenes in einer stetigen Bellwut hielten – der Hund war augenscheinlich überzeugt, sein Feind habe endlich die Oberhand über ihn gewonnen und plündere nun in triumphierendem Trotze das Haus – so trat doch vorderhand in Florences Lebensweise kein anderer großer Wechsel ein. Wenn sich abends die Werkleute entfernten, wurde das Gebäude wieder traurig und verlassen, und Florence, die auf die im Flur und im Treppenhause widerhallenden Stimmen der Abziehenden lauschte, vergegenwärtigte sich das gemütliche Heim, zu dem sie zurückkehrten, nebst den Kindern, die daselbst ihrer harrten – eine Betrachtung, an die sich der für sie wehmütig frohe Gedanke knüpfte, daß die Leute sich auf ihren heimischen Herd freuten.
Die Stille des Abends war ihr wie eine alte Freundin willkommen, aber sie erschien jetzt mit einem andern Gesicht und blickte freundlicher auf das einsame Mädchen nieder. Eine neue Hoffnung hatte Raum gewonnen; und die schöne Dame, die sie in demselben Zimmer an die Brust gedrückt, wo ihr sonst das Herz brechen wollte, erschien ihr als Geist der Verheißung. Sanfte Schatten von dem Aufdämmern eines glücklicheren Lebens, wenn die Liebe ihres Vaters allmählich gewonnen und ihr alles oder wenigstens viel von dem zurückgegeben sein würde, was für sie verlorenging, als die Liebe ihrer Mutter mit dem letzten Atemzug an ihrer Wange erstarb, schwebten im Zwielicht um sie her und wurden ihr willkommene Gefährten. Sobald sie nach den rosigen Kindern ihres Nachbars hinüberschaute, tauchte ein neues köstliches Gefühl mit dem Gedanken in ihr auf, sie würde nun bald mit ihnen sprechen und eine nähere Bekanntschaft anknüpfen können. Sie brauchte dann nicht, wie früher, Furcht zu hegen, sich vor ihnen zu zeigen, damit es ihnen nicht schmerzlich werde, sie so einsam in ihren Trauerkleidern dasitzen zu sehen.
Unter den Gedanken an die Mutter und an das liebevolle Vertrauen, von dem ihr reines Herz gegen diese überströmte, wuchs auch ihre Liebe gegen die Gestorbene mehr und mehr. Sie scheute sich nicht, ihrer toten Mutter in ihrem Innern eine Nebenbuhlerin zu geben, da sie wohl wußte, wie die neue Blume nur der tiefgehenden, lange mit Wärme gepflegten Wurzel entsproßte. Jedes sanfte Wort, das von den Lippen der schönen Dame entfallen, klang für Florence wie ein Echo der Stimme, die so lange hatte schweigen müssen. Wie hätte ihr um des Andenkens willen die lebende Zärtlichkeit weniger teuer sein sollen, da diese die Erinnerung an alle elterliche Zärtlichkeit und Liebe umschloß!
Florence saß eines Tages lesend in ihrem Zimmer und machte sich, da ihr Buch von einem verwandten Gegenstand handelte, eben Gedanken über die Dame und ihren versprochenen baldigen Besuch, als sie mit einem Male beim Erheben ihrer Augen sie auf der Schwelle stehen sah.
»Mama!« rief Florence, ihr freudig entgegentretend. »Ihr seid wieder hier?«
»Noch nicht Mama«, versetzte die Dame mit einem ernsten Lächeln, während sie Florences Nacken mit ihrem Arme umschlang.
»Aber doch sehr bald«, entgegnete Florence.
»Ja, sehr bald, Florence – sehr bald.«
Edith senkte ihr Haupt ein wenig, um Florences blühende Wange an die ihrige zu drücken, und blieb für eine Weile stumm. Es lag etwas ungemein Inniges in ihrem Wesen, und Florence fühlte das sogar noch mehr als bei ihrer ersten Begegnung.
Sie rückte für Florence einen Stuhl an ihre Seite und setzte sich nieder. Florence blickte ihr, verwundert über ihre Schönheit, ins Gesicht und überließ der künftigen Mutter bereitwillig ihre Hand.
»Du bist wohl viel allein gewesen, seit ich zum letztenmal hier war, Florence?«
»Ach ja«, versetzte Florence eifrig und lächelte.
Dann hielt sie inne und schlug die Augen nieder; denn der Blick ihrer neuen Mama haftete sehr ernst und gedankenvoll auf ihrem Gesicht.
»Ich – ich – ich bin ans Alleinsein gewöhnt«, sagte Florence, »und mache mir nichts daraus. Di und ich bringen oft ganze Tage allein miteinander zu.«
Sie hätte wohl von Wochen und Monaten sprechen dürfen.
»Ist Di dein Mädchen, meine Liebe?«
»Nein, mein Hund, Mama«, versetzte Florence lachend, »Susanna ist mein Mädchen.«
»Und das sind deine Zimmer?« sagte Edith umherschauend. »Man hat sie mir letzthin nicht gezeigt. Wir müssen sie besser herrichten lassen, Florence. Sie sollen die schönsten werden im Hause.«
»Wenn ich umziehen dürfte«, entgegnete Florence, »so ist eine Treppe weiter oben eins, das mir viel besser gefiele?«
»Liegt dieses hier nicht hoch genug, liebes Mädchen?« fragte Edith lächelnd.
»Das andere war das Zimmer meines Bruders und ist mir deshalb so lieb«, sagte Floren«. »Als ich bei meiner Rückkehr die Arbeiter hier fand, die alles veränderten, hätte ich gar gerne mit Papa darüber gesprochen, aber –«
Florence senkte die Augen, damit nicht der gleiche Blick sie wieder zum Stocken bringen möchte.
»– aber ich fürchtete, es möchte ihm unangenehm sein. Da Ihr mir nun versprochen habt, bald wiederzukommen, Mama, und Ihr doch die Gebieterin von allem seid, so faßte ich den Entschluß, meinen Mut zusammenzunehmen und Euch darum zu bitten.«
Edith heftete ihre leuchtenden Augen angelegentlich auf ihr Gesicht, bis Florence ihr eigenes erhob: dann kam die Reihe an sie, den Blick abzuwenden und zu Boden zu blicken. Damals dachte Florence, wie ganz anders die Schönheit dieser Dame sei, als sie geglaubt hatte; sie war ihr vornehm und stolz vorgekommen, und doch zeigte sie ein so mildes sanftes Wesen, daß die Dame, selbst wenn sie von Florences Alter und Charakter gewesen wäre, kaum mehr Vertrauen hätte einflößen können.
Ausgenommen, wenn eine gewisse gezwungene Zurückhaltung sie überflog, denn dann gewann es den Anschein – Florence begriff dieses freilich nicht, obschon es ihr auffallen und zu Gedanken Anlaß geben mußte –, als sei es ihr gar nicht wohl zumute und als fühle sie sich gedemütigt vor dem Mädchen. Namentlich hatte sich diese Veränderung gezeigt, als sie sagte, sie sei noch nicht ihre Mama, und als Florence sie die Gebieterin von allem nannte. Auch jetzt, während Florences Augen auf ihrem Gesicht ruhten, saß sie da, als ob sie lieber vor ihrer jungen Gefährtin sich verbergen, als die Rechte einer so nahen Beziehung durch Liebe und Innigkeit geltend machen möchte.
Sie gab Florence bereitwillig ihre Zusage wegen des neuen Zimmers und sagte, sie wolle selbst die betreffenden Weisungen erlassen. Sie stellte dann einige Fragen nach dem armen Paul, und nachdem sie eine Weile miteinander gesprochen hatten, erklärte sie Florence, sie sei gekommen, um sie nach ihrer Heimat mitzunehmen.
»Wir wohnen jetzt in London, meine Mutter und ich«, sagte Edith, »und du wirst bei uns bleiben, bis ich verheiratet bin. Ich wünsche, daß wir uns kennen und Vertrauen ineinander setzen lernen, Florence.«
»Ihr seid sehr gütig gegen mich, teure Mama«, versetzte Florence. »Wie sehr bin ich Euch zu Dank verpflichtet.«
»Es ist vielleicht jetzt die beste Gelegenheit«, fuhr Edith mit gedämpfterer Stimme fort, und sah sich um, als wollte sie sich überzeugen, daß sie auch ganz allein wären, »dir zu sagen, daß mir das Herz weit leichter sein wird, wenn du während meiner Hochzeitsreise wieder hier bist. Gleichviel, wer dich dann auch anderswohin einladen mag. Komm nur wieder her. Es ist besser, allein zu sein« – sie hielt inne und fügte dann bei –, »ich wollte sagen, ich weiß wohl, daß du zu Hause am besten aufgehoben bist, liebe Florence.«
»Ich will an demselben Tage wiederkommen, Mama.«
»Recht so. Ich verlasse mich auf dieses Versprechen. Triff jetzt deine Vorbereitungen, mich zu begleiten, liebes Mädchen. Wenn du fertig bist, wirst du mich unten finden.«
Edith wandelte langsam und gedankenvoll allein durch das Haus, dessen Gebieterin sie so bald werden sollte, obschon sie nur wenig auf den Prunk achtete, der sich bereits darin zu entfalten begann. Derselbe unbezähmbare Hochmut des Geistes, der gleiche stolze Hohn um das Auge und die Lippen, dieselbe trotzige Schönheit, nur gemildert durch das Bewußtsein ihres eigenen geringen Werts und der Unbedeutsamkeit der ganzen Umgebung – alles wie damals unter dem Schatten der Bäume, ging sie jetzt in wilder innerer Leidenschaft durch die prächtigen Säle und Hallen. Die gemalten Rosen an den Wänden und in den Fluren waren mit scharfen Dornen umgeben, die ihre Brust zerrissen. In jedem Streifen Goldes, der das Auge blendete, sah sie ein verhaßtes Atom ihres Kaufpreises. Die hohen breiten Spiegel zeigten ihr in voller Länge eine Frau, in deren Wesen noch eine edle Eigenschaft weilte, obschon sie zu herabgewürdigt und verloren, zu treulos gegen ihr besseres Ich war, um sich selbst zu retten. Sie glaubte, alles das müsse jedem Auge mehr oder weniger so klar sein, daß sie nirgends eine Quelle der Selbstberuhigung fand als im Stolze; und mit diesem Stolze, der Tag und Nacht ihr Herz folterte, kämpfte sie sich kühn und trotzig durch ihr Schicksal.
War das die Frau, auf die Florence – ein unschuldiges Mädchen, das nur stark war in ihrer Innigkeit und in ihrer treuen Einfalt – einen so beschwichtigenden Eindruck üben konnte, daß sie in solcher Nähe zu einem andern Wesen wurde, daß der Sturm der Leidenschaft sich legte und sogar ihr Stolz sich beugte? War das die Frau, die jetzt, die Arme um sie geschlungen, neben ihr im Wagen saß und, indem sie bittend um ihre Liebe und ihr Vertrauen rang, das schöne Köpfchen innig an ihre Brust drückte, fest entschlossen, es mit ihrem Leben gegen Unrecht und Kränkung zu schirmen?
O, Edith, wärest du in einem solchen Augenblick gestorben! Weit besser und glücklicher vielleicht, so zu sterben, Edith, als zu leben bis zum Ende!
Die hochwohlgeborene Mrs. Skewton, die lieber an alles andere, als an derartige Gefühle dachte – denn gleich vielen galanten Leuten, die zu verschiedenen Zeiten lebten, glaubte sie dem Tode ganz und gar trotzen zu können, und wollte nichts davon hören, wenn von diesem gemeinen, alles gleichmachenden Emporkömmling die Rede war – hatte in Brookstreet, Grosvenor-Square, ein Haus geliehen, das einem vornehmen Verwandten aus dem Geschlechte der Feenixe gehörte. Dieser, der gerade nicht in London war, ließ sich freundschaftlichst herbei, dieses sein Eigentum vorübergehend zum Zweck der Verehelichung abzutreten, weil er dadurch die Aussicht gewann, für die Zukunft aller weiteren Darlehen und Geschenke an Mrs. Skewton und ihre Tochter enthoben zu werden. Da es in einer solchen Zeit für die Ehre der Familie nötig war, sich mit Anstand zu zeigen, so versah Mrs. Skewton unter dem Beistand eines gefälligen Geschäftsmanns aus dem Kirchspiel Mary-le-bone, der dem Adel und der Honoratiorenschaft mit Gegenständen aller Art, vom Silberservice an bis zu einer Armee von Bedienten, auszuhelfen pflegte, das Haus mit einem silberhaarigen Kellermeister. Dieser wurde gerade wegen seines Silberhaars gemietet, weil es ihm das Aussehen eines alten Familiendieners verlieh. Dazu kamen zwei sehr lange junge Männer in Livree und ein auserlesener Stab von Küchendienstboten, so daß man sich im Erdgeschoß mit der Sage trug, der Page Withers, der mit einem Male seiner zahlreichen Haushaltobliegenheiten, namentlich aber des Dienstes hinter dem mit der Hauptstadt sich nicht vertragenden Räderstuhl enthoben war, habe sich oft und oft die Augen gerieben und seine Glieder gezwickt, als zweifle er, ob er nicht noch immer im Schuppen des Leamingtoner Milchmanns schlafe und sich in einem himmlischen Traum befinde. Aus derselben dienstwilligen Quelle wurden auch unterschiedliche Requisiten in Silber und Porzellan, nebst mehreren gemischten Artikeln, einschließlich eines hübschen Wagens und zweier Fuchsstuten, nach dem Hause geschafft, wo Mrs. Skewton sich in der Kleopatrahaltung auf dem prächtigsten Sofa aufpolsterte und in großem Prunk ihren Hof hielt.
»Wie geht es meiner bezaubernden Florence?« sagte Mrs. Skewton, als Edith mit ihrer Schutzbefohlenen eintrat. »Florence, du mußt kommen und mich küssen – willst du so gut sein, meine Liebe?«
Florence beugte sich schüchtern nieder, um in dem weißen Teil von Mrs. Skewtons Gesicht eine Stelle auszulesen – eine Schwierigkeit, der sie die hochwohlgeborene Dame dadurch enthob, daß sie dem jungen Gast ihr Ohr hinbot.
»Edith, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton, »gewiß, ich – tritt doch für einen Augenblick mehr ins Licht, meine süßeste Florence.«
Florence willfahrte errötend.
»Erinnerst du dich nicht, liebe Edith«, fuhr Mrs. Skewton fort, »wie du aussahst, als du ungefähr in dem Alter unserer köstlichen Florence oder einige Jahre darunter warst?«
»Ich habe das längst vergessen, Mutter.«
»Ich glaube wahrhaftig, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton, »in unserer ungemein bezaubernden jungen Freundin eine entschiedene Ähnlichkeit mit dem zu entdecken, was du in jener Zeit warst. Und man sieht daraus«, fuhr sie mit gedämpfterer Stimme fort, in der sich ihre Ansicht ausdrücken mochte, daß sich Florence in einem noch sehr unvollendeten Zustande befinde, »was die Ausbildung zu leisten imstande ist.«
»Jawohl – ganz richtig!« lautete Ediths ironisch-harte Antwort.
Ihre Mutter warf ihr für einen Moment einen scharfen Blick zu, und da sie die Unsicherheit ihres Bodens fühlte, so fuhr sie, um davon abzugehen, fort:
»Meine bezaubernde Florence, du mußt mir noch einen Kuß geben – willst du so gut sein, meine Liebe?«
Florence gehorchte natürlich und drückte abermals ihre Lippen auf Mrs. Skewtons Ohr.
»Und du hast ohne Zweifel gehört, mein Herzchen«, sagte Mrs. Skewton, ihre Hand festhaltend, »daß dein Papa, den wir alle eigentlich anbeten, heute über acht Tage mit meiner lieben Edith vermählt werden soll.«
»Ich wußte, daß es sehr bald geschehen würde«, entgegnete Florence, »obschon ich nicht genau die Zeit kannte.«
»Aber meine liebe Edith«, sagte die Mutter heiter, »ist es möglich, daß du es Florence nicht gesagt hast?«
»Warum sollte ich auch?« erwiderte sie so plötzlich und hart, daß Florence kaum glauben konnte, es sei die nämliche Stimme.
Mrs. Skewton erzählte sodann Florence als weitere und sichere Abschweifung, daß ihr Vater zum Diner kommen und ohne Zweifel ungemein überrascht sein werde, sie zu sehen. Er habe gestern abend von Kleidereinkäufen in der City gesprochen und wisse nichts von Ediths Plan, dessen Ausführung ihm, wie sie erwartete, das größte Entzücken bereiten müsse. Florence wurde bei dieser Kunde sehr unruhig, und ihre Bangigkeit steigerte sich beim Herannahen der Dinerstunde so sehr, daß sie, wenn sie nur gewußt hätte, wie sie die Bitte um Erlaubnis zur Rückkehr einleiten sollte, ohne dabei ihren Vater bloßzustellen, lieber zu Fuß, barhäuptig, atemlos und allein nach Hause geeilt wäre, ehe sie sich der Gefahr aussetzte, sein Mißfallen auf sich zu ziehen. Als die Zeit herannahte, vermochte sie kaum mehr zu atmen. Sie wagte es nicht, ans Fenster zu treten, damit er sie nicht von der Straße aus sehe, und getraute sich ebensowenig, die Treppe hinaufzueilen, um ihre Erregung zu verbergen, weil sie ihm, wenn sie zur Tür hinausging, unerwartet begegnen konnte. Abgesehen von dieser Furcht, war es ihr auch, als sei sie außerstande, wieder zurückzukommen, wenn er sie zu sich entbieten ließ. In diesem angstvollen Kampfe saß sie noch neben Kleopatras Ruhebette, sich alle Mühe gebend, die faden Reden dieser Dame zu verstehen und zu beantworten, als sie seinen Fußtritt auf der Treppe vernahm.
»Ich höre ihn jetzt!« rief Florence zusammenfahrend. »Er kommt.«
Kleopatra, die in ihrer Jugendlichkeit stets zu Neckereien aufgelegt war und sich in einer solchen Stimmung nicht an die Gefühle anderer kehrte, schob Florence hinter ihr Ruhebett und ließ einen Schal über sie fallen als Vorbereitung zu einer entzückenden Überraschung für Mr. Dombey. Das war kaum geschehen, als Florence seinen einschüchternden Tritt im Zimmer vernahm.
Er grüßte seine künftige Schwiegermutter und Braut; aber der befremdliche Ton seiner Stimme schauderte dem armen Kinde durch den ganzen Körper.
»Mein teurer Dombey«, sagte Kleopatra, »kommt her und sagt mir, was Eure hübsche Florence macht.«
»Florence geht es recht gut«, versetzte Mr. Dombey, auf das Ruhebett zugehend.
»Ist sie zu Hause?«
»Ja«, antwortete Mr. Dombey.
»Mein teurer Dombey«, entgegnete Kleopatra mit einer bezaubernden Lebhaftigkeit, »seid Ihr auch überzeugt, daß Ihr mich nicht täuscht? Ich weiß nicht, was meine liebe Edith sagen wird, wenn ich Euch eine solche Erklärung gebe; aber auf Ehre, ich fürchte, Ihr seid der falscheste aller Männer, mein teurer Dombey.«
Wenn das eine Wahrheit gewesen und er urplötzlich auf der ungeheuersten Falschheit, die er in Wort oder Tat begangen, ertappt worden wäre, so hätte er nicht betroffener sein können, als in dem Augenblick, in dem Mrs. Skewton den Schal wegzog und Florence sich bleich und zitternd gleich einem Gespenst vor ihm erhob. Er hatte seine Fassung noch nicht wiedergewonnen, als Florence auf ihn zueilte, ihre Hände um seinen Nacken schlang, sein Gesicht küßte und zum Zimmer hinauseilte. Er schaute umher, als ob er diesen Vorgang auf jemand anders beziehen müsse; aber Edith war sogleich Florence nachgegangen.
»Gesteht nur, mein teurer Dombey«, sagte Mrs. Skewton, ihm die Hand reichend, »daß Ihr in Eurem Leben nie freudiger überrascht wurdet.«
»Es ist allerdings eine Überraschung«, versetzte Mr. Dombey.
»Keine freudige, mein teuerster Dombey?« erwiderte Mrs. Skewton, ihren Fächer erhebend.
»Hm – ja, es freut mich sehr, Florence hier zu treffen«, sagte Mr. Dombey. Er schien einen Augenblick ernstlich darüber nachzudenken und fügte dann entschiedener bei: »Ja, in der Tat – es ist mir sehr lieb, daß Florence hier ist.«
»Und Ihr möchtet wohl wissen, wie sie hierher kam?« fragte Mrs. Skewton. »Nicht wahr?«
»Vielleicht Edith –« versetzte Mr. Dombey.
»Ach, wie boshaft in Eurem Raten!« entgegnete Kleopatra, ihren Kopf schüttelnd. »Ach! schlauer, schlauer Mann. Man sollte zwar etwas Derartiges nicht sagen, denn Euer Geschlecht, Mr. Dombey, ist so eitel und mißbraucht so gerne unsere Schwächen; aber Ihr kennt die Offenheit meines Herzens – – schon gut; sogleich.«
Diese letztere Anrede galt einem der sehr langen jungen Männer, der das Diner ankündigte.
»Edith, mein lieber Dombey«, fuhr sie flüsternd fort, »kann Euch nicht immer in ihrer Nähe haben – ich sage ihr stets, daß solches unmöglich ist – und da wünscht sie wenigstens etwas in ihrer Umgebung, was Euch gehört. Nun, das ist auch ganz natürlich. Von einer solchen Gesinnung beseelt, konnte sie heute nichts zurückhalten, anspannen zu lassen und unsern Liebling Florence zu holen. Wie ungemein bezaubernd dies ist!«
Da sie auf eine Antwort wartete, so erwiderte Mr. Dombey:
»Ja, in der Tat sehr.«
»Gott segne Euch, mein teurer Dombey, für diesen Beweis von Herz!« rief Kleopatra, ihm die Hand drückend. »Aber ich werde ernst! Gebt mir Euern Arm – wir wollen hinuntergehen und sehen, was man uns zum Diner vorzusetzen gedenkt. Gottes Segen über Euch, mein teurer Dombey!«
Nach diesem Schlußsegen hüpfte Kleopatra mit leidlicher Schnelligkeit von ihrem Ruhebett herunter, worauf Mr. Dombey ihren Arm in den seinen legte und sie sehr förmlich die Treppe hinunterführte. Als das würdige Paar in das Speisezimmer eintrat, steckte einer der gemieteten sehr langen jungen Männer, dessen Ehrfurchtsorgan nur sehr unvollkommen entwickelt war, die Zunge in den Nacken, um durch diese Gebärde den andern sehr langen jungen Mietsmann zu belustigen.
Florence und Edith saßen bereits dort Seite an Seite. Die erstere wollte, als ihr Vater eintrat, von ihrem Stuhle aufstehen, um ihm diesen abzutreten; aber Edith legte die Hand auf ihren Arm, und Mr. Dombey nahm auf der andern Seite des runden Tisches Platz.
Die Unterhaltung wurde fast ausschließlich von Mrs. Skewton geführt. Florence getraute sich kaum die Augen aufzuschlagen, um nicht die Spuren von Tränen zu verraten, noch weniger wagte sie es, zu sprechen, und auch Edith blieb stumm, wenn sie nicht gerade auf eine Frage antworten mußte. In der Tat hatte Kleopatra um der Versorgung willen, die so nahezu erfaßt war, schwere Arbeit, und sie durfte wohl froh sein, wenn der Lohn ihrer Mühe entsprechen sollte.
»Eure Vorbereitungen sind also nahezu beendigt, mein teurer Dombey?« sagte Kleopatra, nachdem der Nachtisch aufgetragen war und der silberlockige Kellermeister sich entfernt hatte. »Auch die des Notars?«
»Ja, Madame«, versetzte Dombey. »Wie mir mitgeteilt wurde, ist der Ehevertrag ausgefertigt, und wie ich Euch bereits bemerkte, erwarte ich von Edith nur die Gunst, die Zeit zum Vollzug desselben festzusetzen.«
Edith saß da wie eine schöne Statue – ebenso kalt und stumm.
»Meine Liebe«, ergriff Kleopatra wieder das Wort, »hast du gehört, was Mr. Dombey sagte? Ach mein teurer Dombey«, bemerkte sie heimlich leise zu diesem Gentleman, »wie mich ihre Zerstreutheit beim Herannahen der Zeit an die Tage erinnert, als jener angenehmste von allen Männern, ihr Papa, in der gleichen Lage war.«
»Ich habe nichts zu erwidern. Es soll geschehen, wenn es Euch beliebt«, sagte Edith, kaum einen Blick über den Tisch hinüber nach Mr. Dombey hinwerfend.
»Morgen?« versetzte Mr. Dombey.
»Wie es Euch paßt.«
»Oder habt Ihr vielleicht über Eure Zeit verfügt und ist es Euch übermorgen lieber?« fragte Mr. Dombey.
»Meine Zeit ist frei. Ich stehe Euch immer zu Gebote. Also ganz nach Eurem Belieben.«
»Deine Zeit frei, meine liebe Edith«, stellte ihr die Mutter vor, »da du doch den ganzen Tag schrecklich viel zu tun und tausend Bestellungen bei Kaufleuten aller Art zu machen hast?«
»Das ist Eure Sache«, erwiderte Edith, mit einem leichten Runzeln der Stirn sich an sie wendend. »Ihr und Mr. Dombey könnt es unter Euch bereinigen.«
»In der Tat ganz richtig, meine Liebe, und sehr rücksichtsvoll von dir«, sagte Kleopatra. »Meine herzige Florence, du mußt mir in der Tat noch einen Kuß geben – willst du so gut sein, meine Liebe?«
Ein sonderbares Zusammentreffen, daß diese Ergüsse von Teilnahme an Florence fast jeden, selbst den unbedeutendsten Zwiespalt beenden mußten, an dem sich Edith ihrer Mutter gegenüber beteiligte. Das arme Mädchen hatte sich nie so vielen Umarmungen unterziehen müssen und war vielleicht, ohne daß sie eine Ahnung davon hatte, in ihrem ganzen Leben nie so nützlich gewesen.
Mr. Dombey war weit entfernt, in seinem Innern das Benehmen seiner schönen Verlobten tadelnswert zu finden. Er hatte ja jenen guten Grund zur Sympathie für Stolz und Kälte, der sich in einem verwandten Gefühl darbietet. Der Gedanke war für ihn schmeichelhaft, daß in Ediths Fall auch diese Empfindungen sich ihm unterwürfig machten und die Dame selbst keinen andern Willen zu haben schien als den seinen. Es tat ihm wohl, sich ausmalen zu können, wie diese stolze stattliche Frau die Honneurs seines Hauses machte und nach seiner eigenen Weise einen erkältenden Eindruck auf die Gäste übte. Die Würde von Dombey und Sohn konnte durch solche Hände nur gewahrt und erhöht werden.
So dachte Mr. Dombey, als er allein bei Tisch zurückblieb und über sein vergangenes und zukünftiges Geschick Betrachtungen anstellte. Er fühlte sich nicht unbehaglich im Anblick des spärlichen düsteren Prunkes, der in dunkelbrauner Farbe mit den die Wände beklecksenden schwarzen Wappenbildern das Zimmer beherrschte. Inmitten der vierundzwanzig schwarzen Stühle, die gleich Särgen mit weißen Nägeln beschlagen waren und wie stumme Leidtragende auf dem Rand des türkischen Teppichs standen, und der beiden erschöpften Neger, die auf dem Seitentisch zwei dürre Arme eines Kandelabers in die Höhe hielten, während der modrige Geruch im Gemach auf die Asche von zehntausend Diners hinzudeuten schien, die in dem darunter liegenden Sarkophag eingeschlossen war.
Der Eigentümer des Hauses lebte viel auswärts, da die Luft Englands selten einem Mitglied der Feenix-Familie auf die Dauer wohl bekam. So hatte sich das Zimmer allmählich tiefer und tiefer in Trauer gekleidet, bis es am Ende so leichenhaft geworden war, daß zur Vervollständigung nur noch der tote Körper fehlte.
Als eine nicht üble Versinnlichung der Leiche, wenn auch nicht in der Haltung, so doch der regungslosen Gestalt nach, schaute Mr. Dombey in die kalten Tiefen eines toten Meers von Mahagoni nieder, auf dem Fruchtkörbe und Flaschen vor Anker lagen, als ob die Gegenstände seiner Gedanken allmählich nach der Oberfläche aufstiegen, um dann wieder unterzutauchen. Edith zeigte sich da in der ganzen Majestät ihrer Stirn und Gestalt. Dicht neben ihr kam Florence, die, wie es vorhin stattgefunden, als sie das Zimmer verließ, ihr schüchternes Haupt einen Augenblick ihm zugekehrt hatte, während Ediths Augen auf ihr hafteten und ihre Hand schützend auf ihr ruhte. Zunächst sprang eine kleine Gestalt auf einem niedrigen Lehnstuhl ins Dasein und schaute mit ihren hellen Augen und ihrem altjungen Gesicht, das wie im Flackern eines Abendfeuers erglänzte, verwundert nach ihm hin. Abermals trat Florence auf diese zu und nahm deren ganze Aufmerksamkeit in Anspruch – ob als ein vom Schicksal ihm in den Weg geworfenes Hemmnis, ob als Nebenbuhlerin, die ihm stets hinderlich gewesen war und es vielleicht wieder werden sollte, ob als sein Kind, an dessen Ansprüche er auch bei seinem erfolgreichen Freien denken mußte und das nicht mehr als Fremde betrachtet werden wollte, oder ob als ein Wink für ihn, daß seine neuen Verwandten den bloßen Anschein der Sorge für sein eigenes Blut wahren wollten – er wußte das selbst am besten. Im günstigsten Falle war er vielleicht gleichgültig dagegen. Die Hochzeitsgesellschaften, Traualtäre und Szenen des Ehrgeizes – da und dort immer von Florence und wieder von Florence beklagt – tauchten so schnell und verwirrt auf, daß er sich von seinem Stuhl erhob und die Treppe hinaufschritt, um solchen Bildern zu entrinnen.
Es war schon spät, als die Lichter gebracht wurden; denn sie machten Mrs. Skewton Kopfweh. Inzwischen hatte Florence sich mit der alten Dame unterhalten (denn Kleopatra sorgte dafür, sie nicht von ihrer Seite zu lassen) oder zu Mrs. Skewtons Vergnügen mit sanfter Hand die Tasten des Pianos berührt, einiger Anlässe im Laufe des Abends nicht zu gedenken, die diese liebevolle Dame – stets nachdem Edith etwas gesagt hatte – bewogen, sich abermals einen Kuß zu erbitten. Das kam jedoch nicht sehr häufig vor, denn Edith saß die ganze Zeit über (ohngeachtet der Besorgnisse ihrer Mutter, daß sie sich erkälten könnte) abseits am offenen Fenster und blieb in dieser Stellung, bis Mr. Dombey sich verabschiedete. Bei dieser Gelegenheit benahm er sich sehr gnädig gegen seine Tochter, und als Florence in dem gleichen Zimmer mit Edith zu Bett ging, fühlte sie sich glücklich und hoffnungsvoll, daß ihr früheres Dasein ihr nun wie das eines andern armen verlassenen Mädchens erschien, das sie um ihres Kummers willen bemitleidete. Im Gefühl dieser Teilnahme schluchzte sie fort, bis sie einschlief.
Die Nacht entschwand schnell. Man fuhr zu den Putzmacherinnen, den Damenschneidern, den Juwelieren, den Rechtsgelehrten, den Blumengärtnern und den Pastetenbäckern – Ausflüge, an denen Florence sich beteiligte. Sie sollte in dem Hochzeitszug mitgehen und deshalb ihre Trauer ablegen, um bei diesem Anlaß eine prächtige Kleidung zu tragen. Die Ansichten der Putzmacherin, einer Französin, die große Ähnlichkeit mit Mrs. Skewton hatte, waren in dieser Beziehung so züchtig und elegant, daß Mrs. Skewton für sich selbst einen ähnlichen Anzug bestellte. Die Französin war der Meinung, er würde ihr zur Bewunderung gereichen, so daß alle Welt sie für die Schwester der jungen Dame ansehen müßte.
Die Woche entschwand schnell. Edith sah nach nichts und kümmerte sich um nichts. Die reichen Kleider kamen ins Haus, wurden anprobiert und von Mrs. Skewton und der Putzmacherin laut gelobt, von der Eigentümerin aber, ohne daß sie ein Wort darüber verlor, beiseite gelegt. Mrs. Skewton machte für jeden Tag ihre Pläne und brachte sie selbst in Ausführung. Hin und wieder fuhr Edith, wenn es Einkäufe zu machen galt, mit und besuchte auch bisweilen, falls es unbedingt nötig war, die Läden; Mrs. Skewton aber leitete alles, was da vorkommen mochte, und ihre Tochter benahm sich dabei so teilnahmlos und gleichgültig, als ob das alles sie gar nichts anginge. Florence mochte sie vielleicht für stolz und unbekümmert halten. Aber gegen sie selbst war sie es nie, und ihre Verwunderung erstickte schnell in den Gefühlen des Dankes.
Die Woche entschwand schnell – fast als hätte sie Flügel. Der letzte Abend der Woche – der Abend vor der Trauung war herangekommen.
Mrs. Skewton, Edith und Mr. Dombey saßen in dem unbeleuchteten Zimmer; denn Kleopatras Migräne war noch immer nicht besser, obschon sie erwartete, daß es morgen gut werden würde.
Edith saß an dem offenen Fenster und schaute in die Straße hinaus, während Mr. Dombey sich mit seiner Schwiegermutter auf dem Sofa unterhielt. Es war spät, und die von den Anstrengungen des Tages ermüdete Florence war zu Bett gegangen.
»Mein lieber Dombey«, sagte Kleopatra, »wenn Ihr mich morgen meiner süßen Edith beraubt, so müßt Ihr Florence bei mir lassen.«
Mr. Dombey versprach das mit Vergnügen.
»Sie während Eures Aufenthalts in Paris um mich zu haben und dabei denken zu dürfen, daß ich in ihrem Alter an der Ausbildung ihres Geistes mitwirken kann, mein lieber Dombey«, fuhr Kleopatra fort, »wird für mich in dem Leid um meinen Verlust ein wahrer Balsam sein.«
Edith wandte den Kopf plötzlich um. Ihr unbekümmertes Wesen hatte sich im Augenblick in die glühendste Teilnahme umgewandelt, und sie lauschte, in der Dunkelheit unbemerkt, sorgfältig auf das Gespräch.
Mr. Dombey war entzückt, Florence unter einer so bewundernswürdigen Obhut lassen zu können.
»Mein teurer Dombey«, entgegnete Kleopatra, »tausend Dank für Eure gute Meinung. Ich fürchtete, Ihr habt im Sinn, mit vorbedachter Bosheit, wie die schrecklichen Anwälte sagen – diese entsetzlichen, langweiligen Menschen! – mich zu einer gänzlichen Einsamkeit zu verdammen.«
»Warum tut Ihr mir so schweres Unrecht, meine liebe Madame?« sagte Mr. Dombey.
»Weil meine herzige Florence mir mit Entschiedenheit erklärt hat, daß sie morgen nach Hause gehen müsse«, erwiderte Kleopatra. »Ich begann darum, mich zu sorgen, mein teuerster Dombey, daß Ihr eigentlich ein Tyrann seiet.«
»Ich versichere Euch, Madame«, – sagte Mr. Dombey, »daß sie von mir aus keinen Befehl erhalten hat. Wenn übrigens dies auch der Fall wäre, so ist Euer Wunsch mir Gebot.«
»Ihr seid ein wahrer Kavalier, mein lieber Dombey«, versetzte Kleopatra, »obschon ich eigentlich nicht so sagen sollte, denn Kavaliere haben kein Herz, und das Eurige blickt in Eurem herrlichen Leben und Charakter überall durch.«
»Aber wollt Ihr wirklich so früh gehen, mein teurer Dombey?«
Ja in der Tat – es war spät, und Mr. Dombey fürchtete, daß er jetzt wirklich aufbrechen müsse.
»Ist es eine Tatsache oder ist das Ganze nur ein Traum!« lispelte Kleopatra. »Kann ich glauben, mein teuerster Dombey, daß Ihr morgen früh zurückkehren werdet, um mich meiner süßen Lebensgefährtin, meiner Edith, zu berauben?«
Mr. Dombey, der gewohnt war, alles buchstäblich zu nehmen, erinnerte Mrs. Skewton daran, daß sie sich morgen in der Kirche wieder treffen würden.
»Der Schmerz, auch an Euch, mein lieber Dombey, ein Kind abtreten zu müssen«, sagte Mrs. Skewton, »ist das Bitterste, was man sich nur denken kann. Rechne ich dazu noch eine von Natur aus zarte Konstitution und die ungeheure Dummheit des Pastetenbäckers, der die Besorgung des Frühstücks übernommen hat, so wird es fast zu viel für meine armen Kräfte. Aber ich will mich morgen aufraffen, mein teurer Dombey; seid um meinetwillen völlig unbesorgt. Der Himmel behüte Euch! Teuerste Edith«, rief sie schalkhaft, »es geht jemand, mein Herz.«
Edith, die den Kopf wieder dem Fenster zugekehrt hatte, da das Gespräch ihr kein weiteres Interesse bot, stand von ihrem Sitze auf, ohne jedoch ihm entgegenzukommen oder auch nur eine Silbe verlauten zu lassen. Mr. Dombey brachte mit stolzer Galanterie, wie seiner Würde und dem Anlaß gemäß war, die knarrenden Stiefel in ihre Nähe, führte ihre Hand an seine Lippen und sagte: »Morgen früh werde ich also das Glück haben, diese Hand als die einer Mrs. Dombey für mich in Anspruch zu nehmen.«
Und er entfernte sich unter feierlichen Verbeugungen.
Sobald die Haustür sich hinter ihm geschlossen hatte, klingelte Mrs. Skewton nach Licht. Mit den Kerzen erschien auch ihre Kammerjungfer, die den jugendlichen Anzug brachte, der morgen die Welt blenden sollte.
Nach der Weise derartiger Kleider schlossen auch diese das Wiedervergeltungsrecht in sich, daß sie die Dame unendlich älter und häßlicher machten, als der alte Flanellunterrock. Doch Mrs. Skewton probierte sie mit betulicher Selbstzufriedenheit an, schmunzelte nach dem leichenhaften Abbild ihres Ichs in den Spiegel hin, als vergegenwärtige sie sich die vernichtende Kraft eines solchen Eindrucks auf den Major, und hieß dann ihre Kammerjungfer all diesen Prunk wieder fortnehmen. Dann mußte der gleiche dienstbare Geist sie zur Ruhe vorbereiten, und die Dame sank in Trümmer zusammen wie ein Kartenhaus.
Mittlerweile blieb Edith in ihrer finsteren Ecke und schaute auf die Straße hinaus. Als sie endlich mit ihrer Mutter allein war, kam sie zum erstenmal diesen Abend hervor und trat ihr gegenüber. Das Gähnen, das Recken und die grämliche Gestalt der Mutter, als sie ihre Augen auf die stolz und aufrecht dastehende Tochter richtete, die einen Glutblick auf sie niederfallen ließ – alles das hatte einen Ausdruck von Schuldbewußtsein an sich, den weder Leichtfertigkeit noch Laune zu verbergen vermochte.
»Ich bin bis in den Tod erschöpft«, sagte sie. »Man kann sich nicht einen Augenblick auf dich verlassen; du bist schlimmer als ein Kind. Was rede ich von Kind! Nicht einmal ein Kind würde so störrisch und ungehorsam sein.«
»Hört mich an, Mutter«, versetzte Edith, ihre Worte mit einer Miene von Verachtung begleitend, die andeutete, daß sie sehr ernsthaft gemeint seien. »Ihr müßt allein bleiben, bis ich zurückkehre.«
»Allein bleiben, bis du zurückkehrst, Edith?« wiederholte die Mutter.
»Oder ich schwöre Euch im Namen dessen, den ich morgen so schnöde und falsch zum Zeugen meines Handelns aufrufen werde, daß ich sogar in der Kirche noch die Hand dieses Mannes zurückweisen will. Ich will tot auf dem Pflaster niedersinken, wenn es nicht geschieht!«
Die Mutter antwortete mit der Miene großer Unruhe, die durch den Blick, den sie äußerlich herauszubringen suchte, in keiner Weise gemildert wurde.
»Es ist genug«, sagte Edith mit Festigkeit, »daß wir sind, was wir sind. Ich will nicht haben, daß Jugend und Treuherzigkeit in meine Tiefe hinabgezogen wird, und ich kann es nicht dulden, daß man ein argloses Wesen verderbe und verkehre, selbst wenn es sich darum handelte, einer Welt von Müttern die Langeweile zu vertreiben. Ihr wißt, was ich meine. Florence muß nach Hause.«
»Du bist eine Törin, Edith«, rief ihre Mutter zornig, »Meinst du, es sei in jenem Hause je Frieden für dich zu finden, bis sie verheiratet und fort ist?«
»Ihr fragt mich? – Fragt lieber Euch selbst, ob ich von diesem Hause überhaupt Frieden erwarte«, sagte die Tochter. »Ihr kennt die Antwort.«
»Und ich soll mir nach all der Mühe, die ich mir gegeben habe, und durch die du im Begriffe stehst, eine unabhängige Stellung zu erlangen, heute nacht sagen lassen«, schrie ihre Mutter in ihrer Leidenschaftlichkeit laut hinaus, während ihr Kopf wie ein Laub zitterte, »daß in mir Befleckung und Ansteckung liege – daß ich keine passende Gesellschaft für ein Mädchen sei? He, was bist denn du – was bist denn du?«
»Ich habe, als ich dort saß, mir diese Frage mehr als einmal vorgelegt«, versetzte Edith mit aschfahlem Gesicht, indem sie nach dem Fenster deutete. »Es ist etwas in dem verblichenen Abbild meines Geschlechts draußen vorbeigegangen, und Gott weiß, ich habe meine Antwort darin gelesen. O Mutter, Mutter, hättet Ihr mir nur mein natürliches Herz gelassen, als auch ich ein Mädchen war – ein Mädchen, noch jünger als Florence – wie ganz anders könnte ich jetzt dastehen!«
In dem Bewußtsein, daß jede Kundgebung von Zorn hier nutzlos war, tat die Mutter sich Zwang an, brach in ein Gewinsel aus und beklagte, daß sie zu lange gelebt habe, weil sogar ihr einziges Kind sich von ihr lossage. Das Pflichtgefühl gegen Eltern sei in diesen schlimmen Tagen vergessen, und nun sie einen so unnatürlichen Hohn hören müsse, kümmere sie sich nicht mehr um ihr Leben.
»Wenn man unaufhörlich solche Szenen durchmachen muß«, wimmerte sie, »dann ist es wahrhaftig besser, wenn ich auf Mittel denke, meinem Dasein ein Ende zu machen. O, der Gedanke, daß du meine Tochter bist, Edith, und mich in solcher Weise morden kannst!«
»Zwischen uns, Mutter«, entgegnete Edith im Ton der Trauer, »ist die Zeit zu wechselseitigen Vorwürfen vorbei.«
»Warum sie also immer wieder aufwärmen?« klagte die Mutter weiter. »Du weißt, daß du mich in der grausamsten Weise verwundest. Du weißt, wie tief ich dein unkindliches Benehmen empfinde. Und noch dazu in einem solchen Augenblick, in dem ich so viel zu denken habe und natürlich besorgt sein muß, mich im vorteilhaftesten Licht zu zeigen! Ich kann mich nicht genug wundern über dich, Edith. Willst du, daß deine Mutter an dem Tag deiner Vermählung wie eine Vogelscheuche erscheine?«
Edith heftete, während die Mutter schluchzte und ihre Augen rieb, den früheren durchbohrenden Blick auf sie und sagte mit derselben gedämpften, festen Stimme, mit der sie bisher gesprochen hatte:
»Ich habe Florence erklärt, daß sie nach Hause gehen müsse.«
»Na denn schön!« rief die gequälte und erschreckte Mutter hastig. »Ich habe wahrhaftig nichts dagegen. Was kümmert mich auch das Mädchen?«
»Mir liegt sie am Herzen, und ehe ich zugebe, daß ihr auch nur ein Gran von dem Schlimmen mitgeteilt werde, das in meinem Innern zehrt, Mutter, sage ich mich lieber von Euch los, wie ich auch morgen in der Kirche ihn zurückweisen werde, falls Ihr mir Anlaß dazu gebt«, erwiderte Edith. »Befaßt Euch nicht mit dem Mädchen. Sie soll, so lange ich es hindern kann, nicht durch die Lehren befleckt und verderbt werden, die man mir beibrachte. Das ist in einer so bittern Nacht keine schwere Bedingung.«
»Wenn du sie in kindlicher Weise gestellt hättest, Edith«, wimmerte ihre Mutter, »so wäre es vielleicht nicht der Fall, und ich hätte nichts dagegen. Aber so schneidende Worte –«
»Es ist jetzt zwischen uns vorbei und abgetan«, sagte Edith. »Geht Euren eigenen Weg, Mutter; teilt Euch in das Errungene nach Belieben; verbraucht es; erfreut Euch dessen, macht es Euch zunutze und seid so glücklich, wie Ihr es könnt. Unser Lebenszweck ist erreicht, und wir wollen fortan weitergehen. Von Stunde an sind meine Lippen über die Vergangenheit geschlossen. Ich vergebe Euch Euren Anteil an der morgigen Schändlichkeit – möge mir Gott den meinigen verzeihen!«
Ohne ein Beben in ihrer Stimme, ruhig und festen Schrittes, als wolle sie jede sanftere Erregung niedertreten, sagte sie zu ihrer Mutter gute Nacht und begab sich nach ihrem Zimmer.
Aber nicht zur Ruhe. Es gab in der Einsamkeit keine Ruhe für den Sturm ihrer Empfindungen. Hundert- und hundertmal ging sie zwischen den prächtigen Vorbereitungen zu ihrer morgigen Ausschmückung auf und nieder. Ihre dunkeln Haare waren aufgelöst, ihre schwarzen Augen blitzten von einem wilden Lichte, und ihr schneeiger Busen rötete sich unter der ergrimmten Faust, mit der sie ihn schonungslos schlug, während sie abgewandten Hauptes hin und her ging, als wolle sie den Anblick ihrer eigenen schönen Gestalt vermeiden und sich von ihr losreißen. So kämpfte in der stillen Nacht vor dem Brautgang Edith Granger mit ihrem unruhigen Geist – trocknen Auges, freundlos, stumm, stolz und ohne Klage.
Endlich berührte sie zufällig die offene Tür, die nach dem Zimmer führte, wo Florence lag. Sie fuhr zusammen, blieb stehen und schaute hinein.
Es brannte ein Licht dort. Florence lag da in der Blüte ihrer Unschuld und Schönheit in tiefem Schlaf. Edith hielt den Atem an sich und fühlte sich zu ihr hingezogen.
Näher, näher und näher – endlich so nahe, daß sie, sich niederbeugend, ihre Lippen auf die weiche Hand drückte, die auf der Bettdecke lag, und sie sanft an ihre Brust zog. Diese Berührung übte eine Wirkung, wie der Stab Mosis auf den Felsen. Ihre Tränen quollen darunter hervor, während sie auf die Knie niedersank und den schmerzenden Kopf und das wallende Haar auf das Kissen daneben niederdrückte.
So verbrachte Edith Granger die Nacht vor ihrer Trauung. So fand sie die Sonne an ihrem Hochzeitsmorgen.
Einunddreißigstes Kapitel. DIE TRAUUNG.
Das Grauen des Tages mit seinem leidenschaftslosen Antlitz stiehlt sich schaudernd nach der Kirche, unter welcher der Staub des kleinen Paul neben dem seiner Mutter liegt, und blickt durch die Fenster hinein.
Es ist kalt und dunkel. Die Nacht duckt sich noch nieder auf dem Pflaster und brütet schwer und düster in den Nischen und Winkeln des Gebäudes. Die über die Häuser erhabene Turmuhr, auftauchend unter den andern zahllosen Wellen in der Flut der Zeit, die regelmäßig nach dem ewigen Gestade rollt und sich daran bricht, ist nur in graulichem Lichte sichtbar gleich einem steinernen Leuchtturm, der den Wogengang anzeigt; aber innerhalb der Türen kann die Dämmerung nur nach der Nacht hereinschauen und sehen, daß sie da ist.
Matt um die Kirche her sich breitend und hineinblickend, stöhnt und weint das Zwielicht um seine kurze Herrschaft. Seine Tränen träufeln an den Fensterscheiben nieder, und die Bäume beugen ihre Häupter gegen die Kirchenmauer, indem sie zugleich teilnehmend ihre vielen Hände ringen. Die erbleichende Nacht schwindet allmählich aus der Kirche, zögert aber noch in den Gewölben unten und setzt sich auf die Särge. Und nun kommt der helle Tag, die Uhr vergoldend, den Kirchturm rötend, die Tränen der Dämmerung trocknend und ihre Klagen erstickend. Das scheue Zwielicht folgt der Nacht, jagt sie aus ihren letzten Zufluchtsorten, schleicht selbst in die Gewölbe und verbirgt sich mit erschrecktem Gesichte unter den Toten, bis die Nacht neu belebt zurückkehrt, um es davon auszutreiben.
Und jetzt verbergen die Mäuse, die sich mit den Gebetbüchern mehr zu schaffen machen als ihre regelmäßigen Eigentümer, und mit ihren kleinen Zähnen die Kirchenröcke mehr abnützen, als es von menschlichen Knien geschieht – ihre hellen Augen in den Löchern und drücken sich dicht aneinander in ihrem Schrecken über das dröhnende Knarren der Kirchentür. Denn der Kirchendiener, dieser gewaltige Mann, ist am heutigen Morgen mit dem Küster früh auf den Beinen, und Mrs. Miff, die schweratmige kleine Kirchstuhlöffnerin – eine außerordentlich ausgetrocknete, dürftig gekleidete alte Dame, an welcher der Finger nirgends auch nur einen Zoll Fülle fassen kann – hat sich gleichfalls eingefunden und an dem Portal, als an dem ihr zustehenden Platz, schon eine halbe Stunde auf den Kirchendiener gewartet.
Mrs. Miff hat ein Essiggesicht, ein zerbeultes Hütchen und eine nach Sixpencen und Schillingen dürstende Seele. Das Hereinwinken verirrter Leute nach den Kirchstühlen hat ihr eine geheimnisvolle Miene verliehen, und auch in ihrem Auge drückt sich eine Zurückhaltung aus, als wisse sie noch immer einen weicheren Sitz, obschon sie mißtrauisch sei wegen der Belohnung. Es gibt keinen Mr. Miff und hat auch seit zwanzig Jahren keinen gegeben; darum vermeidet auch Mrs. Miff es gerne, auf ihn anzuspielen. Wie es scheint, hegte er gar schlimme Ansichten betreffs Freisitze, und obschon Mrs. Miff hofft, seine Seele werde aufwärts gegangen sein, wagt sie es doch nicht, dies mit Bestimmtheit zu behaupten.
Mrs. Miff ist diesen Morgen vor der Kirchtür mit Ausstäuben des Altartuchs, des Teppichs und der Polster emsig beschäftigt. Auch weiß sie viel über die bevorstehende Hochzeit zu erzählen. Sie weiß, daß die neuen Möbel und die Veränderung im Hause ein Vermögen kosten, und hat aus der besten Quelle in Erfahrung gebracht, daß die Braut kein Sixpencestück besitzt, um sich damit bekreuzigen zu können. Ferner erinnert sich Mrs. Miff, als sei es gestern gewesen, des Leichenbegängnisses der ersten Frau, dann der Taufe und endlich der andern Beerdigung. Auch meint sie, sie wolle doch sogleich jenes Täfelchen dort mit Seifenwasser bearbeiten, ehe der Brautzug anlange. Mr. Sownds, der Kirchendiener, der die ganze Zeit über auf der Kirchentreppe in der Sonne sitzt und selten etwas anderes tut, wenn er nicht etwa bei kaltem Wetter das Feuer vorzieht, schenkt beifällig Mrs. Miffs Reden Gehör und fragt sie, ob ihr nicht zu Ohren gekommen wäre, daß die Dame ungemein schön sei. Mrs. Miff hat hievon Kunde, und Sownds, der Kirchendiener, der trotz seiner Rechtgläubigkeit und Korpulenz noch immer ein Bewunderer von weiblicher Schönheit ist, bemerkt mit Salbung, ja, er habe in Erfahrung gebracht, sie sei ein Kernstück – ein Ausdruck, der Mrs. Miff ein wenig zu kräftig scheint und auch von jeder andern Lippe als von der des Kirchendieners Mr. Sownds so erscheinen dürfte.
Mittlerweile geht es in Mr. Dombeys Hause wirr und bunt durcheinander, namentlich unter den Dienstmägden, denn keine derselben hat von vier Uhr an auch nur einen Augenblick geschlafen, und alle sind schon vor sechs in vollem Putz. Mr. Towlinson wird von der Hausmagd mehr als je berücksichtigt, und beim Frühstück sagt die Köchin, daß eine Hochzeit noch viele nach sich ziehe – eine Behauptung, der die Hausmagd keinen Glauben schenken kann, da sie dieselbe für ganz und gar unrichtig hält. Mr. Towlinson behält seine Ansicht über diese Frage für sich und ist überhaupt etwas verstimmt über die Einstellung eines Ausländers mit einem Backenbart (Mr. Towlinson ist selbst bartlos), der das glückliche Paar nach Paris begleiten soll und sich eben mit Bepackung des neuen Wagens zu schaffen macht. In Beziehung auf diese Person weiß Mr. Towlinson sogleich, daß bei Ausländern nie etwas Gutes herausgekommen sei, und da ihn die weibliche Dienerschaft des Vorurteils zeiht, so erklärt er, man solle nur den Bonaparte ansehen, der an ihrer Spitze gestanden habe; ob dieser nicht das beste Beispiel gebe. Das ist ein Hinweis, gegen den die Damen des Haushalts keine Einsprache zu erheben vermögen.
Der Pastetenbäcker hat in dem leichenhaften Zimmer zu Brook-Street alle Hände voll zu tun, und die sehr langen jungen Männer sehen emsig zu. Einer derselben riecht bereits stark nach Wein, und seine Augen verraten die Neigung, starr in seinem Kopf stehenzubleiben und die Gegenstände anzuglotzen, ohne sie selbst zu sehen. Der sehr lange junge Mann ist sich selbst dieses Gebrechens bewußt und teilt seinen Kameraden mit, die Erbauung sei daran schuld; seine Sprache war jedoch etwas umnebelt, und er wollte wahrscheinlich Erregung sagen.
Die Glockenmänner haben eine Witterung von der Hochzeit; ebenso auch die mit den Markknochen und die Blechmusikbande. Die ersten üben sich in einem hinteren Hofe unfern von Battle Bridge ein; die zweiten setzen sich durch ihren Hauptmann mit Mr. Towlinson in Verbindung, dem sie die Honorarforderungen mitteilen. Die dritte lauert und duckt sich in der Person eines schlauen Posaunisten um die Ecke und harrt auf irgendeinen gefälligen Menschen, der ihm gegen Bestechung den Platz und die Stunde des Frühstücks andeuten soll.
Die Erwartungen und Aufregungen greifen noch mehr um sich und verbreiten sich weiter. Mr. Perch bringt von Balls Pond seine Frau mit, damit sie den Tag unter Mr. Dombeys Dienstleuten zubringe und diese verstohlenerweise begleite, um die Trauung mitanzusehen. Mr. Toots kleidet sich in seiner Wohnung, als sei er selbst wenigstens der Bräutigam, und entschließt sich, das prachtvolle Schauspiel von einer geheimen Ecke der Emporkirche aus mitanzusehen, wohin ihn der Preishahn begleiten soll. Denn Mr. Toots hegt den verzweifelten Plan, letzterem Florence zu zeigen und unverhohlen zu ihm zu sagen: »Ich will Euch nicht länger täuschen, Preishahn. Der Freund, von dem ich hin und wieder mit Euch sprach, bin ich selbst, und Miß Dombey ist der Gegenstand meiner Leidenschaft. Was haltet Ihr bei solchem Stand der Dinge von der Sache, und was ratet Ihr mir nunmehr?«
Der Preishahn, dem eine solche Überraschung bevorsteht, netzt inzwischen in Mr. Toots Küche seinen Schnabel mit einem Becher starken Biers und pickt ein paar Pfunde Beefsteaks zusammen. Auf dem Prinzessinnenplatz ist Miß Tox geschäftig; denn ungeachtet ihrer tiefen Betrübnis hat auch sie sich vorgenommen, Mrs. Miff einen Schilling in die Hand zu drücken und die Feierlichkeit, die für sie eine so grausame Entzauberung ist, von einer einsamen Ecke aus anzusehen. Selbst in dem Quartier des hölzernen Midshipman geht es lebhaft zu; denn Kapitän Cuttle sitzt mit seinen Bundstiefeln und einem ungeheuren Hemdkragen bei seinem Frühstück und hört Rob dem Schleifer zu, der ihm zum voraus das Trauungsritual vorlesen muß, damit sein Gebieter die hehre Szene, an der er teilnehmen will, gehörig verstehe. Dabei erteilt der Kapitän von Zeit zu Zeit an seinen Kaplan die ernste Weisung, »haltzumachen« oder »diesen Artikel noch einmal zu wiederholen«, verweist ihn auf die ihm zustehende Pflicht und verlangt, daß er die »Amen« ihm, dem Kapitän, überlasse – eine Obliegenheit, die er mit klangvoller Selbstbefriedigung erfüllt, so oft Rob, der Schleifer, eine Pause macht.
Außerdem haben allein in Mr. Dombeys Straße zwanzig Kindermädchen ebenso vielen Familien von kleinen Frauenzimmern, deren instinktartiges Interesse für Hochzeiten schon von der Wiege herstammt, versprochen, daß sie die Trauung mitansehen dürften. Mr. Sownds, der Kirchendiener, hat in der Tat guten Grund, die Würde seines Amtes zu fühlen, wie er so dasitzt, um seine stattliche Gestalt auf der Kirchentreppe zu sonnen, und der Trauungsstunde entgegensieht. Ferner darf Mrs. Miff auf ein unglückliches zwerghaftes Kind mit einem riesigen Wickelbübchen, das zum Portal hineinschaut, losstürzen und es entrüstet fortjagen.
Vetter Feenix ist ausdrücklich in der Absicht, der Hochzeit beizuwohnen, von seiner Reise zurückgekehrt. Er hat schon vor vierzig Jahren als ein Lebemann gegolten, ist aber noch so jugendlich in Gestalt und Benehmen, dabei so gut erhalten, daß Fremde nicht genug erstaunen können, wenn sie in Seiner Herrlichkeit Gesicht verborgene Falten und in seinen Augen Krähenfüße entdecken, oder zum erstenmal die Bemerkung machen, daß sein Gang etwas unsicher sei. Wenn aber Vetter Feenix um halb acht Uhr oder so aufsteht, ist er etwas ganz anderes, als der aufgestandene Feenix, und er hat in der Tat ein sehr trübes Aussehen, solange er noch in Longs Hotel zu Bond-Street rasiert wird.
Mr. Dombey verläßt sein Ankleidezimmer unter einem allgemeinen Zurückweichen des Frauenpersonals von der Treppe, das sich mit einem gewaltigen Rauschen der Kleider nach allen Richtungen zerstreut. Nur Mrs. Perch, die sich wie gewöhnlich in einer interessanten Lage befindet, ist nicht so fix, sondern muß ihm entgegentreten und ist in ihrer Verwirrung bereit, vor lauter Knixen in die Erde zu sinken – möge der Himmel alle übeln Folgen von dem Hause Perch abwehren! Mr. Dombey begibt sich nach dem Besuchszimmer hinauf, um zu warten, bis seine Zeit gekommen ist. Wie prächtig ist nicht sein neuer blauer Frack, die rehfarbene Beinbekleidung und die lila Weste Auch verbreitet sich ein Geflüster durch das Haus, daß Mr. Dombeys Haar gekräuselt sei.
Ein Doppelschlag meldet die Ankunft des Majors, der sich gleichfalls prachtvoll herausgeputzt hat und einen ganzen Geraniumstock in seinem Knopfloch trägt. Auch sein Haar ist schön gekräuselt, und der Eingeborene weiß davon zu erzählen.
»Dombey«, sagt der Major, indem er seine beiden Hände ausstreckt, »wie geht es Euch?«
»Major«, versetzt Mr. Dombey, »wie befindet Ihr Euch?«
»Beim Herkules, Sir«, sagt der Major, »Joey B. ist diesen Morgen in einer Stimmung«, – und er klopft sich dabei hart auf die Brust – »diesen Morgen in einer Stimmung, Sir, daß er, soll ihn der Teufel holen, Dombey, halb Lust hat, zu einer Doppelheirat die Hand zu bieten, Sir, und die Mutter zu nehmen.«
Mr. Dombey lächelt, aber nur leicht; denn er fühlt, daß die Mutter zu seiner Verwandtschaft gehören wird und daß er unter solchen Umständen keinen Scherz verstehe.
»Dombey«, sagt der Major, der das bemerkt, »ich wünsche Euch Glück. Ich gratuliere Euch, Dombey. Beim Himmel, Sir«, fügte er bei, »Ihr seid heute mehr zu beneiden als irgendein Mann in England.«
Auch hier ist Mr. Dombeys Beifall nur bedingt; denn es handelt sich bei ihm darum, einer Dame eine große Auszeichnung zuteil werden zu lassen, weshalb ohne Zweifel sie am meisten zu beneiden ist.
»Was Edith Granger betrifft, Sir«, fährt der Major fort, »so gibt es in ganz Europa kein Mädchen, das nicht seine Ohren und seine Ohrenringe dazu hergeben möchte, – erlaubt Bagstock beizufügen, Sir: und sie auch hergeben würde – um an Edith Grangers Stelle zu sein.«
»Ihr seid sehr gütig«, sagt Mr. Dombey.
»Dombey«, erwidert der Major, »Ihr wißt es selbst. Wozu auch eine falsche Bescheidenheit! Ihr wißt es. Wißt Ihr es oder wißt Ihr es nicht?« sagte der Major fast in Leidenschaft.
»O, in der Tat, Major–«
»Gott verdamm mich, Sir«, entgegnet der Major, »wißt Ihr diese Tatsache oder wißt Ihr sie nicht? Dombey, ist der alte Joe Euer Freund? Stehen wir auf jenem Fuß rückhaltloser Vertraulichkeit, Dombey, der einen Mann, wie den derben alten Joseph B., rechtfertigt, Sir, sich offen auszusprechen? Oder muß ich das für eine Weisung annehmen, Dombey, den Abstand zu berücksichtigen und zeremoniös zu werden?«
»Mein lieber Major Bagstock«, sagt Mr. Dombey geschmeichelt, »Ihr werdet ja ganz warm.«
»Bei Gott, Sir«, versetzt der Major, »ich bin warm. Joseph B. stellt es nicht in Abrede, Dombey. Er ist warm. Es handelt sich ja um eine Gelegenheit, Sir, die alle ehrenhaften Sympathien, welche etwa noch in dem Gerippe des alten, höllischen, zerbeulten, aufgebrauchten, invaliden J.B. zurückgeblieben sind, in Tätigkeit ruft. Ich muß Euch etwas sagen, Dombey, – zu einer solchen Zeit muß der Mann mit dem herausplatzen, was er fühlt, oder einen Maulkorb anlegen, und Joseph Bagstock erklärt es Euch ins Gesicht, wie er es auch hinter Eurem Rücken in seinem Klub tut, daß er sich nie einen Maulkorb anlegen lassen will, wenn Paul Dombey in Frage kommt. Gott verdamm mich, Sir«, schließt der Major mit großer Festigkeit, »was habt Ihr darauf zu erwidern?«
»Major«, sagt Mr. Dombey, »ich versichere Euch, daß ich mich Euch in der Tat zu Dank verpflichtet fühle. Es fiel mir nicht ein, Eurer allzu parteiischen Freundschaft Einhalt zu tun.«
»Nicht allzu parteiisch, Sir!« ruft der cholerische Major. »Dombey, ich stelle das in Abrede!«
»So will ich sagen, Eurer Freundschaft zu mir«, fährt Mr. Dombey fort. »Auch kann ich bei einem Anlaß wie der gegenwärtige nicht vergessen, Major, wie sehr ich Euch verpflichtet bin.«
»Dombey«, sagt der Major mit einer entsprechenden Gebärde, »dies ist die Hand des Joseph Bagstock – des einfachen alten Joey B., Sir, wenn Ihr lieber so wollt. Dies ist die Hand, von der Seine Königliche Hoheit der verstorbene Herzog von York gegen Seine Königliche Hoheit den verstorbenen Herzog von Kent zu bemerken mir die Ehre erwies, daß es die Hand Joeys sei, eines rauhen, zähen, alten Vagabunden. Dombey, möge der gegenwärtige Augenblick der am wenigsten unglückliche in unserm Leben sein. Gottes Segen über Euch!«
Jetzt tritt Mr. Carker ein, der gleichfalls prächtig gekleidet ist und in der Tat wie ein Hochzeitsgast lächelt. Er ist so reich an Glückwünschen, daß er kaum Mr. Dombeys Hand loslassen kann. Dabei schüttelt er dem Major die Hand so herzlich, daß auch seine Stimme im Einklang mit den Armen beweglich wird, während sie sich durch die Zähne hindurch ihre Bahn bricht.
»Sogar der Tag deutet auf Glück«, sagt Mr. Carker. »Das heiterste, lieblichste Wetter! Hoffentlich komme ich doch nicht zu spät?«
»Ihr seid durchaus pünktlich, Sir«, bemerkt der Major.
»Das freut mich in der Tat«, sagt Mr. Carker. »Ich fürchtete, ich möchte mich um einige Sekunden über die bestimmte Zeit verspätet haben; denn ich wurde durch einen Zug von Frachtwagen aufgehalten. Ich nahm mir die Freiheit, nach Brook-Street zu reiten« – dies zu Mr. Dombey – »und ein paar kleine Seltenheiten von Blumen für Mrs. Dombey dort zurückzulassen. Ein Mann in meiner Stellung, der durch eine solche Einladung ausgezeichnet wird, rechnet es sich zur hohen Ehre an, in Anerkennung seiner Lehenspflichtigkeit eine Huldigung darzubringen. Da ich natürlich nicht zweifle, Mrs. Dombey sei schon mit allem Kostbaren und Prächtigen überschüttet worden« – er begleitet diese Worte mit einem seltsamen Blick auf seinen Chef – »so hoffe ich, daß deshalb auch meine arme Gabe Gnade finden wird.«
»Ich bin überzeugt«, erwidert Mr. Dombey herablassend, »daß die künftige Mrs. Dombey Eure Aufmerksamkeit zu schätzen wissen wird.«
»Und wenn sie noch heute morgen Mrs. Dombey sein soll, Sir«, sagt der Major, seine Kaffeetasse niedersetzend und auf seine Uhr sehend, »so ist es hohe Zeit, daß wir uns auf den Weg machen.«
Mr. Dombey, Major Bagstock und Mr. Carker fahren in einer Equipage nach der Kirche. Mr. Sownds, der Kirchendiener, hat sich längst von der Treppe erhoben und wartet mit dem Eckenhut in der Hand. Mrs. Miff knixt und bietet Stühle in der Sakristei an. Mr. Dombey zieht es vor, in der Kirche zu bleiben. Als er nach der Orgel hinaufblickt, verbirgt sich Miß Tox auf der Emporkirche hinter dem fetten Bein eines Cherubs, der Backen hat wie ein junger Wind. Kapitän Cuttle dagegen steht auf und schwenkt seinen Haken zum Zeichen des Willkomms und der Ermutigung. Mr. Toots teilt dem Preishahn hinter der vorgehaltenen Hand mit, daß der mittlere Gentleman, der in den rehfarbenen Hosen, der Vater des Gegenstands seiner Liebe sei. Der Preishahn flüstert darauf Mr. Toots in heiseren Lauten zu, er sei ein so steifer Kunde, wie er nur je einen gesehen habe, aber es liege in der Macht der Wissenschaft, ihn gelenkig zu machen, und man bedürfe hierzu nur eines einzigen Schlages in die Magengegend.
Mr. Sownds und Mrs. Miff besehen sich Mr. Dombey aus einiger Entfernung, als sich auf einmal das Getöse rasselnder Räder vernehmen läßt und Mr. Sownds hinausgeht. Mr. Dombey wendet eben seinen Blick von dem anmaßenden Tollhäusler auf der Emporkirche ab, der ihn mit so viel Leutseligkeit begrüßt, und begegnet dabei dem der Mrs. Miff, die ihm einen Knix macht und die Bemerkung beifügt, sie glaube, daß seine »gute Dame« komme. Dann gibt es ein Gedränge und ein Flüstern in der Nähe der Tür, worauf die gute Dame mit stolzen Schritten eintritt.
Auf ihrem Gesicht zeigt sich keine Spur von den Leiden der letzten Nacht. Man bemerkt in ihrem Wesen nichts von dem knienden Weibe, das in schönem Selbstvergessen das verwirrte Haupt niedergelegt hat auf das Kissen des schlafenden Mädchens. Jenes Mädchen, so sanft und lieblich, geht an ihrer Seite – ein auffallender Gegensatz zu ihrer eigenen trotzigen Gestalt, wie sie dasteht, ruhig, aufrecht, und unergründlich in ihren Gefühlen, prächtig und majestätisch in der höchsten Blüte ihrer Reize, aber doch die Bewunderung, zu der sie Anlaß gibt, abweisend und unter die Füße tretend.
Eine Pause tritt ein, während der Mr. Sownds, der Kirchendiener, in die Sakristei schlüpft, um den Geistlichen und den Küster zu holen. Mrs. Skewton redet Mr. Dombey an – bestimmter und nachdrücklicher, als es ihre Gewohnheit ist. Dabei tritt sie dicht an Ediths Seite.
»Mein teurer Dombey«, sagte die gute Mama, »ich fürchte, ich muß am Ende doch auf die liebe Florence verzichten und sie nach Haus gehen lassen, wie sie es selbst vorgeschlagen hat. Nach dem Verlust, der mich heute betrifft, mein lieber Dombey, fühle ich meinen Geist so gedrückt, daß mir vielleicht auch ihre Gesellschaft zuviel wird.«
»Wäre es nicht besser, wenn sie bei Euch bliebe?« versetzt der Bräutigam.
»Ich glaube nicht, mein teurer Dombey. Nein, ich glaube nicht. Es wird besser sein, wenn ich allein bin. Außerdem ist nach Eurer Rückkehr meine liebe Edith ihre natürliche und beständige Schützerin; deshalb will ich ihr in keiner Weise vorgreifen. Sie könnte eifersüchtig werden – meinst du nicht, meine liebe Edith?«
Die zärtliche Mama drückt bei diesen Worten den Arm ihrer Tochter, vielleicht um sich ihre Aufmerksamkeit zu erbitten.
»Im Ernst, mein teurer Dombey«, sagt sie weiter, »ich will unser liebes Kind nach Haus lassen und es nicht mit meiner Schwermut behelligen. Wir haben uns hierüber ganz verständigt. Sie sieht es vollkommen ein, mein teurer Dombey. Edith, meine Liebe – sie sieht es vollkommen ein.«
Abermals drückt die gute Mutter den Arm ihrer Tochter. Mr. Dombey macht keine weitere Gegenvorstellung; denn der Geistliche erscheint mit dem Küster, und Mrs. Miff weist unter dem Beistande des Kirchendieners, Mr. Sownds, der Gesellschaft die geeigneten Plätze vor dem Altargeländer an.
»Wer vergibt diese Frau, daß sie mit diesem Manne vermählt werde?«
Vetter Feenix tut das. Er ist deshalb ausdrücklich von Baden-Baden hergekommen. »Zum Henker«, sagte Vetter Feenix; ein herrlicher Mann, dieser Vetter Feenix – »wenn wir einen reichen City-Burschen in die Familie kriegen, so müssen wir ihm einige Aufmerksamkeit zeigen. Wir müssen etwas für ihn tun.«
»Ich vergebe diese Frau, damit sie mit diesem Manne vermählt werde«, sagt demgemäß Vetter Feenix.
Vetter Feenix, der geradeaus gehen will, aber vermöge seiner eigensinnigen Beine ein wenig seitab gerät, vergibt anfangs die unrechte Frau, damit sie mit diesem Manne vermählt werde, nämlich eine Brautjungfer von Stand, entfernt mit der Familie verwandt und etwa zehn Jahre jünger als Mrs. Skewton. Aber Mrs. Miff, die das zerbeulte Hütchen dazwischen steckt, zieht ihn gewandt zurück und läßt ihn voll auf die »gute Dame« loslaufen, die nun Vetter Feenix vergibt, damit sie mit diesem Manne vermählt werde.
»Und wollen Sie im Angesicht des Himmels –?«
Ja, sie wollen. Mr. Dombey erklärt, er wolle. Und was sagt Edith? Auch sie will.
So verpflichten sie sich von Stunde an zu gegenseitiger Treue – sich zu lieben und zu tragen in Glück und Unglück, in Reichtum und Armut, in kranken und gesunden Tagen. Sie sind vermählt.
Mit fester, freier Hand zeichnet die Braut ihren Namen in das Kirchenregister ein, das in der Sakristei aufgeschlagen ist.
»Es kommen nicht viele Damen her«, sagt Mrs. Miff mit einem Knix – denn wenn man sie zu solchen Zeiten ansieht, so geht es stets mit ihrem zerbeulten Hütchen auf und nieder – »die ihre Namen schreiben wie diese gute Dame!«
Mr. Sownds, der Kirchendiener, meint, es sei eine wahrhafte Kern-Unterschrift, die der Schreiberin Ehre mache – dies jedoch nur zwischen ihm und seinem Gewissen.
Auch Florence unterzeichnet, findet aber keinen Beifall; denn ihre Hand zittert. Alle Zeugen unterschreiben – Vetter Feenix zuletzt, obschon er seinen edlen Namen an den unrechten Platz setzt und sich selbst unter diejenigen einreiht, die an jenem Morgen geboren wurden.
Der Major küßt nun die Braut in höchst galanter Weise und dehnt diesen Zweig militärischer Taktik auf alle Damen aus, obschon der Mrs. Skewton nur sehr schwer beizukommen ist und sie in dem heiligen Gebäude ein schrilles Quieken erschallen läßt. Vetter Feenix und sogar Mr. Dombey folgen diesem Beispiel. Endlich naht sich auch Mr. Carker mit seinen glänzenden weißen Zähnen der Braut, wie es scheint eher in der Absicht, sie zu beißen, als um die Süßigkeiten zu kosten, die ihre Lippen umschweben.
Auf ihren stolzen Wangen und in dem Blitzen ihrer Augen zeigt sich eine Glut, die vielleicht den Zweck hat, ihn zurückzuhalten. Das nutzt aber nichts; denn er küßt sie, wie die übrigen es getan haben, und wünscht ihr alles Glück.
»Wenn bei einem Bund, wie der gegenwärtige, Wünsche nicht etwa überflüssig sind«, fügt er mit gedämpfter Stimme bei.
»Ich danke Euch, Sir«, antwortet sie mit aufgeworfener Lippe und klopfendem Busen.
Aber fühlt Edith noch wie an dem Abend, als sie erfuhr, Mr. Dombey werde zurückkehren, um ihr seine Hand anzubieten, daß Carker sie durchaus kennt, daß er in ihrer Seele gelesen hat und daß sie hierdurch mehr herabgewürdigt wird als durch irgend etwas anderes? Ist dies der Grund, warum ihr Stolz unter seinem Lächeln zusammenschmilzt gleich dem Schnee in der ihn zerdrückenden Hand? Läßt sie deshalb ihren gebieterischen Blick sinken, um den Boden zu suchen, wenn er dem seinigen begegnet?
»Ich bin stolz darauf«, sagt Mr. Carker mit einer unterwürfigen Beugung seines Halses, welche die Offenbarung, die in seinen Augen und Zähnen zu lesen ist, Lügen straft, »ich bin stolz darauf, zu sehen, daß meine geringe Gabe von Mrs. Dombeys Hand gnädig aufgenommen wurde und bei diesem frohen Anlaß einen so begünstigten Platz einnehmen durfte.« Obschon sie als Erwiderung den Kopf verneigt, liegt doch etwas in der augenblicklichen Bewegung ihrer Hand, das andeutet, als wolle sie die Blumen, die sie hält, zerdrücken und mit Verachtung auf den Boden werfen. Sie legt indessen diese Hand in den Arm ihres neuen Gatten, der in der Nähe sich mit dem Major bespricht, und ist wieder stolz, stumm und regungslos.
Die Wagen stehen vor der Kirchentür. Mr. Dombey führt seine Braut durch die zwanzig Familien kleiner Damen, die sich auf der Treppe aufgestellt haben, und von denen jede sich den Schnitt und die Farbe der Kleidung im einzelnen genau merkt, daß sie diese an ihrer Puppe nachzubilden vermag, die gleichfalls den ewigen Bund der Treue eingehen muß. Kleopatra und Feenix steigen in den nämlichen Wagen. Der Major hilft Florence und der Brautjungfer, die aus Irrtum beinahe selbst vergeben worden wäre, in den zweiten, um dann selbst mit Mr. Carker nachzufolgen. Die Pferde stampfen und legen aus. Kutscher und Lakaien prunken in flatternden Schleifen, Blumen und neuen Livreen. Rasselnd geht es durch die Straßen, und tausend Köpfe drehen sich zum Nachsehen, während tausend nüchterne Moralisten sich für den Umstand, daß sie nicht auch an jenem Morgen vermählt wurden, durch die Betrachtung rächen, wie wenig die Leute daran denken, daß ein solches Glück nicht ewig währen kann.
Sobald alles ruhig ist, schlüpft Miß Tox hinter dem Cherubim hervor und kommt langsam von der Galerie herunter. Ihre Augen sind rot, und ihr feuchtes Taschentuch deutet auf Tränen. Sie fühlt sich tief verwundet, ist aber nicht bitter und hofft, das Paar möge glücklich sein. Sie gesteht sich ein, wie schwach ihre eigenen verblichenen Reize der Schönheit der Braut gegenüber sind. Aber auch das stattliche Bild des Mr. Dombey in der lila Weste und den rehfarbenen Beinkleidern vergegenwärtigt sie sich in ihrem Geiste, und sie weint aufs neue hinter ihrem Schleier auf dem ganzen Wege nach dem Prinzessinnenplatz. Kapitän Cuttle, der in alle Responsorien und Amen mit andächtigem Brummen eingestimmt hat, fühlt sich durch seine religiösen Übungen sehr gehoben und geht in friedevoller Geistesstimmung, den Glanzhut in der Hand, nach dem Kirchenschiff hinunter, wo er das Täfelchen zum Andenken des kleinen Paul liest. Der galante Mr. Toots verläßt, von dem getreuen Preishahn begleitet, das Gebäude in einer wahren Liebesfolter. Der Preishahn ist bis jetzt noch nicht imstande gewesen, einen Plan auszudenken, um Florence zu gewinnen; aber die erste Idee haftet in ihm fest, und er meint, wenn man durch einen tüchtigen Schlag vor den Magen Mr. Dombey gelenkiger mache, so wäre das ein Vorgehen in geeigneter Richtung. Mr Dombeys Mägde kommen aus ihren Verstecken hervor und schicken sich an, im Sturmschritt nach Brook-Street zu eilen, werden aber durch Symptome von Übelkeit seitens Mrs. Perch aufgehalten, die um ein Glas Wasser bittet und ihre Begleiterinnen in großen Schrecken versetzt. Mrs. Perch befindet sich indessen bald wieder besser und wird mit fortgedrängt, während Mrs. Miff mit Mr. Sownds, dem Kirchendiener, auf der Treppe niedersitzt, um von ihrem heutigen Erwerb zu sprechen, und der Küster die Glocke zu einem Leichenbegängnis anzieht.
Die Wagen langen vor der Wohnung der Braut an, die Glockenmänner beginnen ihr Spiel, die Blechmusikbande fällt ein, und Mr. Polichinell, dieses Urbild ehelichen Glückes, küßt sein Weib. Die Leute laufen, schieben und drücken sich in gaffendem Gedränge, während Mr. Dombey, die Braut an der Hand führend, mit feierlichen Schritten auf die Feenixhallen zuschreitet. Jetzt steigen die übrigen Hochzeitsgäste aus und begeben sich hinter dem Brautpaar in das Gebäude. Warum denkt wohl Mr. Carker, während er durch den Volkshaufen nach der Hallentür sich Bahn bricht, an das alte Weib, das ihm an jenem Morgen unter den Bäumen nachgerufen hat? Oder warum erinnert sich Florence beim Eintreten in das Haus mit Zittern der Zeit, in der sie als Kind irreging, und warum vergegenwärtigt sich ihr das Gesicht der guten Mrs. Brown?
An diesem glücklichsten der Tage gibt es noch mehr Glückwünsche und Grüße, obschon im ganzen nicht viel. Sie verlassen jetzt das Besuchszimmer und verteilen sich an dem Tisch in dem dunkelbraunen Speisesaal, den kein Konditor aufheitern kann, mag er auch die beiden erschöpften Neger mit so vielen Blumen und Liebesschleifen verzieren, wie er will.
Gleichwohl hat der Pastetenbäcker seine Pflicht erfüllt wie ein Mann, und ein reiches Frühstück steht bereit. Unter andern haben sich auch Mr. und Mrs. Chick der Gesellschaft angeschlossen. Mrs. Chick drückt ihr Erstaunen aus, daß Edith schon von Natur eine so vollkommene Dombey ist, und benimmt sich mit redseliger Vertraulichkeit gegen Mrs. Skewton, die eine schwere Last von ihrem Herzen gewälzt sieht und bei dem Champagner nicht zu kurz kommen will. Der sehr lange junge Mann, der am Morgen mit seiner Erbauung so viel zu schaffen hatte, befindet sich wohler. Aber ein unbestimmtes Gefühl von Reue hat sich seiner bemächtigt, und er haßt den andern sehr langen jungen Mann, dem er mit Gewalt seine Schüsseln entreißt, wie er denn überhaupt eine grimmige Lust daran zu hoben scheint, der Gesellschaft sich in keiner Weise verbindlich zu zeigen. Die Gesellschaft selbst ist kalt und ruhig, ohne es sich einfallen zu lassen, die auf sie niederschauenden schwarzen Wappenbilder durch irgendein Übermaß von Heiterkeit zu beleidigen. Vetter Feenix und der Major sind die lebhaftesten. Aber Mr. Carker hat ein Lächeln für den ganzen Tisch – ein besonders eigentümliches Lächeln für die Braut, obschon diese nur sehr, sehr selten darauf achtet.
Nachdem die Gesellschaft das Frühstück eingenommen und die Dienerschaft den Speisesaal verlassen hat, erhebt sich Vetter Feenix. Wie wunderbar jung er aussieht in den weißen Manschetten, die seine sonst etwas knöchernen Hände fast ganz bedecken, und in der Glut des Champagners auf seinen Wangen!
»Auf Ehre«, sagt Vetter Feenix, »obschon dies etwas Ungewöhnliches in dem Privathause eines Gentleman ist, muß ich doch um die Erlaubnis bitten, euch zu einem Bescheid auf das aufzufordern, was man gemeinhin einen Toast nennt.«
Der Major gibt mit sehr heiserer Stimme seinen Beifall zu erkennen. Mr. Carker, der in der Richtung des Vetter Feenix seinen Kopf über den Tisch vorbeugt, lächelt und nickt zu öfteren Malen.
»Ist es – in der Tat, ist es nicht –« beginnt Vetter Feenix abermals, ohne weiter fortfahren zu können.
»Hört, hört!« ruft der Major im Tone der Überzeugung.
Mr. Carker drückt sanft seine Hände zusammen, beugt sich wieder über den Tisch vor und lächelt und nickt noch öfter als zuvor, wie wenn er durch die letzte Bemerkung besonders angeregt worden sei und den wohltuenden Eindruck kundzugeben wünsche, den er davon gehabt.
»Es ist in der Tat ein Anlaß«, sagt Vetter Feenix, »bei dem man ohne Ungebühr von dem gewöhnlichen Brauch abgehen kann, und obschon ich in meinem Leben nie ein Redner war, und ich während meines Sitzes im Unterhaus die Ehre hatte, die Adresse zu unterstützen, die dann in der Überzeugung des Fehlschlagens auf zwei Wochen vertagt wurde –«
Der Major und Mr. Carker sind über dieses Bruchstück von Privatgeschichte so entzückt, daß Vetter Feenix lacht und ausdrücklich gegen sie fortfährt:
»In Wahrheit, es ging mir verteufelt schlecht dabei – gleichwohl könnt Ihr Euch denken, daß ich wohl fühle, welche Pflicht mir obliegt. Und wenn ein Engländer eine Pflicht zu erfüllen hat, muß er, wie ich meine, diese erfüllen, so gut er kann. Wohlan, unserer Familie wird heute die Freude, sich in der Person meiner liebenswürdigen und begabten Verwandten, die ich in der Tat hier gegenwärtig sehe –«
Allgemeiner Beifall.
»Gegenwärtig sehe«, wiederholte Vetter Feenix, der fühlt, daß es sich hier um einen Glanzpunkt handelt, der wohl eine Wiederholung vertragen kann – »mit einem Mann zu verbinden, auf dem nie der Finger der Verachtung – in der Tat, mit meinem ehrenwerten Freund Dombey, wenn er mir erlauben will, ihn so zu nennen.«
Vetter Feenix verbeugt sich gegen Mr. Dombey, der mit großer Feierlichkeit das gleiche tut. Jedermann fühlt sich mehr oder weniger freudig angeregt von dieser außerordentlichen, vielleicht beispiellosen Ansprache an das Herz.
»Ich habe nicht so viele Gelegenheit gehabt, als ich wohl wünschen möchte«, fuhr Vetter Feenix fort, »die Bekanntschaft meines Freundes Dombey zu pflegen und die Eigenschaften kennenzulernen, die seinem Kopf und in der Tat auch seinem Herzen so große Ehre machen; denn unglücklicherweise mußte es sich treffen, daß ich, wie wir zu meiner Zeit im Unterhause zu sagen pflegten – denn damals spielte man noch nicht auf die Lords an, und in den parlamentarischen Verhandlungen wurde die Ordnung weit besser gewahrt, als heutzutage – an – in Wahrheit –« fügt Vetter Feenix bei, der seinen Spaß sehr zu lieben scheint und zuletzt unter einem Anlauf mit ihm herausrückt – »›an einem anderen Platze‹ war.«
Der Major gerät in Zuckungen, aus denen er nur mit Mühe sich wieder aufrafft.
»Aber ich kenne meinen Freund Dombey hinreichend«, sagt Vetter Feenix in ernsterem Ton, als sei er plötzlich ein ganz anderer, weiserer Mann geworden, »um zu wissen, daß er in Wahrheit ist, was man bedeutungsvoll einen Kaufmann – einen britischen Kaufmann – und einen – einen Mann nennt. Und obschon ich seit einigen Jahren mich im Ausland aufhalte – es würde mir das größte Vergnügen bereiten, wenn ich meinen Freund Dombey oder jeden der anwesenden Gäste in Baden-Baden begrüßen und ihn bei dieser Gelegenheit mit dem Großherzog bekannt machen könnte – so darf ich mir doch schmeicheln, daß ich meine liebliche und begabte Verwandte zureichend kenne, um überzeugt zu sein, sie besitze jedes Erfordernis, das einen Mann zu beglücken imstande ist, und ihre Verbindung mit meinem Freund Dombey sei aus gegenseitiger Neigung hervorgegangen.«
Mr. Carker lächelt und nickt sehr viel.
»Deshalb gratuliere ich der Familie, deren Mitglied ich bin«, fährt Vetter Feenix fort, »zu der Erwerbung meines Freundes Dombey. Ich gratuliere meinem Freund Dombey zu seiner Verbindung mit meiner liebenswürdigen und begabten Verwandten, die jedes Erfordernis besitzt, um einen Mann glücklich zu machen; und ich nehme mir die Freiheit, alle Anwesenden aufzufordern, daß sie sich den Glückwünschen anschließen, die ich bei dem gegenwärtigen Anlaß meinem Freund Dombey und meiner liebenswürdigen, begabten Verwandten darbringe.«
Die Rede des Vetter Feenix wird mit großem Beifall aufgenommen, und Mr. Dombey dankt darauf in seinem und Mrs. Dombeys Namen. J.B. bringt unmittelbar nachher einen Trinkspruch auf Mrs. Skewton aus. Dann wird das Frühstück wieder langweilig, die beleidigten Wappenbilder erhalten ihre Sühne, und Edith erhebt sich, um sich in ihr Reisekostüm zu werfen.
Mittlerweile haben sämtliche Dienstboten unten ihr Mahl eingenommen. Der Champagner ist unter ihnen etwas zu Gemeines geworden, als daß er sich nur der Rede verlohnte, und gebackene Hühner, hohe Pasteten und Hummernsalat stehen nur noch im Lichte von Hausmannskost. Der sehr lange junge Mann hat sich wieder aufgefrischt und beginnt abermals auf Erbauung anzuspielen, während das Auge seines Kameraden mit dem seinen zu wetteifern anfängt, da es gleichfalls die Gegenstände anstiert, ohne sie zu erkennen. Auf den Gesichtern der Damen zeigt sich ein allgemeines Rot, namentlich auf dem der Mrs. Perch, die vor Lust ganz strahlend wird und sich so weit über die Sorge des Lebens erhoben fühlt, daß sie wohl Schwierigkeit haben dürfte, auf Befragen irgendeinem verirrten Wanderer den Weg nach Balls Pond, wo sie ihre Sorgen zurückgelassen, anzudeuten. – Mr. Towlinson hat einen Toast auf das glückliche Paar ausgebracht und der silberhaarige Kellermeister mit viel Zierlichkeit und Empfindung darauf geantwortet, denn die Hälfte der Anwesenden beginnt zu glauben, er sei wirklich ein alter Familiendiener, dem die Verpflichtung obliegt, durch solche Wechsel sich sehr ergriffen zu fühlen. Sämtliche Teilnehmer an dem Frühstück, namentlich die Damen, zeigen eine ausgelassene Fröhlichkeit. Mr. Dombeys Köchin, die in der Gesellschaft das große Wort zu führen pflegt, hält es für unmöglich, nach einem solchen Morgen gleich wieder ins alte Geleise einzufahren; warum also nicht lieber gemeinschaftlich das Theater besuchen?
Alles – selbst Mrs. Perch mit inbegriffen – zollt diesem Vorschlag Beifall, namentlich der Eingeborene, der wie ein Tiger getrunken hat und die Damen (Mrs. Perch insbesondere) durch das Rollen seiner Augen in Schrecken setzt. Einer der sehr langen jungen Männer hat sogar den Antrag gestellt, daß man nach dem Schauspiel einen Ball halten sollte – ein Gedanke, der niemand (nicht einmal Mrs. Perch) im Lichte der Unmöglichkeit erscheint. Zwischen der Hausmagd und Mr. Towlinson ist es zu einem Wortwechsel gekommen; denn sie behauptet die Wahrheit des alten Sprichworts, daß die Ehen im Himmel beschlossen werden, während er meint, der Handel gehe anderswo vor, und sie spreche nur so, weil sie selbst unter die Haube kommen möchte. Dagegen verwahrt sie sich mit der Erklärung, Gott möge jedenfalls verhüten, daß sie nicht etwa mit ihm den Bund schließen müsse. Um diese Hohnreden zu beschwichtigen, erhebt sich der silberhaarige Kellermeister, um die Gesundheit Mr. Towlinsons auszubringen, den man nur zu kennen brauche, um ihn zu achten; und wer ihn achte, müsse wünschen, daß er im Leben ein gutes Auskommen habe mit dem Gegenstand seiner Wahl, gleichviel – dabei haften seine Augen auf der Hausmagd – woher er auch denselben holen möge.
Mr. Towlinson bedankt sich darauf in einer sehr gefühlvollen Rede und geht sodann auf die Ausländer über, die, wie er meint, bisweilen bei schwachen, flatterhaften Köpfen in Gunst kämen. Er hoffe aber nur, er möge nie etwas von solchen Ausländern hören, die einen Reisewagen ausgemaust hätten. Dabei wird Mr. Towlinsons Auge so streng und ausdrucksvoll, daß die Hausmagd in Krämpfe verfällt, sich aber bald wieder erholt und mit allen übrigen die Treppe hinaufeilt, weil sich die Kunde verbreitet, daß die Braut abreise.
Der Wagen steht an der Tür, und die Braut kommt nach der Halle herunter, wo Mr. Dombey sie erwartet. Florence steht auf der Treppe, um gleichfalls aufzubrechen, während Miß Nipper in einem Putze, der die Mitte hält zwischen der Küche und dem Besuchzimmer, alle Vorbereitung getroffen hat, sie zu begleiten. Wie Edith erscheint, eilt Florence auf sie zu, um von ihr Abschied zu nehmen.
Friert es Edith, daß sie so zittert? Liegt in Florences Berührung etwas Unnatürliches oder Ansteckendes, daß die schöne Frau zurückweicht und zusammenzuckt, als könne sie das nicht ertragen? Hat sie es so eilig, daß sie nur die Hand schwenkt, vorüberrauscht und hinweg ist?
Von mütterlichen Gefühlen überwältigt, sinkt Mrs. Skewton, sobald das Rasseln des Reisewagens verhallt ist, in einer Kleopatra-Pose auf ihren Sofa und vergießt mehrere Tränen. Der Major kommt mit der übrigen Gesellschaft von der Tafel und versucht sie zu trösten; da sie aber um keinen Preis Trost annehmen will, so verabschiedet er sich. Vetter Feenix und Mr. Carker tun das gleiche. Alle Gäste entfernen sich. Kleopatra, die allein zurückbleibt, fühlt infolge der allzu großen Aufregung einen Schwindelanfall und schläft ein.
Auch im Erdgeschoß herrscht Schwindel. Der sehr lange junge Mann, bei dem die Erbauung so bald wieder zurückgekehrt ist, scheint mit dem Kopf an dem Speisekammertisch angeleimt zu sein und kann ihn nicht loskriegen. Mit Mrs. Perchs Heiterkeit ist ein großer Wechsel vorgegangen, und sie zeigt eine sehr wehmütige Stimmung in bezug auf Mr. Perch, indem sie der Köchin ihre Besorgnisse mitteilt, er hänge nicht mehr mit derselben Liebe an der Heimat, wie in der Zeit, als ihre Familie nur aus neun Gliedern bestand. Mr. Towlinson spürt ein Sausen in seinen Ohren, und es ist ihm, als ob ihm ein Mühlrad im Kopf herumgeht. Die Hausmagd hofft, daß es keine Sünde sein möchte, wenn man jemandem den Tod wünsche.
Was die Zeit angeht, so zeigt sich in den unteren Regionen gleichfalls eine allgemeine Verblendung. Jeder meint, es müsse mindestens schon zehn Uhr abends sein, während es doch nicht einmal drei geschlagen hat. Eine schattenhafte Vorstellung von irgendeiner Bosheit spukt in allen Köpfen, und jeder hält den andern dabei für beteiligt, weshalb es am besten sei, ihm auszuweichen. Niemand hat die Kühnheit, auf den beabsichtigten Theaterbesuch anzuspielen; und wer den Gedanken an den Ball wieder aufgewärmt hätte, wäre von allen übrigen als ein boshafter Tollhäusler angesehen worden.
Zwei Stunden später liegt Mrs. Skewton noch immer in ihrem Schlummer; und in der Küche ist das Schlafen noch nicht vorüber. Die Wappenbilder im Speisesaal schauen wieder auf Krumen, unreine Teller, verschütteten Wein, halbaufgetautes Eis, alte verfärbte Fußspuren, Überreste von Hummern, Schenkelknochen von Geflügel und schwermütige Gelees, die in lauwarme Gummibrühen zerfließen. Die Hochzeit ist inzwischen fast ebenso allen ihren Prunks entkleidet wie das Frühstück. Mr. Dombeys Dienstboten moralisieren so viel darüber und benehmen sich zu Hause bei ihrem Tee so reuig, daß gegen acht Uhr hin allenthalben der tiefste Ernst waltet. Mr. Perch, der um diese Zeit in weißer Weste und mit einem lustigen Liedchen frisch und heiter aus der City kommt, um sich einen fröhlichen Abend zu machen, ist im höchsten Grade erstaunt über die kalte Aufnahme, die ihm zuteil wird, und da sich Mrs. Perch gar übel befindet, so fällt ihm die angenehme Pflicht zu, diese Dame im ersten besten Omnibus nach Hause zu begleiten.
Die Nacht bricht an. Florence, die in dem schönen Haus Zimmer nach Zimmer durchwandelt hat, sucht ihr eigenes Gemach auf, wo sie sich infolge von Ediths Sorgfalt von aller Bequemlichkeit umgeben sieht. Nachdem sie ihr schönes Gewand abgelegt hat, zieht sie das einfache Trauerkleid, das sie seit Pauls Tod getragen, wieder an und setzt sich nieder, um zu lesen, während Diogenes auf dem Boden neben ihr nickt und blinzelt. Aber Florence kann heute nacht nicht lesen. Das Haus kommt ihr fremd und neu vor: auch ist das Echo so laut. In ihrem Herzen lauert ein Schatten; sie fühlt es beschwert, ohne daß sie sich den Grund anzugeben vermag. Sie schließt ihr Buch. Diogenes, der das für ein Signal hält, legt seine Pfote auf ihren Schoß und reibt seine Ohren gegen ihre liebkosenden Hände. Aber Florence kann ihn für eine Weile nicht deutlich sehen; denn es liegt zwischen ihren Augen und ihm ein Nebel, in dem ihr toter Bruder und ihre gestorbene Mutter wie Engel auftauchen. Ach Walter – der arme, unstete, schiffbrüchige Knabe – ach, wo ist er!
Soviel ist gewiß, daß es der Major nicht weiß, und daß er sich auch nicht darum kümmert. Nachdem er den ganzen Nachmittag Erstickungsanfällen ausgesetzt gewesen ist und viel geschlummert hat, nimmt er ein spätes Diner in seinem Klub ein und sitzt jetzt bei seinem Glase Wein, um einen jungen Mann von frischer Gesichtsfarbe am nächsten Tisch – wie gerne ließe es sich dieser nicht ein Schönes kosten, wenn es ihm möglich wäre, aufzustehen und sich zu entfernen – mit Anekdoten von Bagstock, Sir, bei Dombeys Hochzeitsfeier und von des alten Joe verteufelt ritterlichem Freund, dem Lord Feenix, zum Wahnsinn zu bringen. Vetter Feenix, der jetzt schon in Longs Hotel und in den Federn sein sollte, befindet sich statt dessen an einem Spieltisch, nach dem ihn seine eigensinnigen Beine, vielleicht gegen seinen Willen, getragen haben.
Die Nacht erfüllt gleich einem Riesen die Kirche vom Pflaster bis zum Dach und übt während der schweigenden Stunde ihre Herrschaft. Das gleiche Zwielicht kommt wieder, um durch die Fenster hereinzuschauen, weicht dem Tag, sieht nach, ob die Nacht sich in den Gewölben verbirgt, folgt ihr, verscheucht sie und nimmt selbst ihren Versteck ein unter den Toten. Die schüchternen Mäuse drängen sich wieder zusammen, wenn die große Tür erknarrt und Mr. Sownds und Mrs. Miff, gleich dem Trauring den ununterbrochenen Kreislauf ihres täglichen Lebens beginnend, hereintreten. Der Eckenhut und das zerbeulte Hütchen stehen wieder während der Stunde der Vermählung im Hintergrund, und abermals nimmt dieser Mann dieses Weib und dieses Weib diesen Mann unter der feierlichen Versicherung:
›Von Stund' an fest auszuharren in gegenseitiger Treue – sich zu lieben und zu tragen in Glück und Unglück, in Reichtum und Armut, in kranken und gesunden Tagen, bis der Tod sie scheidet.‹
Dieselben Worte, die Mr. Carker auf seinem Ritte stadteinwärts vor sich hin wiederholt, mit einem Mund, der sich mit Macht in die Breite zieht, während er die saubersten Stellen der Straße auswählt.
Ende des 1. Teils
Band 2
Zweiunddreißigstes Kapitel. DER HÖLZERNE MIDSHIPMAN GEHT IN DIE BRÜCHE.
Der ehrliche Kapitän Cuttle versäumte, obgleich er schon Wochen in seinem befestigten Zufluchtsorte zugebracht hatte, keineswegs die klugen Vorsichtsmaßregeln gegen Überraschung, und ließ sich durch das Ausbleiben des Feindes nicht beirren. Er war der Ansicht, daß seine gegenwärtige Sicherheit viel zu tief und wunderbar sei, um für die Dauer bestehen zu können. Er wußte, daß der Wetterhahn selten nagelfest blieb, wenn der Wind aus einer ungünstigen Richtung blies, und war zu gut mit dem entschlossenen furchtlosen Charakter der Mrs. Mac Stinger bekannt, um daran zu zweifeln, daß diese heroische Dame nicht alle ihre Kräfte aufbieten werde, um ihn aufzufinden und wieder zu kapern. Zitternd unter dem Gewicht dieser Gründe, führte Kapitän Cuttle ein sehr stilles, zurückgezogenes Leben und ging selten anders als nach Einbruch der Dunkelheit aus. Selbst dann wagte er sich nur in die dunkelsten Straßen. Namentlich hütete er sich, an Sonntagen seine Wohnung zu verlassen, und bei jeder Gelegenheit, sowohl innerhalb wie außerhalb der Mauern seines Zufluchtsorte, mied er Weiberhüte, als würden sie von brüllenden Löwen getragen.
Der Kapitän ließ sich nie den Gedanken kommen, daß es, wofern Mrs. Mac Stinger ihn auf einem seiner Ausgänge ertappte, möglich sein könnte, ihr Widerstand zu bieten. Er fühlte, daß dieses nicht anging, und vergegenwärtigte sich sogar schon, wie er ganz zahm in eine Mietkutsche gepackt und nach seiner alten Wohnung abgeführt wurde. War er einmal dort eingemauert, so mußte er sich als verlorenen Mann betrachten. Sein Hut wurde in Beschlag gelegt, Mrs. Mac Stinger bewachte ihn Tag und Nacht, Vorwürfe fielen auf sein Haupt nieder vor der jungen Familie, und er selbst erschien als der schuldbeladene Gegenstand des Argwohns und Mißtrauens – in den Augen der Kinder als ein Werwolf, in denen der Mutter als ein entdeckter Verräter.
Der Kapitän wurde stets ganz kleinmütig, und der Schweiß brach ihm aus allen Poren, wenn er sich dieses düstere Bild seiner Einbildungskraft vergegenwärtigte. Das war in der Regel der Fall, ehe er nachts um der frischen Luft und der Bewegung willen sich aus dem Hause schlich. Im Gefühl der Gefahr, die ihn bedrohte, verabschiedete er sich bei solchen Anlässen von Rob mit der Feierlichkeit eines Mannes, der vielleicht nie wieder zurückkehrt. Er ermahnte ihn für den Fall seines plötzlichen zeitweiligen Verschwindens, auf den Pfaden der Tugend fortzuwandeln und die Messing-Instrumente blank zu erhalten.
Um übrigens keine Gelegenheit zu versäumen, sich für den schlimmsten Fall ein Mittel zu sichern, mit der äußern Welt in Verkehr zu treten, kam Kapitän Cuttle bald auf den glücklichen Gedanken, Rob, den Schleifer, über ein geheimes Signal zu belehren, wodurch dieser Anhänger ihm in der Stunde der Not seine Nähe und Treue bekunden konnte. Nach reiflicher Erwägung entschied er sich dafür, ihn die Melodie des Matrosenliedes: »Auf, Matrosen, die Anker gelichtet!« pfeifen zu lehren, und nachdem es Rob, der Schleifer, darin zu einer Vollkommenheit gebracht hatte, wie sie besser von einer Landratte nicht zu erwarten war, legte ihm sein Gebieter noch folgende geheimnisvolle Weisungen ans Herz:
»Jetzt halt bei, mein Junge! Wenn ich gefaßt werde –«
»Gefaßt, Kapitän?« unterbrach ihn Rob, seine runden Augen weit aufsperrend.
»Ah!« entgegnete Kapitän Cuttle geheimnisvoll, »wenn ich je fortgehe, in der Absicht, beim Nachtessen wieder da zu sein, und nicht wieder in Rufweite komme, so suchst du vierundzwanzig Stunden nach meinem Verschwinden Brig-Place auf und pfeifst dort in der Nähe meines alten Ankergrundes diese Melodie. Merke wohl, nicht als ob du etwas damit im Schild führst, sondern unter dem Anschein, als seiest du von ungefähr dahin getriftet. Gebe ich in der gleichen Weise Antwort, mein Junge, so stoppst du ab und kommst nach vierundzwanzig Stunden wieder; pfeife ich aber eine andere Melodie, so steuerst du aus und ein und wartest, bis ich dir weitere Signale zugehen lasse. Begreifst du diese Weisungen?«
»Wie soll ich denn aus- und einsteuern, Kapitän?« fragte Rob. »Auf dem Fahrwege?«
»Du bist mir ein pfiffiger Bursche«, rief der Kapitän, ihn finster ins Auge fassend, »der nicht einmal sein eigenes ABC versteht! Du gehst abwechselnd ein bißchen weg und kommst wieder zurück – begreifst du das?«
»Ja, Kapitän«, versetzte Rob.
»Gut also, mein Junge«, sagte der Kapitän in milderem Ton. »So wirst du es halten.«
Damit hierin ja kein Fehler vorgehe, ließ sich Kapitän Cuttle abends, nachdem der Laden geschlossen war, bisweilen herab, den Schleifer eine Probe des Patrouillenganges vornehmen zu lassen. Zu diesem Ende begab er sich in das Hinterstübchen, das die Wohnung einer vermeintlichen Mac Stinger vorstellen mußte, und faßte von dem Spionierloch aus, das er in die Mauer gebohrt hatte, das Benehmen seines Verbündeten sorgfältig ins Auge. Bei derartigen Gelegenheiten machte Rob, der Schleifer, seine Sache mit solcher Pünktlichkeit und Umsicht, daß ihm der Kapitän zu verschiedenen Zeiten als Zeichen seiner Zufriedenheit sieben Sechspencestücke schenkte. Anbei faßte allmählich in seinem Geiste die Ergebung eines Mannes Wurzel, der für den schlimmsten Fall seine Maßregeln getroffen und nichts versäumt hat, um sich gegen ein unvermeidliches Schicksal bestens zu verwahren.
Trotzdem hütete sich der Kapitän sorgfältig, das Schicksal herauszufordern, und er benahm sich um kein Haar waghalsiger, als zuvor. Zwar hielt er es für einen Anstands- und Ehrenpunkt, als Freund der Familie im allgemeinen Mr. Dombeys Trauung, von der ihm durch Mr. Perch Kunde zugegangen war, beizuwohnen und dem Bräutigam von der Emporkirche aus ein erfreutes, Beifall zollendes Gesicht zu zeigen. Aber er machte die Fahrt nach der Kirche in einer Mietkutsche, deren beide Blenden er niedergelassen hatte. Vielleicht würde er in seiner Furcht vor Mrs. Mac Stinger auch vor diesem Wagnis Anstand genommen haben. Aber da die erwähnte Dame unter die Gemeinde des ehrwürdigen Melchisedek gehörte, so war es sehr unwahrscheinlich, daß man ihrer in einem Gotteshause der bischöflichen Kirche begegnen könnte.
Der Kapitän war glücklich wieder nach Hause gekommen und fühlte seine neue Lebensweise fort, ohne daß von dem Feind eine unmittelbare Behelligung ausging, ausgenommen die tägliche Erscheinung von Weiberhüten auf der Straße. Aber jetzt begannen auch andere Gegenstände den Geist des Kapitäns zu bedrängen. Von Walters Schiff hatte man noch immer nichts gehört, und auch von dem alten Sol Gills lief keine Kunde ein.
Florence war nicht einmal von dem Verschwinden des alten Mannes unterrichtet, und dem Kapitän gebrach es an Mut, ihr die betreffende Mitteilung zu machen. In der Tat begannen seine Hoffnungen für den wackeren, hübschen, treuherzigen Jungen, den er nach seiner rauhen Art von Kindheit auf geliebt hatte, von Tag zu Tag mehr hinzuschwinden, weshalb schon der Gedanke an eine Rücksprache mit Florence ihm schmerzlich wurde. Freilich, wäre er der Überbringer guter Neuigkeiten gewesen, so würde er sich zu ihr Bahn gebrochen haben, trotz des neu herausgeputzten Hauses und der prächtigen Möbel, obschon ihm diese in Verbindung mit der Dame, die er in der Kirche gesehen, einen geheimen Schrecken einflößten. So aber umdüsterte ein schwarzer Horizont ihre gemeinschaftlichen Hoffnungen. Es kam dem Kapitän fast vor, als sei er für sie ein neuer Gegenstand des Unglücks und des Leides, so daß er sich vor einem Besuch bei Florence kaum weniger fürchtete, als vor dem Erscheinen der Mrs. Mac Stinger selbst.
Es war ein frostiger trüber Herbstabend, und Kapitän Cuttle hatte Feuer in dem kleinen Hinterstübchen anzünden lassen, das jetzt mehr als je wie die Kajüte eines Schiffes aussah. Der Regen fiel in Strömen nieder, und es stürmte sehr. Der Kapitän ging in dem windigen Dachstübchen, wo sein alter Freund zu schlafen pflegte, umher und stellte Witterungsbeobachtungen an. Aber das Herz erstarb ihm fast in seinem Innern, als er wahrnahm, wie wild und trostlos es draußen aussah. Zwar fiel es ihm nicht ein, das damalige Wetter mit dem Schicksal des armen Walter in Verbindung zu bringen, oder daran zu zweifeln, daß es längst mit ihm vorbei sein müsse, wenn die Vorsehung beschlossen habe, ihn durch Schiffbruch umkommen zu lassen. Jedoch unter dem äußeren Einflusse, wie verschieden er auch sein mochte von dem Hauptgegenstand seiner Gedanken, entsank dem Kapitän der Mut; und seine Hoffnungen erblichen, was auch weiseren Männern schon oft so ergangen ist und noch oft ergehen wird.
Das Gesicht gegen den scharfen Wind und den schräg einfallenden Regen kehrend, blickte Kapitän Cuttle nach der schweren Wolke hinauf, die schnell über das Labyrinth von Hausgiebeln hinflog, ohne auch nur eine Spur von Ermutigung darin zu finden. Die Aussicht in unmittelbarer Nähe war nicht besser. Zu seinen Füßen girrten in allerlei Teekisten und anderen rauhen Truhen die Tauben Robs, des Schleifers, gleich ebenso vielen aufspringenden unheimlichen Winden. Eine gichtbrüchige Windfahne, einen Midshipman mit dem Teleskop vor Augen darstellend, der vordem von der Straße aus sichtbar gewesen war, jetzt aber unter der Masse von Ziegeln verschwunden zu sein schien, ächzte und jammerte auf ihrem rostigen Stift, wie die pfeifenden Stöße, die den Midshipman umherdrehten und grausames Spiel mit ihm trieben. Auf der groben blauen Weste des Kapitäns standen die kalten Regentropfen gleich Stahlperlen, und er vermochte sich kaum zu halten vor dem steifen Nordwest, der gegen ihn andrängte, als habe er Lust, ihn über die Böschung aufs Pflaster hinunterzuwerfen. »Wenn an einem solchen Abend sich noch ein bißchen Hoffnung regt«, dachte der Kapitän, während er seinen Hut festhielt, »so ist sie sicherlich im Hause und nicht draußen«; er schüttelte daher verzagt den Kopf und ging hinunter, um nach ihr zu sehen.
Er stieg langsam nach dem kleinen Hinterstübchen hinab, setzte sich in seinen gewöhnlichen Stuhl und suchte sie in den Flammen des Feuers; aber da war sie nicht, obschon das Feuer hell aufloderte. Dann nahm er Tabak, Dose und Pfeife heraus, um zu rauchen. Er suchte sie in der roten Glut des Pfeifenkopfs und in den Dampfwolken, die von seinen Lippen aufwirbelten. Aber auch hier wollte sich nicht einmal ein Atom von dem Rost des Hoffnungsankers zeigen. Er versuchte es mit einem Glas Grog; indessen die traurige Wahrheit lag auf dem Boden dieses Brunnens, und er konnte nicht damit fertig werden. Dann machte er einige Gänge durch den Laden und spähte nach der Hoffnung unter den Instrumenten. Doch sie arbeiteten hartnäckig, trotz aller Einreden, die er vorzubringen vermochte, für das fehlende Schiff nur Gissungen aus, die mit dem Grunde des einsamen Meeres endigten.
Der Wind brauste fort, und der Regen klatschte noch immer gegen die geschlossenen Läden. Der Kapitän legte vor dem hölzernen Midshipman auf dem Ladentisch bei und machte sich, während er mit seinem Ärmel die Uniform des kleinen Offiziers trocknete, Gedanken, wie alt dieser wohl sein möge – wie wenige Wechsel (kaum irgendeiner) seine Schiffskameradschaft betroffen habe – wie die Veränderungen sozusagen fast auf einen Tag zusammenfielen – und wie erschütternder Art sie gewesen. Die kleine Gesellschaft des Hinterstübchens war aufgelöst und weit und breit hin zerstreut. Es gab keine Zuhörerschaft mehr für die liebliche Peg, selbst wenn jemand da gewesen wäre, um das Lied zu singen. Der Kapitän fühlte nämlich die moralische Überzeugung, außer ihm sei niemand einer derartigen Aufgabe gewachsen, und unter obwaltenden Umständen befand er sich nicht in der Stimmung, es auch nur zu versuchen. Es gab kein heiteres Wal'r-Gesicht im Hause – hier führte der Kapitän für einen Augenblick seinen Ärmel von der Uniform des Midshipmans nach der eigenen Wange – die bekannte Perücke und die Knöpfe des alten Sol Gills gehörten der Vergangenheit an. Richard Whittington war auf den Kopf geschlagen, und jeder Plan, jeder Entwurf, der Bezug auf den Midshipman hatte, lag ohne Mast und Steuer triftig auf der endlosen Wasserfläche.
Während der Kapitän mit trostlosem Gesicht sich in solchen Gedanken erging und teils in der liebevollen Zärtlichkeit alter Bekanntschaft, teils in der Zerstreutheit seines Geistes an dem Midshipman polierte, jagte ein Klopfen an die Ladentür Rob, dem Schleifer, einen mächtigen Schrecken ein. Dieser saß nämlich auf dem Ladentisch, verwandte keines seiner großen Augen von dem Gesicht des Kapitäns und überlegte schon hundertmal in seinem Innern, ob wohl sein Gebieter einen Mord verübt, daß er ein so böses Gewissen habe und alle Augenblicke Reißaus nehme.
»Was ist das?« fragte Kapitän Cuttle leise.
»Es klopft jemand, Kapitän«, antwortete Rob, der Schleifer.
Mit scheuer, schuldbewußter Miene schlich der Kapitän auf den Zehen in das kleine Hinterstübchen und schloß sich ein. Rob, der die Tür öffnete, hatte im Sinne, auf der Schwelle den Besuch wie ein Kriminalkommissar zu behandeln, falls sich dieser in weiblicher Verkleidung zeigte. Aber der Besuch gehörte seinem Äußern nach dem männlichen Geschlecht an, und da Cuttles Weisungen sich nur auf Weiber bezogen, so riß er die Tür auf und ließ den Gast eintreten, der seinerseits nicht zögerte und überfroh war, aus dem Regen zu kommen.
»Jedenfalls wieder Arbeit für Burgeß und Co.«, sagte der Besuch, der mit kläglicher Miene abwärts auf seine durchnäßten und mit Kot bespritzten Schuhe sah. »O, wie geht es Euch, Mr. Gills?«
Diese Begrüßung galt dem Kapitän, der tat, als komme er ganz zufällig aus dem Hinterstübchen heraus, obschon dieses Anstellen so erkünstelt war, daß man es auf den ersten Blick durchschauen konnte.
»Danke«, fuhr der Gentleman in demselben Atem fort, »ich bin in der Tat ganz wohl. Mein Name ist Toots – Mister Toots.«
Der Kapitän erinnerte sich, den jungen Herrn bei der Hochzeit gesehen zu haben, und machte eine Verbeugung. Mr. Toots antwortete mit einem Kichern, und da er sich, wie gewöhnlich, in großer Verlegenheit befand, so atmete er tief auf und schüttelte dem Kapitän geraume Zeit die Hand, um sodann in Ermangelung eines anderen Auskunftsmittels in der herzlichsten Weise mit Rob, dem Schleifer, dasselbe Manöver vorzunehmen.
»Wenn Ihr nichts dagegen habt, so möchte ich gern ein Wörtchen mit Euch sprechen, Mr. Gills«, sagte endlich Toots mit überraschender Geistesgegenwart. »Ihr wißt, ich meine wegen Miß D.D.M.«
Mit entsprechender geheimnisvoller Würde schwenkte der Kapitän seinen Haken nach dem Hinterstübchen, wohin ihm Mr. Toots folgte.
»O, ich muß Euch um Verzeihung bitten«, fuhr Mr. Toots fort und blickte, sobald er auf dem für ihn neben den Kamin gerückten Stuhl Platz genommen, zu Kapitän Cuttles Gesicht auf. »Ihr werdet wohl den Preishahn nicht kennen, Mr. Gills – oder?«
»Den Preishahn?« versetzte der Kapitän.
»Ja, den Preishahn«, sagte Mr. Toots.
Der Kapitän schüttelte den Kopf, und Mr. Toots setzte nun auseinander, daß er auf die berühmte öffentliche Person anspiele, die sich und sein Vaterland in dem Kampf gegen den Nobby aus Shropshire mit Lorbeeren bedeckt habe. Aber diese Mitteilung schien den Kapitän nicht sonderlich aufzuklären.
»Weil er draußen ist, meine ich«, sagte Mr. Toots. »Doch es ist von keinem Belang, obschon er vielleicht tüchtig durchnäßt wird.«
»Ich kann ihm augenblicklich das Signal zugehen lassen«, versetzte der Kapitän.
»Recht; wenn Ihr so gut sein wollt, so kann er bei Eurem jungen Mann im Laden draußen bleiben«, kicherte Mr. Toots. »Es wäre mir lieb; denn Ihr müßt wissen, daß er sich leicht beleidigt fühlt, und die Nässe könnte seinem Urstoff nachteilig werden. Ich will ihn hereinrufen, Mr. Gills.«
Mit diesen Worten kehrte Mr. Toots nach der Ladentür zurück und entsandte in die Nacht hinaus ein eigentümliches Pfeifen, worauf ein stoischer Gentleman mit zottigem, weißem Überrock, einem flachrandigen Hut, sehr kurzem Haar, zerbeulter Nase und einem beträchtlichen Strich kahlen und unfruchtbaren Bodens hinter jedem Ohr eintrat.
»Setzt Euch, Preishahn«, sagte Mr. Toots.
Der schmiegsame Preishahn spuckte einige Grashalme aus, an denen er sich eben geletzt hatte, und versah sich aus dem Büschelchen, das er in der Hand trug, mit neuem Vorrat.
»Ist da nichts zum Wärmen zur Hand?« fragte der Prelshahn im allgemeinen. »Es ist eine schwere Sudelnacht für einen Mann, der von seiner Stellung leben muß.«
Kapitän Cuttle brachte ein Glas Rum herbei, das der Preishahn mit zurückgeworfenem Kopf wie in ein Faß leerte, nachdem er zuvor den kurzen Trinkspruch hingeworfen hatte: »Eure Gesundheit!« Mr. Toots und der Kapitän kehrten alsdann wieder nach dem Hinterstübchen zurück, wo sie abermals vor dem Feuer Platz nahmen.
»Mr. Gills –«, begann Mr. Toots.
»Halt da!« versetzte der Kapitän. »Mein Name ist Cuttle.«
Mr. Toots zeigte ein sehr verwirrtes Gesicht, während der Kapitän gravitätisch fortfuhr:
»Kapt'n Cuttle ist mein Name, England ist mein Vaterland, dies hier ist mein Aufenthalt und schütz' uns Gottes Vaterhand – Hiob«, fügte der Kapitän als Hinweisung auf seine Autorität bei.
»Aber könnte ich denn nicht Mr. Gills sehen?« fragte Mr. Toots; »denn – –«
»Wenn Ihr Sol Gills sehen könntet, junger Mann«, versetzte der Kapitän mit Nachdruck, indem er seine schwere Hand auf das Knie seines Gefährten legte – »wohlgemerkt, den alten Sol – mit leiblichen Augen – und wie Ihr so dasitzt – so würdet Ihr mir willkommener sein, als ein Wind vom Stern her einem von Windstille betroffenen Schiff. Aber Ihr könnt Sol Gills nicht sehen. Und warum könnt Ihr ihn nicht sehen?« fragte der Kapitän, der aus dem Gesicht des jungen Gentleman entnahm, daß er einen tiefen Eindruck auf diesen machte. »Weil er unsichtbar ist.«
Mr. Toots wollte in seiner Aufregung eben erwidern, daß es nicht von Belang sei, besann sich aber eines Besseren und sagte:
»Gott behüte mich!«
»Jener Mann«, fuhr Kapitän Cuttle fort, »hat vermöge eines Schreibens mir die Obhut über alles hier vertraut. Aber obschon er mir fast wie ein geschworener Bruder war, weiß ich doch nicht, wohin oder warum er gegangen ist. Tat er es, um seinen Neffen zu suchen, oder weil es nicht ganz richtig in seinem Kopf stand – das ist für mich ein ebenso großes Rätsel wie für Euch. Eines Morgens um Tagesanbruch machte er sich über Bord – ohne Wellenschlag, ohne Plätschern«, sagte der Kapitän. »Ich habe hoch und nieder nach ihm durchsucht, aber von Stund' an weder etwas von ihm sehen noch hören können.«
»Ach du mein Himmel, und Miß Dombey weiß nicht –« begann Mr. Toots.
»Nun, ich frage Euch als einen Menschen von Gefühl«, unterbrach ihn der Kapitän mit gedämpfter Stimme, »warum sollte sie es auch wissen? Warum es ihr früher kundtun, als bis es einmal nicht mehr zu verheimlichen ist? Das süße Geschöpf hing an dem alten Sol Gills mit einer Liebe, einer Freundlichkeit, einer – doch was nützt es, wenn ich alles dies ausführe! Ihr kennt sie?«
»Ich sollte es meinen«, kicherte Mr. Toots mit einem schuldbewußten Erröten, das sich über sein ganzes Gesicht breitete. »Dann brauche ich Euch nur zu bemerken«, sagte der Kapitän, »daß Ihr einen Engel kennt und von einem Engel bevorrechtet seid.«
Mr. Toots ergriff augenblicklich die Hand des Kapitäns und bat ihn um seine Freundschaft.
»Ich gebe Euch mein Ehrenwort«, sagte Mr. Toots angelegentlich, »daß ich es als eine große Gunst betrachten würde, wenn Ihr näher mit mir bekannt werden wolltet. Es wäre mir sehr lieb, mich Eures Umgangs weiter erfreuen zu dürfen, Kapitän, denn es fehlt mir in der Tat an einem Freund. Der kleine Dombey war bei den alten Blimbers mein Freund und wäre es noch, wenn er nicht im Grabe läge. Der Preishahn«, fuhr Mr. Toots in schüchternem Flüstern fort – »ist wohl ganz recht – bewundernswürdig in seiner Art – vielleicht der schärfste Mann von der Welt. Jeder sagt, es gebe nichts, dem er nicht gewachsen sei – aber ich weiß nicht – er ist doch nicht alles. Ja, Kapitän, sie ist ein Engel. Wenn es irgendwo einen Engel gibt, so ist er in Miß Dombey zu finden. Das habe ich immer gesagt. Und eben deshalb«, fügte Mr. Toots bei, »werde ich es Euch sehr Dank wissen, wenn Ihr meine Bekanntschaft fördern wolltet.«
Kapitän Cuttle nahm diesen Antrag in höflicher Weise entgegen, ohne sich jedoch durch die Annahme desselben eine Blöße zu geben, indem er nur bemerkte:
»Ja, ja, mein Junge. Wir wollen sehen – wir wollen sehen.«
Dann erinnerte er Mr. Toots an den augenblicklichen Zweck seiner Sendung durch die Frage, welchem Umstand er die Ehre seines Besuchs zu danken habe.
»Die Sache verhält sich so«, antwortete Mr. Toots, »daß ich eben von dem jungen Frauenzimmer komme – nicht von Miß Dombey, müßt Ihr wissen, sondern von Susanne.«
Der Kapitän nickte mit ernstem Ausdruck, als wolle er andeuten, daß er vor dieser Person die größte Achtung habe.
»Und ich will Euch sagen, wie das kam«, fuhr Mr. Toots fort. »Ihr wißt, ich mache bisweilen Miß Dombey meinen Besuch. Wohlgemerkt, ich gehe nicht ausdrücklich deshalb hin, sondern nur, weil ich sehr oft in die Gegend komme. Und bin ich einmal in der Nähe – nun, so spreche ich auch vor.«
»Natürlich«, bemerkte der Kapitän.
»Ja«, versetzte Mr. Toots. »So war ich heute nachmittag dort. Auf Ehre, ich glaube nicht, daß man sich eine Vorstellung machen kann, wie so ganz engelgleich Miß Dombey sich heute nachmittag ausnahm.«
Kapitän Cuttle antwortete mit einem Ruck seines Kopfes, der ausdrückte, andern Leuten dürfte dies schwer werden, ihm aber nicht.
»Als ich wieder herauskam«, sagte Mr. Toots, »führte mich das junge Frauenzimmer in der unerwartetsten Weise in die Speisekammer.«
Dem Kapitän schien für den Augenblick ein derartiges Benehmen anstößig zu sein; denn er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und musterte Mr. Toots mit mißtrauischem, wo nicht mit drohendem Blick.
»Da zog sie nun diese Zeitung hervor«, sagte Mr. Toots. »Sie teilte mir mit, sie habe diese den ganzen Tag vor Miß Dombey verborgen, weil über eine Person etwas darin stehe, die ihr und Miß Dombey wohl bekannt sei; und dann las sie mir die Stelle vor. Gut also. Dann sagte sie – wartet ein wenig – was war es doch, was sie zu mir sagte?«
Mr. Toots, der sich alle Mühe gab, alle seine Geisteskräfte der gedachten Frage zuzuwenden, begegnete jetzt zufällig den Augen des Kapitäns und wurde durch dessen strengen Ausdruck so verwirrt, daß es ihn nur eine um so peinlichere Anstrengung kostete, den Faden des beabsichtigten Vortrags wieder aufzufinden.
»O!« rief Mr. Toots nach langem Besinnen. »O ja! Sie sagte, sie hoffe, daß doch noch die Möglichkeit einer Unwahrheit dieses Berichtes vorhanden sei. Da sie nun nicht wohl selbst herauskommen könne, ohne daß es Miß Dombey auffalle, so solle ich zu Mr. Solomon Gills, dem Instrumentenmacher, einem Onkel des betreffenden Menschen, der in dieser Straße wohne, gehen und ihn fragen, ob er der Nachricht Glauben schenke oder ob er nichts in der City gehört habe. Sie sagte, wenn er nicht mit mir darüber sprechen könne, sei ohne Zweifel Kapitän Cuttle in der Lage. Beiläufig«, setzte Mr. Toots hinzu, als sei er eben auf diese Entdeckung gekommen, »Ihr – Ihr werdet wissen –«
Der Kapitän schaute nach der Zeitung in der Hand des jungen Gentleman hin und atmete schwer.
»Der Grund nun«, fuhr Mr. Toots fort, »warum ich so spät komme, liegt darin, daß ich zuerst bis Finchley hinauf mußte, um von der ungemein schönen Vogelmiere, die dort wächst, einigen Vorrat für Miß Dombeys Vogel zu holen. Dann bin ich sogleich hiehergeeilt. Ihr habt ohne Zweifel die Zeitung zu Gesicht bekommen?«
Der Kapitän, der sich wohl vor dem Zeitungslesen hütete, aus Furcht, es könnte ihm sein von Mrs. Stingers eingerücktes volles Signalement vor Augen kommen, schüttelte den Kopf.
»Soll ich Euch die Stelle vorlesen?« fragte Mr. Toots.
Der Kapitän machte ein Zeichen der Bejahung, und Mr. Toots las aus den Schiffsnachrichten, wie folgt:
»›Southampton. Die Barke Defiance, Kommandeur Henry James, ist heute mit einer Ladung von Zucker, Kaffee und Rum in unserm Hafen eingelaufen. Sie meldet, daß ste am sechsten Tag nach ihrer Abfahrt von Jamaica unter – dieser und dieser Breite, Ihr kennt das ja« – sagte Mr. Toots, nachdem er mit den Zahlen einen schwachen Anlauf genommen, ohne übrigens mit ihnen fertig zu werden.
»– – Breite«, wiederholte Toots mit einem verlegenen Blick auf den Kapitän, »und Länge so und so von einer Windstille befallen wurde. Bei dieser Gelegenheit bemerkte der Ausluger eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang einige Schifftrümmer, die in der Entfernung von nicht ganz einer halben Seemeile schwammen. Das Wetter war klar, und da die Barke ruhig lag, so wurde ein Boot ausgehißt und Befehl erteilt, von dem Wrack Kenntnis zu nehmen. Es bestand nur noch aus einigen großen Spieren und einem Teil des Haupttakelwerks einer englischen Brigg von ungefähr fünfhundert Tonnen Last nebst einem Teil des Stern, auf dem die Worte und Buchstaben ›Sohn und E–‹ noch deutlich zu lesen waren. Auf den schwimmenden Trümmern zeigte sich keine Spur von toten Menschen. Das Log der Defiance gibt an, daß in der Nacht eine Brise aufsprang und von dem Wrack nichts weiter gesehen wurde. Es kann jetzt keinem Zweifel mehr unterliegen, daß alle Mutmaßungen übel das vermißte Schiff ›Sohn und Erbe‹, ausgefahren aus dem Hafen von London und nach Barbados bestimmt, als erledigt anzusehen sind, daß besagtes Schiff bei dem letzten Orkan zugrunde ging und daß die gesamte an Bord befindliche Mannschaft ein Raub der Wellen wurde.«
Wie jeder Mensch, hatte auch Kapitän Cuttle nicht gewußt, wie viel Hoffnung trotz aller ungünstigen Verhältnisse ihm übrig geblieben war, bis ihr dieser Todesstoß versetzt wurde. Während diese Notiz vorgelesen wurde und auch noch einige Minuten nachher saß er da wie verstört, seinen Blick auf den bescheidenen Mr. Toots heftend; dann erhob er sich plötzlich, setzte den Hut, den er zu Ehren seines Besuchs auf den Tisch gelegt hatte, auf den Kopf, wandte sich ab und beugte sein Gesicht auf den Kaminmantel nieder.
»O, auf mein Ehrenwort«, rief Mr. Toots, dessen empfindsames Herz sich von dem Anblick der tiefen Betrübnis, die der Kapitän so unerwartet zeigte, tief ergriffen fühlte, »es ist doch eine gar schlimme Sache um die Welt. Immer stirbt jemand oder bereitet andern Leid. Wahrhaftig, wenn ich das gewußt hätte, würde ich mich nicht so danach gesehnt haben, in mein Eigentum zu kommen. Ich habe nie eine solche Welt gesehen; sie ist bei weitem ärger, als die bei Blimber.«
Kapitän Cuttle gab, ohne seine Stellung zu ändern, Mr. Toots durch ein Zeichen zu verstehen, daß er sich nicht an ihn kehren möchte. Dann wandte er sich, den Glanzhut bis auf die Ohren niedergedrückt, um und fuhr mit der Hand über sein braunes Gesicht.
»Wal'r, mein lieber Junge«, sagte der Kapitän, »lebe wohl! Ich habe dich geliebt, als du ein Kind, ein Knabe und ein Jüngling warst«, fuhr er fort und schaute dabei in das Feuer. »Er gehörte mir nicht an durch die Bande des Fleisches und Blutes – ich habe kein Kind gezeugt – aber bei dem Verlust Wal'rs fühle ich etwas von dem, was ein Vater empfindet, der einen Sohn verliert. Und warum?« fuhr der Kapitän fort. »Weil es sich hier nicht um einen einzigen Verlust handelt, sondern um ein ganzes Dutzend. Wo ist der kleine Schuljunge mit dem frischen Gesicht und den Locken, der in diesem Stübchen hier die ganze Woche über so lustig war, wie eine Spieluhr? Mit Wal'r untergegangen. Wo ist der prächtige Junge, den nichts ermüden und erschöpfen konnte, dessen Auge, wenn man ihn mit der Herzensfreude aufzog, so hell glänzte und dessen Gesicht so glühend errötete, daß es eine Lust war, es mit anzusehen? Mit Wal'r untergegangen. Wo ist der feurige Geist des Jünglings, der es nicht ertragen konnte, wenn der alte Mann nur eine Minute kleinmütig war, und sich nie um sich selbst kümmerte? Mit Wal'r untergegangen. Es ist nicht ein einziger Wal'r, sondern es waren ihrer ein ganzes Dutzend, die ich kannte und liebte, und alle hielten sich an seinem Halse fest, als er in den Wellen versank. Ach, sie leben noch immer in meinem Herzen!«
Mr. Toots blieb schweigend sitzen und faltete die Zeitung auf seinem Knie so klein wie möglich zusammen.
»Und Sol Gills«, sagte der Kapitän, ins Feuer schauend, »armer, deines Neffen beraubter alter Sol – wo bist du hingekommen! Du wurdest meiner Obhut anvertraut; denn seine letzten Worte waren: ›Habt acht auf meinen Onkel‹ Was ist dir wohl zugestoßen, seit du gingst und Ned Cuttle im Stich ließest, und wie soll ich deinetwegen mich verantworten, wenn er jetzt auf mich niederschaut? Sol Gills, Sol Gills«, fügte der Kapitän mit langsamem Kopfschütteln hinzu, »wenn du jetzt fern von der Heimat diese Zeitung zu Gesicht bekommst und niemanden, der Wal'r kannte, in der Nähe hast, daß er dir ein Wort des Trostes spende, so wird die Nachricht wohl wie eine Breitseitensalve auf dich wirken, und es muß mit dir hinuntergehen, den Schnabel voran!«
Mit einem schweren Seufzer wandte sich der Kapitän wieder an Mr. Toots, der Anwesenheit dieses Gentleman jetzt eine bewußte Aufmerksamkeit schenkend.
»Mein Junge«, sagte der Kapitän, »Ihr müßt dem jungen Frauenzimmer mitteilen, daß diese unglückliche Neuigkeit leider nur zu wahr ist. Ihr seht, über solche Dinge schreibt man keine Romane. Es ist im Schiffslog eingetragen, und ein zuverlässigeres Buch gibt es auf der ganzen Welt nicht. Morgen früh will ich einen Ausgang machen und Nachforschungen anstellen«, fuhr er fort, »obschon ich voraussehe, daß sie zu nichts führen werden. Es ist auch nicht möglich. Wenn Ihr morgen vormittag vorsprechen wollt, so sollt Ihr erfahren, was ich gehört habe. Aber sagt nur dem jungen Frauenzimmer von dem Kapt'n Cuttle, daß es vorbei sei. Vorbei!«
Und der Kapitän holte mit seinem Haken den Glanzhut herab, langte aus der Krone sein Schnupftuch heraus, wischte sich verzweifelnd seinen grauen Kopf und warf das Tuch mit der Gleichgültigkeit des höchsten Kleinmuts wieder hinein.
»O, ich versichere Euch«, sagte Mr. Toots, »es tut mir in der Tat schrecklich leid. Ihr dürft mir auf mein Wort glauben, obschon ich mit dem betreffenden Menschen nicht bekannt war. Glaubt Ihr, Miß Dombey werde darüber sehr betrübt sein, Kapitän Gills – Mr. Cuttle, wollte ich sagen?«
»Aber Gott behüte Euch«, entgegnete der Kapitän wie in einem Anflug von Mitleid mit Mr. Toots' Unschuld. »Als sie noch nicht größer als so war, hatten sie einander schon so lieb wie ein Paar junge Tauben.«
»Was Ihr da sagt!« versetzte Mr. Toots mit erheblich länger werdendem Gesicht.
»Sie waren ganz füreinander geschaffen«, fuhr der Kapitän traurig fort. »Aber was will das jetzt besagen!«
»Auf Ehre«, rief Mr. Toots, mit einem eigentümlichen Gemisch von linkischem Kichern und Aufregung herausplatzend, »jetzt tut es mir um so mehr leid. Ihr müßt wissen, Kapitän Gills, ich – bete Miß Dombey eigentlich an; – ich – bin wahrhaftig ganz krank vor Liebe zu ihr;« die Art, wie sich dieses Geständnis dem unglücklichen Mr. Toots entrang, bekundete das Ungestüm seiner Gefühle; »aber wozu nützte es, solche Empfindungen gegen sie zu hegen, wenn ich nicht schmerzlichen Anteil nähme an ihrer Betrübnis, was auch die Ursache davon sein mag? Ihr wißt, meine Neigung ist nicht selbstsüchtig«, fuhr Mr. Toots mit dem Vertrauen fort, das Kapitän Cuttle durch die unverhohlene Äußerung seiner Gefühle in ihm geweckt hatte, »sondern von der Art, Kapitän Gills, daß mir auf der ganzen Welt nichts Entzückenderes begegnen könnte, als wenn ich um Miß Dombeys willen überrannt – oder – oder – niedergetreten – oder von einem hohen Platz heruntergeworfen – oder sonst mit etwas Ähnlichem heimgesucht würde.«
Mr. Toots sprach alles das mit gedämpfter Stimme, um zu verhindern, daß seine Worte das eifersüchtige Ohr des Preishahns erreichten, der keinen großen Gefallen fand an den zarteren Regungen der menschlichen Natur. Die Anstrengung wie auch die Innigkeit seiner Gefühle hatte ihm das Rot bis in die Ohren hinausgejagt, und er bot deshalb in den Augen des Kapitän Cuttle ein so ansprechendes Schauspiel von uneigennütziger Liebe dar, daß ihn dieser gute Gentleman tröstend auf den Rücken klopfte und wohlgemut sein hieß.
»Danke Euch, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Es ist sehr freundlich von Euch, daß Ihr in Eurer eigenen Trauer so sprecht, und ich bin Euch sehr verbunden dafür. Wie ich Euch schon früher sagte, ich bedarf in der Tat eines Freundes, und es würde mich freuen, wenn Ihr mich mit Eurer Bekanntschaft beehren wolltet. Obgleich es mir ganz gut geht«, fuhr Mr. Toots mit Nachdruck fort, »so könnt Ihr Euch gar nicht denken, was ich für ein unglückliches Tier bin. Der große Haufen – Ihr wißt es ja – hält mich für glücklich, wenn er mich mit dem Preishahn und ähnlichen ausgezeichneten Persönlichkeiten umgehen sieht. Aber ich bin elend. Ich leide um Miß Dombeys willen, Kapitän Gills. Es schmeckt mir kein Essen, ich habe keine Freude mehr an meinem Schneider, und wenn ich allein bin, muß ich oft weinen. Ich versichere Euch, es wird mir ein Trost sein, wenn ich morgen und noch oft und oft zu Euch kommen kann.«
Mit diesen Worten drückte Mr. Toots dem Kapitän die Hand, um sodann jene Spuren der Aufregung, die sich in der Schnelligkeit verwischen ließen, vor dem durchbohrenden Blicke des Preishahns zu verbergen und sich diesem trefflichen Gentleman in dem Laden wieder anzuschließen. Der Preishahn, der auf die Erhaltung seines Übergewichts eifersüchtig war, faßte den Kapitän Cuttle nicht aufs freundlichste ins Auge, als sich dieser von Mr. Toots verabschiedete, folgte übrigens seinem Gönner, ohne anderweitig seinen Groll zu bekunden. Der Kapitän blieb mit seinem Leid zurück, während Rob, der Schleifer, sich überglücklich fühlte, weil er die Ehre gehabt hatte, den Besieger des Nobby aus Shropshire fast eine halbe Stunde lang zu beaugenscheinigen.
Rob schlief schon lang in seinem Bett unter dem Ladentisch, während der Kapitän noch immer am Feuer saß, bis dieses zuletzt ausging, so daß er unter einer Flut von fruchtlosen Gedanken an Walter und den alten Sol nur noch die rostigen Kaminstangen ansehen konnte. Der Rückzug nach der windigen Kammer unter dem Dache des Hauses brache ihm keine Ruhe, und er stand am andern Morgen bekümmert und unerfrischt wieder auf.
Sobald die Geschäftslokale der City geöffnet wurden, verfügte sich der Kapitän nach dem Kontor von Dombey und Sohn. An jenem Morgen blieben die Fenster des Midshipman geschlossen. Der Weisung des Kapitäns gemäß nahm Rob, der Schleifer, die Läden nicht ab, und das Haus glich einem Hause des Todes.
Zufällig langte mit Kapitän Cuttle auch Mr. Carker an der Tür an. Der erstere erwiderte die Begrüßung des Geschäftsführers mit ernstem Schweigen und erlaubte sich, jenem nach dessen Zimmer zu folgen.
»Das ist eine schlimme Geschichte, Kapitän Cuttle«, begann Mr. Carker, mit dem Hut auf dem Kopf seine gewöhnliche Stellung vor dem Kamin einnehmend.
»Ihr habt die Nachricht erhalten, die gestern im Druck ausgegeben wurde, Sir?« fragte der Kapitän.
»Ja«, sagte Mr. Carker; »sie ist bei uns eingegangen. Ein ganz genauer Bericht. Die Versicherungsgesellschaft erleidet beträchtlichen Verlust. Wir sind sehr bekümmert wegen dieses Vorfalls. Doch da ist nicht zu helfen. So geht es im Leben.«
Mr. Carker beschnitt sich mit einem Federmesser die Nägel und lächelte dem Kapitän zu, der an der Tür stand und ihn ansah.
»Es tut mir ungemein leid um den armen Gay und um die Mannschaft«, fuhr Carker fort. »Wie ich höre, waren einige von unsern besten Leuten darunter. So geht es leider immer. Noch dazu viele Familienväter. Es liegt ein Trost in dem Gedanken, daß der arme Gay keine Familie hinterließ, Kapitän Cuttle.«
Der Kapitän rieb sich das Kinn und schaute den Geschäftsführer an. Dieser blickte nach den ungeöffneten Briefen, die auf dem Tisch lagen, und nahm eine Zeitung auf.
»Kann ich noch etwas Weiteres für Euch tun, Kapitän Cuttle?« fragte er, von dem Zeitungsblatte aufschauend und einen lächelnden, ausdrucksvollen Blick nach der Tür werfend.
»Ich wünschte, Sir, Ihr könntet mich über etwas beruhigen, das mir schwer auf dem Herzen liegt«, versetzte der Kapitän.
»So?« rief der Geschäftsführer. »Und worin besteht das? Ich muß Euch bitten, Kapitän Cuttle, Euer Anliegen schnell vorzubringen, wenn Ihr so gut sein wollt. Ich habe viel zu tun.«
»Ja, schaut, Sir«, entgegnete der Kapitän, einen Schritt näher kommend. »Ehe mein Freund Walter diese unglückselige Reise antrat – –«
»Ei, ei, Kapitän Cuttle«, fiel ihm der Geschäftsführer lächelnd ins Wort, »sprecht nicht in solcher Weise von unglückseligen Reisen. Wir haben hier nichts mit unglückseligen Reisen zu schaffen, mein guter Freund. Ihr müßt mit Eurer Tagesration schon sehr früh angefangen haben, Kapitän, wenn Ihr Euch nicht erinnert, daß mit allen Reisen Gefahr verbunden ist, sei es zu Wasser oder zu Land. Ihr beunruhigt Euch doch nicht mit der Mutmaßung, der Junge, wie heißt er doch, sei in dem schlechten Wetter umgekommen, das in diesen Geschäftslokalen um ihn zusammengeblasen wurde – oder? Pfui, Kapitän! Schlaf und Sodawasser sind die besten Heilmittel für derartige Beunruhigungen.«
»Mein Junge«, entgegnete der Kapitän langsam – »Ihr seid jedenfalls noch sehr jung gegen mich, und ich bitte daher nicht um Verzeihung, daß mir dieses Wort entschlüpfte – wenn Ihr bei dieser Sache einen Spaß findet, so seid Ihr nicht der Gentleman, für den ich Euch hielt. Und wenn Ihr nicht der Gentleman seid, für den ich Euch hielt, so mag ich wohl Ursache haben, unruhig zu sein. Nun, dies ist schon so, wie es ist, Mr. Carker. – Ehe der arme Bursche seiner Weisung gemäß abfuhr, sagte er mir, er wisse wohl, daß man bei dieser Versendung nicht sein Bestes oder eine Beförderung im Auge habe. Ich glaubte, er habe hierin unrecht, und sagte es ihm auch. Um mich nun persönlich zu überzeugen, bin ich, während gerade Euer Chef abwesend war, hierher gekommen, um Euch in höflicher Art ein paar Fragen vorzulegen. Ihr habt mir darauf unverhohlen geantwortet. Es ist jetzt freilich alles vorüber, und wo nicht mehr zu helfen ist, muß man sich eben zufriedengeben – Ihr seid ein belesener Mann, und wenn Ihr in dem Buch, wo es steht, nachsehen wollt, so knickt ein Ohr hinein; – aber es würde mir das Gemüt doch sehr erleichtern, wenn ich, mit einem Wort, noch einmal erführe, daß ich nicht im Irrtum war, daß ich meine Pflicht nicht verabsäumte, als ich dem alten Mann vorenthielt, was mir Wal'r sagte, und daß der Wind gut in sein Segel blies, als er die Fahrt nach Barbadoes Hafen antrat. Mr. Carker«, fuhr der Kapitän in der Gutmütigkeit seines Wesens fort, »als ich zum letztenmal hier war, hat alles ganz angenehm zwischen uns gestanden. Wenn es meinerseits diesen Morgen wegen des armen Jungen nicht ganz so ist und ich gegen eine Bemerkung von Euch, die mir nicht gefiel, unwillig wurde, so ist mein Name Ed'ard Cuttle, und ich bitte Euch um Verzeihung.«
»Kapitän Cuttle«, erwiderte der Geschäftsführer mit aller möglichen Höflichkeit, »ich muß Euch bitten, mir eine Gunst zu erweisen.«
»Und die bestünde, Sir?« fragte der Kapitän.
»Darin, daß Ihr die Güte habt, Euch zu entfernen«, erwiderte der Geschäftsführer, seinen Arm ausstreckend, »und Euer Kauderwelsch anderswo anzubringen.«
Jeder Knauf im Gesicht des Kapitäns wurde weiß vor Erstaunen und Entrüstung. Sogar der rote Streifen auf seiner Stirne verblich wie ein Regenbogen unter sich auftürmenden Wolken.
»Ich will Euch was sagen, Kapitän Cuttle«, fuhr der Geschäftsführer fort, indem er seinen Zeigefinger nach ihm hinschüttelte und, obschon noch immer in liebenswürdigem Lächeln, alle seine Zähne wies, »ich war zu mild gegen Euch, als Ihr das letztemal hierher kamet. Ihr gehört zu einem hinterlistigen und kühnen Menschenschlag. Ich hatte Nachsicht mit Euch, mein guter Kapitän, weil ich dem Jungen, wie heißt er doch, die Schmach ersparen wollte, daß er Hals über Kopf aus dem Haus geworfen wurde. Das ist einmal, aber nur ein einziges Mal geschehen. Jetzt macht, daß Ihr fortkommt, mein Freund.«
Der Kapitän blieb sprachlos an den Boden gewurzelt stehen.
»Seid ein verständiger Mensch und geht«, sagte der lächelnde Geschäftsführer, indem er seine Frackschöße aufnahm und mit gespreizten Beinen auf dem Teppich vor dem Kamin sich aufpflanzte. »Laßt es nicht darauf ankommen, daß man Euch hinausschafft oder zu sonstigen gewaltsamen Maßregeln seine Zuflucht nimmt. Wäre Mr. Dombey hier, Kapitän, so könntet Ihr vielleicht in schimpflicherer Weise abziehen müssen. Ich sage daher nur – geht!«
Der Kapitän, der seine schwere Hand auf die Brust legte, um sich durch einen tiefen Atemzug zu unterstützen, betrachtete Mr. Carker vom Kopf bis zu den Füßen und sah sich in dem kleinen Zimmer um, als begreife er nicht recht, wo oder in wessen Gesellschaft er sich befinde.
»Ihr seid schlau, Kapitän Cuttle«, fuhr Carker mit der leichten, lebhaften Freimütigkeit eines Mannes fort, der die Welt zu gut kennt, um sich durch die Entdeckung eines Mißverhaltens aufbringen zu lassen, wenn es nicht eben ihn selbst betrifft, »aber doch nicht schlau genug, als daß man Euch nicht einigermaßen auf den Grund sehen könnte – weder Ihr, noch Euer abwesender Freund. Was habt Ihr mit Eurem abwesenden Freunde angefangen, he?«
Der Kapitän legte wieder seine Hand auf die Brust, atmete aufs neue tief und beschwor sich selbst »beizuhalten«. Dies geschah jedoch nur in einem Flüstern.
»Ihr heckt hübsche kleine Anschläge aus, haltet hübsche kleine Beratungen, macht hübsche kleine Bestellungen und empfangt auch hübsche kleine Besuche, Kapitän – he?« sagte Carker, seine Stirne runzelnd, aber nichtsdestoweniger alle seine Zähne zeigend, »Und dann die Kühnheit hintendrein, hierherzukommen! Das verträgt sich schlecht mit Eurer Klugheit! Verschwörer, Gewährer von Unterschlüpfen und Ausreißer sollten dies besser verstehen. Wollt Ihr mir jetzt den Gefallen erweisen, Euch zu entfernen?«
»Mein Junge«, keuchte der Kapitän in erstickter, bebender Stimme und mit einem eigentümlichen Zucken in seiner gewichtigen Faust, »ich hätte Euch noch allerlei zu sagen, weiß aber im Augenblick nicht recht, wo die Worte untergestaut sind. Nach meiner Gissung ist mein junger Freund Wal'r erst gestern abend ertrunken, und seht Ihr, das greift mich an. Aber wir werden schon wieder einmal zusammenkommen, mein Junge«, fügte der Kapitän bei, indem er seinen Haken ausstreckte, »wenn uns Gott das Leben schenkt.«
»Dies wäre in der Tat nichts weniger als klug von Euch, mein guter Freund«, erwiderte der Geschäftsführer mit demselben Freimut; »denn ich sage Euch im voraus, und Ihr mögt Euch darauf verlassen, daß ich dann Eure Schliche aufdecken und Euch bloßstellen werde. Ich maße mir nicht an, ein moralischerer Mann sein zu wollen, als meine Nebenmenschen, mein guter Kapitän. Aber das Vertrauen dieses Hauses oder eines Angehörigen dieses Hauses soll nicht mißbraucht werden, solange ich Augen und Ohren habe. Guten Tag!« fügte Mr. Carker hinzu und nickte mit dem Kopf.
Kapitän Cuttle faßte Mr. Carker fest ins Auge – ein Blick, der ebenso fest von dem Geschäftsführer erwidert wurde – und verließ das Bureau. Mr. Carker dagegen blieb mit gespreizten Beinen vor dem Feuer stehen, so ruhig und selbstgefällig, als ob seine Seele nicht mehr Flecken zeige, als das reine Weiß seiner Wäsche und seine glatte, weiche Haut.
Als der Kapitän durch das äußere Kontor ging, schaute er nach dem Pulte hin, wo sonst der arme Walter zu arbeiten pflegte. Es saß jetzt ein anderer Junge dort mit einem Gesicht, fast so frisch und hoffnungsvoll, wie das seine, als sie in dem kleinen Hinterstübchen die berühmte vorletzte Flasche des alten Madeira anbrachen. Die Gedankenkette, die sich knüpfte, kam dem Kapitän sehr zustatten: denn sie milderte seinen Zorn und trieb ihm Tränen in die Augen.
In dem Bereich des hölzernen Midshipman wieder angelangt, setzte sich der Kapitän in eine Ecke des dunkeln Ladens nieder, und so groß auch seine Entrüstung war, konnte sie doch vor seinem Kummer nicht recht aufkommen. Die Leidenschaftlichkeit schien nicht nur das Andenken an den Toten zu kränken, sondern auch beim Hinblick auf diesen den Todesstoß zu erhalten und in nichts zu zerfallen. Was waren auch alle lebenden Schurken und Lügner der Welt im Vergleich mit der Ehrlichkeit und Treue eines einzigen toten Freundes?
In diesem Gemütszustand wollte dem ehrlichen Kapitän außer dem Unglück, das Walter betroffen, nichts klar werden, als daß mit dem jungen Freund fast seine ganze eigene Welt in den Wellen versunken sei. Wenn er sich mitunter schwere Vorwürfe machte, daß er je auf Walters unschuldige Täuschung eingegangen sei, dachte er wenigstens ebenso oft an den Mr. Carker, den keine Woge zurückbringen konnte, an den Mr. Dombey, der für ihn nun außer dem Bereich aller menschlichen Hilfe zu liegen schien, an die »Herzensfreude«, die ihm fortan für immer fernbleiben sollte, und an die liebliche Peg, dieses gut gebaute und schmuck aufgetakelte Liebchen, das auf ein Riff gelaufen und in bloße Reimbalken und Planken zerschellt war. Der Kapitän saß in dem dunkeln Laden, wo er, ohne an die ihm selbst widerfahrene Kränkung zu denken, solchen Vorstellungen nachging, und schaute dabei mit trauernden Blicken auf den Boden, als sehe er in Wirklichkeit die Trümmer an sich vorbeischwimmen.
Trotzdem vergaß er nicht, dem Andenken Walters diejenigen gebührenden Achtungsbeweise darzubringen, die in seiner Macht lagen. Er raffte sich auf, weckte Rob, den Schleifer, der in dem unnatürlichen Dämmerlicht fest schlief, und machte sich, den Hausschlüssel in der Tasche, mit dem erwähnten Diener auf den Weg nach einer von jenen bequemen und die schönste Auswahl darbietenden Trödelbuden im Ostende Londons, um dort ohne Verzug zwei Traueranzüge zu kaufen – einen für Rob, den Schleifer. Dieser Anzug war übrigens unglücklicherweise viel zu klein; und einen für sich selbst, der bei weitem zu groß war. Ferner versah er Rob mit jener um ihrer Symmetrie und Brauchbarkeit willen so sehr beliebten Hutart, die unter dem Namen »Südwester« ein glückliches Mittelglied bildet zwischen der Kopfbedeckung eines Matrosen und der eines Kohlenträgers, demnach in dem Geschäft des Instrumentenhandels als eine außerordentliche Neuigkeit zu betrachten war. Diese Anzüge paßten der Erklärung des Verkäufers nach so herrlich, wie dies nur durch ein seltenes Zusammentreffen von günstigen Umständen möglich wurde, und mit ihrem Schnitt war seit Menschengedenken nichts zu vergleichen. Darein hüllten sich ohne Zögern der Kapitän und Rob, in ihrem neuen Putz ein Schauspiel darbietend, das die Bewunderung aller Zuschauer auf sich zog.
In solcher Weise war der Kapitän verändert, als Mr. Toots seinen zweiten Besuch machte.
»Ich bin für den Augenblick ganz niedergeschlagen, mein Junge«, sagte der Kapitän, »und kann nur bestätigen, daß die Neuigkeiten sehr schlimm sind. Bedeutet dem Mädchen, sie möge die Nachricht ihrer jungen Lady beizubringen suchen, und sagt ihr, sie beide sollen nicht mehr an mich denken – das heißt, wohlverstanden – nicht, daß ich nicht an sie denken wolle, wenn die Nacht kommt auf den Flügeln des Orkans und die Wellen sich berghoch auftürmen. Schlagt dies im Doktor Watts nach, Bruder, und wenn Ihr gefunden habt, so biegt ein Ohr ein.«
Der Kapitän behielt sich vor, die Freundschaftserbietungen des jungen Gentleman in nähere Erwägung zu ziehen, und so wurde Mr. Toots entlassen. Der wackere Mann fühlte sich in der Tat so niedergeschlagen, daß er halb und halb beschloß, von Stund' an keine weitere Vorsichtsmaßregel zur Abwehr eines Überfalls der Mrs. Mac Stinger zu beobachten, sondern sich dem Zufall zu überlassen und gelassen hinzunehmen, was da kommen möge. Mit Einbruch der Nacht trat aber auch eine bessere Stimmung ein, und er sprach mit Rob, dem Schleifer, dessen Achtsamkeit und Treue er gelegentlich lobte, viel über Walter. Rob errötete nicht über das ihm von dem Kapitän gespendete Lob, sondern sah seinen Gebieter nur mit großen Augen an, schneuzte sich in geheuchelter Teilnahme und stellte sich ganz fromm an, indem er wie ein echter junger Spion mit vielversprechender Arglist tat, als bewahre er jedes gesprochene Wort wie einen teuren Schatz in seinem Innern.
Rob war in sein Bett gekrochen und lag schon in tiefem Schlaf. Der Kapitän putzte das Licht, setzte seine Brille auf – er meinte, das gehöre zum Instrumentenhandel, obschon seine Augen so gut waren, wie die eines Sperbers – und schlug im Gebetbuch die Begräbnisgebete auf. So las er denn in dem kleinen Hinterstübchen leise vor sich hin, machte hin und wieder halt, um sich die Augen zu wischen, und übergab im Geiste treuer Einfalt Walters Leiche der Tiefe.
Dreiunddreißigstes Kapitel. GEGENSÄTZE
Wenden wir unsere Blicke auf zwei Wohnungen. Sie liegen nicht Seite an Seite, sondern weit voneinander, obschon beide dem Bann der großen Stadt London angehören.
Die erste müssen wir auf dem grünen, waldigen Strich in der Nähe von Nordwood aufsuchen. Sie ist kein Landhaus und sehr anspruchslos, was ihren Umfang angeht, aber hübsch eingerichtet und in guter Ordnung erhalten. Der Hof, der weiche glatte Rasen, der Blumengarten, die Baumgruppen, unter denen die zierlichen Eschen und Weiden nicht fehlen, die Diele, die ländliche Veranda mit süßduftenden Schlingpflanzen, die sich um die Strebepfeiler winden, die einfache Außenseite, die wohlgeordneten Arbeitsräume, obschon ihr Umfang nur dem eines bloßen Bauernhauses entspricht – alles dies deutet auf eine behagliche Eleganz im Innern, die einem Palast nicht übel anstehen würde. Auch zeigt wirklich die innere Einrichtung seinen Geschmack und Luxus. Reiche Farben in schöner Verbindung treten in jedem Gemach dem Auge entgegen. In dem Möbelwerk, das durch Form sowohl wie Größe bewundernswürdig den kleinen Gemächern angepaßt ist, zeigt sich derselbe Geschmack. An den Wänden und auf den Fußböden wird das Licht, das da und dort durch die hübschen Glastüren und Fenster einfällt, in eigentümlicher Weise gedämpft und gebrochen. Auch einige auserlesene Kupferstiche und Gemälde sind vorhanden. In den Nischen stehen gefüllte Bücherschränke, und auf den Tischen sieht man die Gerätschaften zu allerlei Hazard- und Geschicklichkeitsspielen, zum Beispiel phantastische Schachfiguren, Würfel, Brettspiele, Karten und Billardkugeln.
Dennoch drückt sich in dem Allgemeincharakter dieser gemächlichen Wohlhabenheit ein Zug aus, der etwas erkältend wirkt. Liegt er in der Weichheit der Teppiche und Polster, so daß die, die sich darauf bewegen, nur verstohlen zu handeln scheinen? Rührt es daher, daß die Gemälde und Kupferstiche nicht Kunde geben von großen Gedanken und Taten oder von der Poesie der Natur in schönen Landschaftsbildern, sondern daß sie insgesamt einer wollüstigen Phantasie entstammen, die weiter nichts bietet als Farben und Formen? Hat er seinen Grund in den Bücherreihen, die all ihr Gold nur auf der Außenseite tragen und deren Titel großenteils darauf hindeuten, daß sie passende Gefährten der Gemälde und Kupferstiche sind? Liegt er darin, daß die Pracht des Ganzen mitunter in unwesentlichen bedeutungslosen Dingen durch eine erkünstelte Bescheidenheit ebenso falsch ist, wie das Gesicht des an der Wand hängenden, nur allzu treu aufgefaßten Porträts oder wie das des Originals, das darunter in seinem Lehnstuhl beim Frühstück sitzt – der Lüge geziehen wird? Oder rührt er davon her, daß mit dem täglichen Atem des besagten Originals und Gebieters im Hause ein feiner Teil seines Ichs ausströmt, der der gesamten Umgebung einen unbestimmten Ausdruck der Verwandtschaft mit diesem Ich verleiht?
Der in dem Lehnstuhl Sitzende ist Mr. Carker, der Geschäftsführer. Ein bunter Papagei in einem auf dem Tisch stehenden, blanken Käfig hackt mit seinem Schnabel in die Drähte, spaziert nach der Kuppel hinauf, rüttelt sein Haus und kreischt. Aber Mr. Carker ist gleichgültig gegen den Vogel und blickt mit gedankenvollem Lächeln nach einem Bild an der gegenüberstehenden Wand.
»In der Tat eine höchst merkwürdige Zufallsähnlichkeit«, sagte er.
Vielleicht ists eine Juno, vielleicht Potiphars Weib, vielleicht auch eine stolze Nymphe – je nachdem der Gemäldehändler den Markt fand, auf dem er es kaufte. Das Bild stellt ein ungemein schönes Weib vor, das sich abwendet, aber doch dem Betrachter das Gesicht zukehrt und das stolze Auge nach ihm hinblitzen läßt.
Es gleicht Edith.
Mit einer flüchtigen Gebärde seiner Hand nach dem Gemälde – wie, ist sie eine Drohung? nein; aber doch etwas dergleichen – ein Zeichen des Triumphs? nein; aber etwas Ähnliche« – ein dreist ihr zugeworfenes Kußhändchen? nein; aber doch dem nahekommend – nimmt er sein Frühstück wieder auf und ruft dem ungeduldigen Vogel zu. Dieser kommt nach dem vergoldeten Reif herunter, der wie ein großer Trauring in dem Käfig hängt, und unterhält seinen Gebieter damit, daß er darin Purzelbäume macht.
Die zweite Wohnung liegt auf der andern Seite von London, unfern der vormaligen großen Nordstraße, die jetzt so still und verlassen geworden ist, daß man auf ihr nur noch zu Fuß gehende Wanderer weiterziehen sieht. Es ist ein armes, kleines Häuschen mit spärlichem Möbelwerk, aber sehr reinlich gehalten und sogar mit Schmuckversuchen, wie sich in den einheimischen Blumen, die um die Türe her und in dem kleinen Garten blühen, zu erkennen gibt. Die Umgebung kann sich ebensowenig eines ländlichen wie eines städtischen Aussehens rühmen, da sie weder dem Lande noch der Stadt angehört. Erstere ist wie der Riese mit den Siebenmeilenstiefeln darüber hinausgeschritten und hat ihre Ziegel- und Mörtelferse weit vorgeschoben. Aber der Raum zwischen den Füßen des Recken zeigt sich bis jetzt nur als ein verkümmerter Strich, ohne Stadt zu sein. Hier nun, unter einigen hohen Schornsteinen, die Tag und Nacht ihren Qualm ausfauchen, unter den Ziegelfeldern und Torfstichen, wo die Zäune zusammenbrechen, staubige Nesseln wachsen, ein paar Überreste einer Hecke noch zu sehen sind und nur hin und wieder der Vogelfänger sich blicken läßt, obschon er es jedesmal verschwört, nie wieder nach diesem Platz zu kommen – hier müssen wir die zweite Wohnung aufsuchen.
Die Bewohnerin ist die, die den einen Bruder verließ, um sich dem verstoßenen zu widmen. Mit ihr zog aus jenem Hause der versöhnende Geist und aus der Brust seines Gebieters der einzige Engel. Aber obgleich nach diesem undankbaren Benehmen, wie er es nennt, seine Liebe gegen sie erloschen ist, obschon zur Erwiderung auch er sie vollkommen aufgegeben hat, kann er sich doch des Gedankens an sie nicht völlig entschlagen. Ihr kleiner Blumengarten ist ein sprechendes Zeugnis dafür; denn neben allen den kostspieligen Veränderungen wird er noch ebenso erhalten, als wäre sie erst gestern abgezogen – trotzdem er nie seinen Fuß hineinsetzt.
Harriet Carker hat sich seit damals verändert, und über ihrer Schönheit liegt ein Schatten, schwerer als ihn die sonst doch so allmächtige Zeit ohne Beihilfe zu werfen vermag – der Schatten des Kummers und der Sorge in dem täglichen Kampf um ein dürftiges Dasein. Gleichwohl ist sie noch immer schön – eine sanfte, ruhige, zurückgezogene Schönheit, die man suchen muß, weil sie sich nicht vordrängen kann. Wäre sie hierzu fähig, so würde sie nicht mehr das sein, was sie ist.
Ja, die schmächtige, kleine, geduldige, hübsch in einfache Stoffe gekleidete Gestalt, an der sich nichts bekundet als die Langweiligkeit häuslicher Tugenden, die so wenig gemein haben mit der beliebten Idee von Heldengröße, wenn nicht etwa ein Strahl davon durch das Leben der Großen auf Erden leuchtet und dann zu einer Konstellation wird, die geradeswegs zum Himmel fährt – jene schmächtige, kleine, geduldige Gestalt, angeschmiegt an den Mann, dessen Haare ergraut sind in seiner Jugend, ist die Schwester, die allein in der ganzen Welt zu ihm überging in seiner Schmach, ihre Hand in die seine legte und mit edler Fassung und Entschlossenheit hoffnungsvoll ihn weiterführte auf seinem einsamen Pfade.
»Es ist noch früh, John«, sagte sie. »Warum gehst du heute so zeitig?«
»Nicht viele Minuten früher als gewöhnlich, Harriet. Wenn mir noch Zeit dazu bleibt, so möchte ich, glaub' ich, wohl – es ist nur eine Grille – einmal an dem Hause vorbeigehen, wo ich von ihm Abschied nahm.«
»Ich wünschte, ich hätte ihn gesehen oder gekannt, John.«
»Wenn wir an sein Schicksal denken, ist es besser so, wie es ist, Liebe.«
»Dennoch könnte ich ihn nicht mehr bedauern, auch wenn ich ihn gekannt hätte. Ist nicht dein Kummer auch der meine? Und hätte ich ihn gekannt, so würdest du mich vielleicht für geeigneter halten, mit dir von ihm zu sprechen, als das jetzt der Fall ist.«
»Meine teure Schwester, gibt es wohl ein Leid oder eine Freude, worin ich nicht deiner warmen Teilnahme sicher sein kann?«
»Ich hoffe, du bist hiervon überzeugt, John.«
»Wie könntest du mir also dann eine bessere Gefährtin oder mir näher sein, als jetzt oder überhaupt?« entgegnete der Bruder. »Es ist mir, Harriet, als hättest du ihn gekannt und als teiltest du meine Gefühle für ihn.«
Sie schlang den Arm, den sie auf seiner Schulter liegen hatte, um seinen Hals und antwortete mit einigem Zögern:
»Nein, nicht ganz.«
»Ich verstehe«, versetzte er. »Du meinst, es würde ihm keinen Schaden gebracht haben, wenn ich zugelassen hätte, daß er mich näher kennenlernte?«
»Ob ich dies meine? Ich weiß es gewiß!«
»Der Himmel ist mein Zeuge, mit Absicht wäre es nicht geschehen«, erwiderte er mit einem wehmütigen Kopfschütteln: »aber sein Ruf war mir zu kostbar, als daß ich ihn durch einen Verkehr mit mir hätte gefährden dürfen. Ob du nun dieses Bewußtsein teilst oder nicht, meine Liebe –«
»Ich teile es nicht«, versetzte sie mit Ruhe.
»Es bleibt trotzdem eine Wahrheit, Harriet, und ich fühle mich beruhigter, wenn ich mit der Erinnerung an ihn zugleich an das denke, was mir damals das Herz so, schwer machte,« Er bekämpfte jetzt seine wehmütige Stimmung, lächelte ihr zu und sagte: »Gott sei mit dir!«
»Und mit dir, lieber John! Heute abend werde ich um die gewöhnliche Zeit bis an den alten Platz dir entgegenkommen. Gott behüte dich!«
Das herzliche Gesicht, das sie zu ihm erhob, um ihn zu küssen, war seine Heimat, sein Leben, seine Welt, und doch zugleich ein Teil seiner Strafe und seines Kummers. Denn in der Wolke, die er darauf liegen sah – zwar eine heitere, ruhige, lichte Wolke, wie nur irgendeine um Sonnenuntergang – in der treuen Hingebung ihres Lebens und in der Tatsache, daß sie ihm alle Freuden und Hoffnungen zum Opfer gebracht hatte, mußte er stets die bitteren Früchte seines einstigen Vergehens erkennen, die ihm im Geist mit immer gleicher Beständigkeit und Reife vorschwebten.
Sie blieb mit leicht ineinandergeschlungenen Händen unter der Tür stehen und schaute ihm nach, als er über den feuchten, unebenen Grund hinging. Der Platz, auf dem das Häuschen stand, war vor noch nicht langer Zeit eine Wiese gewesen, jetzt aber ein öder Boden, auf dem eine ordnungslose Ernte von schlechten Häusern aus dem Schutt aufzusteigen schien, als seien die Samen dazu von einer ungeschickten Hand hingestreut worden. So oft John zurückschaute – er tat dies einige Male –, leuchtete ihr herzliches Gesicht gleich einem freundlichen Stern in sein Herz: aber wenn er auf seinem Wege weiterwandelte, ohne sie zu sehen, füllten sich seine Augen mit Tränen, während sie ihm nachschaute.
Sie hielt sich nicht lange unter der Tür auf. Es gab tägliche Obliegenheit zu erfüllen und tägliche Arbeiten zu verrichten. So gewöhnliche, nicht heroische Seelen müssen sich oft schwer abmühen, und darum war auch Harriet bald in ihre Haushaltungsgeschäfte vertieft. Nachdem sie diese zu Ende und das arme Häuschen in nette Ordnung gebracht hatte, überzählte sie mit ängstlichem Gesicht ihren geringen Geldvorrat und ging aus, um einige Einkäufe für die Küche zu besorgen, wobei sie unterwegs sich fortwährend überlegte, wie sie wohl am besten sparen könne. So trist ist das Leben derartiger alltäglicher Naturen, die nicht nur nicht heroisch sind gegen ihre Bedienten und Kammermädchen, sondern nicht einmal Bedienten und Kammermädchen haben, gegen die sie überhaupt heroisch sein könnten.
Während ihrer Abwesenheit näherte sich auf einem andern Weg, als es der war, den ihr Bruder eingeschlagen hatte, dem leer dastehenden Hause ein Gentleman von gesunder, blühender Gesichtsfarbe, aufrechter Haltung und offener, heiterer, gutmütiger Miene, obschon er ein wenig über die Blütezeit des Lebens hinaus zu sein schien. Seine Augenbrauen und Haare waren noch schwarz; aber darein mengten sich bereits da und dort graue Sprenkeln, so daß die ersteren um so anmutiger dagegen abstachen und der breiten, freien Stirn, wie auch den biederen Augen einen sehr vorteilhaften Ausdruck verliehen.
Nachdem er an die Tür geklopft hatte, ohne Antwort zu erhalten, setzte er sich in der Laube vor der Pforte auf eine Bank, um zu warten. Eine gewisse geschickte Bewegung der Finger, während er einige Arien vor sich hinsummte und auf dem Sitz an seiner Seite den Takt schlug, schien auf einen Musiker, und zwar auf einen wissenschaftlichen Musiker zu deuten. Aus der Zufriedenheit, mit der er einige Läufe der nicht recht erkennbaren Melodie sehr langsam und gedehnt behandelte, durfte man solches schließen.
Der Gentleman gab sich noch immer mit seinem Thema ab, das sich um und um zu drehen und gleich einem auf dem Tisch in kreisende Bewegung gesetzten Korkzieher zu verwickeln schien, als ob es gar nicht zu Ende gelangen wolle, bis Harriet sich wieder dem Häuschen näherte. Er erhob sich von seinem Sitz und blieb vor ihr, den Hut in der Hand, stehen.
»Ihr seid wieder hier, Sir?« begann sie zögernd.
»Ich habe mir die Freiheit genommen«, lautete seine Antwort. »Darf ich Euch fünf Minuten lästig fallen?«
Nach kurzem Zögern öffnete sie die Tür und hieß ihn in das kleine Wohnstübchen eintreten. Der Gentleman nahm Platz, rückte seinen Stuhl ihr gegenüber an den Tisch und sprach mit gewinnender Einfachheit und einer Stimme, die ganz im Einklang stand mit seinem Aussehen:
»Miß Harriet, Ihr könnt nicht stolz sein. Zwar gabt Ihr mir bei meinem letzten Besuch zu verstehen, daß Ihr es seiet. Aber verzeiht mir, wenn ich sage, daß ich Euch bei jener Gelegenheit ins Gesicht sah, und dieses hat Euren Worten widersprochen. Ich betrachte es wieder«, fügte er bei, indem er seine Hand für einen Augenblick sanft auf ihren Arm legte, »und es widerspricht Eurer Versicherung mehr und mehr.«
Sie war etwas verwirrt und aufgeregt, so daß sie nicht gleich eine Antwort finden konnte.
»Es ist ein Spiegel der Wahrheit und der Sanftmut«, fuhr der Besuch fort. »Entschuldigt mich, daß ich im Vertrauen darauf wiederkehrte.«
Die Art, wie er dieses sagte, nahm seinen Worten ganz den falschen Schimmer einer bloßen Schmeichelei. Die Worte klangen so einfach, ernst, ungekünstelt und ehrlich, daß sie den Kopf senkte, als wolle sie ihm zumal danken und seine Aufrichtigkeit anerkennen.
»Unsere Altersungleichheit«, sagte der Gentleman, »und die Ehrlichkeit meiner Absicht sollten mir, wie ich gern denken möchte, erlauben, vom Herzen weg zu sprechen. Dies ist meine Meinung, und Ihr seht mich deshalb zum zweitenmal.«
»Es gibt eine Art Stolz, Sir«, versetzte sie nach einem kurzen Schweigen, »oder einen vermeintlichen Stolz, der nur Pflicht ist. Ich hoffe, daß ich keinen andern habe.«
»Wegen Eurer selbst?« versetzte er.
»Ja.«
»Oder – verzeiht mir«, entgegnete der Gentleman – »wegen Eures Bruders John?«
»Ich bin stolz auf seine Liebe«, sagte Harriet, ihm voll ins Gesicht sehend und plötzlich ihr ganzes Wesen ändernd – nicht als ob sie weniger gefaßt und ruhig gewesen wäre, aber sie zeigte jetzt eine tiefe, leidenschaftliche Innigkeit, durch die sogar das Beben ihrer Stimme zu einer Art Festigkeit wurde, »und ich bin stolz auf ihn. Sir, Ihr seid auf unerklärliche Weise zur Kunde der Geschichte seines früheren Lebens gekommen und habt mir das bei Eurem letzten Besuche mitgeteilt –«
»Bloß um mir zu Eurem Vertrauen einen Weg zu bahnen«, unterbrach sie der Gentleman. »Um's Himmels willen, glaubt ja nicht –«
»Ich bin überzeugt«, fuhr sie fort, »daß Ihr mir in guter und wohlwollender Absicht die Vergangenheit wieder vorgeführt habt. Ich zweifle nicht im mindesten daran.«
»Ich danke Euch für diese gute Meinung«, entgegnete der Gentleman, ihr hastig die Hand drückend. »In der Tat, Ihr laßt mir nur Gerechtigkeit widerfahren. Ihr wolltet sagen, daß ich, der ich die Geschichte von John Carkers Leben kenne –«
»Es mir für Stolz auslegen werdet«, fuhr sie fort, »wenn ich sage, daß ich stolz auf ihn sei. Dies ist wirklich der Fall. Ihr wißt, daß es eine Zeit gab, in der ich es nicht war – nicht sein konnte – aber das ist längst vorbei. Die Demut vieler Jahre, sein Dulden ohne Murren, die wahre, tiefgefühlte Reue und der Schmerz, den ihm sogar meine Liebe bereitet – denn er meint, sie komme mich teuer zu stehen, obschon der Himmel weiß, daß ich vollkommen glücklich wäre, wenn ich nicht eine stete Zeugin seines Kummers sein müßte – o Sir, nach dem, was ich gesehen, möchte ich Euch beschwören, falls es in Eurer Macht liegt und Euch Unrecht zugefügt wird, nie eine Strafe zu verhängen, die nicht widerrufen werden kann; denn es ist ein Gott über uns, der die Herzen, die er schuf, auch umzuwandeln imstande ist.«
»Euer Bruder ist ein anderer Mensch«, entgegnete der Gentleman mit Teilnahme. »Ich versichere Euch, daß ich keinen Augenblick hieran zweifle.«
»Er war ein anderer Mensch, als er auf den Wegen des Unrechts ging«, sagte Harriet. »Dies liegt in der Vergangenheit, und glaubt mir, Sir, daß er seinem eigenen Ich wieder treu ist.«
»Aber wir treiben uns von Tag zu Tag in unserem Uhrwerkgange fort«, versetzte der Gentleman, sich zerstreut die Stirne reibend und dann gedankenvoll mit der Hand auf den Tisch trommelnd, »und haben keinen Blick für solche Veränderungen, denen wir nicht folgen können. Sie – sie sind mehr Erscheinungen für den Philosophen, und für – für ihre Beobachtung fehlt es uns an Muße. Ja wir – wir haben nicht einmal den Mut dazu. In Schulen oder Kollegs lernt man nichts davon, und wir wissen nicht, wie wir damit zustande kommen sollen. Mit einem Wort, es geht bei uns alles so verwünscht geschäftsmäßig zu«, fügte der Gentleman bei, indem er unmutig aufstand und nach dem Fenster ging, um bald nachher in derselben ärgerlichen Stimmung wieder nach seinem Sitz zurückzukehren.
»Wahrhaftig«, fuhr der Gentleman fort und rieb sich abermals die Stirne, eine Beschäftigung, die er durch das frühere Trommeln auf den Tisch unterbrach, »ich habe guten Grund zu glauben, daß der gemeine, alltägliche Trab des Lebens uns an alles gewöhnen kann. So viel ist Tatsache, daß man nicht alles sieht, nicht alles hört, nicht alles weiß. Wir nehmen die Dinge für ausgemacht an, und so geht es fort, bis unser ganzes Tun und Treiben, mag es nun gut, schlecht oder gleichgültig sein, eine Sache der Gewohnheit wird. Soll ich mich einmal auf meinem Sterbebett vor meinem Gewissen verantworten, so kann ich ihm nichts entgegenhalten, als die Gewohnheit. ›Gegen Millionen Dinge‹, muß ich sagen, ,war ich taub, stumm, blind und tot – nur Gewohnheit.‹ ›In der Tat eine sehr geschäftsmäßige Abfertigung, Mr. Soundso‹, sagt das Gewissen. ›Aber damit ist es hier nicht abgetan.‹«
Der Gentleman stand abermals auf, um nach dem Fenster zu gehen, und kehrte in ernstlicher Unruhe wieder zurück, obschon diese bei ihm einen eigentümlichen Ausdruck hatte.
»Miß Harriet«, sagte er, als er sich wieder auf seinen Stuhl niederließ, »ich muß mir bittere Vorwürfe machen, daß ich all das schon seit zwölf Jahren hätte sehen und wissen können, wenn ich mir Zeit genommen hätte, Euch kennenzulernen. Ja, ich bin so sehr ein Geschöpf nicht nur meiner eigenen, sondern auch anderer Leute Gewohnheit, daß ich es mir selbst kaum erklären kann, wie ich überhaupt hierher kam. Da es nun aber einmal so ist, so laßt mich etwas tun. Ich bitte darum in Ehren und mit aller Achtung; denn Ihr flößt mir letztere in hohem Grade ein. Laßt mich etwas tun.«
»Wir sind zufrieden, Sir.«
»Nein, nein, nicht ganz«, entgegnete der Gentleman. »Ich glaube, nicht ganz. Es gibt gewisse kleine Bequemlichkeiten, die Euch und ihm das Leben angenehmer machen können – auch ihm«, fügte er in der Meinung bei, daß er einigen Eindruck auf sie gemacht habe. »Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, für ihn brauche nichts zu geschehen; aber das ist jetzt abgetan und vorüber – kurz, ich habe mir über das Ganze gar keine Gedanken gemacht. Jetzt ist es anders. Laßt mich etwas für ihn tun. Auch Ihr habt Ursache«, fügte er mit behutsamer Zartheit bei, »um seinetwillen Eure Gesundheit sehr in acht zu nehmen, da sie, wie ich fürchte, nicht die beste ist.«
»Wie Ihr auch dazu kommt, Sir«, entgegnete Harriet, zu seinem Gesicht aufblickend, »ich bin Euch zu tiefem Dank verpflichtet. Ich fühle die Überzeugung, daß alle Eure Worte die wohlwollendste Absicht haben. Aber seit wir dieses Leben begannen, sind Jahre verstrichen, und meinem Bruder nur einen Teil davon nehmen, was ihn mir so teuer gemacht und seine besseren Entschlüsse erprobt hat – die Beseitigung auch nur eines Bruchstücks von dem Verdienste seiner ununterstützten, unbeachteten und vergessenen Sühne, hieße den Trost mindern, den wir beide darin finden werden, wann die Zeit kommt, von der Ihr eben erst gesprochen habt. Ich kann Euch meinen Dank besser durch diese Tränen, als in Worten ausdrücken. Ich bitte, glaubt mir das.«
Der Gentleman war gerührt; er führte die Hand, die sie ihm darbot, an seine Lippen, etwa so, wie ein zärtlicher Vater die Hand eines liebevollen Kindes küssen würde, aber mit mehr Verehrung.
»Wenn der Tag je kommen sollte«, sagte Harriet, »der ihn teilweise wieder einsetzt in seine verlorne Stellung –«
»Einsetzt?« rief der Gentleman hastig. »Wie sollte hierauf nur zu hoffen sein? In wessen Händen liegt die Macht einer solchen Wiederherstellung? Ich täusche mich in der Tat nicht, wenn ich annehme, der Umstand, daß er mit dem unschätzbaren Segen des Lebens davonkam, sei der einzige Grund des Hasses, den sein Bruder gegen ihn hegt.«
»Ihr berührt hier einen Gegenstand, der nie zwischen uns zur Sprache kam – nicht einmal zwischen uns«, sagte Harriet.
»Ich bitte um Verzeihung«, versetzte der Besuch. »Es hätte mir bekannt sein können, und ich bitte Euch, dies zu vergessen, daß es unabsichtlich durch mich angerührt worden ist. Und jetzt, da ich nicht weiter in Euch zu dringen wage und auch vielleicht kein Recht dazu habe – obschon, weiß der Himmel, am Ende auch dieses Bedenken nur Sache der Gewohnheit ist –«, fügte der Gentleman bei, während er so kleinmütig, wie zuvor, wieder seine Stirne rieb – »möchte ich als ein Mann, der Euch zwar fremd, aber doch nicht fremd ist, um eine doppelte Gunst ersuchen.«
»Die bestünde?« lautete Harriets Frage.
»Erstlich, daß Ihr mir erlauben möchtet, Euch zu dienen, im Falle Ihr Ursache findet, Euern Entschluß zu ändern. Ihr sollt dann auch meinen Namen erfahren, der Euch jetzt nutzlos und jederzeit nur unbedeutend ist.«
»Wir haben unter unsern Freunden keine solche Auswahl«, versetzte sie mit einem matten Lächeln, »daß hierfür eine Bedenkzeit nötig wäre. Ich kann Euch das versprechen.«
»Zweitens, daß Ihr mir gestattet, hin und wieder – ich will sagen, am Montag morgen um neun Uhr – wieder Gewohnheit, die mich alles geschäftsmäßig betreiben läßt –«, sagte der Gentleman, als habe er Lust, deshalb mit sich selbst Händel anzufangen, »Euch im Vorbeigehen unter der Tür oder am Fenster zu sehen. Ich verlange nicht einzutreten, da um diese Stunde Euer Bruder anwesend ist. Auch will ich Euch nicht einmal anreden. Ich wünsche Euch bloß zu sehen und daraus die Beruhigung zu gewinnen, daß Ihr wohlauf seid; dabei möchte ich Euch ohne alle Aufdringlichkeit durch meinen Anblick erinnern, daß Ihr einen Freund habt – einen älteren Freund, der mit jedem Tage grauer wird und Euch immer zur Verfügung steht.«
Ihr herzliches Gesicht blickte vertrauensvoll zu dem seinigen auf und gab die gewünschte Zusage.
»Es versteht sich«, fuhr der Gentleman fort, indem er sich von seinem Sitze erhob, »daß Ihr wie früher meinen Besuch vor Eurem Bruder nicht erwähnt, weil ihn mein Mitwissen um seine frühere Geschichte betrüben könnte. Dies wird mir lieb sein; denn es liegt außer dem gewöhnlichen Lauf der Dinge – da haben wir wieder die leidige Gewohnheit«, unterbrach er sich unmutig –, »als ob es nichts Besseres gebe, als den alltäglichen Gang der Welt.«
Mit diesen Worten schickte er sich zum Gehen an. Er behielt, bis er vor der Haustür draußen war, den Hut in der Hand und verabschiedete sich von ihr mit einer so glücklichen Mischung von zwangloser Achtung und ungekünstelter Teilnahme, wie diese nicht in der Schule der feinen Bildung gewonnen wird und wie sie es nur eine Vertrauen weckende, reine Einfachheit des Herzens einflößen kann.
Dieser Besuch rief in der Seele der Schwester manche halbvergessenen Gefühle wieder hervor. Es war gar so lang her, seit überhaupt eine teilnehmende Person über ihre Schwelle gekommen, seit ihr Ohr die Stimme des Mitgefühls vernommen hatte; und vor dem Auge ihres Geistes stand noch immer, als sie Stunden nachher mit ihrer Näherei am Fenster saß, die Gestalt des Fremden, der wieder und wieder seine wohlgemeinten Bitten vorzubringen schien. Er hatte das Schloß berührt, das ihr ganzes Leben öffnete; und wenn sein Bild auf kurze Zeit verwischt wurde, lag der Grund nur in den vielen Formen der einen großen Erinnerung, aus denen die Kette dieses Lebens gebildet war.
Abwechselnd nachsinnend und arbeitend, indem sie bald für eine geraume Weile die Nadel angestrengt in Tätigkeit setzte, bald diese unbeachtet ruhen ließ, um dem Strom ihrer Gedanken zu folgen, fand Harriet, daß die Stunden an ihr vorüberglitten und der Tag zur Neige ging. Der Morgen war schön und heiter gewesen; jetzt aber überwölkte sich allmählich der Himmel. Ein scharfer Wind begann zu wehen, der Regen fiel mit Macht nieder, und ein dichter Nebel verhüllte die ferne Stadt vor ihren Blicken.
Zu solchen Zeiten blickte sie oft mit Mitleid auf die einzelnen Wanderer, die auf der nahegelegenen Landstraße mit müden, wunden Füßen London zuschritten und furchtsamen Blicks die ungeheure, vor ihnen liegende Stadt betrachteten, als ahnten sie, daß ihr Elend dort nur ein Tropfen im Meer oder ein Sandkorn am Gestade sei, gleichwohl aber zusammenschaudernd weiterzogen, wie sehr auch in dem Ungestüm des Wetters sogar die Elemente sie zurückzuweisen schienen. Tag um Tag schlichen solche Reisende vorbei; aber immer, wie es ihr vorkam, derselben Richtung zu – stets nach der Stadt. Aufgesogen von einem oder dem andern Teil der Unermeßlichkeit, nach der sie durch einen verzweifelten Zauber hingedrängt zu werden schienen, kehlten sie nie wieder zurück. Nahrung für die Hospitäler, die Kirchhöfe, die Gefängnisse, den Fluß, das Fieber, den Wahnsinn, das Laster und den Tod – so eilten sie dem in der Ferne brüllenden Ungeheuer zu und waren verloren.
Der kalte Wind heulte, der Regen klatschte, und der Tag hatte sich in ein tiefes Düster gehüllt, als Harriet von ihrer Arbeit, der sie schon geraume Zeit mit beharrlichem Eifer sich hingegeben hatte, ihre Augen erhob und einen solchen Wanderer herankommen sah.
Eine Frau. Eine einzelne Frau von etlichen dreißig Jahren, groß, gut gebaut und schön, aber in erbärmlicher Kleidung. An ihrem von Nässe triefenden grauen Mantel waren die Spuren verschiedener Bodenarten, Merkmale des auf vielen Landstraßen durchgemachten schlechten Wetters – Staub, Kalk, Lehm und Kies – zu unterscheiden. Kein Hut, keine andere Kopfbedeckung als ein umgebundenes, zerrissenes Taschentuch schützte ihr reiches Haar gegen den Regen, und der Wind blies ihr unaufhörlich dessen Zipfel oder einzelne Haarstränge ins Gesicht, so daß sie oft haltmachen mußte, um die blendenden Hindernisse zurückzustreifen, damit sie den Weg sehen konnte, den sie ging.
Sie war eben in diesem Geschäft begriffen, als Harriet ihrer ansichtig wurde. Als die Fremde, mit der Hand über das sonnverbrannte Gesicht fahrend, ihr Haar beiseite strich, enthüllte sich eine fast verwegene, rücksic
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FILE0 y9 ð 8 ý zç ï zç ï zç genblick mit beiden Händen gestützt hatte, erhob sie ihn wieder, und ihr Auge begegnete jetzt dem Blicke Harriets. Im Nu war diese an der Tür. Auf ihr Winken stand die Fremde auf und kam mit finsterer Miene langsam heran.
»Warum setzt Ihr Euch im Regen nieder?« fragte Harriet mit sanfter Stimme.
»Weil ich keinen andern Ruheplatz habe«, lautete die Antwort.
»Aber es sind in der Nähe viele Plätze, die Euch ein Obdach geben können. Diese Laube da ist doch weit besser als der Steinhaufen dort, und der Schutz, den Ihr hier findet, ist Euch von Herzen gegönnt.«
Die Fremde sah sie erstaunt und zweifelnd an, ohne aber irgend zu danken. Dann setzte sie sich nieder und nahm einen ihrer schlechten Schuhe ab, um den Staub und die Steinchen, die dort eingedrungen waren, herauszuklopfen. Dabei zeigte sich, daß ihr Fuß verletzt und blutig war.
Harriet stieß einen Ruf des Mitleids aus. Die Fremde aber schaute sie mit einem verächtlichen, ungläubigen Lächeln an.
»Ha, was ist auch ein wunder Fuß für eine Person, wie ich es bin«, sagte sie. »Und was kann Euch ein wunder Fuß an einem armen Frauenzimmer kümmern?«
»Kommt herein und wascht ihn aus«, antwortete Harriet in mildem Ton. »Ich will Euch etwas geben, damit Ihr ihn verbinden könnt.«
Die Fremde ergriff ihren Arm, verbarg die Augen dahinter und weinte – nicht wie ein Weib, sondern wie ein finsterer Mann, der sich von einer solchen Schwäche überraschen läßt – mit einem ungestümen Wogen der Brust und einem inneren Kampf, der zeigte, wie ungewöhnlich eine derartige Erregung bei ihr war.
Sie ließ sich in das Haus führen, wo sie die wunde Stelle wusch und verband, aber augenscheinlich mehr aus Dankbarkeit als aus Sorge für sich selbst. Harriet setzte ihr dann die Überreste ihres eigenen spärlichen Mahls vor und forderte sie, nachdem sie ein wenig davon genossen hatte, auf, sie solle doch ihre Kleider vor dem Feuer trocknen, ehe sie ihre Wanderung, bei der sie es sehr eilig zu haben schien, wieder aufnehme. Abermals mehr aus Dankbarkeit als mit irgendeiner Kundgebung von Sorge für sich selbst, setzte sich die Fremde vor dem Kamin nieder, knüpfte das um den Kopf geschlungene Taschentuch los, so daß das dichte, feuchte Haar bis auf die Hüfte niederfiel, trocknete es mit ihren Handflächen und schaute in die Flamme.
»Ihr werdet wahrscheinlich denken«, sagte sie, plötzlich ihren Kopf aufrichtend, »daß ich einmal schön gewesen sein müsse. Ich glaube, daß es der Fall war – ja, ich weiß es. Schaut her!« sie hielt ihr Haar mit beiden Händen in die Höhe, umfaßte sie dann, als wolle sie sich dieselben ausreißen, und warf sie wieder zurück, als ob sie ein Haufen Schlangen wären.
»Seid Ihr fremd hier?« fragte Harriet.
»Fremd?« entgegnete sie, zwischen jeder kurzen Antwort innehaltend und ins Feuer blickend. »Ja. Fremd seit zehn oder zwölf Jahren. Wo ich war, hatte ich keinen Kalender. Zehn oder zwölf Jahre. Diesen Teil kenne ich nicht. Während meiner Abwesenheit hat sich viel verändert.«
»Seid Ihr weit fortgewesen?«
»Sehr weit. Monate um Monate auf dem Meer, und auch dann noch weit weg. Ich war an dem Platz, wo man die Missetäter hinschickt«, fügte sie bei, ihrer Wirtin voll ins Gesicht sehend. »Ich bin selbst eine Verbrecherin gewesen.«
»Der Himmel stehe Euch bei und verzeihe Euch!« lautete die sanfte Erwiderung.
»Ach, der Himmel mir beistehen und mir verzeihen!« versetzte sie, mit dem Kopf nach dem Feuer nickend. »Wenn die Menschen einigen von uns ein bißchen mehr beistehen wollten, würde Gott vielleicht uns allen desto bälder verzeihen.«
Aber das ernste Benehmen Harriets und das herzliche Gesicht, das mit so viel Milde und nicht mit der Miene der Verwerfung auf ihr ruhte, stimmte sie sanfter, so daß sie mit weniger Härte beifügte:
»Wir werden wohl im gleichen Alter sein, Ihr und ich. Wenn ich älter bin, so kann es kaum um ein Jahr oder um zwei sein. O denkt daran!«
Sie breitete ihre Arme aus, als ob sie durch Enthüllung ihrer äußeren Gestalt zeigen wolle, wie elend sie auch in ihrem Inneren sei; dann ließ sie die Arme wieder fallen und senkte den Kopf.
»Es gibt nichts, was wir nicht wieder gutmachen zu können hoffen dürfen. Zur Besserung ist es nie zu spät«, sagte Harriet. »Ihr seid reuig –«
»Nein«, entgegnete sie. »Ich bin es nicht – kann es nicht sein. Warum sollte auch ich bereuen – und die ganze übrige Welt frei ausgehen? Man schwatzt mir immer von Reue vor – wer bereut das Unrecht, das an mir geübt worden ist?«
Sie stand auf, knüpfte das Tuch wieder um den Kopf und schickte sich an, zu gehen.
»Wohin wollt Ihr?« fragte Harriet.
»Dorthin«, antwortete sie, mit der Hand deutend. »Nach London.«
»Habt Ihr dort eine Heimat?«
»Ich glaube, ich habe eine Mutter. Sie ist ebensowohl eine Mutter, wie ihre Wohnung eine Heimat genannt werden kann«, erwiderte sie mit einem bittern Lachen.
»Nehmt das«, rief Harriet, ihr ein Geldstück in die Hand drückend. »Gebt Euch Mühe, ein ordentliches Auskommen zu finden. Es ist nur sehr wenig, aber für einen Tag kann es Euch vielleicht forthelfen.«
»Seid Ihr verheiratet?« fragte die Fremde in ersticktem Ton, als sie das Almosen annahm.
»Nein. Ich lebe hier mit meinem Bruder. Wir haben nicht viel übrig, sonst würde ich Euch mehr gegeben haben.«
»Wollt Ihr mir erlauben, Euch zu küssen?«
Da sie in Harriets Gesicht kein Zeichen von Widerwillen oder Verachtung bemerkte, so beugte sie sich zu ihr nieder und drückte ihre Lippen gegen die Wangen ihrer Wirtin. Dann ergriff sie abermals Harriets Arm, bedeckte ihre Augen damit und war verschwunden.
Verschwunden in der dunkler werdenden Nacht, in dem heulenden Wind und dem schüttenden Regen. Das schwarze Haar und die Zipfel des Tuches flatterten um ihr wildes Gesicht, als sie weiter ging nach der in Nebel gehüllten Stadt mit ihrem matten Lichtergeflimmer.
Vierunddreißigstes Kapitel. WIEDER EINE MUTTER UND EINE TOCHTER.
In einer häßlichen, dunklen Stube saß ein unangenehmes, braungelbes, altes Weib über ein dürftiges Feuer gekauert und hörte auf Wind und Regen draußen. Mehr auf die erstere Beschäftigung erpicht, als auf die letztgenannte, änderte sie ihre Haltung nie, wenn nicht etwa verirrte Regentropfen zischend auf die glimmende Asche niederfielen und sie bewogen, mit aufgerichtetem Kopf dem Pfeifen und Klatschen draußen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Dann aber sank sie allmählich mehr und mehr wieder zusammen, in ein Brüten sich vertiefend, in dem das Getöse der Nacht ihr nur so unbestimmt zum Bewußtsein kam, wie das eintönige Rollen der Meereswogen dem, der gedankenvoll am Ufer sitzt.
In der Stube war kein anderes Licht, als das, welches von dem Feuer ausging. Von Zeit zu Zeit greller aufblitzend, gleich dem Auge eines halb im Schlaf liegenden wilden Tieres, enthüllte es keine Gegenstände, die eine bessere Beleuchtung hätten wünschen können. Ein Haufen Lumpen, eine Schicht Knochen, ein schlechtes Bett, zwei oder drei verstümmelte Stühle oder Schemel und die schwarzen Wände nebst einer noch schwärzeren Decke waren alles, was durch das gelegentliche Auflodern einer Flamme erhellt werden konnte. Wie die Alte so dasaß auf dem feuchten Herde des Kamins und sich über die paar losen Ziegel, aus denen er bestand, niederbeugte, ein riesiges verzerrtes Bild ihres Ichs halb auf die Wand hinter ihr, halb auf die Decke oben werfend, nahm sie sich aus, als laure sie an einem Hexen-Altar auf ein günstiges Zeichen; und wenn nicht die Bewegungen ihrer murmelnden Lippen und des zitternden Kinns für das langsame Aufflackern des Feuers allzu häufig und zu schnell gewesen wären, so hätte man sie wohl für Täuschungen des kommenden und gehenden Lichts auf einem Gesicht halten können, das ebenso regungslos war wie die Gestalt, der es angehörte.
Hätte Florence in der Stube gestanden und das Original des Schattens, der sich an Wand und Dach abmalte, so über das Feuer gekauert gesehen, so würde ein Blick ausgereicht haben, ihr die Gestalt der guten Mrs. Brown wieder zu vergegenwärtigen, obschon vielleicht die Erinnerung an jene schreckliche Alte, der kindlichen Phantasie entnommen, die Wahrheit ebenso übertrieb, wie der Schatten an der Wand. Doch Florence war nicht zugegen, und die gute Mrs. Brown konnte unerkannt und unbemerkt nach ihrem Feuer hinstarren.
Durch ein lauteres Sprühen als gewöhnlich geweckt, da der Regen in einem kleinen Strome zischend durch den Kamin herunterkam, richtete die Alte ungeduldig ihren Kopf auf, um aufs neue zu lauschen. Diesmal sank sie nicht wieder zusammen, denn sie hörte eine Hand auf der Türklinke und einen Fußtritt in der Stube.
»Wer ist da?« fragte sie sich umblickend.
»Jemand, der Euch Neuigkeiten bringt«, antwortete eine Weiberstimme.
»Neuigkeiten? Woher?«
»Vom Ausland.«
»Übers Meer her?« rief die Alte auffahrend.
»Ja, übers Meer.«
Die Alte schürte hastig das Feuer zusammen, ging dicht auf die Eingetretene zu, welche die Tür geschlossen hatte und jetzt in der Mitte der Stube stand, faßte den durchnäßten Mantel und riß die nicht Widerstrebende vorwärts, so daß sie von dem Feuer voll beleuchtet wurde. Sie mußte nicht gefunden haben, was sie erwartete, denn sie ließ den Mantel wieder los und stieß einen kläglichen Ruf schmerzlich getäuschter Erwartung aus.
»Was gibt es?« fragte der Besuch.
»Oho! oho!« rief die Alte, mit einem schrecklichen Geheul ihr Gesicht aufwärts richtend.
»Nun, was habt Ihr denn?« fragte der Besuch abermals.
»Das ist nicht mein Mädel!« rief die Alte, ihre Arme aufwerfend und die Hände über dem Kopfe zusammenschlagend. »Wo ist meine Alice? Wo ist meine schöne Tochter? Man hat sie unter die Räder gebracht.«
»Sie ist bis jetzt noch nicht unter den Rädern, wenn Ihr Marwood heißt«, sagte der Besuch.
»Ihr habt also mein Mädel gesehen?« rief die Alte. »Hat sie mir geschrieben?«
»Sie sagte, Ihr könntet nicht lesen«, entgegnete die andere.
»Ich kann's nicht mehr!« rief die Alte, ihre Hände ringend.
»Habt Ihr Licht da?« fragte die andere, sich in der Stube umsehend.
Murmelnd, den Kopf schüttelnd und von ihrer schönen Tochter vor sich hinplappernd, brachte die Alte aus einem Eckschrank eine Kerze, hielt sie mit zitternder Hand gegen das Feuer, so daß sie kaum zünden wollte, und setzte sie dann auf den Tisch. Der schmutzige Docht brannte anfangs nur trüb, da er in seinem eigenen Fett wieder ersticken wollte, und als die blöden triefenden Augen der Alten bei seinem Licht die Gegenstände unterscheiden konnten, saß der Besuch mit verschlungenen Armen und auf den Boden gehefteten Blicken da, während auf dem Tisch neben ihr ein Tuch lag, das sie um den Kopf getragen hatte.
»Mein Mädel Alice läßt mir also mündlich etwas mitteilen?« murmelte die Alte, nachdem sie eine Weile gewartet hatte. »Was sagte sie?«
»Schaut«, erwiderte der Besuch.
Die Alte wiederholte die Worte in verstörter, unsicherer Weise; dann hielt sie die Hand über ihre Augen, sah die Sprecherin an, schaute sich in der Stube um und blickte dann wieder nach ihrem Besuch hin.
»Alice heißt Euch noch einmal hersehen, Mutter«, sagte die andere, ihre Augen fest auf sie richtend.
Die Alte sah sich wieder in der Stube um, dann nach ihrem Besuch hin und ließ endlich aufs neue ihre Augen durch das Gemach schweifen. Dann ergriff sie, von ihrem Sitze aufstehend, hastig das Licht, hielt es gegen das Gesicht ihres Gastes, setzte die Kerze mit einem lauten Schrei wieder nieder und fiel ihm um den Hals.
»Es ist mein Mädel! Es ist meine Alice! Es ist meine schöne Tochter, die lebt und zurückgekommen ist!« kreischte die Alte sich an der Brust der andern hin und her wiegend, die ihre Umarmung nur mit Kälte duldete. »Es ist mein Mädel! Es ist meine Alice! Es ist meine schöne Tochter, die lebt und zurückgekommen ist!« rief sie abermals, indem sie sich vor ihr auf den Boden warf, ihre Knie umfaßte, den Kopf an diese drückte und noch immer mit jeder wilden Kundgebung, deren ihre Lebenskraft noch fähig war, sich hin und her schaukelte.
»Ja, Mutter«, entgegnete Alice, die sich für einen Augenblick niederbeugte und die Alte küßte, aber zugleich bemüht war, sich ihrer Umarmung zu erwehren. »Ich bin endlich wieder hier. Laßt mich los, Mutter – laßt mich gehen. Steht auf und setzt Euch auf Euern Stuhl. Was hat solches Getue für einen Zweck?«
»Sie ist härter zurückgekommen, als sie ging!« rief die Mutter zu ihr aufblickend und noch immer ihre Knie umschlingend. »Sie kümmert sich nicht um mich – nach so vielen Jahren, die ich im Elend verlebte!«
»Nun, Mutter«, versetzte Alice, indem sie ihr zerlumptes Kleid schüttelte, um die Alte von sich abzuwehren, »die Sache hat zwei Seiten. Für mich so gut, wie für Euch, sind es Jahre des Elends gewesen. Steht auf – steht auf!«
Ihre Mutter erhob sich, rang weinend die Hände und blieb in einiger Entfernung von ihr stehen, um sie zu betrachten. Dann nahm sie die Kerze wieder auf, ging unter dumpfem Stöhnen um sie herum und musterte sie vom Kopf bis zu den Füßen. Nachdem sie das Licht wieder niedergestellt hatte, kehrte sie zu ihrem Stuhl zurück, schlug zu einer Art trauriger Melodie ihre Hände zusammen, wiegte sich von Seite zu Seite und fuhr fort, zu ächzen und wehzuklagen. Auch Alice stand auf, um ihren nassen Mantel abzuwerfen und ihn beiseite zu legen. Als das geschehen war, setzte sie sich wie früher mit verschlungenen Armen wieder nieder und schaute ins Feuer, stumm und mit verächtlicher Miene den unartikulierten Klagen ihrer alten Mutter zuhörend.
»Habt Ihr erwartet, ich werde so jugendlich wieder zurückkehren, wie ich ging, Mutter?« sagte sie endlich, ihre Augen der Alten zuwendend. »Glaubt Ihr, ein Leben in der Fremde, wie das meinige, könne dem guten Aussehen förderlich sein? Wenn man Euch hört, sollte man es fast denken!«
»Es ist nicht das!« rief die Mutter. » Sie weiß es!«
»Was ist es dann?« entgegnete die Tochter. »Im besten Falle etwas, das nicht bleibt, Mutter, sonst ist mein Ausgang leichter, als mein Eingang.«
»Höre man nur!« rief die Mutter. »Nach so vielen Jahren droht sie, mich schon im Augenblick ihrer Ankunft wieder zu verlassen.«
»Ich sage Euch zum zweitenmal, Mutter, es sind für mich so gut wie für Euch schwere Jahre gewesen«, erwiderte Alice. »Ich sei härter zurückgekommen? Natürlich bin ich's. Was habt Ihr anderes erwartet?«
»Härter gegen mich – gegen deine eigene arme Mutter!« rief die Alte.
»Ich weiß nicht, wer mich zu verhärten anfing, wenn es nicht meine eigene arme Mutter war«, entgegnete sie mit verschlungenen Armen, gefurchter Stirne und zusammengepreßten Lippen, als wolle sie gewaltsam jedes weichere Gefühl aus ihrer Brust ausschließen. »Hört noch ein paar Worte, Mutter. Wenn wir uns jetzt gegenseitig verstehen, so trennen wir uns vielleicht nicht wieder. Ich kam fort als ein Mädchen und bin als Weib zurückgekehrt. Wenn ich nicht viel Liebe hatte zu der Zeit, als ich meinen Weg antrat, so könnt Ihr darauf schwören, daß es seitdem nicht besser geworden ist. Aber habt Ihr je Eure Pflicht gegen mich erfüllt?«
»Ich – gegen mein Mädel?« rief die Alte. »Eine Mutter soll Pflichten erfüllen gegen ihr eigenes Kind!«
»Nicht wahr, dies klingt unnatürlich?« versetzte die Tochter, mit ihrem strengen, harten, schönen Gesicht kalt nach ihr hinsehend. »Aber ich habe im Laufe meiner einsamen Jahre mir bisweilen Gedanken darüber gemacht und mich daran gewöhnt. Von Anfang bis zum Ende habe ich stets von Pflichten schwatzen hören, obschon man immer nur von meinen Pflichten gegen andere Leute sprach. Da dachte ich denn zum Zeitvertreib darüber nach, ob niemand je eine Pflicht gegen mich gehabt habe.«
Ihre Mutter verzog den Mund, murmelte und schüttelte den Kopf, wenn sich schon nicht unterscheiden ließ, ob dies im Zorn, aus Reue, in der Absicht des Widerspruches, oder nur infolge ihrer körperlichen Schwäche geschah.
»Es gab ein Kind, Alice Marwood genannt«, fuhr die Tochter mit einem schrecklichen Gelächter fort, indem sie dabei an sich selber hinunterschaute, »das in Armut und Vernachlässigung geboren und herangezogen wurde. Niemand unterrichtete es, keine Seele kümmerte sich darum, und niemand zeigte sich bereit, ihm zu helfen.«
»Niemand?« wiederholte die Mutter, auf sich selbst deutend und an ihre Brust schlagend.
»Die einzige Sorgfalt, die ihm zuteil wurde, bestand in Schlägen«, entgegnete die Tochter. »Man gab ihm für Hungersterben zu essen und mißhandelte es. Das hätte es wohl entbehren können. Alice Marwood lebte in Höhlen, wie diese hier, oder auf den Straßen unter einem Haufen ebenso elender kleiner Geschöpfe, wie sie selbst war, und doch trug sie nach dieser Kindheit ein gutes Aussehen davon. Um so schlimmer für sie. Es wäre besser für sie gewesen, wenn man sie wegen ihrer Häßlichkeit verfolgt und zu Tod gequält hätte.«
»Nur zu! nur zu!« rief die Mutter.
»Sogleich!« sagte die Tochter. »Es gab ein Mädchen, namens Alice Marwood. Sie war schön. Der Unterricht kam zu spät, und man lehrte sie alles unrecht. Man sorgte zu gut für sie, half ihr zu gut fort und sah zu viel nach ihr. Ihr hattet sie sehr lieb – Ihr wart damals besser daran. Was über jenes Mädchen erging, betrifft jedes Jahr Tausende. Nichts als Verderben, und sie war geboren dazu.«
»Nach allen diesen Jahren fängt mein Mädel so an«, winselte die Alte.
»Sie wird bald zu Ende sein«, versetzte die Tochter. »Es gab eine Verbrecherin, namens Alice Marwood – zwar noch ein Mädchen, aber verlassen und verstoßen. Sie wurde vor Gericht gestellt und verurteilt. Du mein Himmel, wie die Gentlemen im Gerichtshof ein Wesens davon machten und wie ernst der Richter sie an ihre Pflichten erinnerte und ihr vorstellte, welchen Mißbrauch sie gemacht habe von den Gaben der Natur – als ob er nicht besser als irgend einer dort gewußt hätte, daß sie ihr zum Fluch gemacht wurden! – Und wie er predigt von dem starken Arm des Gesetzes – so gar stark in der Zeit, als es galt sie zu retten, während sie noch eine hilflose kleine Unschuldige war! Wie feierlich und religiös nahm sich nicht alles aus, und ich habe seitdem in der Tat oft und vielmal daran gedacht!«
Sie preßte ihre Arme fest an ihre Brust und lachte in einem Ton, gegen den sogar das Geheul der Alten Musik war.
»So wurde Alice Marwood deportiert, Mutter«, fuhr sie fort, »und sollte an einem Platz ihre Pflichten lernen, wo es zwanzigmal weniger Pflichtmäßigkeit, wohl aber mehr Laster, Unrecht und Schande gab, als hier. Und Alice Marwood ist als ein Weib zurückgekommen – als ein Weib, wie sie es nach solchen Vorgängen sein muß. Zu guter Zeit wird es höchst wahrscheinlich noch feierlichere und schönere Reden vom starken Arm des Gesetzes geben, und es wird dann aus mit ihr sein. Aber die Gentlemen brauchen nicht zu fürchten, unbeschäftigt bleiben zu müssen. Es gibt noch Scharen kleiner Elenden, Knaben sowohl wie Mädchen, die in jeder Straße, wo die gestrengen Herren wohnen, aufwachsen, und das wird sie schon in Tätigkeit erhalten, bis sie sich ein Vermögen gemacht haben.«
Die Alte lehnte ihre Ellenbogen auf den Tisch und unterstützte ihr Gesicht mit beiden Händen – scheinbar oder vielleicht wirklich in großer Betrübnis.
»So! ich bin jetzt fertig, Mutter«, sagte die Tochter mit einer Kopfbewegung, als wolle sie diesen Gegenstand verlassen. »Ich habe genug gesprochen. Was immer auch zwischen uns vorgehen mag, laßt uns nur nicht von Pflichten sprechen. Eure Kindheit war vermutlich wie die meine. Um so schlimmer für uns beide. Ich will Euch keine Vorwürfe machen, oder überhaupt mich rechtfertigen – warum sollte ich auch? Dies ist alles längst vorüber. Aber ich bin jetzt ein Weib – kein Mädchen mehr – und wir brauchen unsere Geschichte nicht zur Schau zu stellen, wie die Gentlemen in dem Gerichtshof. Uns ist sie nur zu gut bekannt.«
Trotz der Herabwürdigung lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Gestalt noch eine Schönheit, die selbst in ihrem schlimmsten Ausdruck von jedem, der sie nur mit der mindesten Aufmerksamkeit betrachtete, anerkannt werden mußte. Sie schwieg jetzt, und ihr aufgeregtes Gesicht wurde ruhiger, während in ihren dunkeln, auf das Feuer gehefteten Augen der wilde Blick, der sie belebt hatte, den weicheren Ausdruck der Bekümmernis annahm. Es schien darin ein Strahl von dem entschwundenen Glänze des gefallenen Engels durch all das verzehrende Elend ihres Lebens zu leuchten.
Ihre Mutter, die sie eine Weile stumm beobachtet hatte, wagte es jetzt, ihre Hand über den Tisch hinüber mehr in ihre Nähe gleiten zu lassen; und als sie fand, daß die Tochter sich dies gefallen ließ, ging sie weiter, indem sie ihr Gesicht und Haar streichelte. Augenscheinlich in dem Gefühl, daß die Alte in dieser Kundgebung von Teilnahme es wenigstens aufrichtig meine, tat ihr Alice keinen Einhalt. Darum schickte sich auch die gute Mrs. Brown zuletzt an, ihr das Haar frisch aufzubinden, die durchnäßten Schuhe, wenn sie diesen Namen verdienten, wegzunehmen und etwas Trockenes über ihre Schultern zu breiten. Dabei humpelte sie scheu um sie her und sprach murmelnd mit sich selbst, je mehr sie in dem Gesicht die alten Züge wiedererkannte.
»Ich sehe, Ihr seid sehr arm, Mutter«, sagte Alice, die, nachdem sie eine Weile still gesessen, in der Stube umherschaute.
»Bitter arm, mein Herzchen«, versetzte die Alte.
Sie bewunderte ihre Tochter und fürchtete sich vor ihr. Vielleicht hatte ihre Bewunderung, so wie sie war, ihren Ursprung in längst vergangener Zeit, als sie zum erstenmal etwas Schönes in der Mitte ihres schmutzigen Ringens um das Dasein auftauchen sah, während möglicherweise ihre Furcht sich einigermaßen auf den Rückblick bezog, der ihr eben vorgehalten worden war. Wie dem übrigens sein mochte, sie stand unterwürfig und demütig vor ihrem Kind, den Kopf geneigt, als bitte sie flehentlich um Verschonung mit weiteren Vorwürfen.
»Wovon habt Ihr gelebt?«
»Vom Betteln, mein Herzchen.«
»Und Stehlen, Mutter?«
»Bisweilen, Ally – aber nur in sehr geringem Maße. Ich bin alt und furchtsam. Hin und wieder habe ich Kindern Kleinigkeiten weggenommen, mein Herzchen, aber nicht oft. Ich kam weit im Lande herum, meine Liebe, und weiß, was ich weiß. Ich habe mich auf die Lauer gelegt.«
»Auf die Lauer?« versetzte die Tochter, nach ihr hinsehend.
»Ja, bei einer Familie, mein Herzchen«, entgegnete die Mutter noch demütiger und unterwürfiger als zuvor.
»Bei welcher Familie?«
»Pst, mein Liebling. Du mußt mir nicht zürnen. Ich tat es um deinetwillen – eingedenk meines armen Mädchens über dem Meere.«
Sie streckte abbittend ihre Hand aus, zog sie wieder zurück und legte sie an ihre Lippen.
»Vor Jahren, mein Herzchen«, fuhr sie fort, schüchtern nach dem aufmerksamen finsteren Gesicht ihr gegenüber hinschauend, »kam mir zufällig sein kleines Kind in den Weg.«
»Wessen Kind?«
»Nicht das seine, liebe Alice. Sieh mich nicht in solcher Weise an. Nicht das seine. Wie wäre das auch möglich? Du weißt, er hat keins.«
»Wessen denn?« erwiderte die Tochter. »Ihr habt von dem seinen gesprochen.«
»Pst, Ally – du erschreckst mich, mein Herzchen. Mr. Dombeys – nur Mr. Dombeys. Seit jener Zeit, meine Liebe, habe ich sie oft gesehen. Auch ihn.«
Bei diesem letzteren Wort wich die Alte, wie in plötzlicher Furcht, daß ihre Tochter sie schlagen werde, zurück. Aber wenn auch Alice die Augen auf ihr haften ließ und in ihrem Gesicht die ungestümste Leidenschaft sich zeigte, so blieb sie doch still, obschon ihre Arme sich dichter und dichter vor ihrer Brust ineinander verklammerten, als wolle sie diese hindern, daß sie nicht in der blinden Wut des Zorns, die sich ihrer so plötzlich bemächtigte, sich selbst oder jemandem anders ein Leides zufügten.
»Er ließ sich wenig träumen, wer ich war!« sagte die Alte, ihre geballte Hand schüttelnd.
»Und kümmerte sich auch wenig darum!« murmelte die Tochter zwischen ihren Zähnen.
»Aber wir standen einander Angesicht in Angesicht«, sagte die Alte. »Ich sprach mit ihm und er mit mir. Ich sah ihm nach, als er durch eine lange Allee hinunterging, und bei jedem Schritt, den er tat, verfluchte ich ihn mit Leib und Seele.«
»Das wird ihn nicht hindern, in Hülle und Fülle zu leben«, entgegnete die Tochter verächtlich.
»Ja, er lebt in Hülle und Fülle«, sagte die Mutter.
Sie hielt inne; denn das Gesicht und die Gestalt vor ihr wurde durch die Wut völlig umgewandelt. Es schien, als ob der Busen bersten wolle unter den Bewegungen, die unter ihm kämpften. Die Anstrengung, dem Sturme Einhalt zu tun, war nicht minder furchtbar, als die Nut selbst, und ließ in gleicher Weise den ungestümen, gefährlichen Charakter des Weibes, das so mit sich selbst rang, erkennen. Endlich gelang ihr die Bemühung, und sie fragte nach einem langen Schweigen:
»Ist er verheiratet?«
»Nein, mein Herzchen«, versetzte die Mutter.
»Verlobt?«
»Meines Wissens nicht, meine Liebe. Aber sein Herr und Freund ist verheiratet. O, wir können ihm Glück wünschen – wir können allen miteinander Glück wünschen!« rief die Alte, in ihrem Jubel mit ihren dürren Armen sich selbst umfassend. »Denk' an mich – nichts als Freude für uns wird aus dieser Heirat hervorgehen!«
Die Tochter sah sie an, als wünsche sie weitere Aufklärung.
»Doch du bist durchnäßt und müde, hungrig und durstig«, sagte die Alte, nach dem Eckschrank humpelnd. »Es ist nicht viel da, nur wenig« – sie griff in ihre Tasche und warf ein paar Halbpence auf den Tisch – »gar wenig. Hast du Geld, Alice, mein Herzchen?«
Das gierige, hastige Gesicht, mit dem sie die Frage stellte und mit dem sie Alice ansah, als diese die kürzlich erhaltene Gabe aus ihrem Busen hervorzog, erzählte fast ebenso viel von der Geschichte der Mutter und ihres Kindes, als das Kind selbst in Worten ausgedrückt hatte.
»Ist das alles?« fragte die Mutter.
»Ja. Ich würde nicht einmal so viel haben, wenn es mir nicht eine mitleidige Person als Almosen gegeben hätte.«
»Wie, als Almosen, mein Herzchen?« versetzte die Alte, sich gierig über den Tisch beugend, um nach dem Geld zu sehen, dem sie nicht recht zu trauen schien, weil ihre Tochter es noch immer in der Hand behielt. »Hm! Sechs und sechs ist zwölf, und sechs ist achtzehn – nun – wir müssen damit auszureichen suchen, so lang es geht. Ich will jetzt etwas zu essen und zu trinken einkaufen.«
Mit größerer Behendigkeit, als man von ihrem Äußeren hätte erwarten sollen – denn Alter und Elend schienen sie ebenso gebrechlich wie häßlich gemacht zu haben – begann sie einen alten Hut auf ihrem Kopf festzuknüpfen und mit zitternden Händen ein zerlumptes Halstuch überzuwerfen. Dabei betrachtete sie das Geld in der Hand ihrer Tochter stets mit der gleichen Habgier.
»Welche Freude soll uns aus dieser Heirat erwachsen, Mutter?« fragte die Tochter. »Ihr habt mir das noch nicht gesagt.«
»Die Freude«, versetzte sie, mit unsicheren Händen ihren Anzug vollendend, »daß statt der Liebe Stolz und Haß darin herrschen wird, mein Herzchen. Die Freude der Verwirrung, des wechselseitigen Kampfs unter den stolzen Personen, und der Gefahr – der Gefahr, Alice!«
»Welcher Gefahr?«
»Ich habe gesehen, was ich sah. Ich weiß, was ich weiß!« kicherte die Mutter. »Gewisse Leute dürfen aufsehen. Mein Mädel kann noch in gute Gesellschaft kommen!«
Als die Alte bemerkte, daß Alice in dem verwunderten Ernst, mit dem sie ihre Mutter ansah, unwillkürlich ihre Hand über dem Geld geschlossen hatte, so eilte sie, sich dessen zu bemächtigen, und fügte hastig bei:
»Doch ich will etwas einkaufen. Ich will gehen, um etwas zu kaufen.«
Während sie mit ausgestreckter Hand vor ihrer Tochter stand, blickte diese wieder das Geld an und drückte es an ihre Lippen, ehe sie es hergab.
»Wie, Ally – du es küssen?« kicherte die Alte. »Das hat sie von mir – ich tue es oft. O, es ist uns so wertvoll« – sie drückte dabei ihre eigenen schmutzigen Halbpence an den Kropf ihres Halses – »tut uns so gut in allem, wenn es schon nicht in Haufen kommt.«
»Ich küsse es, Mutter«, versetzte die Tochter, »oder küßte es – meines Wissens ist es nie zuvor geschehen – um der Geberin willen.«
»Um der Geberin willen, mein Herzchen?« erwiderte die Alte, indem sie die Münze mit funkelnden Augen hinnahm. »Ja, auch ich will es um der Geberin willen küssen, wenn sie machen kann, daß es weiter reicht. Doch es muß jetzt ausgegeben werden, meine Liebe – ich werde sogleich wieder zurück sein.«
»Ihr gebt Euch den Anschein, als ob Ihr recht viel wißt, Mutter«, sagte die Tochter, ihr mit den Augen nach der Tür folgend. »Ihr seid ja recht klug geworden, seit wir uns trennten.«
»Ob ich viel weiß?« krächzte die Alte, die um einige Schritte wieder zurückkam. »Ich weiß mehr, als du denkst – weiß sogar mehr, als er denkt, mein Herzchen, wie ich dir gelegentlich erzählen will. Ich weiß alles von ihm.«
Die Tochter lächelte ungläubig.
»Ich weiß auch von seinem Bruder, Alice«, fuhr die Alte fort und streckte mit einem Blick voll Bosheit, der wahrhaft fürchterlich aussah, ihren Hals aus, »der wegen Diebstahls eben dort sein könnte, wo du gewesen bist – und der mit seiner Schwester dort draußen unfern der Nordstraße lebt.«
»Wo?«
»An der Nordstraße vor London draußen, mein Herzchen. Wenn es dir darum zu tun ist, sollst du das Haus sehen. Es ist freilich nicht viel daran, wie vornehm es auch in dem seinigen aussieht. Nein, nein, nein«, rief die Alte, indem sie lachend den Kopf schüttelte; denn ihre Tochter war von dem Sitze aufgesprungen, »nicht jetzt; es ist zu abgelegen – bei dem Meilenzeiger, wo die Steine aufgehäuft sind. Morgen, mein Herzchen, wenn es schön Wetter ist und du noch Lust dazu hast. Aber ich will jetzt fort.«
»Halt!« und die Tochter flog mit einer Wut, die jetzt in heller Lohe flammte, auf sie zu. »Die Schwester ist ein schöner Satan mit braunem Haar?«
Erstaunt und erschrocken nickte die Alte mit dem Kopf.
»Ich sehe den Schatten von ihm in ihrem Gesicht! Es ist ein einzeln stehendes rotes Haus mit einer kleinen grünen Laube vor der Tür?«
Die Alte nickte abermals.
»In der ich heute saß. Gebt mir das Geld zurück.«
»Alice, Herzchen!«
»Gebt mir das Geld zurück, oder es soll Euch übel bekommen.«
Mit diesen Worten entriß sie es der Hand der Alten, ohne auf deren Klagen und Bitten zu achten, warf die abgelegten Kleidungssachen wieder um und stürzte in ungestümer Hast zur Tür hinaus.
Die Mutter folgte ihr, so gut es mit ihrem hinkenden Gang gehen wollte, und machte ihr fortwährend Vorstellungen, die übrigens auf Alice ebensowenig Wirkung hervorbrachten, wie die Nacht, der Wind und der Regen draußen. In wilder Entschlossenheit und gegen alles andere gleichgültig, bot die Tochter dem Wetter und der Entfernung Trotz, als ob sie sich nie durch eine weite Wanderung erschöpft hätte, und eilte dem Hause zu, das ihr heute teilnehmenden Beistand geboten hatte. Nach einem viertelstündigen Gehen wagte es die Alte, die erschöpft und atemlos war, sich an ihrer Kleidung festzuhalten, ohne daß sie noch weitere Worte wagte, und so wanderten sie schweigend durch Regen und Dunkel. Wenn der Mutter hin und wieder ein Wort der Klage nach den Lippen drang, erstickte sie es wieder, damit Alice sich nicht von ihr losreiße und sie zurücklasse. Die Tochter aber blieb auf dem ganzen Wege stumm.
Es mochte gegen elf Uhr sein, als sie die regelmäßige Straße verließen und in das tiefere Düster des einsamen Geländes eintraten, wo das Haus stand. Die Stadt lag trüb und düster in der Ferne. Der kalte Wind heulte über den freien Platz, und die Gegend umher nahm sich schwarz, wild und öde aus.
»Dies ist ein geeigneter Platz für mich«, sagte die Tochter, indem sie haltmachte und zurückschaute. »Er kam mir heute schon einmal so vor.«
»Alice, mein Herzchen«, rief die Mutter, sie sanft an ihrem Kleid zupfend. »Alice!«
»Was wollt Ihr, Mutter?«
»Gib das Geld nicht zurück, mein Liebling – ich bitte, tu es nicht. Wir können es nicht entbehren. Es fehlt uns an einem Nachtessen, Herzchen. Geld ist Geld, woher es auch kommen mag. Sage ihr, was du willst, aber behalte das Geld.«
»Sieh an!« erwiderte die Tochter. »Dort ist das Haus, das ich meine. Ist es dieses?«
Die Alte nickte bejahend, und einige weitere Schritte brachten sie nach der Schwelle. In dem Zimmer, wo Alice ihre Kleider getrocknet hatte, brannte noch Licht und Feuer. Auf ihr Klopfen kam John Carker heraus.
Er war erstaunt, zu dieser Stunde solche Besuche zu sehen, und fragte Alice, was sie wolle.
»Zu Eurer Schwester«, versetzte sie. »Zu der Frau, die mir heute Geld gab.«
Sie hatte sehr laut gesprochen, und Harriet erschien unter der Tür.
»O!« rief Alice. »Ihr seid hier! Erinnert Ihr Euch meiner?«
»Ja«, antwortete sie verwundert.
Das Gesicht, das sich am Abend vorher vor ihr gedemütigt hatte, blickte sie jetzt mit bitterem Haß und Trotz an, und die Hand, die ihren Arm berührt, war so grimmig wie zum Erdrosseln geballt, daß sie sich dicht an ihren Bruder anschmiegte, um bei ihm Schutz zu suchen.
»Daß ich mit Euch sprechen konnte, ohne Euch zu erkennen! Daß ich in Eure Nähe kommen mußte, ohne an dem Prickeln in meinen Adern zu fühlen, welches Blut in Euern fließt!« rief Alice mit drohender Gebärde.
»Was meint Ihr damit? Was habe ich getan?«
»Was Ihr getan habt?« erwiderte die andere. »Ihr habt mich an Euer Feuer gesetzt – habt mir Nahrung und Geld gegeben – habt mir Mitleid erwiesen – Ihr mit dem Namen, den ich anspeien könnte.«
Mit einer Bosheit, durch die ihr häßliches Gesicht wahrhaft entsetzlich wurde, schüttelte die Alte ihre welke Hand nach dem Bruder und der Schwester hin, um die Worte zu bekräftigen; zugleich aber zupfte sie Alice wieder an den Rockschößen und bat sie, das Geld zu behalten.
»Wenn ich eine Träne auf Eure Hand fallen ließ, so möge sie darauf wie Feuer brennen! Wenn ich in Eurer Nähe ein sanftes Wort sprach, so möge es Euch mit ewiger Taubheit schlagen. Wenn ich Euch mit meinen Lippen berührte, so soll die Berührung Gift für Euch werden! Fluch über dieses Dach, das mir Schutz bot! Leid und Schande über Euer Haupt! Verderben allem, was Euch angehört!«
Während sie diese Worte sprach, warf sie das Geldstück auf den Boden und stieß es mit den Füßen von sich.
»Ich trete es in den Staub und möchte es nicht nehmen, wenn es mir den Weg zum Himmel pflasterte! Hätte ich mir doch lieber den blutenden Fuß, der mich heute hierherbrachte, abgehauen, ehe er mich in Euer Haus trug!«
Blaß und zitternd stützte sich Harriet auf den Arm ihres Bruders, ohne auf das Ungestüm der Sprecherin auch nur eine Silbe zu erwidern.
»Es war herrlich, daß ich Mitleid und Vergebung finden sollte von Euch oder irgend jemand Eures Namens in der eisten Stunde meiner Rückkehr! Es war herrlich, daß Ihr gegen mich die gütige Dame spielen mußtet! Ich werde es Euch danken auf meinem Totenbette – ja, verlaßt Euch darauf: ich will beten für Euch und Euer ganzes Geschlecht!«
Mit einer trotzigen Handbewegung, als streue sie Haß auf den Boden und weihe damit die, die hier standen, dem Verderben, blickte sie plötzlich nach dem schwarzen Himmel auf und schritt in die wilde Nacht hinaus.
Die Mutter, die sie wiederholt, obschon vergeblich, an den Kleidern gezupft hatte und mit verzehrender Glut nach dem auf der Schwelle liegenden Gelde hinschaute, wollte sich in der Nähe umhertreiben, bis das Haus dunkel war, um dann im Schmutz zu tasten, ob ihr vielleicht der Zufall die Münze wieder unter die Hände bringe. Aber Alice riß sie mit fort, und so ging es denn geradenwegs wieder ihrer Wohnung zu. Die Alte winselte kläglich über ihren Verlust und beschwerte sich, soweit sie es offen wagen durfte, in gereiztem Ton über das pflichtwidrige Benehmen ihrer schönen Tochter, die sie in der ersten Nacht ihrer Wiedervereinigung des Essens beraubte.
Sie mußte auch zu Bett gehen, ohne daß sie sich mit etwas anderem, als mit einigen kümmerlichen Überbleibseln erquicken konnte. Bei diesen saß sie noch murmelnd und kauend vor dem hinsterbenden Feuer, nachdem ihre pflichtwidrige Tochter längst im Schlafe lag.
Boten vielleicht diese elende Mutter und ihre gleich elende Tochter nur Bilder der tiefsten Stufe von gewissen sozialen Lastern dar, die bisweilen weiter oben vorherrschen? Machen wir auf dieser runden Welt, wo so viele Kreise ineinander kreisen, eine mühsame Wanderung von den höchsten Regionen bis zu den niedrigsten, um am Ende zu finden, daß sie ganz nahe beieinander liegen, daß die beiden äußersten Endpunkte sich berühren, und daß das Ende der Reise wieder auf die Stelle ihres Anfangs führt? Geben wir auch zu, daß in Stoff und Gewebe große Unterschiede bestehen– wiederholt sich der Schnitt nicht auch unter dem vornehmen Blute?
Sprich, Edith Dombey! Und du, Kleopatra, beste der Mütter – laß uns dein Zeugnis hören!
Fünfunddreißigstes Kapitel. DAS GLÜCKLICHE PAAR.
Der schwarze Klecks in der Straße ist fort. Wenn sich Mr. Dombeys Haus noch immer wie eine Lücke unter den benachbarten ausnimmt, so liegt der Grund nur darin, weil es in der Pracht und in dem Stolz, womit es die anderen zurückweist, nicht zu beneiden ist. Das Sprichwort sagt: Heimat sei Heimat, wie ärmlich sie auch sein möge. Wenn nun auch das Gegenteil wahr ist und sie Heimat bleibt, wie stattlich sie sei, welch ein Altar war dann nicht hier den heimischen Hausgöttern errichtet!
Es ist Abend. Lichter funkeln durch die Fenster, die rötliche Glut der Kaminfeuer übergießt warm und hell die Vorhänge und die weichen Teppiche; das Diner ist bereitet, der Serviertisch mit Silbergeschirr beladen und die Speisetafel großartig gerüstet, obschon nur vier Gedecke aufgelegt sind. Das erstemal seit den jüngsten Veränderungen soll das Haus wirkliche Dienste leisten, und man sieht der Ankunft des glücklichen Paares mit jeder Minute entgegen.
Dieser Abend, der die Rückkehrenden begrüßen soll, steht an Interesse, das es der erwartungsvollen Dienerschaft bietet, nur dem Morgen der Trauung nach. Mrs. Perch, die die Runde durch das Haus gemacht, die Seiden- und Damaststoffe der Elle nach abgeschätzt und für den Ausdruck ihrer Bewunderung und ihres Staunens alle nur erdenklichen Ausrufwörter erschöpft hat, sitzt jetzt in der Küche und trinkt Tee. Der erste Gehilfe des Tapezierers hat seinen stark nach Firniß riechenden Hut mit dem Schnupftuch darin unter einem Stuhl in der Halle gelassen, schleicht im Hause umher, blickt nach den Gesimsen empor, beaugenscheinigt die Teppiche auf dem Boden, zieht gelegentlich in stummem Entzücken ein Metermaß aus der Tasche und mißt hurtig mit unaussprechlichen Gefühlen einzelne kostbare Gegenstände. Die Köchin ist ungemein heiter und erklärt, es gefalle ihr nur an einem Platz, wo es viel Gesellschaft gebe (sie wette sechs Pence, daß dies fortan im Hause der Fall sein werde), denn sie habe von Kindheit auf ein lebhaftes Temperament gehabt und es sei ihr gleich, was die Welt zu diesem Temperament sage. Diese Gesinnung wird von Mrs. Perch mit einem entsprechenden Gemurmel des Beifalls aufgenommen. Die Hausmagd hofft, es werde dem Paare glücklich ergehen – aber das Heiraten sei eine Lotterie, und je mehr sie darüber nachdenkt, desto mehr gewinnt sie die Überzeugung, daß sie im ledigen Stande am sichersten und unabhängigsten lebe. Mr. Towlinson ist ernst und grämlich, sagt, das sei auch seine Meinung, und erklärt nebenbei allen Ausländern den Krieg, indem er ruft: »Nieder mit den Franzosen!« Der junge Mann gibt sich nämlich dem allgemeinen Eindrucke hin, jeder Ausländer sei ein Franzose und könne der Natur der Sache nach unmöglich etwas anderes sein.
Sooft sich draußen Rädergerassel vernehmen läßt, halten alle in ihren Reden inne und horchen. Ja, es kommt sogar mehr als einmal zu einem allgemeinen Aufbruch, als sich der Ruf verbreitet: »Sie sind es!« Aber sie sind es noch nicht, und die Köchin fängt bereits an, über das Essen zu klagen, das schon zweimal hat zurückgestellt werden müssen, während der Tapeziergehilfe, ungestört in seinen glücklichen Träumen, noch immer in den Zimmern umherwandelt.
Florence ist bereit, ihren Vater und ihre neue Mama zu empfangen. Ob die Regungen, die in ihrer Brust pochen, im Schmerz oder Freude ihren Grund haben? – sie weiß es kaum. Aber das klopfende Herz rötet ihre Wangen und erhöht das Feuer ihrer Augen. Unten stecken sie die Köpfe zusammen und flüstern sich zu – denn sie sprechen stets leise, wenn von ihr die Rede ist – wie schön Miß Florence heute abend aussehe und was für eine liebliche Lady sie geworden sei, das liebe Herz! Es folgt eine Pause, und dann erklärt die Köchin in dem Gefühl, daß man von ihr, als der Präsidentin, ihre Ansicht erwarte, sie möchte nur wissen, ob – aber der Vortrag geht nicht weiter. Auch die Hausmagd möchte wissen – desgleichen Mrs. Perch, die die glückliche soziale Eigenschaft hat, stets neugierig zu sein, wenn es andere sind, ohne es gerade mit dem Gegenstand besonders genau zu nehmen. Mr. Towlinson, dem die Gelegenheit günstig scheint, die Stimmung der Damen zu seiner eigenen Skepsis herabzudrücken, meint, sie sollten nur abwarten und sehen; ihm für seine Person wäre es lieb, wenn gewisse Personen gut wegkämen. Die Köchin wirft mit einem Seufzer die Bemerkung hin: »Ach, es ist eine seltsame Welt – jawohl!« geht um den Tisch herum und fügt im Ton der Überzeugung bei, »aber Miß Florence kann es bei keinem Wechsel noch schlimmer ergehen, Tom.« Mr. Towlinson antwortet mit schrecklicher Bedeutsamkeit: »O, es kann noch ganz anders kommen!« und verstummt sodann in dem Gefühl, daß man kaum prophetischer sprechen oder etwas Weiteres hinzufügen könne.
Mrs. Skewton, die ihre liebe Tochter und den teuren Schwiegersohn mit offenen Armen empfangen will, ist für diesen Zweck ungemein passend in ein sehr jugendliches Kostüm mit kurzen Ärmeln gehüllt. Zur Zeit blühen übrigens ihre reifen Reize noch in dem Schatten ihrer eigenen Zimmer, die sie vor einigen Stunden bezogen und nicht verlassen hat. Sie ist sehr ärgerlich wegen der Verspätung des Diners. Ihr Mädchen aber, das die Stelle des Gerippes mit der Sense so gut vertreten könnte, obschon sie im übrigen als eine hübsche Jungfer erscheint, ist überfroh, weil sie meint, daß ihr Vierteljahrlohn jetzt sicherer sei und auch, was Kost und Wohnung angehe, eine Änderung zum Besseren bevorstehe.
Wo ist das glückliche Paar, auf das eine so wackere Heimat wartet? Lassen Dampf, Flut, Wind und Pferde in ihrer Eile nach, um länger Zeugen eines solchen Glückes zu bleiben? Werden sie auf ihrem Weg durch die Scharen von Liebesgöttinnen und Grazien zurückgehalten, die sie umschwärmen? Blühen so viele Blumen auf ihrem glücklichen Pfad, daß sie kaum vorwärts kommen können, ohne sich in dornenlosen Rosen und süßduftendem Gesträuch zu verstricken?
Sie sind endlich da! Rädergerassel wird hörbar und kommt immer näher, bis der Wagen vor der Tür haltmacht. Ein donnerndes Klopfen kommt Mr. Towlinson und dem übrigen Hausgesinde, das zum Öffnen nach der Tür eilt, zuvor. Mr. Dombey steigt aus mit seiner Gattin, bietet ihr den Arm und tritt ein.
»Meine süßeste Edith«, ruft aus dem ersten Stock eine Stimme. »Mein teuerster Dombey!«
Und die kurzen Ärmel sind in voller Tätigkeit, um abwechselnd ihn oder sie zu umarmen.
Florence war auch nach der Halle heruntergekommen, ohne jedoch näher zu treten, da sie ihren schüchternen Willkomm aufsparen wollte, bis sich das mehr berechtigte, wertvollere Entzücken etwas gelegt hätte. Aber Ediths Augen suchten sie schon von der Schwelle aus, und nachdem die neue Mrs. Dombey ihre Mutter mit einem Kusse auf die Wange abgefertigt hatte, eilte sie auf das Mädchen zu, um es zu umarmen.
»Wie geht es dir, Florence?« sagte Dombey, seine Hand ausstreckend.
Als Florence dieselbe zitternd zu ihren Lippen erhob, begegnete sie seinem Blick. Er war kalt und abgemessen genug. Aber ihr Herz glaubte etwas mehr Teilnahme darin zu entdecken, als je zuvor. Er drückte sogar eine Art leichter Überraschung – nicht unangenehmer Überraschung bei ihrem Anblick aus. Sie wagte es nicht, ihr Auge abermals zu dem seinigen zu erheben, fühlte aber, daß er sie wieder anschaute und daß der Eindruck nicht weniger günstig war. O, welch ein freudiges Beben durchschauerte sie sogar bei dieser unhaltbaren und grundlosen Bestätigung ihrer Hoffnung, daß es ihr durch ihre neue, schöne Mama gelingen werde, seine Liebe zu gewinnen!
»Ihr werdet vermutlich nicht lange zum Umkleiden brauchen, Mrs. Dombey?« sagte Mr. Dombey.
»Es ist bald geschehen«, versetzte Edith.
»Das Diner muß in einer Viertelstunde bereitstehen.«
Mit diesen Worten verfügte sich Mr. Dombey stattlichen Schritts nach seinem Ankleidezimmer, während Mrs. Dombey zu gleicher Zeit nach dem ihren hinaufging. Mrs. Skewton begab sich mit Florence in das Besuchszimmer, wo diese trefflichste der Mütter es für ihre Pflicht hielt, über das vermeintliche Glück ihrer Tochter einige ununterdrückbare Tränen zu vergießen. Sie war noch recht sorgfältig im Abtrocknen derselben begriffen – ein Geschäft, das sie mit dem Ende ihres spitzengesäumten Tuches verrichtete, als ihr Schwiegersohn erschien.
»Und wie hat mein teuerster Dombey jene lieblichste von allen Städten – Paris – gefunden?« fragte sie, ihre Erregtheit niederkämpfend.
»Es war kalt«, entgegnete Mr. Dombey.
»Aber natürlich so lebhaft, wie immer«, sagte Mrs. Skewton.
»Nicht besonders. Es kam mir langweilig vor«, versetzte Mr, Dombey.
»Pfui, mein teuerster Dombey«, erwiderte sie schalkhaft. »Langweilig!«
»Es machte diesen Eindruck auf mich, Madame«, sagte Mr. Dombey mit ernster Höflichkeit. »Ich glaube, Mrs. Dombey hat es auch langweilig gefunden. Wenigstens äußerte sie sich ein- oder zweimal gegen mich auf diese Weise.«
»Ach, du garstiges Mädchen!« rief Mrs. Skewton ihrem lieben Kinde zu, das in diesem Augenblick eintrat – »was für schrecklich ketzerische Äußerungen hast du dir über Paris erlaubt!«
Edith erhob matt die Augenbrauen, ging, ohne einen Blick danach zu werfen, an der Flügeltür, die geöffnet war, um die Zimmerreihe mit ihrer neuen schönen Ausstattung zu zeigen, vorbei und setzte sich an Florences Seite nieder.
»Mein teurer Dombey«, sagte Mrs. Skewton, »wie entzückend diese Leute jede von uns angedeutete Idee ausgeführt haben! Das Haus ist unter ihren Händen zu einem wahren Palast geworden.«
»Es ist schön«, sagte Mr. Dombey, umherschauend. »Ich habe die Weisung erteilt, daß man keine Kosten sparen solle, und glaube, es ist alles geschehen, was durch Geld erzielt werden kann.«
»Und was wäre nicht damit zu erzielen, lieber Dombey?« bemerkte Cleopatra.
»Geld ist Macht, Madame«, sagte Mr. Dombey.
Er schaute in der gewohnten feierlichen Weise nach seiner Gattin hin, die übrigens keine Silbe darauf erwiderte.
»Ich hoffe, Mrs. Dombey«, fuhr Mr. Dombey nach einer kurzen Pause mit besonderer Bestimmtheit gegen sie fort, »daß diese Veränderungen Euren Beifall finden?«
»Sie sind so schön, wie sie sein können«, versetzte sie mit stolzer Gleichgültigkeit. »Sie müssen es natürlich sein, und deshalb vermute ich auch, daß es der Fall ist.«
Ein Ausdruck von Verachtung lag gewöhnlich auf dem stolzen Gesicht und schien sich davon nicht trennen zu lassen. Aber die Geringschätzung, mit der sie jedes, auch das unbedeutendste Merkmal von Bewunderung oder Achtung seines Reichtums aufnahm, bildete in ihrem Antlitz einen neuen, ganz eigenartigen Zug von so kräftigem Gepräge, daß er mit keinem früheren einen Vergleich aushielt. Ob Mr. Dombey, in den Mantel seiner Größe gehüllt, dies wußte oder nicht? Jedenfalls hatte es ihm nicht an Gelegenheit zu Belehrung gefehlt, und in jenem Augenblick konnte ihm der einzige Blick des dunkeln Auges, der auf ihn niederfiel, nachdem sie rasch und gleichgültig die Gegenstände des erwähnten Selbstlobes gemustert hatte, allen wünschenswerten Aufschluß geben. Dieser Blick sagte ihm: nichts, was durch seinen Reichtum selbst in zehntausendfacher Steigerung erzielt werden konnte, vermochte dieser trotzigen Frau, die an ihn gefesselt war, obschon ihre ganze Seele sich gegen ihn empörte, eine Äußerung oder Miene der Anerkennung zu entringen. Er hätte in diesem Blick lesen können, daß sie seine Schätze schon wegen des schmutzigen, zur Sinnbegierde führenden Einflusses, den sie auf sie selbst geübt hatten, verachte. Zwar nahm sie diese Schätze kraft des geschlossenen Handels für sich in Anspruch – als schnöden, wertlosen Ersatz dafür, daß sie sein Weib geworden war. Er hätte darin lesen können, daß, wenn sie ohnehin schon stets ihr Haupt dem Blitz ihres Stolzes und ihrer Selbstverachtung preisgab, die geringste Anspielung auf seinen Reichtum sie aufs neue herabwürdigte, das verzehrende Gefühl ihres Innern erhöhte und die vom Fluch getroffene Wüste in ihrem Herzen noch öder machte.
Das Diner wurde angekündigt. Mr. Dombey bot Cleopatra seinen Arm, und Edith folgte mit Florence. An der Schaustellung von Gold und Silber auf dem Seitentisch vorbeirauschend, als ob es aufgehäufter Straßenstaub wäre, und die elegante Umgebung keines Blickes würdigend, nahm sie zum erstenmal an dem Tisch Platz und blieb während des ganzen Mahles wie eine Statue sitzen.
Mr. Dombey, der sich gleichfalls ziemlich wie eine Statue ausnahm, war nicht unzufrieden mit der Kälte, dem Stolz und der Unbeweglichkeit seiner Gattin. Da ihre Haltung stets Eleganz und Anmut zeigte, so stand ihr Benehmen im allgemeinen mit seinen eigenen Empfindungen vollkommen im Einklang. Deshalb führte er jetzt mit seiner gewohnten Würde den Vorsitz. Ohne von sich selbst Wärme und Heiterkeit auf Edith überstrahlen zu lassen, trug er mit kalter Selbstgefälligkeit seinen Anteil zu den Honneurs der Tafel bei. So verlief das erste Mahl in dem neuen Heim von oben her gesehen in höflicher, zeremonieller, frostiger Weise, wenn man gleich in der Küche unten diesen Anfang nicht für sehr verheißungsvoll zu halten geneigt war.
Bald nach dem Tee begab sich Mrs. Skewton zu Bett; denn sie war, wie sie sagte, völlig erschöpft von den Aufwallungen des Entzückens, weil sie nun ihre Tochter mit dem Mann ihres Herzens vereint sah. Zwar mochte ihr dieses Familienleben an sich ziemlich langweilig vorkommen, wenn man aus ihrem hinter dem Fächer verborgenen, fast unablässigen Gähnen einen maßgebenden Schluß ziehen durfte. Auch Edith zog sich schweigend zurück, um nicht wieder zu erscheinen. So fügte es sich, daß Florence, die droben gewesen war, um sich mit Diogenes zu unterhalten, als sie mit ihrem Arbeitskörbchen wieder nach dem Speisezimmer kam, nur noch ihren Vater antraf, der in traurig anzusehender Großartigkeit auf und nieder ging.
»Ich bitte um Verzeihung, soll ich wieder fortgehen, Papa?« fragte Florence schüchtern, während sie unter der Tür stehenblieb.
»Nein«, versetzte Mr. Dombey, über die Schultern nach ihr hinblickend. »Du kannst hier nach Belieben ein- und ausgehen, Florence. Das ist nicht mein Privatzimmer.«
Florence trat ein und setzte sich mit ihrer Arbeit an einen kleinen Seitentisch. Es war – seit sie sich von ihrer frühesten Kindheit auf entsinnen konnte – das erstemal, daß sie sich bei ihrem Vater allein befand. Sie, seine natürliche Gefährtin, sein einziges Kind, das in seinem einsamen Leben den vollen Gram eines brechenden Herzens erlitten – das in seiner zurückgewiesenen Liebe während seiner nächtlichen Gebete den Namen des Vaters nie anders gehaucht als mit einem tränenreichen Segenswunsch, einem Segen, noch schwerer auf ihm lastend als ein Fluch – das zum Himmel gefleht, er möge es doch jung abrufen, damit es nur in seinen Armen sterben könne – das den Schmerz kalter Vernachlässigung und Abneigung stets nur mit anspruchsloser Liebe getragen, ja sogar ihn entschuldigt und für ihn gebetet hatte, wie sein besserer Engel!
Sie zitterte, und ihre Augen wurden trübe. Seine Gestalt schien, während er im Zimmer auf und ab ging, sich nach allen Richtungen auszudehnen; jetzt erschien ihr alles wirr und unbestimmt durcheinander, dann wieder klar und deutlich. Ja, es kam ihr bisweilen vor, als habe sie nicht die Gegenwart vor sich, sondern ihre ganze Umgebung sei ein Bild aus vielen, vielen vergangenen Jahren. Ihr Herz fühlte sich zu ihm hingezogen; und doch wagte sie es nicht, sich ihm zu nähern. Eine unnatürliche Erregung in einem Kind, das sich keiner Schuld bewußt war – eine unnatürliche Hand, die den scharfen Pflug gefühlt und in einem edlen Wesen solche Furchen aufgeworfen hatte, um ihre Saat hineinzustreuen!
Um ihm durch ihren Kummer keinen Anstoß zu geben, tat sich Florence Gewalt an und blieb ruhig bei ihrer Arbeit sitzen. Nachdem er noch einige Male durch das Zimmer gegangen war, zog er sich in eine schattige Ecke zurück, wo ein Lehnstuhl stand, bedeckte den Kopf mit seinem Taschentuch und schickte sich zum Schlafen an.
Es war für Florence genug, dasitzen und ihn ansehen zu können. Von Zeit zu Zeit warf sie ihre Blicke nach dem Stuhl hin und beschäftigte sich unablässig, selbst wenn ihre Augen emsig auf ihrer Arbeit hafteten, mit seinem Bild. Der Gedanke, daß er schlafen konnte, während sie da war, und daß ihm ihre befremdliche, langversagte Nähe nicht die Ruhe raubte, bereitete ihr eine wehmütige Freude.
Was würde sie wohl gedacht haben, wenn sie gewußt hätte, daß er nicht schlief, daß der Schleier über seinem Gesicht – sei es absichtlich oder aus Zufall – die Augen frei ließ und daß er keinen Blick von ihrem Antlitz verwandte – daß, wenn sie in die dunkle Ecke nach ihm hinsah, ihre sprechenden Augen den seinen begegneten, ernster und ergreifender in ihrer stummen Klage, als alle Redner der Welt – daß er leichter aufatmete, sooft sie das Haupt wieder gegen ihre Arbeit senkte, obgleich er dann mit derselben Aufmerksamkeit ihre weiße Stirne, ihr wallendes Haar und ihre geschäftigen Hände betrachtete, als wirke das Bild vor ihm wie ein bannender Zauber?
Sogar in dem Leben der härtesten Männer gibt es weichere Augenblicke, obschon das meist als ein Geheimnis verwahrt bleibt. Der Anblick der Tochter in ihrer Schönheit, der Tochter, die sich ohne sein Vorwissen fast zur Jungfrau entwickelt hatte, mochte auch in seiner stolzen Existenz solch einen Augenblick wachgerufen haben. Vielleicht tauchte der flüchtige Gedanke in ihm auf, daß in seiner Nähe eine glückliche Heimat lag, die er in seiner anmaßenden Starrheit übersah und der er auswich, bis er völlig in der Irre war.
Eine einfache Beredsamkeit, nicht in Worten auszudrücken, lag in ihren Blicken, obschon er selbst nicht wußte, daß er sie schon einmal vernommen hatte: »Bei den Sterbebetten, an denen ich stand, bei meiner kummervollen Kindheit, bei unserm mitternächtlichen Zusammentreffen in diesem traurigen Hause, bei dem Schrei, der sich mir in der Beklommenheit meines Herzens entrang, beschwöre ich dich, o Vater, kehre dich zu mir und suche eine Zuflucht in meiner Liebe, ehe es zu spät ist.« Das ahnte er vielleicht in diesen Augenblicken, die möglicherweise auch aus gemeineren Gedanken stammten, nämlich daß etwa sein toter Knabe jetzt durch neue Bande ersetzt sei und er nunmehr vergeben könne, wenn er durch sie aus dessen Liebe verdrängt wurde. Denkbar, daß auch schon der Gedanke, daß sie unter dem vielen Pomp, der ihn umgab, eine weitere Zierde sein könne, ausschlaggebend war. Kurz, je mehr er sie betrachtete, desto milder wurde er gegen sie gestimmt. Sie verschmolz vor seinen Blicken mit dem Kinde, das er geliebt hatte, und er konnte die beiden kaum mehr trennen. Vorübergehend erschien sie ihm in einem klareren, helleren Lichte, nicht als seine Nebenbuhlerin – o des ungeheuerlichen Gedankens – über den Pfühl jenes Kindes gebeugt, sondern als der Schutzgeist seiner Heimat, der sich nicht weniger zärtlich an ihn anzuschmiegen wünschte, als er ein anderes Mal mit aufgestütztem Haupt zu den Füßen des kleinen Bettes saß. Er fühlte einen Antrieb, mit ihr zu sprechen und sie zu sich zu rufen. Die Worte: »Florence, komm her!« drängten sich – freilich nur langsam und mit Schwierigkeit, da sie ihm so gar fremd waren – schon zu seinen Lippen, als sie durch einen Fußtritt auf der Treppe wieder zurückgehalten und erstickt wurden.
Es war der seiner Gattin. Sie hatte den Anzug für die Tafel gegen ein leichtes Nachtgewand vertauscht, und das aufgelöste Haar wallte frei um ihren Nacken. Doch dies war nicht die Veränderung an ihr, die ihn betroffen machte. »Meine liebe Florence«, sagte sie, »ich habe dich überall gesucht.«
Sie setzte sich neben Florence nieder, neigte das Haupt und küßte ihre kleine Hand. Seine Gattin war so sehr verändert, daß er sie kaum mehr kannte. Nicht bloß, daß ihm ihr Lächeln neu war, obschon er es nie zuvor gesehen, sondern ihr Wesen, der Ton ihrer Stimme, das Licht ihrer Augen, die Teilnahme, das Vertrauen und der Wunsch, der sich in allem ausdrückte, einen gewinnenden Eindruck zu machen – nein, dies war nicht Edith.
»Leise, liebe Mama. Papa schläft.«
Jetzt war es wieder Edith.
Sie schaute nach der Ecke hin, wo er saß – ja dieses Gesicht und diese Haltung kannte er sehr gut.
»Ich hätte nicht gedacht, dich hier zu finden, Florence.«
Wieder, wie verändert, wie sanft – und das in einem Augenblick.
»Ich bin früh aufgebrochen«, fuhr Edith fort, »um noch eine Weile mit dir zusammenzusitzen und zu sprechen. Aber als ich auf dein Zimmer kam, war mein Vögelchen ausgeflogen, und ich wartete seitdem dort auf seine Rückkehr.«
Wenn Florence wirklich ein Vögelchen gewesen wäre, so hätte sie es nicht zärtlicher und sanfter an ihre Brust drücken können.
»Komm, meine Liebe!«
»Ich denke, Papa wird mich nicht mehr erwarten, wenn er erwacht«, versetzte Florence zögernd.
»Glaubst du, er werde Florence?« sagte Edith, sie voll ansehend.
Florence senkte den Kopf, erhob sich und nahm ihr Arbeitskörbchen auf. Edith legte die kleine Hand in ihren Arm, und sie verließen das Gemach wie zwei Schwestern. Sogar ihr Fußtritt kam Mr. Dombey anders und so ganz neu vor, als seine Augen ihr nach der Tür folgten.
Er blieb in seinem schattigen Winkel so lange sitzen, daß die Kirchturmuhren noch dreimal die Stunde ausriefen, ehe er sich in jener Nacht von der Stelle bewegte. Diese ganze Zeit über blieb sein Gesicht angelegentlich dem Platz zugekehrt, wo Florence gesessen hatte. Die Lichter brannten herab und erloschen; das Zimmer wurde dunkel, aber um sein Gesicht breitete sich ein Düster, das das der Nacht noch übertraf.
In dem abgelegenen Gemache, wo der kleine Paul gestorben war, saßen Florence und Edith vor dem Feuer und sprachen noch lange miteinander. Diogenes, der auch dabei war, erhob anfangs Einwürfe dagegen, daß Edith zugelassen war. Dann fügte er sich aus gewohnter Unterwürfigkeit dem Wunsch seiner Gebieterin, nur mit knurrendem Protestieren. Hin und wieder aus dem Vorzimmer hereinguckend, wohin er zur Strafe verwiesen worden, schien er übrigens bald zu begreifen, daß er in der anerkennenswertesten Absicht einen von jenen Mißgriffen begangen habe, deren sich bisweilen die beste Hundeseele schuldig macht. Deshalb pflanzte er sich in freundlicher Abbitte an einem sehr heißen Platz vor dem Feuer zwischen den beiden auf. Da blieb er denn mit heraushängender Zunge und einem sehr schüchternen Gesichtsausdruck keuchend sitzen, um der Unterhaltung zuzuhören.
Sie drehte sich anfänglich um Florences Bücher, ihre Lieblingsbeschäftigungen und um die Art, wie sie seit dem Hochzeitstag ihre Zeit verbracht hatte. Dies führte auf einen Gegenstand, der dem Mädchen sehr nahe am Herzen lag, und sie sagte unter hervorquellenden Tränen:
»O, Mama, ich bin seit jener Zeit in große Trauer versetzt worden.«
»Du, in große Trauer, Florence?«
»Ja. Der arme Walter ist ertrunken.«
Florence breitete ihre Hände vor das Gesicht und weinte aus tiefstem Herzen. Wie viele Tränen hatte ihr nicht Walters Tod im geheimen bereitet; und sie flossen noch immer, wenn sie an ihn dachte oder von ihm sprach.
»Aber sage mir, meine Liebe«, entgegnete Edith, sie beschwichtigend, »wer war Walter, und was war er dir?«
»Er war mir ein Bruder, Mama. Als der liebe Paul starb, sagten wir uns, wir wollten Bruder und Schwester sein. Ich habe ihn lange vorher gekannt – von Kindheit an. Er kannte Paul, der ihn sehr liebte, und fast mit seinem letzten Atem sagte Paul noch: ›Vergeßt Walter nicht, lieber Papa! er ist mir lieb gewesen!‹ Walter wurde herbeigeholt, damit er ihn noch einmal sehe, und er war damals hier – in diesem Zimmer.«
»Und hat er Walter nicht vergessen?« fragte Edith ernst.
»Papa? Er bestimmte ihn für eine Reise übers Meer. Das Schiff ging unter, und er ertrank«, sagte Florence schluchzend.
»Ist ihm bekannt, daß er tot ist?« fragte Edith.
»Ich weiß es nicht, Mama. Wie sollte ich auch? Liebe Mama«, rief Florence, gleichsam Hilfe suchend, sich an sie anklammernd und ihr Antlitz an ihrem Busen verbergend, »ich weiß, Ihr habt gesehen –«
»Halt – halt, Florence!« Edith wurde so blaß und sprach so angelegentlich, daß sie nicht nötig gehabt hätte, ihre Hand auf Florences Lippen zu legen, »Erzähle mir zuerst alles von Walter, damit ich klar sehe in dieser Geschichte.«
Florence erstattete ihren Bericht bis zu der Freundschaft des Mr. Toots herunter, von dem sie sogar in ihrem Kummer kaum ohne ein tränenvolles Lächeln sprechen konnte, obschon sie sich ihm zu tiefem Dank verpflichtet fühlte. Edith hielt während der ganzen Mitteilung die Hand der Sprecherin in der ihren und hörte mit großer Aufmerksamkeit zu. Als Florence geendet, folgte ein Schweigen, das sie mit den Worten unterbrach:
»Was meinst du, das ich gesehen haben soll, Florence?«
»Daß ich«, entgegnete Florence mit derselben stummen Berufung und dem nämlichen raschen Verbergen ihres Gesichts, wie früher – »daß ich kein begünstigtes Kind bin, Mama. Ich war es nie und wußte es nie recht anzufangen, um es zu werden. Ich habe den Weg verfehlt, und es stand mir niemand zur Seite, der mir ihn wies. O laßt mich von Euch lernen, was ich tun muß, um meinem Papa lieber zu werden. Lehrt mich es – Ihr, die Ihr Euch so gut darauf versteht.«
Florence, die sich nun ihres traurigen Geheimnisses entladen sah, schmiegte sich mit einigen gebrochenen Worten glühenden liebevollen Dankes an ihre neue Mutter und weinte lange, obschon nicht so schmerzlich, wie früher, in deren Armen.
Blaß bis in die Lippen und mit einem Antlitz, das um Fassung rang, bis die stolze Schönheit desselben so starr wurde, wie der Tod, blickte Edith auf das weinende Mädchen nieder und küßte es abermals. Dann machte sie sich allmählich los und drängte Florence zurück. Ihre Haltung gewann die stolze Ruhe eines Marmorbildes, und sie erwiderte mit einer Stimme, die während des Sprechens wohl tiefer wurde, aber kein anderes Zeichen von Erregung kundgab:
»Florence, du kennst mich nicht! Verhüte der Himmel, daß du von mir lernen solltest.«
»Nicht von Euch lernen?« erwiderte Florence überrascht.
»Gott sei vor, daß ich dich lehre, wie man lieben oder geliebt werden muß!« sagte Edith. »Wenn du es mich lehren könntest, so wäre es wohl besser; aber es ist zu spät. Du bist mir so lieb, Florence. Ich hätte nicht geglaubt, daß mir irgend etwas je so lieb werden könnte, wie du mir es schon nach so kurzer Zeit bist.«
Sie bemerkte, daß Florence sprechen wollte, weshalb sie ihr mit der Hand Einhalt tat und fortfuhr:
»Ich will dir stets eine treue Freundin sein – will dich ebenso sehr, wenn auch nicht so gut pflegen, wie nur irgend jemand in dieser Welt es könnte. Du darfst mir vertrauen – ich weiß es, und sage es deshalb, mein liebes Kind – mit der ganzen Zuversicht deines reinen Herzens. Es gibt eine Menge von Frauen, die er hätte heiraten können und die in jeder andern Beziehung besser und zuverlässiger gewesen wären, als ich, Florence. Aber gewiß ist nicht eine vorhanden, deren Herz, wenn sie als seine Gattin hierhergekommen wäre, mit innigerer Treue für dich geschlagen haben würde, als das meine.«
»Ich weiß es, liebe Mama!« rief Floren«. »Von jenem ersten überglücklichen Tage an habe ich es gewußt.«
»Überglücklichen Tag?« Edith schien die Worte unwillkürlich zu wiederholen und fuhr dann fort: »Obschon mir dabei kein Verdienst zukommt, da ich nur wenig an dich dachte, bis ich dich sah, so laß mich doch den unverdienten Lohn in deinem Vertrauen und in deiner Liebe finden. Ich bitte dich darum, Florence, in der ersten Nacht, die ich hier zubringe. Ich habe meine guten Gründe, dir das zum ersten- und zum letztenmal zu sagen.«
Ohne zu wissen, warum, fürchtete sich Florence fast, ihren weiteren Worten zu folgen; sie verwandte jedoch kein Auge von dem schönen Gesicht, das stets dem ihrigen zugekehrt war.
»Suche nicht, in mir zu finden«, sagte Edith, die Hand auf ihre Brust legend, »was nicht hier ist. Wenn du anders kannst, Florence, so falle nicht von mir ab, weil es nicht hier ist. Du wirst mich allmählich besser kennenlernen, und die Zeit ist wohl nicht fern, in der du mich erkennen wirst, wie ich mich selbst erkenne. Sei dann so mild gegen mich, wie es dir möglich ist, und verwandle nicht die einzige süße Erinnerung, die mir bleiben wird, in Bitterkeit.«
Die Tränen, die in den sich nicht von Florence abwendenden Augen sichtbar wurden, zeigten, daß das ruhige Gesicht nur eine schöne Maske war. Sie behielt diese jedoch bei und fuhr fort:
»Ich habe in der Tat gesehen, was du andeutest, und weiß, wie wahr es ist. Aber glaube mir – du wirst es bald lernen, wenn du es nicht jetzt schon weißt –, auf der ganzen Erde ist niemand weniger geeignet, die Rolle einer Vermittlerin zu übernehmen, oder dir zu helfen, Florence, als ich. Frage mich nicht um den Grund – sprich nie mehr mit mir hiervon oder über meinen Mann. Wir können hier nie einen Sinnes werden, und es muß darüber zwischen uns beiden ein Schweigen herrschen, wie das des Grabes.«
Sie blieb eine Weile stumm, und Florence wagte kaum zu atmen, da trübe, unvollkommene Schatten der Wahrheit mit ihren alltäglichen Folgen in ihrer erschreckten, aber noch immer ungläubigen Einbildungskraft Schlag auf Schlag vorbeihuschten. Kaum aber hatte Edith zu sprechen aufgehört, als ihr Gesicht wieder den ruhigeren, sanften Ausdruck gewann, den es gewöhnlich zeigte, wenn sie und Florence allein waren. Sie verhüllte jetzt ihr Antlitz mit den Händen, stand auf, sagte Florence mit einer liebevollen Umarmung gute Nacht und entfernte sich rasch, ohne sich noch einmal umzuschauen. Als jedoch Florence im Bette lag und im Zimmer nur noch die Glut des fast erloschenen Feuers einiges Licht verbreitete, kehrte Edith zurück. Sie könne nicht schlafen, sagte sie, und in ihrem Ankleidezimmer sei es so einsam. Sie rückte deshalb einen Stuhl vor den Kamin und sah den ersterbenden Fünkchen zu. Florence tat das gleiche von ihrem Bett aus, bis der letzte Schimmer davon und die edle Gestalt davor mit ihrem herabfließenden Haar und den gedankenvollen Augen, die das Licht widerstrahlten, wirr und unbestimmt wurden, um sich endlich in ihrem Schlummer ganz zu verlieren.
Aber auch im Schlafe haftete an Florence ein unbestimmter Eindruck dessen, was kürzlich vorgegangen war. Er bildete den Gegenstand ihrer Träume und umspukte sie bald in einer, bald in einer andern Gestalt, aber stets beklemmend und Furcht einflößend. Es träumte ihr, sie suche ihren Vater in Wildnissen; sie folge seiner Spur nach Entsetzen erregenden Höhen hinauf, und in tiefe Gruben und Höhlen hinunter. Es liege ihr etwas Unbestimmtes auf dem Herzen, womit sie ihm ein außerordentliches Leiden abnehmen könne, obschon sie – der Grund davon wurde ihr nicht klar – nie das Ziel zu erreichen und ihn zu befreien vermochte. Dann sah sie ihn tot auf demselben Bett, in demselben Zimmer, mit dem Bewußtsein, daß er sie bis zum letzten Augenblick nie geliebt habe, und unter leidenschaftlichen Tränen sank sie an seine kalte Brust. Eine Aussicht tat sich vor ihr auf mit einem strömenden Fluß, und sie hörte eine ihr bekannte, klägliche Stimme rufen: »Er läuft fort, Floy! Er hat nie haltgemacht! Du schwimmst mit ihm!« Und sie sah ihn in der Ferne, wie er seine Arme nach ihr ausstreckte, während eine Gestalt, der Walters ähnlich, lautlos und in schauerlicher Ruhe an seiner Seite stand. Jedem dieser Gesichte gesellte sich Edith hinzu – das eine Mal ihr zur Freude, das andere Mal ihr zum Schmerz, bis sie allein nebeneinander standen an dem Rand eines schwarzen Grabes. Edith deutete darauf nieder. Sie sah hinab und erblickte – was? – eine andere Edith auf dessen Grund!
In ihrem Schrecken über diesen Traum schrie sie laut hinaus und erwachte – so glaubte sie wenigstens. Eine sanfte Stimme schien ihr ins Ohr zu flüstern: »Florence, liebe Florence, es ist nur ein Traum!« Ihre Arme ausstreckend, erwiderte sie die Liebkosungen ihrer Mama, die sodann zur Tür hinausging in das Licht des grauen Morgens. Florence richtete sich für einen Augenblick auf und machte sich Gedanken, ob das Wirklichkeit gewesen war oder nicht. Sie konnte nur ermitteln, daß der Morgen in der Tat dämmerte, daß in dem Kamin schwarze Asche lag, und daß sie allein war.
So entschwand die Nacht nach der Ankunft des glücklichen Paares in der Heimat.
Sechsunddreißigstes Kapitel. DER OFFIZIELLE EINZUGSSCHMAUS.
Viele der folgenden Tage verliefen in der gleichen Weise, nur mit der Ausnahme, daß allerlei Besuche gemacht und angenommen wurden, daß Mrs. Skewton in ihrem Zimmer kleine Morgenempfänge hielt, bei denen sich Major Bagstock sehr fleißig einstellte, und daß Florence dem Blicke ihres Vaters nicht wieder begegnete, obschon sie ihn jeden Tag sah. Florence hatte auch nicht viel mündlichen Verkehr mit ihrer neuen Mama, die – wie ihr nicht entgehen konnte – sich gegen jeden im Hause stolz und herrisch benahm, nur nicht gegen unsere Freundin, da Edith, sooft sie ausging oder von Besuchen zurückkehrte, sie entweder rufen ließ oder selbst aufsuchte. Auch versäumte die neue Mutter nicht, jede Gelegenheit zu benützen, um in Florences Gesellschaft zu sein, wie sie denn auch bis in die späte Nacht hinein gern in ihrem Zimmer verweilte, obschon sie oft stundenlang schweigend und gedankenvoll nebeneinander saßen.
Florence, die sich so viel von dieser Heirat versprochen hatte, konnte nicht umhin, da« prunkvolle Haus zuweilen mit dem düsteren, traurigen Platz zu vergleichen, aus dem es sich erhoben hatte. Sie fragte sich verwundert, wann es denn irgend endlich einmal anfangen werde, eine Heimat zu sein. Denn es war stets für sie ein Gegenstand geheimer Besorgnis, daß es jetzt, obschon alles regelmäßig und üppig herging, nicht so genannt werden könne. Die so kräftig abgegebene Versicherung ihrer neuen Mama, daß niemand auf Erden unfähiger sei, sie zu lehren, wie sie das Herz ihres Vaters gewinnen solle, bereitete ihr, sowohl bei Tag wie bei Nacht, manche Stunde kummervollen Nachdenkens, und ihre Tränen strömten ob der vernichteten Hoffnung. Und sobald Florence zu erwägen begann – zu erwägen sich vornahm, würde wohl der passendere Ausdruck sein – daß niemand so gut wissen könne als sie, wie hoffnungslos es sei, die Kälte des Vaters zu mildern oder umzuwandeln, – so mußte sie wohl auch zu dem Schlüsse kommen, Edith habe ihr nur aus Mitleid untersagt, über diesen Gegenstand mit ihr zu sprechen. Wie in allem ihr Tun und Denken frei von aller Selbstsucht war, zog sie es vor, lieber den Schmerz dieser neuen Wunde zu ertragen, als ihrem Vater auch nur im mindesten diesen Kummer zu offenbaren, und sie bewahrte ihm ihre ganze Zärtlichkeit selbst in ihrem rastlosen Grübeln. Was seine Heimat betraf, so hoffte sie, es werde damit besser werden, wenn er sich einmal an die Neuheit gewöhnt habe; für sich selbst aber dachte sie nicht viel darüber nach und klagte noch weniger.
Wenn es auch in der neuen Familie nicht sehr heimisch zuging, so beschloß doch Mrs. Dombey energisch, daß es wenigstens nach außen einen andern Anschein gewinne. Zur Feier der kürzlich begangenen Vermählung und zur Erweiterung des gesellschaftlichen Kreises wurde eine Reihe von Festmahlen angeordnet, die der Übereinkunft gemäß damit beginnen sollten, daß Mrs. Dombey an einem gewissen Abend zu Hause blieb, und Mr. und Mrs. Dombey für solchen Tag sich die Ehre vieler, sehr wenig zusammenstimmender Personen zu einem Diner erbaten.
Demgemäß fertigte Mr. Dombey eine Liste von allerlei Größen des östlichen Stadtteils an, die um seinetwillen zu dem Feste eingeladen wurden. Dagegen fügte entsprechend Mrs. Skewton im Namen ihres lieben Kindes, das sich in seinem Stolz um dergleichen Dinge nicht bekümmerte, eine Liste für den Westen bei. Auf dieser stand nun auch Vetter Feenix, der zum großen Nachteil für sein persönliches Besitztum noch immer nicht nach Baden-Baden zurückgekehrt war. Daneben viele Motten von verschiedenem Rang und Alter, die vordem um das Licht ihrer schönen Tochter oder um ihr eigenes hergeflattert waren, ohne dabei für ihre Flügel einen bedeutenden Schaden zu nehmen. Auf Ediths Befehl, der Folge eines augenblicklichen Zweifelns und Zauderns von seiten Mrs. Skewton, mußte auch Florence unter die Teilnehmer eingereiht werden, und das arme Mädchen leistete mit stummer Verwunderung Folge, da ihr instinktartiges Gefühl sie schnell über das belehrte, was ihren Vater auch nur im mindesten unangenehm berühren konnte.
Die Feierlichkeit nahm damit ihren Anfang, daß Mr. Dombey in einer ungemein hohen und steifen Halsbinde bis zu der für das Diner anberaumten Stunde in dem Besuchszimmer unablässig hin und her ging. Pünktlich wie die Uhr erschien zuerst ein Direktor der ostindischen Kompanie von unermeßlichem Reichtum in einer fast brettartigen Nankingweste und wurde von Mr. Dombey empfangen. Zunächst ließ Mr. Dombey ebenso pünktlich Mrs. Dombey seine Empfehlungen ausrichten und sie ersuchen, zum Empfang der Gäste zu erscheinen. Da jetzt der Direktor nicht wußte, was er sagen sollte, und Mr. Dombey auch nicht in der Lage war, ein Gespräch zu unterhalten, so starrte dieser große Mann nach dem Feuer hin, bis in der Person von Mrs. Skewton Hilfe nahte. Als erfreulicher Anlauf für den Abend hielt der Direktor diese Dame irrtümlicherweise für Mrs. Dombey und begrüßte sie mit Begeisterung.
Der weiterhin Erscheinende war ein Bankdirektor, der im Rufe stand, alles aufkaufen zu können – sogar die ganze menschliche Natur, wenn er es sich je in den Kopf setzen sollte, seinen Einfluß nach dieser Richtung des Geldmarktes auszudehnen. Zwar tat er fast großsprecherisch bescheiden von seinem »kleinen Häuslein« zu Kingston über der Themse in einer Weise, als sei es kaum imstande, Mr. Dombey ein Bett und ein Hammelrippchen zu bieten, wenn dieser einmal auf Besuch hinkäme. Für einen Mann von seiner ruhigen Lebensweise, sagte er, passe es zwar nicht, Damen einzuladen. Falls aber Mrs. Skewton und ihre Tochter, Mrs. Dombey, je in die Gegend kämen und ihm die Ehre erweisen wollten, das bißchen Gesträuch, das sie daselbst finden würden, ein armes, kleines Blumenbeet und dergleichen, einen dürftigen Anflug von Fichtengehölz und zwei oder drei ähnliche anspruchslose Versuche zu beaugenscheinigen, so würde er dieses als große Auszeichnung betrachten. Im Einklang mit seinem Charakter war dieser Herr sehr einfach gekleidet; denn er trug nur eine dünne Halsbinde, große Schuhe, einen viel zu weiten Rock und ein Paar knappe Beinkleider. Auch erklärte er, als Mrs. Skewton auf die Oper anspielte, daß er sie nur sehr selten besuche, weil er es nicht erschwingen könne. Derartige Äußerungen schienen ihm große Freude zu machen; denn während er mit den Händen in der Tasche dastand, strahlte sein Gesicht dem Hörerkreis zu, und in dem Blinzeln seiner Augen gab sich ungemeine Selbstzufriedenheit kund.
Nun erschien Mrs. Dombey, schön, stolz, und dabei den bereits Anwesenden einen Blick trotziger Verachtung zuwerfend, als sei der bräutliche Kranz auf ihrem Haupt eine Krone von Lanzenspitzen, ihr aufgesetzt, um ihr ein Zugeständnis abzuringen, dem sie nicht nachzugeben beschlossen hatte, und wenn es ihr das Leben kostete. Sie führte Florence an ihrer Hand. Als sie miteinander eintraten, verdunkelte der Schatten aus der Nacht nach der Rückkehr wieder Mr. Dombeys Gesicht, obschon unbemerkt. Florence wagte es nämlich nicht, ihre Augen zu den seinen zu erheben, und Edith zeigte sich zu gleichgültig, um auch nur im mindesten auf ihren Gatten zu achten.
Die Gäste stellten sich jetzt rasch nacheinander in großer Anzahl ein. Noch mehr Direktoren, Präsidenten öffentlicher Kompanien, ältere Damen, die ganze Lasten von Putz auf ihren Köpfen trugen, Vetter Feenix, Major Bagstock und unterschiedliche Freundinnen von Mrs. Skewton mit demselben jugendlichen Anstrich und sehr kostbaren Kolliers um ihren welken Hals. Unter diesen befand sich eine junge Dame von Fünfundsechzig, die, was Rücken und Schultern betraf, merkwürdig leicht gekleidet war. Sie sprach stets mit einem gewinnenden Lispeln, konnte ihre Augenlider nicht ohne große Mühe offen erhalten und zeigte in ihrem ganzen Wesen jenen unbeschreiblichen Zauber, der so häufig in dem Schwinden der Jugend liegt. Da der größere Teil von Mr. Dombeys Liste sehr schweigsam und der größere Teil von Mrs. Dombeys Liste sehr zum Reden geneigt war, so konnte natürlich keine sonderliche Sympathie zwischen den beiden Partien herrschen. Deshalb schloß Mrs. Dombeys Liste, wie infolge eines gemeinsamen heimlichen Einverständnisses, einen Bund gegen Mr. Dombeys Liste, die auf den einsamen Wanderungen durch die Zimmer oder in ihren Zufluchtswinkeln von der hereinkommenden Gesellschaft verstrickt, hinter Sofas verbarrikadiert, durch rasch von außen geöffnete Türen mit derben Kopfnüssen heimgesucht und jeder Art von Ungemach ausgesetzt wurde.
Das Aufgebot zum Diner erfolgte. Mr. Dombey reichte einer alten Dame, die wie ein mit Banknoten bestecktes, rotsamtenes Nadelkissen aussah und um ihres Reichtums und ihrer unverträglichen Miene willen wohl die alte Lady von Threadneedle-Street (die englische Bank) hätte vorstellen können, den Arm. Vetter Feenix gesellte sich zu Mrs. Dombey. Major Bagstock geleitete Mrs. Skewton. Das junge Ding mit den nackten Schultern wurde als Ordensschmuck dem Direktor der ostindischen Kompanie verliehen, und die übrigen Damen mußten vor den im Besuchzimmer zurückgebliebenen Herren Parade machen, bis je eine verlorene Hoffnung sich erbot, sie nach dem Speisezimmer hinunterzuführen, wo diese Wackeren mit ihren schönen Gefangenen die Tür versperrten, so daß sich sieben weniger kühne Männer in die hartherzige Halle hinausgeschlossen sahen. Nachdem alle übrigen Gäste noch eingetreten waren und Platz gefunden hatten, tauchte einer von ihnen lächerlich verwirrt auf und mußte von dem Oberkellner zweimal um die Tafel herumgeführt werden, ehe sich sein Stuhl auffinden ließ. Zuletzt entdeckte man diesen links von Mrs. Dombey, und der linkische Mann fühlte sich durch besagte Einführung dermaßen eingeschüchtert, daß er die ganze Zeit über seinen Kopf nicht wieder erhob.
Der geräumige Speisesaal mit der um die glänzende Tafel herumsitzenden Gesellschaft, die sich emsig mit den blanken Löffeln, Messern, Gabeln und Tellern beschäftigte, hätte für eine groß gewordene Schaustellung von Tom-Tittler-Reliefs angesehen werden können, wo Kinder auf Gold und Silber sich gütlich tun. Mr. Dombey als Tittler nahm sich in dieser Rolle bewunderungswürdig aus, und der lange Tafelaufsatz zwischen ihm und Mrs. Dombey, auf dem plastisch dargestellte herzlose Liebesgötter ihnen geruchlose Blumen darboten, ward hier zu einem recht passenden Symbol.
Vetter Feenix zeigte sich in voller Kraft und erstaunlich jugendlich. Trotzdem wurde er in seiner guten Stimmung bisweilen gedankenlos: denn sein Gedächtnis war hin und wieder so unstet, wie seine Beine, und bei einer dieser Gelegenheiten flößte er der Gesellschaft einen wahren Schauder ein. Das geschah folgendermaßen. Die junge Lady mit dem entblößten Rücken, die mit Vetter Feenix zärtliche Gefühle unterhielt, hatte den Direktor der ostindischen Kompanie dazu verleitet, sie nach dem Stuhl neben ihm zu führen. Zum Dank für diesen Dienst gab sie augenblicklich ihren Geleitsmann auf, so daß dieser, der nun auf der andern Seite von einem düsteren, schwarzen Samthut über einem knöchernen, schweigsamen Frauenzimmer mit einem Fächer beschattet wurde, trostlos sich in sich selbst zurückzog. Vetter Feenix und die junge Dame waren sehr lebhaft und launig; dabei lachte letztere über etwas, was ihr Vetter Feenix erzählt hatte, so sehr, daß Major Bagstock im Auftrag der Mrs. Skewton (diese saß etwas weiter unten dem Paare gegenüber) sich die Frage erlaubte, ob der erheiternde Gegenstand nicht Gemeingut werden könne.
»Ei, bei meinem Leben«, sagte Vetter Feenix, »es ist nichts daran – nicht der Mühe wert, es zu wiederholen – in Wahrheit nur eine Anekdote von Jack Adams. Ohne Zweifel erinnert sich mein Freund Dombey« – denn die allgemeine Aufmerksamkeit war jetzt Vetter Feenix zugewendet – »des Jack Adams, des Jack Adams, nicht des Joe; denn dieser war sein Bruder. Jack – der kleine Jack – Mann mit schielendem Auge und einem leichten Hindernis in seiner Sprache – Mann, der für den Flecken eines andern im Parlament saß. Vielleicht hat mein Freund Dombey den Mann gekannt?«
Mr. Dombey hätte wohl ebensogut sich der Bekanntschaft des Guy Fawkes Guy Fawkes (1570–1606), als Haupt der sogenannten Pulververschwörung hingerichtet. rühmen können und antwortete daher mit Nein. Aber einer von den anwesenden Kavalieren konnte sich rühmen, er habe ihn gekannt, und dazu bemerken: »Er trug immer hessische Stiefel!«
»Ganz richtig«, entgegnete Vetter Feenix und sah sich den Kavalier ermunternd genauer an. »Dies war Jack. Joe trug –«
»Stulpen!« rief der Kavalier, der mit jedem Augenblick mehr in der öffentlichen Achtung stieg.
»Natürlich«, versetzte Vetter Feenix. »Ihr wart mit ihnen bekannt?«
»Jawohl; mit beiden«, sagte der Kavalier, dem jetzt Mr. Dombey zuprostete.
»Verdammt guter Kerl, der Jack?« fuhr Vetter Feenix fort, indem er sich abermals vorbeugte und lächelte.
»Ausgezeichnet«, entgegnete der Kavalier. »Einer der besten Burschen, die ich je kennenlernte.«
»Ohne Zweifel habt Ihr die Geschichte gehört?« fragte Vetter Feenix.
»Ich werde sie erfahren, wenn Eure Herrlichkeit zur Mitteilung geneigt ist«, erwiderte der Kavalier, lehnte sich in seinem Stuhl zurück und lächelte nach der Decke hinauf, als wisse er sie bereits auswendig und freue sich schon von vornherein darauf.
»In Wahrheit. Es ist eigentlich nichts an der Sache«, sagte Vetter Feenix, lächelnd und mit lebhaftem Kopfschütteln sich an die Tischgesellschaft wendend, »und es bedarf daher keines Vorworts. Aber es ist bezeichnend für Jacks artige Einfälle. Die Sache verhält sich so, daß Jack zu einer Hochzeit eingeladen wurde, die, glaube ich – in Barkshire stattfinden sollte?«
»Shropshire«, warf der Kavalier ein.
»Wirklich? – gut! In der Tat, es könnte auch in was immer für einem Shire geschehen sein«, fuhr Vetter Feenix fort. »Mein Freund also, der zu dieser Hochzeit in jenem Shire eingeladen ist, geht – geradeso wie jeder von uns, der mit einer Einladung zu der Hochzeit meiner lieblichen und begabten Verwandten mit meinem Freund Dombey beehrt wurde, nicht zweimal sich hätte nötigen lassen. Er war verdammt froh, an einer so interessanten Angelegenheit teilzunehmen, und geht – Jack geht. Diese Hochzeit war in der Tat die Verbindung eines ungemein schönen Mädchens mit einem Herrn, um den sie sich keinen Strohhalm kümmerte und den sie nur wegen seines unermeßlichen Vermögens genommen hatte. Als Jack nach den Trauungsfeierlichkeiten wieder in London anlangte, begegnete ihm in der Vorhalle des Unterhauses ein Bekannter und sagte zu ihm: ›Jack, das ist in der Tat eine schlimme Geschichte, ein schlimmes Geschäft‹. ›Ein schlimmes Geschäft?‹ versetzte Jack. ›Durchaus nicht. Mir erscheint es vollkommen ehrlich und einwandfrei. Sie ist regelmäßig gekauft, und Ihr könnt darauf schwören, daß er ebenso regelmäßig verkauft ist!‹«
Vetter Feenix freute sich noch über diesen Glanzpunkt in seiner Geschichte, als ihm mit einemmal der Schauder, der wie ein elektrischer Funke am Tisch umhersprang, auffiel. Er hielt inne. Auf keinem Gesicht lockte dieser einzige allgemeine Unterhaltungsgegenstand, der soeben zur Sprache kam, ein Lächeln hervor. Es folgte ein tiefes Schweigen, und der vernichtete Kavalier, der von der bevorstehenden Geschichte so wenig eine Ahnung gehabt hatte wie ein neugeborenes Kind, mußte den Jammer erfahren, daß ein jedes Auge ihn als den Urheber dieser Unbesonnenheit anzusehen schien.
Mr. Dombeys Gesicht war nicht wandlungsfähig und beharrte in seiner gußeisernen Stattlichkeit. Die Erzählung schien auf ihn durchaus keinen Eindruck zu machen und ihn zu nichts Weiterem anzuregen, als daß er mitten in dem Schweigen feierlich sagte: »Sehr gut.«
Edith entsandte einen hastigen Blick nach Florence hin, bewahrte aber in ihrem Äußeren eine ruhige, gleichgültige Miene.
Durch die verschiedenen Stadien von köstlichen Speisen und Weinen, ewigem Gold und Silber, Leckereien aus Erde, Feuer, Luft und Wasser, aufgehäuften Früchten und jenem bei Mr. Dombeys Banketten so unnötigen Artikel, dem Eis, nahm das Diner langsam seinen Fortgang und wurde namentlich während seiner späteren Abschnitte durch die volltönige Musik von unablässigen Türschlägen begleitet – die Ankündigung von weiteren Gästen, deren Anteil an dem Mahl sich auf den Geruch davon beschränkte. Als Mrs. Dombey aufstand, war es in der Tat ein merkwürdiges Schauspiel, mit anzusehen, wie ihr Herr mit steifem Hals und aufrechtem Kopf für den Abzug der Damen die Tür offenhielt, während sie, dessen Tochter an ihrem Arme, an ihm vorbeirauschte.
Wie denkmalmäßig nahm sich nicht Mr. Dombey hinter den Flaschen aus! Der Direktor der ostindischen Kompanie saß wie in einer Einöde verloren an dem jetzt fast unbesetzten Tisch. Der Major war ganz Militär und erzählte den übrigen Kavalieren (der ehrgeizige war nämlich ganz ausgetilgt) Geschichten von dem Herzog von York. Der Bankdirektor, der sich gar gering ausnahm, entwarf für eine Gruppe von Bewunderern mit Dessertmessern einen Riß von seinem dürftigen Fichtenanflug, und Vetter Feenix, in Gedanken vertieft, glättete seine langen Manschetten und rückte verstohlen seine Perücke zurecht. Welchen Anblick übrigens alle diese Gentlemen bieten mochten – er war nur von kurzer Dauer, da er bald durch den Kaffee unterbrochen wurde, nach dem sie insgesamt das Speisezimmer verließen.
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Das Gewühl in den Staatsgemächern oben vermehrte sich mit jeder Minute. Aber noch immer schien sich Mr. Dombeys Gästeliste unmöglich mit der von Mrs. Dombey harmonisch bilden zu können, so daß es bei keiner der anwesenden Personen zweifelhaft blieb, zu welcher von beiden sie gehörte. Die einzige Ausnahme von dieser Regel machte vielleicht Mr. Carker, der in der Gesellschaft umherlächelte. Er beobachtete in dem Kreise, der sich um Mrs. Dombey gesammelt hatte, diese selbst, ihre Umgebung, seinen Chef, Kleopatra und den Major, Florence und alle im Saal aufs genaueste. Augenscheinlich überwand er die gesellschaftliche Spaltung mit großer Leichtigkeit, und es war ihm nicht anzumerken, daß er es ausschließlich mit der einen oder der andern hielt.
Florence fürchtete sich vor ihm, und seine Anwesenheit lastete wie ein Alp auf ihr. Sie konnte sich dieses Gefühls nicht erwehren; denn ihre Augen wurden durch die Abneigung und das Mißtrauen, die zu überwinden sie außerstande war, stets nach ihm hingezogen. Gleichwohl waren ihre Gedanken mit andern Dingen beschäftigt. Sie saß nämlich, obschon nicht unbewundert und unaufgesucht, beiseite und fühlte in der Zartheit ihrer stillen Seele wohl, wie wenig Anteil ihr Vater an allem nahm, was vorging. Mit Schmerz bemerkte sie, wie unbehaglich ihm dieses Treiben zu sein schien und wie wenig er, während er sich in der Nähe der Tür aufhielt, wegen jener Gäste bewundert wurde, die er dadurch besonders auszuzeichnen wünschte, daß er sie seiner Gattin vorstellte. Diese begrüßte dieselben mit stolzer Kälte, ohne dabei eine Spur von Teilnahme oder Liebenswürdigkeit zu zeigen. Nachdem die kahle Zeremonie des Empfangs vorüber war, blieben ihre Lippen verschlossen und fanden kein weiteres Wort des Willkommens für seine Freunde oder des Eingehens auf seine Wünsche. Nicht weniger verwirrend und peinlich wurde für Florence die Beobachtung, daß die Frau, die sich so benahm, sie stets liebevoll und mit der größten Rücksicht behandelte. Es kam ihr fast vor, als danke sie ihr schlecht, wenn sie für diese Vorgänge überhaupt nur Augen hatte.
Wie glücklich wäre Florence gewesen, wenn sie es hätte wagen dürfen, ihrem Vater auch nur durch Blicke Gesellschaft zu leisten. Ein noch größeres Glück aber war es für sie, daß sie von dem Hauptgrund seiner Unruhe keine Ahnung hatte. Gleichwohl scheute sie sich, merken zu lassen, daß sie seine unvorteilhafte Stellung durchschaute. Sie wollte ihm nicht dadurch irgendein Ärgernis verursachen. Im Kampfe zwischen ihren Gefühlen für ihn und ihrer dankbaren Zuneigung zu Edith wagte sie es kaum, zu beiden die Augen zu erheben. In ihrer Bekümmernis drängte sich ihr unter dem Gewühl von andern Gedanken auch der auf, es dürfte wohl besser für sie gewesen sein, wenn dieser Lärm von Zungen und Fußtritten nie hieher gekommen wäre – wenn statt des neuen Prunkes noch die alte Öde herrschte – wenn das vernachlässigte Kind in Edith keine Freundin gefunden hätte, sondern noch immer unbemitleidet und vergessen in der Einsamkeit fortlebte.
Mrs. Chick hatte auch einigermaßen derartige Gedanken, obschon sie nicht so ruhig in ihrem Herzen verschlossen blieben. Diese gute Frau war schon dadurch in die höchste Wut versetzt worden, daß sie keine Einladung zu dem Diner unmittelbar nach der Ankunft des Paars erhalten hatte. Nachdem dieser Schlag teilweise verschmerzt war, bot sie alle Mittel auf und scheute keine Kosten, um vor Mrs. Dombey sich aufzuspielen, so daß dieser Dame die Augen vergehen und Mrs. Skewton sich zu Tod ärgern sollte.
»Aber es ist so weit gekommen«, sagte Mrs. Chick zu ihrem Gatten, »daß ich nicht mehr gelte, als Florence. Wer nimmt nur die mindeste Rücksicht auf mich? Niemand!«
»Niemand, meine Liebe«, pflichtete Mr. Chick bei, der neben ihr an der Wand saß und sich auch jetzt nur durch leises Pfeifen trösten konnte.
»Sieht es nicht aus, als ob ich hier ganz und gar überflüssig sei?« rief Mrs. Chick mit blinzelnden Augen.
»Jawohl, meine Liebe – das glaube ich auch«, sagte Mr. Chick.
»Paul ist verrückt!« rief Mrs. Chick.
Mr. Chick pfiff.
»Wenn du nicht ein ganzes Ungeheuer bist – und es kommt mir oft vor, als sei dies der Fall«, fuhr Mrs. Chick unverhohlen fort, »so sitz nicht hier herum, um ein Liedchen zu summen. Wie kann jemand, der nur im entferntesten das Gefühl eines Mannes in sich trägt, mit ansehen, wie Pauls Schwiegermutter sich kleidet und wie sie es mit dem Major Bagstock treibt, für den wir unter anderen kostbaren Dingen auch deiner Lukretia Tox verpflichtet sind.«
» Meiner Lukretia Tox meine Liebe?« versetzte Mr. Chick erstaunt.
»Ja«, entgegnete Mrs. Chick mit großer Strenge, » deiner Lukretia Tox. In der Tat, wie jemand jene Schwiegermutter Pauls, das hochmütige Weib Pauls, die unanständigen, alten Vogelscheuchen mit ihren nackten Rücken und Schultern, kurz all dieses Treiben mit ansehen und pfeifen kann –« Mrs. Chick legte auf die letzteren Worte einen so verächtlichen Nachdruck, daß Mr. Chick darüber zusammenfuhr – »das ist, dem Himmel sei Dank, ein Geheimnis für mich.«
Mr. Chick verzog seinen Mund in einer Weise, die ein Summen oder Pfeifen unmöglich machte, und schaute betrachtungsvoll vor sich hin.
»Hoffentlich weiß ich aber, was sich für mich gehört«, fuhr Mrs. Chick in steigender Entrüstung fort, »obschon es Paul vergessen hat. Ich, ein Glied dieser Familie, bin nicht hergekommen, um ohne alle Beachtung dazusitzen. Ich bin nicht der Staub unter Mrs. Dombeys Füßen, nein – noch nicht ganz«, sagte Mrs. Chick, als sehe sie voraus, daß es etwa übermorgen doch so weit kommen könnte – »und ich werde gehen. Was ich auch darüber denken mag, so will ich doch kein Wort darüber verlieren, daß diese ganze Geschichte bloß eingeleitet wurde, um mich herabzuwürdigen und zu kränken. Ich werde einfach gehen. Man wird mich nicht vermissen.«
Mrs. Chick richtete sich bei diesen Worten kerzengerade auf und nahm den Arm ihres Gatten, der sie aus dem Zimmer führte, wo sie eine halbe Stunde im Schatten gesessen hatte. Wir müssen bemerken, daß sie bei ihrer Prophezeiung viel Scharfsinn bekundete, denn sie wurde in der Tat durchaus nicht vermißt.
Sie war übrigens nicht der einzige entrüstete Gast. Mr. Dombeys Liste, die noch immer in Nöten stand, nahm es in Masse sehr übel, daß Mrs. Dombeys Liste durch Lorgnetten nach ihr hinsah und laut ihre Neugierde äußerte, was das doch alles für Leute seien. Mrs. Dombeys Liste dagegen beklagte sich über Langeweile, und das junge Ding mit den Schultern, das jetzt die Aufmerksamkeiten jenes lebhaften Jünglings, des Vetter Feenix, entbehren mußte, da dieser nach der Tafel sich entfernt hatte, teilte dreißig oder vierzig Bekannten im Vertrauen mit, die Sache sei ihr bis in den Tod verleidet. Sämtliche alte Damen mit überladenen Frisuren hatten mehr oder weniger Ursache, sich über Mrs. Dombey zu beschweren, und die Direktoren und Präsidenten vereinigten sich in dem Gedanken, wenn Dombey einmal habe heiraten müssen, so wäre es besser gewesen, seine Wahl hätte eine Person getroffen, die ihm dem Alter nach näher stand und nicht ganz so schön, dabei aber manierlicher war. Die allgemeine Ansicht dieser Klasse von Gentlemen lief darauf hinaus, daß es von Dombey eine Schwäche gewesen sei, und daß er es wohl noch bereuen werde. Mit Ausnahme der wenigen Kavaliere blieb oder entfernte sich kaum jemand, ohne über Vernachlässigung oder Kränkung durch Mr. oder Mrs. Dombey zu klagen. Auch hatte das stumme Frauenzimmer in dem schwarzen Samthut nur deshalb ihre Sprache verloren, weil der Lady in dem roten Samthut vor ihr der Arm geboten worden war. Sogar die Stimmung der Kavaliere erlitt, entweder weil zuviel Limonade in ihr zirkulierte, oder infolge der allgemeinen Ansteckung eine böse Wandlung; denn sie machten gegeneinander sarkastische Späße oder schalten in Flüstertönen auf den Treppen und Nebenplätzen. Das Mißvergnügen und die Unbehaglichkeit verbreitete sich von der Gesellschaft oben sogar bis zu der Dienerschaft in der Halle und von dieser auf die Fackelträger in der Straße draußen, die die Gäste mit einem Leichenzug verglichen, in dem keiner der Leidtragenden mit einem Legat bedacht worden wäre.
Endlich hatten sich sämtliche Gäste entfernt – auch die Fackelträger, und die Straße, die so lange mit Equipagen überfüllt gewesen, war frei. Die ersterbenden Lichter ließen in den Zimmern niemanden mehr erblicken, als Mr. Dombey, der mit Mr. Carker sich abseits besprach, und Mrs. Dombey mit ihrer Mutter. Erstere saß auf einer Ottomane, und letztere erwartete in der Kleopatra-Haltung die Ankunft ihres Mädchens. Nachdem Mr. Dombey sich mit Carker zu Ende besprochen hatte, trat dieser mit einem Katzenrücken heran, um sich zu verabschieden.
»Ich hoffe«, sagte er, »daß die Anstrengungen dieses köstlichen Abends Mrs. Dombey morgen keine Unbequemlichkeit bereiten werden.«
»Mrs. Dombey hat sich der Anstrengung reichlich enthoben«, bemerkte Mr. Dombey, der jetzt herantrat, »als daß Ihr deshalb besorgt sein dürftet. Es tut mir leid. Euch sagen zu müssen, Mrs. Dombey, daß es mir lieb gewesen wäre, wenn Ihr bei dieser Gelegenheit etwas mehr getan hättet.«
Sie warf ihm einen stolzen Blick zu, als halte sie es nicht der Mühe wert, bei diesem Gegenstand überhaupt zu verweilen, und wandte dann ihre Augen wieder ab, ohne zu sprechen.
»Ich bedaure, Madame«, fuhr Mr. Dombey fort, »daß Ihr es nicht für Eure Pflicht halten mochtet –«
Sie sah wieder nach ihm hin.
»Für Eure Pflicht, Madame«, fuhr Mr. Dombey fort, »meine Freunde mit etwas mehr Achtung zu empfangen. Einige von denen, die Ihr heute abend in so auffallender Weise zu vernachlässigen beliebtet, Mrs. Dombey, erweisen Euch, muß ich Euch sagen, mit jedem Besuche eine große Ehre.«
»Wißt Ihr, daß noch jemand hier ist?« versetzte sie, ihn jetzt mit Festigkeit ins Auge fassend.
»Nein, Carker – ich bitte, laßt dies. Ich bestehe darauf, daß Ihr bleibt«, rief Mr. Dombey, diesen Gentleman zurückhaltend, der sich daraufhin mit lautlosen Schritten entfernen wollte. »Ihr wißt, Madame, daß Mr. Carker mein Vertrauen besitzt, und er kennt die Sache, von der ich spreche, so gut wie ich selbst. Ich erlaube mir daher, Euch zu belehren, Mrs. Dombey, daß ich in den Besuchen dieser reichen und bedeutenden Personen eine Auszeichnung für mich sehe.«
Mr. Dombey warf sich dabei in die Brust, als habe er besagten Personen jetzt die höchst mögliche Bedeutsamkeit gegeben.
»Ich muß wiederholt fragen«, entgegnete sie, wieder den festen Blick stolzer Verachtung auf ihn heftend, »ob Ihr wißt, daß jemand hier ist, Sir.«
»Ich muß bitten«, sagte Mr. Carker vortretend, »ich muß bitten, ich muß fordern, daß ich entlassen werde. So gering und belanglos auch diese Meinungsverschiedenheit ist –«
Mrs. Skewton, die inzwischen kein Auge von dem Gesicht ihrer Tochter verwandt hatte, ergriff jetzt das Wort:
»Meine süßeste Edith«, sagte sie, »und mein teuerster Dombey – unser vortrefflicher Freund Mr. Carker, denn so muß ich ihn ohne Zweifel nennen –«
»Allzuviel Ehre«, murmelte Mr. Carker.
»– hat sich derselben Worte bedient, die mir auf dem Herzen lagen, und ich brannte schon seit einer Ewigkeit vor Begier, sie anzubringen. Gering und belanglos! Meine süßeste Edith und mein teuerster Dombey, wissen wir nicht, daß jede Meinungsverschiedenheit zwischen euch beiden – nein, Flowers; jetzt nicht.«
Flowers war die Kammerjungfer, die, als sie bemerkte, daß Gentlemen anwesend waren, sich eiligst wieder zurückzog.
»Daß jede Meinungsverschiedenheit zwischen euch beiden«, nahm Mrs. Skewton wieder auf, »mit dem Herzen, das ihr gemeinschaftlich besitzt, und bei dem bezaubernden Einklang der Gefühle, der zwischen euch stattfindet, notwendig gering und belanglos sein muß? Mit welchen Worten könnte diese Tatsache besser bezeichnet werden? Mit keinen. Darum benutze ich mit Freuden diesen unbedeutenden Anlaß – diesen geringfügigen Anlaß, der bei eurer Natürlichkeit, eurem individuellen Charakter und dergleichen so wahrhaft geeignet ist, Tränen in ein Mutterauge zu bringen – um die Versicherung abzugeben, daß ich der Sache nicht die mindeste Wichtigkeit beilege, es sei denn als einer Entwicklung jener feineren Elemente der Seele. Ich will daher nicht nach Art der meisten Schwiegermütter – welch ein garstiger Ausdruck, mein lieber Dombey! – wie sie dem Vernehmen nach in dieser leider nur zu erkünstelten Welt bestehen, den Versuch machen, zu einer solchen Zeit je mich einzumengen. Auch kann ich im ganzen solch ein kleines Aufzucken der Fackel des, wie heißt er doch – nicht Cupido, sondern das andere liebenswürdige Wesen – nicht beklagen.«
In dem Blick der guten Mutter, den sie bei diesen Worten nach ihren beiden Kindern entsandte, lag eine Schärfe, die vielleicht auf einen unmittelbaren und wohlüberlegten Zweck hindeutete, der sich hinter den zusammenhanglosen Worten barg. Er bestand wohl in nichts anderem, als in der Vorsorge, schon im Anfang bei dem Klirren der gemeinsam drückenden Kette, das notwendig folgen mußte, sich beiseite zu machen und hinter dem Trugbilde ihres unschuldigen Glaubens an ihre wechselseitige Liebe und an ihr Zusammenpassen Schutz zu suchen.
»Ich habe Mrs. Dombey auf das aufmerksam gemacht«, sagte Mr. Dombey in seiner stattlichsten Weise, »was mir in ihrem Benehmen schon in so früher Zeit unseres Ehestandes mißfällt und was ich deshalb zu verbessern bitte. Carker«, mit einem Nicken der Entlassung, »ich wünsche Euch gute Nacht.«
Mr. Carker verbeugte sich gegen die gebieterische Gestalt der jungen Frau, deren funkelndes Auge auf ihren Gatten geheftet war, und machte dann beim Hinausgehen vor Kleopatras Ruhebett halt, um die gnädig ihm hingebotene Hand in tiefer, bewundernder Huldigung an seine Lippen zu führen.
Hätte Edith auf den Vorwurf eine Erwiderung gegeben, ihr Gesicht verändert, oder das Schweigen, in dem sie beharrte, auch nur durch ein Wort unterbrochen, so würde Mr. Dombey, nun sie allein waren – denn Kleopatra hatte sich eiligst aus dem Staube gemacht – wohl imstande gewesen sein, seine Ansicht gegen sie zu behaupten. Aber gegen den tiefen, unaussprechlichen, vernichtenden Hohn, mit dem sie, nachdem sie ihm einen Blick zugeworfen, die Augen senkte, als sei er ihr zu gleichgültig und unbedeutend, um sich von ihm aufbringen zu lassen – gegen den Verachtung ausdrückenden Stolz, mit dem sie vor ihm saß, und gegen die kalte, unbeugsame Entschlossenheit, mit der jeder ihrer Züge ihn in den Staub zu schleudern schien, hatte er kein Hilfsmittel. Er entfernte sich daher, während sie in ihrer ganzen hochmütigen Schönheit zurückblieb, ohne seiner weiter zu achten.
War er niedrig genug, eine Stunde später ihr auf der alten, wohlbekannten Treppe aufzulauern, wo er einmal Florence im Mondlicht den kleinen Paul hatte hinantragen sehen – oder befand er sich nur zufälligerweise im Dunkeln, als er aufblickend die Wahrnehmung machte, daß sie mit einem Licht aus Florences Schlafgemach kam und wieder das auffallend veränderte Antlitz zeigte, dem er so gar nichts anhaben konnte.
Freilich konnte es sich nie so verändern, wie sein eigenes. Selbst im höchsten Stolz und in der größten Leidenschaft zeigte Ediths Gesicht nichts von dem Schatten, der an dem Abend der Rückkehr in der dunkeln Ecke das seine umnachtet hatte. Etwas Ähnliches war seitdem oft wiedergekehrt, und als er jetzt aufblickte, war das nämliche Düster darauf zu schauen.
Siebenunddreißigstes Kapitel. MEHR ALS EINE WARNUNG.
Florence, Edith und Mrs. Skewton waren am andern Tage beisammen, und der angespannte Wagen harrte an der Tür. Denn Kleopatra hatte jetzt wieder ihre Galeere, und Withers, nicht länger der Spindeldürre, stand in taubengrauer Jacke und militärischen Beinkleidern zur Zeit der Tafel hinter ihrem räderlosen Stuhl, ohne fortan die Dienste eines Sturmbocks verrichten zu müssen. In jenen Tagen des Flaums glänzte Withers' Haar von Pomade; auch trug er Glacéhandschuhe und duftete von weitem nach Kölnischem Wasser.
Sie waren in Kleopatras Zimmer versammelt. Die Schlange des alten Nil (wir wollen sie nicht aus Achtungswidrigkeit so nennen) ruhte auf ihrem Sofa, schlürfte um drei Uhr nachmittags ihre Morgenschokolade, und Flowers, die Zofe, legte ihr die jugendlichen Manschetten und Krausen an. Dann verrichtete Flowers an ihrer Gebieterin noch eine Art Privatkrönung vermittels eines pfirsichblütenfarbenen Samthuts, in dem die künstlichen Rosen ungemein vorteilhaft nickten, je nachdem das Zittern des Kopfs gleich einem Lüftchen damit spielte.
»Ich denke, ich bin heute morgen ein wenig angegriffen, Flowers«, sagte Mrs. Skewton. »In der Tat, meine Hand zittert.«
»Ihr wißt, Ma'am«, versetzte Flowers, »daß Ihr gestern abend das Leben der ganzen Gesellschaft ausmachtet, und nun müßt Ihr es eben büßen.«
Edith, die Florence nach dem Fenster gewinkt hatte und eben hinaussah, den Rücken der Toilette ihrer hochachtbaren Mutter zugekehrt, wich jetzt plötzlich zurück, als ob es geblitzt hätte.
»Mein Herzchen«, rief Kleopatra im Tone der Erschöpfung, » du fühlst dich nicht angegriffen. Sage mir nicht, meine liebe Edith, daß du bei deiner beneidenswerten Ruhe gleichfalls anfängst, eine Märtyrerin zu werden, wie deine Mutter mit ihrer unglücklichen Konstitution. Withers, jemand an der Tür!«
»Karte, Ma'am«, sagte Withers, sie Mrs. Dombey überbringend.
»Ich gehe aus«, versetzte sie, ohne danach hinzusehen.
»Meine Liebe«, sprach Mrs. Skewton gedehnt, »wie gar wunderlich von dir, absagen zu lassen, ohne auch nur nach dem Namen zu sehen! Bring die Karte mir, Withers. Himmel, meine Liebe – noch dazu Mr. Carker! Dieser ungemein verständige Mann!«
»Ich gehe aus«, wiederholte Edith in so gebieterischem Ton, daß Withers zur Tür ging, dem Diener, der draußen wartete, die Worte »Mrs. Dombey geht aus. Also fort mit Euch!« zurief und ihm vor der Nase die Klinke zuschnappen ließ.
Nach langer Abwesenheit kam jedoch der Diener wieder zurück und flüsterte Withers abermals etwas zu, der darauf, obschon nur ungerne, aufs neue sich vor Mrs. Dombey präsentierte.
»Mit Erlaubnis, Ma'am, Mr. Carker läßt seine achtungsvollen Empfehlungen melden und bittet, wenn es Euch möglich sei, nur um eine einzige Minute – Geschäfte halber, Ma'am.«
»Wahrhaftig, meine Liebe«, sagte Mrs. Skewton in ihrer mildesten Weise, da das Gesicht ihrer Tochter einen drohenden Ausdruck angenommen hatte, »wenn du mir ein Wort gestatten willst, so möchte ich dir raten –«
»So führ' ihn hierher«, unterbrach sie Edith.
Sobald Withers verschwunden war, um diesen Befehl auszuführen, fügte sie finster gegen ihre Mutter hinzu: »Da es auf Euren Rat geschieht, so soll er auch auf Euer Zimmer kommen.«
»Darf ich – soll ich fortgehen?« fragte Florence hastig.
Edith nickte; aber schon auf dem Weg zur Tür begegnete Florence dem eintretenden Besuch. Mit derselben widerlichen Mischung von Vertraulichkeit und Schonung, mit dem er sie früher angeredet hatte, wandte er sich jetzt in seiner sanftesten Art an sie – hoffte, daß sie sich wohl befinde– brauchte nicht zu fragen, da er schon in dem Aussehen die Antwort las – hatte gestern abend kaum die Ehre gehabt, sie zu kennen, da sie sich so sehr verändert – und hielt ihr die Tür offen, daß sie hinausgehen konnte. Indes vermochte alle Ehrerbietung und Höflichkeit seines Benehmens nicht ganz das geheime Bewußtsein der Gewalt zu verbergen, die er über sie besaß und die sich in ihrem schüchternen Zurückweichen vor ihm ausdrückte.
Dann beugte er sich einen Augenblick über Mrs. Skewtons herablassende Hand und machte endlich Edith seine Verbeugung. Letztere erwiderte seinen Gruß mit Kälte, ohne ihn eines Blickes zu würdigen oder ihm einen Sitz anzubieten, und erwartete stehend seine Anrede.
Bei all ihrem Stolz und der ganzen Verstockung ihres Geistes fühlte sie doch den lähmenden Eindruck der alten Überzeugung, daß dieser Mann von Anfang an sie und ihre Mutter in ihren schlimmsten Farben erkannt habe – daß jede Herabwürdigung, die sie erduldet, vor ihm so offen daliege, wie vor ihr selbst– daß er in ihrem Leben zu lesen verstand, wie in einem schlechten Buch, und daß er in den geringschätzigen Blicken und Tönen, die keiner anders aufdecken konnte, die Blätter vor ihr umschlug. Zwar trat sie ihm stolz entgegen, ihr gebieterisches Gesicht zwang ihn zur Demut, ihre Verachtung ausdrückende Lippe wies ihn zurück, ihre Brust wogte zornig über seine Aufdringlichkeit, und die dunkeln Wimpern ihrer Augen verschleierten düster das darunter weilende Licht, um ihm ja keinen Strahl davon zukommen zu lassen, während er mit der Miene eines Gekränkten, bittend, aber mit vollkommener Unterwerfung unter ihren Willen, vor ihr stand. Trotzdem aber fühlte sie in ihrer tiefsten Seele, wie ganz anders die Sache sich verhielt, als es den Anschein hatte. Eine innere Stimme sagte ihr, der Triumph und die Überlegenheit seien auf seiner Seite und er wisse das recht wohl.
»Ich habe mich unterfangen«, sagte Mr. Carker, »Euch um Gehör zu bitten, und es zugleich gewagt, den Gegenstand meines Besuches als Geschäftssache zu bezeichnen, weil – «
»Vielleicht seid Ihr von Mr. Dombey mit einem Verweise beauftragt«, unterbrach ihn Edith. »Ihr besitzt Mr. Dombeys Vertrauen in einem so ungewöhnlichen Grade, Sir, daß es mich kaum überraschen würde, wenn dies Euer Geschäft wäre.«
»Ich überbringe keinen Auftrag an eine Dame, die einen Glanz auf seinen Namen wirft«, sagte Mr. Carter. »Aber ich bitte diese Dame, einem unbedeutenden, von Mr. Dombey abhängigen Mann, der schon durch seine Stellung zur Demut angewiesen ist, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und zu bedenken, daß es gestern abend nicht in seine Macht gegeben war, der Beteiligung auszuweichen, die ihm bei einem sehr peinlichen Anlaß aufgedrungen wurde.«
»Meine teuerste Edith«, bemerkte Kleopatra in gedämpfter Stimme, indem sie ihr Augenglas senkte, »in der Tat ganz bezaubernd von Mr., wie heißt er doch. Und voll Herz!«
»Denn ich erlaube mir«, sagte Mr. Carter, sich mit einem Blick dankbarer Ehrerbietung auf Mrs. Skewton berufend, »ich erlaube mir, ihn einen peinlichen Anlaß zu nennen, obschon er es nur für mich war, da ich das Unglück hatte, bei ihm zugegen sein zu müssen. Eine solche kleine Irrung zwischen Personen, die sich gegenseitig mit uneigennütziger Hingebung lieben und in einer derartigen Sache gern jedes Opfer bringen würden, ist eigentlich für nichtig anzuschlagen, und ich stimme Mrs. Skewton vollkommen bei, die gestern abend mit so viel Wahrheit und Gefühl das alles auch für nichtig erklärte.«
Edith konnte nicht nach ihm hinsehen, sagte aber nach einer kurzen Pause:
»Und Euer Anliegen, Sir? – «
»Edith, mein Herz«, bemerkte Mrs. Skewton, »Mr. Carter steht diese ganze Zeit über! Mein lieber Mr. Carter, ich bitte, nehmt einen Sitz.«
Er gab der Mutter keine Antwort, sondern heftete seine Augen auf die stolze Tochter, als sei er entschlossen, nur ihrem Geheiß Folge zu geben. Wider Willen setzte sich Edith nieder und winkte ihm leicht mit der Hand, daß er gleichfalls Platz nehme. Sie tat das mit dem kalten Stolz anmaßender Überlegenheit. Aber wie sehr sie auch sogar gegen ein solches Zugeständnis angekämpft hatte, war es ihr doch entrungen worden. Genug für Mr. Carter. Er nahm Platz. »Habe ich Eure Erlaubnis, Madame«, sagte Carter, seine weißen Zähne gleich einem Lichte gegen Mrs. Skewton hinwendend – »eine Dame von Eurem trefflichen Verstand und Eurem tiefen Gefühl wird mir zuversichtlich Glauben schenken, daß ich gute Gründe dafür habe – das, was mir mitzuteilen obliegt, an Mrs. Dombey zu richten, damit sie sodann Euch darüber Auskunft gebe, die Ihr, außer Dombey, ihrem Herzen am nächsten steht?«
Mrs. Skewton wollte sich entfernen, aber Edith hielt sie zurück. Sie würde auch dem Sprecher Einhalt getan und ihm entrüstet die Weisung gegeben haben, er solle entweder offen oder gar nicht reden. Da er jedoch mit gedämpfter Stimme die Worte – »Miß Florence – die junge Lady, die eben das Zimmer verlassen hat« – hinwarf, unterbrach sie ihn nicht weiter, und sah jetzt sogar nach ihm hin. Aber als er sich, um ihr näher zu sein, mit der Miene des größten Zartgefühls und der Achtung, die Zähne überredend zu einem abbittenden Lächeln geordnet, vorwärts beugte, war es ihr, als hätte sie ihn mit Einem Streiche totschlagen mögen.
»Miß Florence«, begann er, »hat sich in einer unglücklichen Lage befunden. Es fällt mir schwer, das gegen Euch zu berühren, da Eure Zuneigung zu dem Vater natürlich jedes Wort auf die Wagschale legen wird, das sich auf ihn bezieht.« Stets bestimmt und weich in seiner Sprache – keine Zunge vermöchte die Ausdehnung dieser Bestimmtheit und Weichheit zu schildern, als er obige Worte oder andere ähnlichen Inhalts vorbrachte. »Als ein Mann übrigens, der in seiner untergeordneten Stellung Mr. Dombey anhängt und der fast sein ganzes Leben in Bewunderung von Mr. Dombeys Charakter verbrachte, darf ich wohl sagen, ohne Eure Zärtlichkeit als Gattin zu verletzen, daß Miß Florence unglücklicherweise vernachlässigt wurde – von ihrem Vater. Darf ich sagen, von ihrem Vater?«
»Ich weiß es«, versetzte Edith.
»Ihr wißt es?« entgegnete Mr. Carker, der tat, als fühle er sich ungemein erleichtert. »Dies wälzt mir eine Bergeslast von der Brust. Und hoffentlich ist Euch auch bekannt, worin diese Vernachlässigung ihren Ursprung nahm, in was für einer liebenswürdigen Phase von Dombeys Stolz – Charakter, wollte ich sagen –«
»Ihr könnt das übergehen, Sir«, erwiderte sie, »um desto früher mit dem zu Ende zu kommen, was Ihr mir mitzuteilen habt.«
»Ich fühle in der Tat, Madame«, versetzte Carter – »glaubt mir, ich fühle aus tiefster Seele, daß Mr. Dombey Euch gegenüber in nichts einer Rechtfertigung bedarf. Wofern Ihr übrigens mein Herz freundlich nach dem Euren beurteilen wollt, so werdet Ihr mir meine Teilnahme für ihn verzeihen, wenn sie auch vielleicht in ihrem Übermaß irre geht.«
Welch ein Dolchstoß für ihr stolzes Herz, Angesicht in Angesicht mit diesem Mann dasitzen zu müssen, der ihr den Meineid, den sie an dem Altare geschworen, wieder und wieder vorhielt, ihn ihr aufdrängend gleich dem Bodensatz in einer garstigen Tasse, den sie nicht zurückweisen konnte, wie sehr ihr auch davor ekelte. Beschämung, Leidenschaft und Gewissensbisse tobten in ihrem Innern, denn sie mußte sich gestehen, daß sie trotz der aufrechten und majestätischen Haltung, die sie ihm gegenüber bewahrte, im Geiste zu seinen Füßen saß.
»Miß Florence«, sagte Carter, »blieb der Sorge – wenn man anders hier von Sorge reden kann – der Dienstboten und bezahlten Personen überlassen, die in jeder Weise unter ihr standen, während ihr doch ein Führer und Kompaß für ihre Jugend nötig gewesen wäre. In Ermangelung dessen ist sie natürlich unbesonnen gewesen und hat einigermaßen ihre Stellung vergessen. Es begab sich eine törichte Geschichte mit einem gewissen Walter, einem gemeinen Jungen, der jetzt glücklicherweise tot ist. Außerdem unterhielt sie, wie ich mit Bedauern sagen muß, einen sehr unwünschenswerten Verkehr mit einigen Küstenschiff-Matrosen von nichts weniger als gutem Ruf und einem entlaufenen alten Bankerottmacher.«
»Ich habe von diesen Umständen gehört, Sir«, entgegnete Edith, einen Blick der Verachtung nach ihm hinblitzen lassend, »und weiß, daß Ihr sie verdreht. Möglich, daß Ihr selbst nicht gehörig unterrichtet seid. Ich hoffe das wenigstens.«
»Verzeiht mir«, sagte Mr. Carter. »Ich glaube, niemand kann besser davon unterrichtet sein als ich. Eure hohe, warme Seele, Madame, dieselbe Seele, die so edel, so gebieterisch ist in Verteidigung Eures geliebten und geehrten Gatten und denselben völlig nach Würden behandelt, verdient sicherlich alle Achtung, und ich beuge mich in Ehrerbietung davor. Doch was die Umstände betrifft, auf die ich Euch aufmerksam zu machen für meine Pflicht halte, so kann ich keinem Zweifel Raum geben, daß ich nicht in Erfüllung meiner Aufgabe als Mr. Dombeys vertrauter Freund – ich erdreiste mich, ihn so zu nennen – alles vollkommen erkundet habe. Ich bemühe mich, diesem Vertrauen Ehre zu machen, und sorge für alles, was in Beziehung dazu steht. Jedenfalls habe ich mich jetzt beeilt, von dieser treuen Sorge Euch einen Beweis zu bringen; und so habe ich in Person sowohl als durch zuverlässige Werkzeuge geraume Zeit den Tatsachen nachgeforscht, so daß ich mit zahlreichen und ins einzelne gehenden Belegen versehen bin.«
Sie erhob ihre Augen nicht höher als bis zu seinem Mund, sah aber die Mittel zum Unheilstiften prahlerisch in jedem Zahn, den er enthielt, sich zur Schau stellen.
»Verzeiht mir, Madame«, fuhr er fort, »wenn ich mir in meiner Verwirrung herausnehme, Euch um Euren Rat anzugehen und mir Eure Weisungen zu erbitten. Ich glaube, bemerkt zu haben, daß Ihr für Miß Florence große Teilnahme fühlt.«
Was gab es auch in ihr, das er nicht bemerkt hätte, und das ihm nicht bekannt gewesen wäre? Gedemütigt und zugleich bis zum Wahnsinn gehetzt bei dem Gedanken in jeder neuen, auch noch so unbedeutenden Ahnung davon, preßte sie ihre Zähne auf die bebende Lippe, um sie zur Ruhe zu bringen, und verbeugte als Erwiderung abgemessen den Kopf.
»Diese Teilnahme, Madame – ein so rührender Beweis davon, daß Euch alles teuer ist, was mit Mr. Dombey zusammenhängt – veranlaßt mich, zu zögern, ehe ich ihn mit den gedachten Umständen bekannt mache, von denen er bis jetzt noch nichts weiß. Wenn ich es gestehen darf, so erschüttert sie mich insoweit in meiner Dienstpflicht, daß ich sie unterdrücken würde, wenn Ihr mir auch nur im mindesten andeutet, daß Ihr dies wünschen könntet.«
Edith erhob rasch ihren Kopf, fuhr zurück und heftete ihren dunkeln Blick auf ihn. Er begegnete ihm mit seinem mildesten, ehrerbietigsten Lächeln und fuhr fort:
»Ihr sagt, meine Darstellung sei eine verkehrte. Ich fürchte leider das Gegenteil; doch laßt uns annehmen, daß Ihr recht hättet. Die Unruhe, die ich bisweilen in der Sache fühlte, hat ihren Grund darin, daß die bloß öftere Wiederholung eines solchen Verkehrs der Miß Florence, wie unschuldig und vertrauensvoll er auch gewesen sein mag, für Mr. Dombey, der vornweg gegen sie eingenommen ist, maßgebend sein und ihn – ich weiß, daß er schon öfters daran gedacht hat – bewegen würde, sie ganz aus dem Hause fortzuschaffen. Madame, ich kenne und verehre Mr. Dombey fast von Kindheit auf. Habt daher Nachsicht mit mir, wenn ich sage, daß, falls er einen Fehler hat, dieser in einem gewissen Starrsinn besteht, dem wir alle uns unterwerfen müssen. Ich will ihm damit durchaus keinen Vorwurf machen; denn er ist in seinem edlen Stolz und in dem Gefühl der ihm zuständigen Macht begründet; aber eben deshalb kann man ihm nicht so beikommen, wie andern Charakteren, und die erwähnte Eigenschaft steigert sich von Tag zu Tag, von Jahr zu Jahr.«
Ihr Blick haftete noch immer auf ihm; aber mochte sie ihn so fest ansehen, wie sie wollte, ihre stolze Nase erweiterte sich, ihr Atem wurde etwas tiefer, und ihre Lippe warf sich leicht auf, als er in seinem Dienstherrn das schilderte, wovor sie alle sich beugen mußten. Er sah es, und obschon sich der Ausdruck seines Gesichtes nicht änderte, so wußte sie doch sehr gut, daß er es sah.
»Selbst ein so geringfügiger Vorfall, wie der von gestern abend«, sagte er, »wenn es mir gestattet ist, noch einmal darauf zurückzukommen, kann dazu dienen, meine Meinung besser zu belegen, als ein wichtigerer. Dombey und Sohn nimmt keine Rücksicht auf Zeit oder Ort, sondern wirft alles vor sich nieder. Indes ist es mir lieb, daß es so kam, denn ich wurde dadurch ermutigt, mich um des erwähnten Gegenstandes willen Mrs. Dombey zu nahen, selbst auf die Gefahr hin, mir zur Zeit ihr Mißfallen zuzuziehen. Madame, als ich um eben jener Geschichte willen voll Unruhe und Besorgnisse war, wurde ich von Mr. Dombey nach Leamington beschieden. Ich sah Euch dort und erkannte sogleich, welches Verhältnis bald zwischen ihm und Euch stattfinden werde – zu seinem und Eurem dauernden Glück. Damals faßte ich den Entschluß, die Zeit Eures Einzuges hier im Hause abzuwarten und zu handeln, wie ich jetzt gehandelt habe. Ich fürchte in der Tat nicht, daß ich es in meiner Pflicht gegen Mr. Dombey fehlen lasse, wenn ich das, was ich weiß, in Eurer Brust begrabe; denn wo – wie in einer solchen Ehe – zwischen zwei Personen nur ein Geist und ein Sinn herrscht, ist die eine fast für die andere zu nehmen. Mein Gewissen kann mich daher vollkommen freisprechen, mag ich mich nun in diesem Gegenstande Euch oder ihm vertrauen. Aus den erwähnten Gründen habe ich mich an Euch gewendet. Darf ich der mich so auszeichnenden Hoffnung Raum geben, daß mein Vertrauen nicht zurückgewiesen wird und ich meiner Verantwortlichkeit entbunden bin?«
Er erinnerte sich noch lange des Blickes, den sie ihm jetzt zuwarf – wer hätte ihn sehen und vergessen können? – und des inneren Kampfes, der darauf folgte. Endlich sagte sie:
»Ich nehme es an, Sir. Ihr werdet aber die Gefälligkeit haben, diese Sache damit als beendigt zu betrachten und eingedenk zu sein, daß unsere Beziehung nicht weiter geht.«
Er verbeugte sich tief und erhob sich. Auch sie stand auf, und er verabschiedete sich mit aller Unterwürfigkeit. Withers aber, der ihm auf der Treppe begegnete, blieb stehen, um die Schönheit seiner Zähne und sein strahlendes Lächeln zu bewundern. Als Carker sodann auf seinem weißbeinigen Pferd fortritt, hielten ihn die Leute um des blendenden Schauspiels willen, das er bot, für einen Zahnarzt. S i e dagegen hielten die Leute, als sie unmittelbar nachher in ihrer Equipage ausfuhr, für eine vornehme Dame, die ebenso glücklich wie reich war. Freilich – wer sie einen Augenblick zuvor gesehen hätte, als sie in ihrem Zimmer allein war – wer Zeuge gewesen wäre, als sie nur die drei Worte ausstieß: »O Florence, Florence« würde anders gedacht haben.
Mrs. Skewton, die auf ihrem Sofa ruhte und Schokolade schlürfte, hatte nichts gehört, als das gemeine Wort »Geschäft«, das ihr einen tödlichen Widerwillen einflößte. Das Wort war nämlich längst aus ihrem Wörterbuch verbannt und hätte beinahe in bezaubernder Weise und einem ungemeinen Aufwand von Herz, der Seele gar nicht zu gedenken, unterschiedliche Putzmacherinnen und infolge davon auch andere Personen zugrunde gerichtet. Sie stellte daher keine Fragen und zeigte durchaus keine Neugier. Überhaupt gab ihr im Freien der pfirsichblütenfarbige Samthut hinreichend zu schaffen. Da er nämlich nur auf dem hinteren Teil ihres Kopfes festsaß und der Tag ziemlich windig war, so schien er wie wahnsinnig darauf auszugehen, Mrs. Skewtons Gesellschaft zu entlaufen, und wollte sich durchaus nicht zu einem gütlichen Vergleich heranlassen. Der Wagen wurde zugemacht und der Wind ausgeschlossen. Der zitternde Kopf spielte unter den künstlichen Rosen wie ein ganzes Armenhaus voll altersschwacher Zephire, Mrs. Skewton hatte auch so noch genug zu tun, so daß in dem Wagen ein gleichgültiges Schweigen herrschte.
Gegen Abend ging es noch schlimmer; denn Mrs. Dombey wartete, nachdem sie sich angekleidet hatte, schon eine halbe Stunde auf ihre Mutter, und Mr. Dombey stieg mit einem feierlichen Ärger – alle drei sollten nämlich an einem auswärtigen Diner teilnehmen – in dem Besuchszimmer auf und ab, als Flowers, die Zofe, mit bleichem Gesicht in Mrs. Dombeys Toilettezimmer stürzte.
»Ach, Ma'am«, rief sie; »ich bitte um Verzeihung, aber ich kann nichts mit Missiß anfangen.«
»Was meinst du damit?« fragte Edith.
»Ich weiß es selber kaum, Ma'am«, versetzte das erschreckte Mädchen. »Sie macht solche Gesichter.«
Edith eilte mit ihr nach dem Gemach ihrer Mutter. Kleopatra war in ihrem vollen Putze; aber trotz der Diamanten, der kurzen Ärmel, des Rots, der falschen Locken, der Zähne und anderer jugendlichen Zeichen hatte sich der Schlaganfall nicht täuschen lassen, sondern in ihr den Gegenstand seines Suchens erkannt und sie nach dem Spiegel hingeworfen, wo sie zusammengebrochen gleich einer schrecklichen Puppe lag.
Sie beraubten sie des falschen Prunkes und brachten das wenige, was an ihr echt war, auf ein Bett. Man schickte nach Ärzten, die auch bald erschienen. Kräftige Belebungsmittel wurden in Anwendung gebracht und Ansichten darüber abgegeben, daß sie sich wahrscheinlich von dieser Erschütterung erholen, aber einen zweiten Schlag nicht überleben werde. Und so lag sie tagelang da, sprachlos und die Decke anstarrend, bisweilen, wenn sie wußte, wer da war, auf die gestellten Fragen in unartikulierten Lauten Antwort gebend, zu andern Zeiten aber weder durch Zeichen noch Gebärden oder überhaupt eine Bewegung ihres Auges antwortend. Endlich kehrte allmählich das Bewußtsein und einigermaßen auch die Bewegungsfähigkeit, nicht aber die Sprache zurück. Eines Tages, als sie die rechte Hand wieder benützen konnte, zeigte sie diese ihrem Mädchen, das sie verpflegte. Sie schien sehr unruhig zu sein und deutete durch Gebärden an, daß sie einen Bleistift und etwas Papier wünsche. Die Dienerin schaffte das Geforderte augenblicklich herbei, in der Meinung, Mrs. Skewton wolle ein Testament machen oder einen letzten Wunsch aufzeichnen, und da Mrs. Dombey abwesend war, so sah sie dem Ergebnis mit feierlichen Empfindungen entgegen.
Nach vielem peinlichen Gekritzel und Wiederauslöschen, wobei unrechte Buchstaben willkürlich aus dem Bleistift herauszufallen schienen, kam das alte Weib endlich mit nachstehendem Schriftstück zustande:
»Rosenfarbige Vorhänge.«
Das Mädchen hatte allen Grund, kaum ihren Augen zu trauen, und Kleopatra, die ihr Erstaunen bemerkte, verbesserte das Manuskript, indem sie zwei weitere Worte beifügte, so daß es so lautete:
»Rosenfarbige Vorhänge für die Ärzte.«
Der Dienerin dämmerte jetzt der Gedanke auf, daß sie die Vorhänge wünsche, um vor der Fakultät in einem rosigeren Licht zu erscheinen, und da diejenigen im Hause, die Mrs. Skewton am besten kannten, die Richtigkeit dieser Ansicht nicht in Zweifel zogen, so wurde ihr Bett mit dem gewünschten Stoff, der leicht beizuschaffen war, behängt. Von Stunde an ging es mit der Kranken schnell besser. Sie war bald imstande, im Bett aufzusitzen, weshalb denn auch die Locken, eine Spitzenhaube und ein mit Spitzen besetztes Nachtgewand in Anspruch genommen wurden; auch mußte ein wenig künstliches Rot die tiefen Höhlen ihrer Wangen ausfüllen.
Es war ein erschreckender Anblick, wie dieses alte Weib mit dem Tod noch so jugendlich kokettierte, als habe sie es nur mit dem Major zu tun; aber der Schlaganfall hatte auch eine Veränderung in ihrem Geist zur Folge, die ernsten Stoff zu unheimlichen Betrachtungen abgab. Ob sie durch die Schwächung ihres Verstandes schlauer und falscher geworden war, als zuvor, ob eine Verwirrung zwischen dem erkünstelten und natürlichen Ich stattfand, ob dadurch ein Anflug von Gewissensbissen geweckt wurde, der sich nicht recht ins Licht kämpfen konnte, aber doch auch nicht ganz in die Dunkelheit zu drängen war, oder ob – vielleicht die wahrscheinlichste Annahme – das Zusammenbrechen ihrer intellektuellen Fähigkeiten ein Gemisch aller dieser Wirkungen aufgewühlt hatte, das Ergebnis war folgendes: Edith konnte ihr nicht genug Liebe, Dankbarkeit und Aufmerksamkeit erweisen. Ihrem stetigen Eigenlob nach hätte sie die beste und unschätzbarste aller Mütter sein müssen, und namentlich war sie sehr eifersüchtig darauf, in Ediths Zuneigung keine Nebenbuhlerin zu haben. Statt sich an den Vertrag zu erinnern, der zwischen ihnen geschlossen worden war, diesen Gegenstand zu vermeiden, spielte sie beständig auf die Heirat ihrer Tochter als auf den Beweis an, daß sie eine unvergleichliche Mutter sei; und dieses noch obendrein mit der Schwäche und Reizbarkeit eines solchen Zustandes, der stets einen ironischen Kommentar zu ihrer erkünstelten Jugendlichkeit abgab.
»Wo ist Mrs. Dombey?« konnte sie ihre Zofe fragen.
»Ausgegangen, Ma'am.«
»Ausgegangen? Geht sie aus, um ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen, Flowers?«
»Aber, Gott behüte, nein, Ma'am. Mrs. Dombey hat nur mit Miß Florence eine Spazierfahrt gemacht.«
»Mit Miß Florence. Wer ist Miß Florence? Sage mir nichts von Miß Florence. Was kann ihr Miß Florence sein in Vergleich mit mir?«
Das Blitzen der Diamanten, der pfirsichblütenfarbene Samthut – sie empfing schon wochenlang in diesem Hut Besuche, noch ehe sie über die Stubentür hinaus konnte – oder irgendein anderer bunter Putz tat gewöhnlich den Tränen Einhalt, die bei solchen Betrachtungen zu fließen begannen, und sie verblieb dann in einem Zustand von Selbstgefälligkeit, bis Edith erschien, um nach ihr zu sehen. Sobald sie die stolze Gestalt ihrer Tochter gewahr wurde, kam wieder ein Rückfall.
»Endlich doch einmal, Edith!« konnte sie mit schüttelndem Kopfe rufen.
»Was gibt es, Mutter?«
»Was es gibt? Ich weiß es wirklich nicht. Die Welt ist so erkünstelt und undankbar geworden, daß ich entschieden glaube, es ist kein Herz – oder irgend etwas der Art – in ihr zurückgeblieben. Withers ist kindlicher gegen mich, als du. Er pflegt mich mehr, als meine eigene Tochter. Es wäre mir fast lieb, wenn ich nicht so jung aussähe – und all dergleichen – dann würde ich vielleicht mehr berücksichtigt werden.«
»Was wünscht Ihr, Mutter?«
»O, sehr viel, Edith«, entgegnete sie ungeduldig.
»Fehlt es Euch an irgend etwas? Wenn das der Fall, so ist es nur Eure eigene Schuld.«
»Meine eigene Schuld«, begann sie zu wimmern. »Was für eine Mutter bin ich dir gewesen, Edith – eine treue Gefährtin von deiner Wiege an! lind dafür vernachlässigst du mich und hast nicht mehr natürliche Zuneigung zu mir, als ob ich eine Fremde wäre – nicht den zwanzigsten Teil der Liebe, die du an Florence verschwendest. Aber ich bin ja nur deine Mutter und könnte sie in einem Tage verderben! – Du machst mir Vorwürfe, daß es meine eigene Schuld sei.«
»Mutter, Mutter, ich mache Euch mit nichts einen Vorwurf. Warum immer und ewig diese Geschichten?«
»Ist es nicht natürlich, daß ich immer wieder darauf zurückkommen muß, wenn ich lauter Liebe und Empfindung bin, dafür aber in der grausamsten Weise verwundet werde, so oft du mich nur ansiehst.«
»Ich beabsichtige durchaus nicht, Euch zu verletzen, Mutter. Erinnert Ihr Euch denn gar nicht mehr, was zwischen uns abgemacht wurde? Laßt die Vergangenheit ruhen.«
»Ja, laß sie ruhen! Laß auch die Dankbarkeit gegen mich ruhen – laß die Liebe gegen mich ruhen – laß mich in meinem von der ganzen Welt abgelegenen Stübchen, ohne Gesellschaft und Aufmerksamkeit, während du neue Bekanntschaften anknüpfst, die auf Erden nicht den mindesten Anspruch an dich haben! Ach, du mein Himmel, Edith, weißt du auch, wie elegant das Hauswesen ist, an dessen Spitze du stehst?«
»Ja.«
»Und jener ritterliche Mann, Dombey? Weißt du, daß du mit ihm verheiratet bist, Edith – daß du eine Versorgung, eine Stellung, eine Ausstattung, und was weiß ich alles, hast?«
»In der Tat, ich weiß dies recht wohl, Mutter.«
»Wie du es gehabt haben würdest bei jener entzückenden, guten Seele – wie hieß er doch? – Granger – wenn er nicht gestorben wäre. Und wem hast du das alles zu danken, Edith?«
»Euch, Mutter; Euch.«
»Dann schlinge deine Arme um meinen Nacken und küsse mich. Zeige mir, Edith, daß du weißt, es habe nie eine bessere Mutter gegeben, als ich dir gewesen bin. Und laß mich nicht dadurch, daß du mich mit deinem Undank quälst, zu einer wahren Vogelscheuche werden, da mich sonst, wenn ich wieder in Gesellschaft gehe, keine Seele kennen wird, nicht einmal jenes abscheuliche Tier, der Major.«
Bisweilen aber, wenn Edith ihr näher trat, das stattliche Haupt zu ihr niederbeugte und ihre kalten Wangen an die ihrigen legte, konnte die Mutter zurückfahren, als fürchte sie sich vor ihr, und unter einem Anfall von Zittern in den Ruf ausbrechen, daß es in ihrem Kopf irre sei. Zu andern Zeiten flehte sie die Tochter demütig an, auf dem Stuhl neben ihrem Bett Platz zu nehmen, und blickte dabei mit einem Gesicht, das sich selbst unter den rosenfarbigen Vorhängen nur scheu und verwirrt ausnahm, nach der düster sinnenden Gestalt hin. Im Lauf der Zeit erröteten die rosenfarbigen Vorhänge über Kleopatras leibliche Wiedergenesung, über ihren Aufzug, der, jugendlicher als je, die Verheerungen der Krankheit gutmachen sollte, über das Rot, die Zähne, die Locken, die Diamanten, die kurzen Ärmel und die ganze Garderobe der Puppe, die vor dem Spiegel zusammengebrochen war. Sie erröteten auch hin und wieder über eine Unbestimmtheit in ihrer Sprache, über das mädchenhafte Kichern, mit dem sie redete, und über ein gelegentliches Nachlassen ihres Gedächtnisses, das sich an keine Regel band, sondern phantastisch kam und ging, wie im Hohn über ihr eigenes phantastisches Ich.
Nie aber erröteten sie über einen Wechsel in der neuen Denk- und Sprechweise, die sich der Tochter gegenüber bei ihr bekundete. Und obgleich diese Tochter oft in den Bereich ihres Widerscheins kam, so erröteten sie nie ob ihrer durch ein Lächeln beleuchteten Liebenswürdigkeit oder ob der durch das Licht kindlicher Liebe gemilderten Strenge in ihrem schönen Antlitz.
Achtunddreißigstes Kapitel. MIß TOX NIMMT EINE ALTE BEKANNTSCHAFT WIEDER AUF
Aufgegeben von ihrer Freundin Louisa Chick und des Anblicks von Mr. Dombeys Gesicht beraubt – denn kein seines Paar durch Silberdraht verbundener Verlobungskarten schmückte den Spiegel über dem Kamin auf dem Prinzessinnenplatz, das Klavier oder irgendeinen von jenen kleinen Prunkgegenständen, die Lukretia sich für ihre Festtagsbeschäftigung vorbehielt – wurde Miß Tox sehr niedergeschlagen und schwermütig. Eine Zeitlang hörte man auf dem Prinzessinnenplatz nichts mehr von dem Vogelwalzer. Die Pflanzen wurden vernachlässigt, und auf dem Miniaturbild des Vaters von Miß Tox mit seinem gepuderten Kopf und Haarbeutel sammelte sich der Staub.
Miß Tox war jedoch dank ihres Alters oder ihres Charakters nicht geeignet, sich lange nutzlosen Klagen hinzugeben. Nur zwei Saiten des Klaviers waren infolge des Nichtgebrauchs verstummt, als der Vogelwalzer schon wieder in dem winkligen Besuchszimmer trillerte und wirbelte. Ein einziger Geranium-Ableger wurde ein Opfer der unvollkommenen Pflege, als sie schon wieder ihren Garten in den grünen Töpfen jeden Morgen regelmäßig begoß; und der puderköpfige Vater hatte kaum mehr als sechs Wochen unter der Wolke gehangen, als Miß Tox sein wohlwollendes Gesicht anhauchte und es mit einem Stück Waschleder polierte.
Dennoch fühlte sie sich einsam und verlassen. Wenn sie jemandem ihre Zuneigung geschenkt hatte, war ihr ganzes Herz und ihre Seele dabei, wie lächerlich sie dies auch kundgeben mochte, und die unverdiente Kränkung, die sie von Louisa erfahren, verletzte sie tief. Der Charakter von Miß Tor ließ keinen nachhaltigen Groll aufkommen. Wenn sie während ihres Lebens in ihrer sanften Art jeden nach seiner Fasson hatte selig werden lassen und keine eigenen Ansichten gehabt hatte, so war sie wenigstens ohne heftige Leidenschaften durchgekommen. Eines Tages erblickte sie auf beträchtliche Entfernung hin ihre ehemalige Freundin auf der Straße, und dies überwältigte ihr weiches Herz so sehr, daß sie augenblicklich ihre Zuflucht zu einem Pastetenbäcker nehmen mußte, um daselbst in einem dumpfen kleinen Hinterstübchen, das gewöhnlich zur Verzehrung von Kraftbrühen besucht wurde und von einer Ochsenschwanz-Atmosphäre qualmte, ihre Gefühle durch einen reichlichen Tränenerguß zu beruhigen.
Gegen Mr. Dombey fühlte Miß Tor kaum einen Grund zur Beschwerde; denn die Großartigkeit dieses Gentleman war in ihren Augen so eindrucksvoll, daß es ihr nach seiner Entfremdung vorkam, als sei der Abstand stets unermeßlich und er sehr herablassend gewesen, daß er sie überhaupt nur in seiner Nähe geduldet hatte. Nach ihrer aufrichtigen Ansicht konnte für ihn keine Frau zu schön oder zu vornehm sein, und es lag vollkommen in der Natur der Sache, daß er bei der Wahl einer Gattin nach oben schaute. Unter Tränen stellte sie sich diese Wahrheit wohl zwanzigmal des Tages vor und fand sie vollauf berechtigt. Sie dachte nie an die stolze Weise, mit der Mr. Dombey sie seiner Bequemlichkeit und seinen Launen dienstbar gemacht hatte, indem er gnädigst gestattete, daß sie eine von den Wärterinnen seines kleinen Sohnes wurde. Wie sie selbst sagte, hatte sie in jenem Hause viele glückliche Stunden verbracht, deren sie sich stets mit Dank erinnern mußte. Auch konnte sie nie aufhören, Mr. Dombey als einen der würdevollsten Männer zu betrachten.
Von der unversöhnlichen Louisa aber verstoßen und mit einiger Scheu vor dem Major, den sie jetzt mit Mißtrauen betrachtete, war es gleichwohl für Miß Tor sehr ärgerlich, daß sie nicht erfuhr, was in Mr. Dombeys Hause vorging. Sie hatte sich in der Tat daran gewöhnt, in Dombey und Sohn die Angel zu sehen, um die sich die Welt im allgemeinen drehte. So beschloß sie, ehe sie auf alle Kunde von dem verzichte, was von so großem Interesse für sie war, lieber ihre alte Bekanntschaft mit Mrs. Richards wieder aufzunehmen. Sie wußte seit ihrem letzten denkwürdigen Erscheinen vor Mr. Dombey, daß sie hin und wieder einen Verkehr mit den Dienstboten unterhielt. Vielleicht wurde Miß Tor beim Aufsuchen der Toodle-Familie im geheimen noch durch den zarteren Beweggrund geleitet, daß sie dann jemand habe, mit dem sie über Mr. Dombey sprechen konnte, gleichviel, wie gering dieser Jemand auch war.
Wie dem nun sein mochte, Miß Tor richtete eines Abends ihre Schritte nach Toodles Wohnung – eine Zeit, um die Mr. Toodle schwarz und rußig im Kreise seiner Familie sich mit Tee erfrischte. Mr. Toodle kannte nur drei Stadien seines Daseins: er nahm entweder Erfrischungen in dem eben erwähnten Kreise ein, oder stürmte mit einer Geschwindigkeit von fünf bis zehn Meilen in der Stunde durchs Land, oder gab sich nach des Tages Mühe dem Schlafe hin. Er befand sich immer in einem Sturm oder in einer Windstille – in jedem dieser Zustände ein friedlicher, zufriedener, bequemer Mann, der alles Aufbrausende in seiner Natur an die keuchenden, pustenden und sich in der schonungslosesten Weise aufreibenden Dampfmaschinen abgetreten zu haben schien, während er selbst ein stilles, gleichförmiges Leben führte.
»Polly, mein Mädel«, sagte Mr. Toodle, dem auf jedem Knie ein junger Toodle saß, während zwei andere den Tee für ihn anfertigten und eine hübsche weitere Anzahl sich in der Stube umhertummelte – er war nämlich nie ohne Kinder, sondern hielt stets einen guten Vorrat bereit – »hast du in der letzten Zeit unsern Sieder nicht gesehen?«
»Nein«, versetzte Polly! »aber ich rechne fast mit Sicherheit darauf, daß er heute noch kommen wird. Es ist sein Abend, und er hält ihn sehr regelmäßig ein.«
»Ich meine«, sagte Mr. Toodle, der es sich einmal ungemein gut schmecken ließ, »unser Sieder entwickelt sich jetzt so gut fort, wie dies einem solchen Jungen möglich ist. Bist du nicht auch der Ansicht, Polly?«
»O, es geht ihm recht gut«, antwortete Polly.
»Bemerkst du nichts Heimliches an ihm – tut er nicht duckmäuserisch, Polly?« fragte Mr. Toodle.
»Nein!« erwiderte Mrs. Toodle nachdrücklich.
»Es freut mich, daß er sich nicht duckmäuserisch anläßt, Polly«, bemerkte Mr. Toodle in seiner langsamen, abgemessenen Weise und schaufelte sein Butterbrot mit einem Schnappmesser ein, als müsse er seine eigene Maschine mit Material versehen, »denn das wäre kein gutes Zeichen. Meinst du nicht, Polly?«
»Aber natürlich, Vater. Wie kannst du nur fragen!«
»Seht, meine Jungen und Mädels«, sagte Mr. Toodle, in seiner Familie umherschauend, »wo ihr je ein ehrliches Unterkommen finden mögt, so kommt euch gewiß nichts besser zustatten als die Offenheit. Geratet ihr in Bergdurchschnitte oder Tunnels, so gebt euch nicht mit geheimem Spiel ab. Haltet eure Pfeifen im Gang und laßt wissen, wo ihr seid.«
Die aufstehenden Toodles vereinigten sich zu einem wirren Lärm, um damit ihre Entschlossenheit anzudeuten, daß sie von dem väterlichen Rat Nutzen ziehen wollten.
»Aber wie kannst du nur wegen Rob mit solchen Fragen kommen, Vater?« ergriff jetzt die Mutter ängstlich da« Wort.
»Polly, meine Alte«, versetzte Mr. Toodle, »ich wüßte nicht, daß ich wegen Rob gerade etwas Besonderes gesagt hätte. Es ist mir nur so eingefallen. Ich komme vor ein Stationshaus; man nimmt mit, was sich da vorfindet, und ein ganzer Zug von Ideen wird angekoppelt, ehe ich weiß, wo ich bin, oder woher sie kommen. Was doch Menschengedanken für eine Verkettung sind!« fügte Mr. Toodle bei.
Mr. Toodle spülte diese tiefe Betrachtung mit einem großen Topf Tee hinunter und setzte darauf eine ansehnliche Menge Butterbrot. Dabei erteilte er seinen jungen Töchtern den Auftrag, einen gehörigen Vorrat Wasser im Topf heiß zu erhalten, da er ganz ausgetrocknet und deshalb ein »Anblick von vielen Tassen« erforderlich sei, ehe sein Durst sich zufrieden geben könne.
In der Befriedigung seines Appetits vergaß übrigens Mr. Toodle die jüngeren Zweige um ihn her durchaus nicht, denn obschon letztere bereits ihre Abendmahlzeit erhalten hatten, lugten sie doch nach den ungewöhnlichen Bissen aus, als ob solche von besonderem Wohlgeschmack wären. Diese verteilte er hin und wieder an den erwartungsvollen Kreis, indem er große Keile Butterbrot ausstreckte, von welchen die Familie in gesetzlicher Reihenfolge herunterbiß. Außerdem spendete er in gleicher Weise mit einem Löffel kleine Dosen Tee. Diese Extraportionen mundeten den jungen Toodles so köstlich, daß das junge Volk nach dem Genuß dann in seinem Entzücken kleine Tänze aufführte, auf einem Bein umherhüpfte und sich in andern sprunggerechten Merkzeichen der Freude erging. Nachdem es in solcher Weise seiner Aufregung Luft gemacht hatte, schloß es sich allmählich wieder an Mr. Toodle an und verwandte kein Auge von dem Tee und Butterbrot des Vaters, obschon es tat, als erwarte es für sich selbst nichts von diesen Nährmitteln, sondern wolle sich nur mit dem Familienhaupt in vertraulichem Flüstern über allerlei sonstige Gegenstände unterhalten.
Mr. Toodle, der inmitten seiner Kinder ein schauerliches Beispiel von Appetit gab, führte eben zwei junge Toodles auf seinen Knien, die einen besonderen Eisenbahnzug vorstellten, nach Birmingham und sah nach den andern über eine Barriere von Butterbrot hin, als Rob, der Schleifer, in seinem Südwesterhut und den Trauerkleidern eintrat – eine Erscheinung, die unter Brüdern und Schwestern ein stürmisches Willkommen hervorrief.
»Ah, Mutter!« sagte Rob, indem er ihr einen pflichtmäßigen Kuß aufdrückte. »Wie geht es Euch, Mutter?«
»Bist du da, mein Junge?« rief Polly, ihn umarmend und dann seinen Rücken klopfend. »Er und heimlich tun – aber Vater, wo denkst du hin?«
Dies war auf Mr. Toodles Privaterbauung berechnet; aber Rob, der Schleifer, der sich schon in seinem knappen Anzug unbehaglich fühlte, fing die Worte augenblicklich auf.
»Wie, hat der Vater wieder etwas über mich gesagt?« rief der gekränkte Unschuldige. »O, wie hart ist´s doch, daß es einem der eigene Vater hinterrücks immer ins Gesicht wirft, wenn man einmal ein wenig auf Abwege gekommen ist! Das könnte einen wohl dazu treiben«, rief Rob, in seinem Schmerz zu den Ärmelaufschlägen seine Zuflucht nehmend, »daß man hinginge und wider Willen etwas täte.«
»Mein guter Junge«, rief Polly, »der Vater meinte nichts damit.«
»Wenn der Vater nichts damit meinte«, heulte der beleidigte Schleifer, »warum geht er hin und sagt etwas? Niemand denkt nur halb so schlimm von mir, wie mein eigener Vater. Zu unnatürlich! Ich wollte, es nähme jemand ein Beil und hackte mir den Kopf ab. Ich glaube, der Vater würde sich nicht viel daraus machen, und es wäre mir lieber, er täte es, als ein anderer.«
Bei diesen verzweifelten Worten schrien alle die jungen Toodles laut hinaus – eine pathetische Wirkung, die der Schleifer noch erhöhte, indem er sie ironisch beschwor, nicht um ihn zu weinen, denn sie müßten ihn hassen – müßten es, wenn sie gute Knaben und Mädchen seien. Das ergriff den zweitjüngsten Toodle, der überhaupt leicht zu rühren war, so sehr, daß die Aufregung sich auch in seiner Stimmritze verfing und ihn ganz purpurrot machte. Das veranlaßte den bestürzten Mr. Toodle, ihn nach dem Wasserfaß hinauszunehmen und unter den Zapfen zu bringen, obschon diese medizinische Maßregel unnötig war; denn der Patient genas bei dem bloßen Anblick dieses Werkzeuges wieder.
Nachdem es soweit gekommen war, gab Mr. Toodle seine Erklärung ab. Hierüber beruhigten sich die tugendhaften Gefühle seines Sohnes. Sie gaben sich gegenseitig die Hand, und es herrschte wieder Eintracht.
»Willst du auch mitmachen, Sieder, mein Junge?« fragte der Vater, der mit erneuerter Kraft zu seinem Tee zurückkehrte.
»Nein, ich danke, Vater. Der Herr und ich, wir beide haben schon den Tee getrunken.«
»Und was macht dein Herr, Rob?« fragte Polly.
»Ich weiß selbst nicht, Mutter – es ist da nicht viel zu rühmen. Mit dem Geschäft ist es gar nichts, seht Ihr. Er versteht nichts davon – nicht das mindeste. So kommt erst heute ein Mann in den Laden und sagt: ›Ich möchte gern ein So und So haben‹, sagt er – es ist ein ganz schwerer Name. ›Was?‹ sagt der Kapt'n. ›Ein So und So‹, sagt der Mann. ›Bruder‹, sagt der Kapt'n, ›wollt Ihr Euch nicht im Laden umsehen?‹ ›Gut‹, sagt der Mann; ›ich habe es getan.‹ ›Seht Ihr, was Ihr braucht?‹ sagt der Kapt'n. ›Nein‹, sagt der Mann. ›Kennt Ihr es, wenn Ihr es zu Gesicht bekommt?‹ sagt der Kapt'n. ›Nein‹, sagt der Mann. ›Ei, dann will ich Euch was sagen, mein Junge‹, sagt der Kapt'n: ›geht lieber wieder zurück und fragt, wie es aussieht, denn ich weiß es auch nicht.‹«
»Das ist doch nicht die Art, wie man Geld verdient – oder?« fragte Polly.
»Geld, Mutter? Er wird nie Geld verdienen. Er hat eine Art an sich, wie ich nie etwas Ähnliches gesehen habe. Trotzdem möchte ich ihm nicht nachsagen, daß er ein schlimmer Herr ist. Mir kann es übrigens gleichgültig sein; denn ich glaube nicht, daß ich lange bei ihm bleiben werde.«
»Wie, nicht an deinem Platz bleiben, Rob?« rief die Mutter, während Mr. Toodle die Augen weit aufsperrte.
»Nicht an diesem Platz vielleicht«, entgegnete der Schleifer mit einem Blinzeln. »Es sollte mich nicht wundern – Ihr wißt, Freunde bei Hof – doch kümmert Euch vorderhand nicht darum, Mutter. Es ist schon in der Ordnung – mehr kann ich Euch nicht sagen.«
Der unanfechtbare Beweis, der in diesen Andeutungen und in dem geheimnisvollen Wesen des Schleifers lag, daß er nicht dem Fehler ausgesetzt sei, den Mr. Toodle bei ihm befürchtet hatte, würde vielleicht zu einer Erneuerung der früheren Unbill und zu einer weiteren Aufregung in der Familie geführt haben, wenn nicht im gelegenen Augenblick ein anderer Besuch angelangt wäre, der sich zu Pollys großer Überraschung unter der Tür zeigte und den Anwesenden mit freundschaftlicher Gönnermiene zulächelte.
»Wie geht es Euch, Mrs. Richards?« sagte Miß Tox. »Ich wollte nach Euch sehen. Darf ich eintreten?«
Auf dem heiteren Gesichte der Mrs. Richards leuchtete eine gastfreundliche Antwort, und Miß Tox, die den dargebotenen Stuhl annahm und dabei Mr. Toodle huldreich begrüßte, knüpfte ihr Hutband los und erklärte, sie müsse zuerst die lieben Kinder bitten, daß eines ums andere herkomme und sie küsse.
Der arme zweitjüngste Toodle, der um der oft durch ihn veranlaßten häuslichen Unruhen willen unter einem unglücklichen Planeten geboren zu sein schien, konnte sich an dieser allgemeinen Begrüßung nicht beteiligen, weil er unter dem Südwesterhut steckte. Er hatte vorher mit ihm gespielt und ihn sich jetzt verkehrt so tief auf seinen Kopf gesetzt, daß er unmöglich wieder herauskommen konnte. Dieser Zufall bot seiner erschreckten Phantasie das unheimliche Bild dar, als müsse er den Rest seiner Tage in Finsternis und hoffnungsloser Abgeschiedenheit von seiner Familie verbringen, weshalb er mit Macht zu kämpfen und ein ersticktes Geschrei auszustoßen anhub. Nach Befreiung von dieser Plage zeigte sich sein Gesicht sehr heiß, rot und feucht, weshalb Miß Tox das erschöpfte Büblein auf ihren Schoß nahm.
»Ich kann mir denken, Sir, daß Ihr mich fast vergessen habt«, sagte Miß Tox zu Mr. Toodle.
»Nein, Ma'am, nein«, sagte Toodle. »Aber wir alle sind seitdem ein bißchen älter geworden.«
»Und wie geht es Euch, Sir?« fragte Miß Tox freundlich.
»Ganz gut, Ma'am, danke«, versetzte Toodle. »Aber wie befindet Ihr Euch, Ma'am? Halten sich die Rheumatismen hübsch ferne, Ma'am? Wir müssen alle erwarten, in sie hineinzugeraten, je weiter wir vorrücken.«
»Danke«, sagte Miß Tox. »Ich habe von dieser Seite aus noch keine Unbequemlichkeit zu erfahren gehabt.«
»Da könnt Ihr von Glück sagen, Ma'am«, entgegnete Mr. Toodle. »Viele Personen von Eurem Alter, Ma'am, werden schwer davon heimgesucht. Da ist zum Beispiel meine Mutter – –« Er begegnete jetzt dem Auge seines Weibes und begrub weislich den Schluß seines Satzes in einer weiteren Tasse Tee.
»Ihr werdet mir doch nicht sagen wollen, Mrs. Richards«, rief Miß Tox, nach Rob hinsehend, »daß dies Euer –«
»Ja, mein Ältester, Ma'am«, ergänzte Polly. »Das ist der kleine Bursch, Ma'am, der die unschuldige Ursache von so vielem wurde.«
»Freilich, Ma'am«, pflichtete Toodle bei, »es ist der mit den kurzen Beinen – und sie waren«, fuhr er mit einem Anflug von Poesie in seinem Tone fort, »ungewöhnlich kurz für Lederhosen, als Mr. Dombey einen Schleifer aus ihm machte.«
Die Erinnerung überwältigte Miß Tox beinahe; denn der Gegenstand derselben hatte für sie unmittelbar ein besonderes Interesse. Sie forderte Rob auf, ihr die Hand zu geben, und wünschte seiner Mutter Glück zu seinem offenen feinen Gesicht. Rob, der dies mitanhörte, versuchte nun, eine entsprechende Miene aufzusetzen, um das Lob zu rechtfertigen, obschon es kaum die rechte war.
»Und nun, Mrs. Richards«, sagte Miß Tox – »und auch Ihr, Sir«, sich an Toodle wendend – »will ich euch unverhohlen und der Wahrheit gemäß sagen, weshalb ich hierher gekommen bin. Ohne Zweifel wißt Ihr, Mrs. Richards – und möglicherweise ist es auch Euch bekannt, Sir – daß zwischen mir und einigen meiner Freunde, die ich sonst häufig besuchte, eine kleine Entfremdung stattgefunden hat.«
Polly, die mit weiblichem Takt wohl verstand, was ihr Besuch meinte, drückte dies in einem leichten Blick aus, während Mr. Toodle, der nicht die mindeste Vorstellung von dem hatte, auf was Miß Tox anspielte, seine Unwissenheit mit einem weiten Aufsperren seiner Augen zu erkennen gab.
»Natürlich ist es von keinem Belang«, fuhr Miß Tox fort, »wie diese Kälte herbeigeführt wurde, und die Sache bedarf deshalb keiner Erörterung. Genug, daß ich die größtmögliche Achtung und Teilnahme habe für Mr. Dombey« – ihre Stimme stockte – »und alles, was zu ihm in Beziehung steht.«
Der so belehrte Mr. Toodle schüttelte den Kopf und entgegnete, er habe sagen hören und glaubte es auch für seinen Teil, daß mit Mr. Dombey nicht gut umzugehen sei.
»Ich bitte, habt die Güte, nicht so zu sprechen, Sir«, erwiderte Miß Tox. »Ich muß Euch flehentlich ersuchen, Sir, weder jetzt oder in Zukunft solche Äußerungen fallen zu lassen. Sie sind sehr schmerzlich für mich und können gewiß bei einem Gentleman von so geordnetem Geist, wie es zuverlässig der Eure ist, keine nachhaltige Überzeugung bleiben.«
Mr. Toodle geriet in große Verwirrung; denn er hatte nicht im mindesten daran gezweifelt, daß seine Bemerkung mit Beifall aufgenommen werden würde.
»Alles, was ich Euch zu sagen wünsche, Mrs. Richards«, nahm Miß Tox wieder auf – »ich wende mich dabei auch an Euch, Sir– besteht darin, daß mir jede Euch etwa zugehende Kunde von dem Tun und Treiben der Familie, von der Wohlfahrt der Familie, von der Gesundheit der Familie stets von größtem Interesse sein wird. Wie angenehm ist es mir, mit Mrs. Richards über die Familie und von alten Zeiten plaudern zu können. Denn zwischen Mrs. Richards und mir gab es nie die mindeste Mißhelligkeit; zwar könnte ich wünschen, daß wir besser bekannt geworden wären, ob schon ich dafür nur mir selbst Vorwürfe zu machen habe. Aber ich hoffe doch, sie wird nichts dagegen haben, wenn wir jetzt uns freundschaftlich aneinander anschließen, und mir erlauben, daß ich, wenn ich Lust dazu habe, hier nicht als Fremde vorspreche. In der Tat, Mrs. Richards«, fügte Miß Tox angelegentlich bei, »Ihr werdet als das gutmütige Wesen, das ich stets in Euch kannte, diese Bitte aufnehmen, wie sie gemeint ist.«
Polly war erfreut darüber und bestätigte das auch. Mr. Toodle aber, der nicht wußte, ob er sich freuen sollte oder nicht, beharrte in einer stöckischen Ruhe.
»Ihr seht, Mrs. Richards«, sagte Miß Tox – »und ich hoffe, auch Ihr seht es, Sir, – daß es mancherlei gibt, wodurch ich Euch einigermaßen nützlich werden kann, wenn Ihr mich nicht als Fremde betrachten wollt. Es wird mich stets freuen, wenn ich in der Lage bin, Euch einen Dienst zu erweisen. So kann ich zum Beispiel Eure Kinder etwas lehren. Wenn Ihr es erlaubt, so will ich ein paar Büchlein und einige Arbeit mitbringen; sie können dann hin und wieder etwas lernen – ach, lieber Himmel, und wieviel sie hoffentlich lernen werden, um ihrer Lehrerin Ehre zu machen!«
Mr. Toodle, der großen Respekt vor dem Lernen hatte, duckte den Kopf beifällig nach seiner Frau hin und feuchtete mit aufdämmernder Zufriedenheit seine Hände an.
»Wenn ich nicht als Fremde gelte, werde ich niemandem im Wege stehen«, sagte Miß Tox, »und alles wird fortgehen, gerade so wie wenn ich nicht hier wäre. Mrs. Richards kann bei ihrer Näherei, beim Bügeln oder bei der Wartung ihrer Kinder bleiben, ohne auf mich Rücksicht zu nehmen; und Ihr raucht Eure Pfeife, wenn Ihr Lust dazu habt, Sir – nicht wahr?«
»Danke, Ma'am«, sagte Mr. Toodle. »Ja; ich will mein Röllchen zusammenschneiden.«
»Sehr schön von Euch, Sir«, versetzte Miß Tox, »und ich gebe Euch von ganzer Seele die Versicherung, daß es mir ein großer Trost sein wird und ich für alles, was ich vielleicht für die Kinder zu tun so glücklich bin, eine reiche Belohnung darin sehe, wenn Ihr mit aller Behaglichkeit auf diesen Vertrag eingeht, ohne ein weiteres Wort darüber zu verlieren.«
Der Vertrag wurde auf der Stelle ratifiziert, und Miß Tox tat ohne Verzug so ganz heimisch, daß sie sofort der Reihe nach ein einleitendes Verhör mit den Kindern vornahm und – zu Mr. Toodles großer Verwunderung – Alter, Namen und Fortschritte derselben auf ein Blatt Papier niederschrieb. Diese Zeremonie, die durch allerlei kleines Geplauder unterbrochen wurde, währte bis nach der gewöhnlichen Schlafenszeit der Familie. Miß Tox hielt sich so lange an Toodles Herd auf, bis es für sie zu spät war, allein nach Hause zu gehen. Der galante Schleifer aber, der gleichfalls dageblieben war, erbot sich höflich, sie bis vor ihre Tür zu begleiten, und da für Miß Tox etwas darin lag, wenn sie sich im Geleit eines jungen Menschen sehen lassen konnte, der Mr. Dombey seine erste Beinbekleidung verdankte, so ging sie sehr bereitwillig auf den Vorschlag ein.
Nachdem sie Mr. Toodle und Polly die Hand gereicht, sodann alle Kinder geküßt hatte, verließ sie das Haus unter unbegrenzter Popularität und mit so leichtem Herzen, daß Mrs. Chick sicherlich großen Anstoß daran genommen haben würde, wenn sie den Grad dieser Leichtigkeit hätte ermessen können.
Rob, der Schleifer, wollte in seiner Bescheidenheit hinter ihr dreingehen. Miß Tox aber forderte ihn auf, an ihrer Seite zu bleiben, damit sie sich mit ihm unterhalten könne, und »fragte ihn unterwegs aus«, wie sie nachher seiner Mutter berichtete.
Rob bestand sein Examen so glanzvoll, daß Miß Tox ganz bezaubert von ihm war. Je mehr sie herausholte, desto feiner machte er sich – gerade wie der Draht auf der Ziehbank. Wie er sich an jenem Abend ausnahm, hätte man glauben sollen, es habe nie einen besseren, klügeren, nüchterneren, ehrlicheren, bescheideneren und aufrichtigeren Menschen gegeben.
»Es freut mich in der Tat, daß ich Euch kenne«, sagte Miß Tox, als sie an ihrer Tür anlangte. »Ich hoffe, Ihr werdet mich als Eure Freundin betrachten und mich so oft besuchen, wie es Euch beliebt. Habt Ihr eine Sparbüchse?«
»Ja, Ma'am«, versetzte Rob. »Ich spare alles auf, bis ich genug habe, um es in die Bank zu legen, Ma'am.«
»In der Tat sehr löblich«, sagte Miß Tox. »Das höre ich gerne. Seid so gut, auch diese halbe Krone hineinzulegen.«
»O, ich danke Euch, Ma'am«, entgegnete Rob; »aber ich darf doch wirklich nicht daran denken, Euch zu berauben.«
»Euer unabhängiger Geist gefällt mir«, sagte Miß Tox; »aber ich versichere Euch, daß hier von keiner Beraubung die Rede ist. Ihr werdet mich kränken, wenn Ihr das Geldstück nicht als einen Beweis meiner guten Meinung annehmt. Gute Nacht, Robin.«
»Gute Nacht, Ma'am«, erwiderte Rob. »Und schönen Dank!«
Der Schleifer lachte sich ins Fäustchen, ließ sich die halbe Krone wechseln und verspielte sie mit Aufwerfen an einen Pastetenmann. Aber freilich hatte man in der Schleiferschule nichts von Ehrgefühl gelernt, denn das daselbst herrschende System war besonders geeignet, die Heuchelei einzuimpfen – in einem Grad sogar, daß viele von den Verwandten und Herren vormaliger Schleifer erklärten, wenn aus der Erziehung einfacher Menschen nichts weiter herauskomme, so unterbleibe sie besser ganz und gar. Einige Verständigere sagten, man solle bei der Leitung besseren Grundsätzen folgen; aber die Vorstände der Schleiferzunft traten stets solchen Einwürfen damit entgegen, daß sie einige Knaben heraussuchten, die trotz des Systems gut ausgefallen wären, und dann rundweg behaupteten, sie hätten dies nur ihrer Erziehung zu danken. Damit war den Tadlern das Handwerk gelegt und der Ruhm der Schleiferschule hergestellt.
Neununddreißigstes Kapitel. WEITERE ABENTEUER DES SCHIFFSKAPITÄNS EDWARD CUTTLE.
Sicheren Fußes und kräftigen Willens hatte die Zeit so sehr vorwärts gedrängt, daß das Jahr, das der alte Instrumentenmacher seinem Freund als Termin für Eröffnung des den Brief begleitenden, versiegelten Pakets anberaumt hatte, nahezu abgelaufen war. Demzufolge begann Kapitän Cuttle Abend für Abend mit den Gefühlen unruhiger Neugierde danach zu sehen.
Wir müssen ihm zur Ehre nachrühmen, daß ihm ebensowenig der Gedanke kam, das Päckchen auch nur eine Stunde vor Ablauf der Frist zu erbrechen, wie es ihm eingefallen sein würde, sich selbst zu öffnen, um die Anatomie seines eigenen Leibes zu studieren. Er holte es nur bei einem gewissen Stadium seiner ersten Abendpfeife heraus, legte es auf den Tisch und blickte in stummem Ernst zwei oder drei Stunden durch den Rauch danach hin, als ob es einen Zauber enthielte. Bisweilen rückte der Kapitän, nachdem es ziemlich lange in solcher Weise vor ihm gelegen hatte, seinen Stuhl allmählich weiter und weiter ab, als wolle er sich der unheimlichen Atmosphäre entziehen, obschon ihm dieses, wenn es auch wirklich seine Absicht war, nie gelang. Denn selbst an der Stubenwand übte das Paket noch immer seine bannende Kraft. Ja das Bild davon folgte sogar seinen Augen, wenn sie gedankenvoll an der Decke hinschweiften, legte sich vor ihm in die Kohlen, wenn sein Blick dem Feuer zugekehrt war, oder nahm das auffallendste Plätzchen in dem Schrank mit weißer Wäsche ein.
Was die »Herzensfreude« betraf, so erlitt die väterliche Zuneigung und Bewunderung des Kapitäns keinen Wechsel, wiewohl es bei der letzten Besprechung mit Mr. Carker zweifelhaft geworden war, ob seine frühere Einmengung zugunsten dieser jungen Dame und seines Knaben Wal'r ganz so günstig ausgefallen sei, wie er damals wirklich glaubte. Mit einem Wort: der Kapitän trug sich mit ernsten Bedenken, ob er durch jenen Schritt nicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet habe. Deshalb leistete er denn auch in seiner Reue und Bescheidenheit die beste ihm erdenkliche Sühne dadurch, daß er sich in einer Weise beseitigte, die es ihm unmöglich machte, irgend jemandem nachteilig zu werden, und daß er sich sozusagen selbst als eine gefährliche Person über Bord warf.
Er begrub sich unter den Instrumenten, wagte sich nie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus und brach jeglichen Verkehr mit Florence oder Miß Nipper ab. Sogar von Mr. Perch hatte er sich bei erster Gelegenheit losgesagt, indem er diesem Gentleman trocken erklärte, er danke ihm für seine Gesellschaft, habe sich aber von allen solchen Bekannten losgelöst, da er nicht wisse, ob nicht durch ihn, ohne daß er es beabsichtige, ein Pulvermagazin in die Luft gesprengt werde. In dieser freiwilligen Einsamkeit verbrachte der Kapitän ganze Tage und Wochen, ohne mit jemandem anders ein Wort zu wechseln, als mit Rob, dem Schleifer, den er als ein Muster uneigennütziger Anhänglichkeit und Treue betrachtete. Die einzige Unterhaltung in seiner Abgeschiedenheit bestand darin, daß er abends mit seiner Pfeife im Mund das Päckchen anschaute und dabei an Florence und den armen Walter dachte, bis beide seiner nicht sehr reichen Phantasie als tot erschienen – hingegangen in ewiger Jugend als die schönen, unschuldigen Kinder seiner ersten Erinnerung.
In seinem Grübeln versäumte übrigens der Kapitän die eigene Ausbildung oder die des Schleifers durchaus nicht. Rob mußte ihm in der Regel jeden Abend eine Stunde lang aus einem Buche vorlesen, und da der Kapitän des unbedingten Glaubens lebte, daß alle Bücher wahr seien, so gelangte er auf diese Weise in den Besitz vieler merkwürdiger Kenntnisse. An Sonntagabenden las er vor Schlafengehen stets selbst eine gewisse göttliche Predigt, die vordem auf einem Berge gehalten wurde, und obgleich er gewohnt war, den Teil ohne Buch nach seiner eigenen Art zu zitieren, so las er sie doch augenscheinlich mit einem so ehrerbietigen Eingehen auf ihren himmlischen Geist, als könne er das griechische Original auswendig und als sei er imstande, über jeden Vers eine beliebige Anzahl scharfer theologischer Abhandlungen zu schreiben.
Rob, der Schleifer, dessen Ehrfurcht für die Heilige Schrift unter dem bewundernswürdigen System der Schleiferschule durch beharrliches Zerbeulen seiner intellektuellen Schienbeine an allen Eigennamen sämtlicher Judastämme, durch das eintönige Hersagen von schweren Versen, das ihm meist zur Strafe auferlegt worden, und durch die Sonntags je dreimal vorkommende Schaustellung seiner sechs Jahre alten Person in Lederhosen auf einer sehr hohen und sehr heißen Emporkirche, wo eine große Orgel gleich einer ungemein geschäftigen Biene gegen seinen schläfrigen Kopf summte, zur Entwicklung gekommen war – Rob, der Schleifer, tat, sobald der Kapitän zu lesen aufgehört hatte, als sei er ungemein erbaut, obschon er während der Vorlesung selbst in der Regel gähnte und döste – eine Tatsache, die der gute Kapitän freilich nie bei ihm argwöhnte.
Als Geschäftsmann hielt Kapitän Cuttle auch darauf, daß regelmäßig Buch geführt wurde. Er trug in dasselbe seine Beobachtungen über das Wetter und über den Zug der Frachtwagen und anderer Fuhrwerke ein, die in diesem Stadtteil morgens, und im Laufe des Tages nach Westen, abends aber nach Osten ihre Richtung zu nehmen pflegten. Als einmal in einer Woche zwei oder drei Personen ihn wegen Brillen »angingen« – so lautete nämlich der Eintrag – und, ohne gerade zu kaufen, wieder herzukommen versprachen, so folgerte der Kapitän daraus mit Zuversicht, daß das Geschäft im Zunehmen begriffen sei, und zeichnete auch diese Bemerkung in seinem Tagebuch auf, nachdem er zuerst notiert hatte, der Wind blase ziemlich frisch West bei Nord und habe im Lauf der Nacht umgeschlagen.
Eine der Hauptnöte des Kapitäns war Mr. Toots, der sehr häufig auf Besuch kam und, ohne viel Worte darüber zu verlieren, sich die Idee in den Kopf gesetzt zu haben schien, das kleine Hinterstübchen sei ein ganz herrliches Zimmer, um darin zu kichern. Er saß nämlich oft halbe Stunden da, ohne etwas anderes zu tun und ohne dem Kapitän auch nur im mindesten etwas mehr Vertrauen abzugewinnen. Der Kapitän, der durch seinen letzten Versuch vorsichtig gemacht worden war, konnte nicht mit sich ins reine kommen, ob Mr. Toots wohl in Wirklichkeit das gutmütige Subjekt, das er zu sein schien, oder nicht vielmehr ein durchtriebener, arglistiger und in der Verstellungskunst ausgelernter Heuchler sei. Seine häufigen Anspielungen auf Miß Dombey waren verdächtig; aber der Kapitän fühlte sich doch im geheimen durch Mr. Toots' Zutraulichkeit angezogen und unterließ es daher vorderhand, ein Urteil zu fällen. Dagegen faßte er ihn mit einer Schlauheit, die sich nicht beschreiben läßt, ins Auge, so oft Mr. Toots den Gegenstand, der seinem Herzen so nahe lag, zur Sprache brachte.
»Kapitän Gills«, platzte Mr. Toots seiner Gewohnheit nach eines Tages plötzlich heraus, »glaubt Ihr, daß Euch mein Vorschlag genehm sein könne, und wollt Ihr für mich Eure Beziehungen nutzbar machen?«
»Nun, mein Junge, ich will Euch sagen, wie die Sache liegt«, versetzte der Kapitän, der endlich über sein Handeln zu einem Entschluß gekommen war. »Ich habe mir die Sache überlegt.«
»Kapitän Gills, das ist sehr freundlich von Euch«, entgegnete Mr. Toots. »Ich bin Euch sehr dafür verbunden. Auf mein Ehrenwort, Kapitän Gills, es würde ein Liebesdienst sein, wenn Ihr mich die Ehre Eurer Beziehungen teilhaftig werden ließet. Gewiß und wahrhaftig.«
»Ja, seht, Bruder«, fuhr der Kapitän langsam fort, »ich kenne Euch nicht.«
»Aber Ihr könnt mich nie kennenlernen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots in eifriger Beharrlichkeit, »wenn Ihr mir nicht das Vergnügen einer näheren Aussprache gönnen wollt.«
Der Kapitän schien ob der Originalität und dem Gewicht dieser Worte betroffen zu sein und sah Mr. Toots an, als denke er, es stecke am Ende doch weit mehr in ihm, als er erwartet hatte.
»Gut gesprochen, mein Junge«, erwiderte der Kapitän mit gedankenvollem Kopfnicken, »und vollkommen richtig. Schaut aber einmal her. Ihr habt einige Äußerungen fallen lassen, aus denen ich entnehmen muß, daß Ihr ein gewisses holdes Geschöpf bewundert – ist es nicht so?«
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, ungestüm mit der Hand ausholend, in der er seinen Hut hielt, »Bewunderung ist nicht das rechte Wort. Bei meiner Ehre, Ihr habt gar keine Vorstellung von der Art meiner Gefühle. Wenn ich schwarz gefärbt und zu Miß Dombeys Sklaven gemacht werden könnte, so würde ich es als eine Auszeichnung betrachten. Ja, ich ließe es mich mein ganzes Vermögen kosten, wenn ich damit eine Umwandlung meiner Person in Miß Dombeys Hund zu erkaufen imstande wäre. Ich – ich glaube wahrhaftig, ich würde dann nie aufhören, mit meinem Schwanz zu wedeln. Gewiß, das würde das höchste Glück für mich sein, Kapitän Gills!«
Mr. Toots sprach dies mit feuchten Augen und drückte in tiefer Erregung seinen Hut gegen die Brust.
»Mein Junge«, versetzte der zum Mitleid bewegte Kapitän, »wenn Euch dies Ernst ist –«
»Kapitän Gills«, rief Mr. Toots, »ich bin in einem solchen Gemütszustand, und es ist mir so furchtbar ernst, daß ich es auf einem heißen Stück Eisen, auf einer glühenden Kohle, auf geschmolzenem Blei, auf brennendem Siegelwachs oder auf irgend etwas der Art beschwören wollte. Ja, ich würde mich sogar freuen über die Beschädigung, da sie mir eine Erleichterung brächte für meine Gefühle.«
Und Mr. Toots schaute hastig im Zimmer umher, als suche er irgendein zureichend schmerzliches Peinigungsmittel, um seinen fürchterlichen Vorsatz auszuführen.
Der Kapitän schob seinen Glanzhut auf dem Kopf zurück, strich mit der schweren Hand sein Gesicht, so daß seine Nase noch fleckiger wurde, trat vor Mr. Toots hin, packte ihn mit seinem Haken an dem Aufschlag seines Rocks und redete ihn mit folgenden Worten an, während Mr. Toots in großer Aufmerksamkeit und einiger Verwunderung ihm ins Gesicht schaute.
»Seht Ihr, mein Junge, wenn es Euch ernst ist«, sagte der Kapitän, »so seid Ihr ein Gegenstand der Gnade, und Gnade ist das glänzendste Kleinod in der Krone eines Engländers – lest darüber nach, was im Rule Britannia niedergelegt ist, und habt Ihr's gefunden, so erkennt darin den Freibrief, von dem schon die Engel im Paradies so oft gesungen haben. Haltet bei! Euer Vorschlag kommt mir ein wenig überraschend. Und warum? Weil ich, Ihr begreift dies, nur allein und ohne Kameradschaft in diesen Wassern segle, außerdem mir auch keine wünsche. Nimmermehr! Ihr habt mich zuerst angegangen wegen einer gewissen jungen Dame, in deren Dienst Ihr handeltet. Wenn nun Ihr und ich, wir beide überhaupt Kameradschaft halten sollen, so darf der Name jenes jungen Geschöpfs nie gesprochen oder auch nur angedeutet werden. Ich weiß nicht, was Schlimmes dabei herausgekommen sein mag, weil ich mich in diesem Punkt früher zu frei benahm, und muß deshalb abbrechen. Habe ich mich Euch gehörig klargemacht, Bruder?«
»Ihr werdet mich entschuldigen, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »wenn ich Euch bisweilen nicht ganz folgen kann. Aber auf mein Wort, ich – es ist eine schwere Aufgabe, Kapitän Gills, nicht von Miß Dombey sprechen zu sollen. Es liegt mir so fürchterlich schwer hier« – Mr. Toots berührte jetzt pathetisch mit beiden Händen seinen Busenstreif – »daß es mir Tag und Nacht gerade so vorkommt, als ob jemand auf mir sitze.«
»Das sind die Bedingungen«, sagte der Kapitän, »auf denen ich bestehen muß. Wenn sie Euch schwer vorkommen, Bruder, wie dies vielleicht der Fall sein mag, so schüttelt sie ab, scheert weiter und laßt sie lustig allein laufen.«
»Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, »ich weiß kaum, wie es zuging. Aber nach dem, was Ihr mir bei meinem ersten Besuche sagtet, kommt es mir vor, ich – ich könne in Eurer Gesellschaft weit besser an Miß Dombey denken, als fast mit jedem andern sonst von ihr sprechen. Wenn Ihr mir daher das Vergnügen Eurer Unterhaltung gönnen wollt, Kapitän Gills, so werde ich mich sehr glücklich schätzen, sie auf Eure eigenen Bedingungen hin anzunehmen. Ich wünsche als ein Ehrenmann zu handeln, Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, indem er seine ausgestreckte Hand für einen Augenblick zurückhielt, »und muß Euch daher sagen, daß ich es nicht vermeiden kann, an Miß Dombey zu denken. In dieser Hinsicht nur ist es mir unmöglich, mich auf eine etwaige Bedingung einzulassen.«
»Mein Junge«, sagte der Kapitän, in dessen Meinung Mr. Toots durch sein aufrichtiges Zugeständnis sehr gestiegen war, »die Gedanken eines Menschen sind wie die Winde, und niemand kann auf die Dauer mit Sicherheit für sie einstehen. Unser Vertrag gilt also dem Sprechen?«
»Ja, dem Sprechen, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots. »Ich glaube, mir insoweit Zwang auflegen zu können.«
Mr. Toots gab jetzt Kapitän Cuttle seine Hand darauf und letzterer verlieh ihm mit der Miene huldreicher Herablassung förmlich die Ehre seiner näheren Bekanntschaft. Mr. Toots schien durch diese Erwerbung sehr getröstet und erfreut zu werden; denn er kicherte während der übrigen Dauer seines Besuches mit großem Entzücken. Der Kapitän seinerseits war nicht übel zufrieden, so die Stellung eines Gönners einzunehmen, und lobte sich im geheimen selbst ob seiner Klugheit und Vorsicht.
Trotz des großen Vorrats von diesen eben genannten Eigenschaften blühte übrigens dem Kapitän am nämlichen Abend noch eine Überraschung in keiner geringeren Person, als dem ehrlichen, klugen Schleifer Rob. Dieser unschuldige Jüngling beugte sich, als er am nämlichen Tisch mit seinem Gebieter den Tee einnahm, ganz demütig über seine Tasse, schielte von der Seite nach dem Kapitän hin, der mit großer Schwierigkeit, aber viel Würde durch die Brille seine Zeitung las, und unterbrach endlich das Schweigen mit den Worten:
»O, ich bitte um Verzeihung, Kapitän, aber Ihr werdet wahrscheinlich keine Tauben brauchen, Sir?«
»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän.
»Weil ich die meinigen zu verkaufen wünsche«, sagte Rob.
»So?« entgegnete der Kapitän, die buschigen Augenbrauen ein wenig erhebend.
»Ja; ich will gehen, Kapitän, wenn Ihr nichts dagegen habt«, sagte Rob.
»Gehen? und wohin willst du gehen?« fragte der Kapitän, über die Brillengläser weg nach ihm zurückschauend.
»Wie –wußtet Ihr nicht, daß ich Euch verlassen will, Kapitän?« fragte Rob mit einem besonderen Lächeln.
Der Kapitän legte die Zeitung nieder, nahm seine Brille ab und faßte den Ausreißer fest ins Auge.
»O ja, Kapitän, ich will Euch hiermit aufgesagt haben. Ich glaubte, Ihr hättet dies vielleicht schon zum voraus wissen können«, sagte Rob, die Hände reibend und von seinem Tische aufstehend. »Wenn Ihr so gut sein wolltet, Euch bald anderweitig umzusehen, Kapitän, so würde mir damit ein großer Gefallen geschehen. Ich fürchte freilich, es wird nicht morgen früh schon geschehen können, Kapitän – oder glaubt Ihr?«
»Und du willst also fahnenflüchtig werden, mein Junge?« entgegnete der Kapitän, nachdem er geraume Zeit das Gesicht des Ausreißers gemustert hatte.
»O, es ist sehr hart für einen jungen Menschen, Kapitän«, rief der weichherzige Rob, der in einem Augenblick gekränkt und unwillig werden konnte, »wenn er nicht in rechtmäßiger Weise soll kündigen dürfen, ohne in solcher Weise angeschaut und ein Fahnenflüchtiger genannt zu werden. Ihr habt kein Recht, einem armen Burschen Schimpfnamen zu geben, Kapitän, und weil Ihr der Herr seid und ich nur der Diener bin, so folgt daraus nicht, daß Ihr mich beschimpfen dürft. Was habe ich denn Unrechtes getan? Laßt mich wissen, worin mein Verbrechen besteht, wenn Ihr so gut sein wollt, Kapitän.«
Der beleidigte Schleifer weinte und brachte seinen Ärmelaufschlag vor die Augen.
»Ja, Kapitän, nennt mir mein Verbrechen«, rief der gekränkte Jüngling. »Was bin ich gewesen und was habe ich getan? Habe ich irgend jemandem etwas gestohlen? Habe ich das Haus in Brand gesteckt? Wenn mich ein solcher Vorwurf treffen kann, warum übergebt Ihr mich nicht dem Gericht? Aber wie unrecht ist es nicht und welch schlimmer Lohn für treue Dienstleistung, wenn Ihr einem jungen Menschen, der Euch rechtschaffen gedient hat, seinen guten Ruf antastet, weil er um Euretwillen seinem besseren Fortkommen nicht im Wege stehen mag. Auf diese Weise verdirbt man junge Menschen und treibt sie auf unrechte Wege, In der Tat, ich kann mich nicht genug wundern über Euch, Kapitän.«
Alles das wurde in heulendem, weinerlichem Ton vorgetragen, während der Schleifer zu gleicher Zeit sich rücklings der Tür näherte.
»Du hast also schon eine andere Heuer in Aussicht?« sagte der Kapitän, kein Auge von ihm verwendend.
»Ja, Kapitän – wenn Ihr mich in solcher Weise angeht, so muß ich Euch sagen, daß ich eine andere Heuer in Aussicht habe«, rief Rob, mehr und mehr sich der Türe nähernd; »eine bessere Heuer, als ich hier hatte, und noch dazu eine, wo ich nicht einmal ein gutes Wort von Euch brauche, Kapitän. Dies ist ein Glück für mich, nachdem Ihr mich so in den Staub gezogen habt, weil ich arm und nicht in der Lage bin, um Euretwillen mir selbst im Licht zu stehen, Ja, ich habe eine andere Heuer, und wenn es Euch gleichgültig wäre. Kapitän, so würde ich lieber auf der Stelle gehen, als daß ich mir von Euch Schimpfnamen geben lasse, weil ich arm und nicht in der Lage bin, Euretwegen meinem besseren Fortkommen im Wege zu stehen. Warum macht Ihr mir Vorwürfe wegen meiner Armut und wegen meines Wunsches, mich zu verbessern? Wie könnt Ihr Euch selbst so herabwürdigen?«
»Schau jetzt her, mein Junge«, versetzte der friedliebende Kapitän, »und komm mir nicht mehr mit solchen Worten.«
»Dann müßt Ihr mir auch nicht mehr mit solchen Worten kommen«, erwiderte der gereizte Unschuldige, der immer lauter winselte und sich mehr und mehr rücklings der Ladentür näherte. »Es ist mir lieber, wenn Ihr mich umbringt, als wenn Ihr mir meine Ehre nehmt.«
»Vielleicht«, fuhr der Kapitän fort, »hast du schon etwas von einem Dinge gehört, das man einen Galgenstrick nennt?«
»Ob ich davon gehört habe, Kapitän«, rief der Schleifer höhnisch. »Nein, ich habe es nicht. In meinem Leben hörte ich nie etwas von einem solchen Artikel.«
»Gut«, sagte der Kapitän; »ich bin der Meinung, daß du recht bald mehr davon erfahren wirst, wenn du nicht scharf Auslug hältst. Ich verstehe mich auf deine Signale, mein Junge. Du kannst gehen.«
»O, ich kann sogleich gehen – kann ich, Kapitän?« rief Rob hocherfreut über seinen Erfolg. »Aber wohl gemerkt, ich habe nicht sogleich zu gehen verlangt, Kapitän. Ihr werdet mir doch ein Zeugnis nicht vorenthalten, weil Ihr mich aus freien Stücken fortschickt – und werdet mir nichts von meinem Lohn abrechnen, Kapitän?«
Der Kapitän bereinigte den letzteren Punkt, indem er die Zinnbüchse hervorlangte und dem Schleifer sein Geld voll auf den Tisch hinzählte. Schnüffelnd, schluchzend und schwer verwundet in seinen Gefühlen, nahm Rob die Stücke einzeln auf und band sie abgesondert in verschiedene Knoten seines Taschentuchs. Dann stieg er nach dem Dach hinauf und füllte seinen Hut und seine Tasche mit Tauben. Sobald er wieder heruntergekommen war, machte er unter noch lauterem Schnüffeln und Schluchzen, als werde sein Herz von alten Erinnerungen zerrissen, sein Bündel zusammen, greinte ein »gute Nacht, Kapitän, Kapitän. Ich verlasse Euch ohne Groll!«, gab auf der Türtreppe draußen zum Abschied dem kleinen Midshipman einen Nasenstüber und eilte dann in grinsendem Triumph die Straße hinunter.
Der Kapitän, der jetzt sich selbst überlassen war, nahm seine Zeitung wieder auf, als sei nichts Ungewöhnliches oder Unerwartetes vorgefallen und las mit dem größten Eifer fort. Aber er verstand kein Wort von dem vielen Gelesenen, denn durch das ganze Blatt rannte Rob der Schleifer die eine Spalte hinauf und die andere wieder hinunter.
Es ist zweifelhaft, ob sich der würdige Kapitän früher je so ganz verlassen gefühlt hatte, wie jetzt. Der alte Sol Gills, Walter und die Herzensfreude waren jetzt in der Tat für ihn verloren, und Mr. Carker, der ihn getäuscht hatte, verhöhnte ihn noch außerdem aufs grausamste. Sie alle fanden eine böse Ergänzung in dem falschen Rob, dem er so oft die warmen Empfindungen seines Herzens mitgeteilt, dem er Vertrauen geschenkt und dem er so gerne geglaubt hatte. Rob war für ihn, nachdem er seine alte Schiffsgesellschaft verloren, ein Gefährte gewesen. Ihn zu seiner Rechten hatte er das Kommando des kleinen Midshipman übernommen, und auf die Anhänglichkeit des Jungen bauend, war es ihm in der Güte seines Herzens fast vorgekommen, als seien sie beide schiffbrüchig und nach einem öden Platze verschlagen worden. Jetzt aber hatte derselbe treulose Rob Mißtrauen, Verrat und Gemeinheit in das kleine Stübchen gebracht, das bisher eine Art Heiligtum gewesen, und der Kapitän würde sich nicht gewundert haben, wenn auch dieses versunken wäre oder ihm sonst große Not bereitet hätte.
Deshalb las Kapitän Cuttle die Zeitung mit so tiefer Aufmerksamkeit, ohne etwas zu begreifen. Deshalb sagte er durchaus nichts über Rob zu sich selbst; ja, er gestand sich nicht einmal zu, daß er an ihn dachte, und wollte nicht in der entferntesten Weise anerkennen, daß Rob mit seinen Gefühlen, die mit denen des einsamen Robinson Crusoe zu vergleichen waren, etwas zu schaffen haben.
In der gleichen ruhigen, geschäftsmäßigen Weise ging der Kapitän noch spät nach Leadenhall Market hinüber und traf mit einem daselbst im Dienst aufgestellten Wächter die Übereinkunft, daß er jeden Abend und Morgen komme, um die Läden zu schließen und zu öffnen. Dann begab er sich nach dem Speisehaus, um die eine Hälfte der bisher an den Midshipman gelieferten täglichen Ration, und in das Wirtshaus, um das Bier des Verräters abzubestellen. »Mein junger Mann«, bemerkte der Kapitän gegen die junge Dame in der Schenkstube, »mein junger Mann hat sich verbessert, Miß,« Schließlich nahm er sich vor, von dem Bett unter dem Ladentisch selbst Besitz zu nehmen und, statt droben, als einziger Wächter des Eigentums hier zu schlafen.
Aus diesem Bett erhob sich fortan Kapitän Cuttle täglich und klappte um sechs Uhr morgens mit der trostlosen Miene Crusoes, der seine Toilette mit der Ziegenfellmütze beendigt, seinen Glanzhut auf den Kopf. Zwar hatte sich seine Furcht vor einem Besuch des Wildenstamms Mac Stinger wie bei jenem einsamen Gestrandeten die Besorgnis vor einem Einfall der Kannibalen durch die Zeit, die keine Abzeichen von solcher feindlichen Nähe blicken ließ, abgekühlt. Trotzdem fuhr er aber aus Gewohnheit in seinen Abwehroperationen fort, und es kam nie ein Weiberhut durch die Straße, ohne daß er ihn von seinem sichern Kastell aus gemustert hätte. Inzwischen begann sogar seine eigene Stimme für seine Ohren ein fremder Ton zu werden (Mr. Toots hatte ihm nämlich die briefliche Mitteilung gemacht, daß er sich nicht in London befinde). Auch mußte er bei dem Polieren und Verstauen der Vorräte, bei dem Lesen hinter dem Ladentisch oder beim Hinausschauen zum Fenster so viel denken, daß ihn bisweilen sogar der rote Rand, den der harte Glanzhut auf seiner Stirn zurückließ, im Übermaß seiner Betrachtungen schmerzte.
Das Jahr war nun abgelaufen, und Kapitän Cuttle hielt es für passend, das Päckchen zu öffnen. Aber er hatte stets im Sinne gehabt, dies in der Gegenwart Robs, des Schleifers, der es ihm überbrachte, zu tun, weil er der Ansicht war, die Eröffnung könne nur regelmäßig und seegerecht in der Anwesenheit eines Zeugen geschehen. Daß ihm der letztere abging, versetzte ihn in große Not, und die Kunde über die Rückkehr der vorsichtigen Clara, Kapitän John Bunsby, von einer Küstenfahrt, die er in dem Schiffsanzeiger las, bereitete ihm daher die größte Freude. Der Kapitän zögerte nicht, durch die Post einen Brief an diesen Philosophen abzusenden, in dem er Mr. Bunsby seinen Wohnplatz als ein unverletzliches Geheimnis einschärfte und sich einen baldigen Abendbesuch erbat.
Bunsby, der einer von jenen Weisen war, die nur aus Überzeugung handeln, brauchte einige Tage, bis die Überzeugung in seinem Kopfe haftete, er habe einen derartigen Brief erhalten. Als er sich jedoch endlich mit der Tatsache abgefunden hatte und ihrer Herr geworden war, schickte er seinen Jungen mit der Meldung ab – »Heute abend kommt er.« Der Beauftragte, der die Weisung hatte, diese Worte vorzubringen und dann wieder zu verschwinden, erfüllte seine Sendung wie ein mit Teer besudeltes Gespenst, dem es oblag, der betreffenden Person eine geheimnisvolle Warnung zugehen zu lassen.
Der Kapitän war erfreut über diese Nachricht, sorgte für Pfeifen und Grog und erwartete seinen Gast in dem Hinterstübchen. Um acht Uhr verkündete dem Kapitän ein tiefes Brüllen, als ginge es von einer Schiffsirene aus, und das Klopfen eines Stocks an die Ladentür, daß Bunsby neben Bord lag. Der zottige, verwilderte Ehrenmann mit seinem starren Mahagonigesicht wurde sogleich eingelassen. Wie gewöhnlich schien er für nichts in seiner Nähe ein Auge zu haben, sondern irgend etwas, das in einem ganz andern Weltteil vorging, aufmerksam zu beobachten.
»Bunsby«, sagte der Kapitän, ihn bei der Hand nehmend, »wie geht es, mein Junge – wie geht es?«
»Kamerad«, versetzte die Stimme in Bunsby, ohne daß der Kommandeur dabei selbst beteiligt zu sein schien, »ganz gut – ganz gut!«
»Bunsby!« sagte der Kapitän mit ununterdrückbarer Huldigung vor dem Genius seines Gefährten, »endlich seid Ihr hier, ein Mann, der eine Ansicht abgeben kann, die glänzender ist, als Diamanten – ja, gebt mir den Boten, den Burschen mit den Teerhosen, der für mich in dem Licht der Diamanten blitzt. Seht deswegen in Stanfells Budget nach, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt in die betreffende Buchseite ein Ohr ein. Habt Ihr doch hier an diesem Platz ein Gutachten abgegeben, das auf den Buchstaben eingetroffen ist.« Der Kapitän glaubte dies aus dem Grunde seines Herzens.
»So?« brummte Bunsby.
»Auf den Buchstaben«, bekräftigte der Kapitän.
»Warum?« brummte Bunsby, jetzt zum erstenmal seinen Freund ansehend. »In welcher Weise? Und wenn so, warum nicht? Darum.«
Mit diesen orakelhaften Worten – sie schienen den Kapitän fast schwindlig zu machen, da sie ihn auf ein so weites Meer von Mutmaßungen setzten – ließ sich der Weise den Lotsenrock ausziehen und begleitete seinen Freund nach dem Hinterstübchen, wo er sogleich nach der Rumflasche griff und sich ein Glas Steifen anfertigte. Dann langte er nach der Pfeife, füllte Tabak ein, zündete sie an und begann zu rauchen.
Kapitän Cuttle, der in allen diesen Stücken dem Beispiel seines Gastes folgte, obschon er das in sich gekehrte unverwüstliche Wesen des Kommandeurs nicht nachzuahmen vermochte, setzte sich in die andere Ecke des Kamins und sah seinen Gefährten mit hoher Achtung an, als erwartete er von diesem eine Ermutigung oder einen Ausdruck der Neugierde, um sodann auf seine eigenen Angelegenheiten übergehen zu können. Doch der Mahagoni-Philosoph schien nur für die Wärme und den Tabak empfänglich zu sein. Erst als er seine Pfeife entfernte, um für das Glas Platz zu machen, warf er mit ungemeiner Grämlichkeit die Bemerkung hin, daß sein Name Jack Bunsby sei. Diese Erklärung bot freilich nur einen geringen Anhalt für ein Gespräch, weshalb der Kapitän seine Aufmerksamkeit durch eine kurze, schmeichelhafte Einleitung zu fesseln suchte und dann die ganze Geschichte von Onkel Sols Verschwinden nebst dem Wechsel, der infolgedessen in seinen eigenen Verhältnissen herbeigeführt wurde, zu berichten. Zum Schluß legte er das Päckchen auf den Tisch.
Nach einer langen Pause nickte Mr. Bunsby mit dem Kopf.
»Soll ich öffnen?« fragte der Kapitän.
Bunsby nickte abermals.
Demgemäß erbrach Kapitän Cuttle das Siegel und öffnete den Umschlag, der zwei zusammengelegte Blätter mit den Überschriften: »Letzter Wille und Testament von Solomon Gills« – »Brief an Ned Cuttle« – enthielt.
Bunsby schien, das Auge auf die Küste von Grönland geheftet, bereit zu sein, den Inhalt anzuhören. Der Kapitän räusperte sich daher und begann den Brief laut zu lesen.
»›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Amerika zu reisen – –‹«
Der Kapitän hielt inne und blickte nach Bunsby hin, der seinerseits die Küste von Grönland nicht aus dem Auge verlor.
– »›und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen, wußte ich wohl, Ihr würdet meine Absicht, wenn ich Euch dieselbe mitteilte, vereiteln oder mich begleiten wollen. Deshalb hielt ich sie vor Euch geheim. Wenn Ihr je diesen Brief lest, Ned, so bin ich wahrscheinlich tot. Ihr werdet dann gerne einem alten Freund seine Torheit vergeben und der Unruhe, mit der er eine so abenteuerliche Reise antrat, Eure Teilnahme nicht versagen. Also nichts mehr davon. Ich habe geringe Hoffnung, daß mein armer Junge je diese Worte lesen oder Eure Augen mit dem Anblick seines offenen Gesichts erfreuen werde.‹ Nein, nein; er tut es nicht«, fügte Kapitän Cuttle in bekümmertem Nachdenken bei: »er tut es nie mehr. Dort liegt er, schon so lange Zeit –«
Mr. Bunsby, der ein musikalisches Ohr hatte, brüllte plötzlich: »in der Bay von Biscay, o!« und dies griff als ein geeigneter Tribut für den Wert des Hingeschiedenen den guten Kapitän so an, daß er seinem Gefährten dankbar die Hand drückte und die Augen wischen mußte.
»Ach ja«, sagte der Kapitän mit einem Seufzer, nachdem Bunsbys Gebrüll an dem Hochlichtfenster verhallt war. »Er hat lange sein schweres Leid mit sich herumgetragen. Wir wollen übrigens nachsehen, was wir weiter darüber finden.«
»Die Doktores haben da wohl nicht viel geholfen«, bemerkte Bunsby.
»Freilich nicht«, sagte der Kapitän. »Was könnten auch diese nützen in zwei- oder dreihundert Faden Wassertiefe.« Dann nahm er den Brief wieder auf und las weiter: »›Wenn er aber bei Eröffnung dieses Schreibens anwesend sein‹«, der Kapitän blickte unwillkürlich umher und schüttelte den Kopf, »›oder sonst zu irgendeiner Zeit davon erfahren sollte –‹« abermaliges Kopfschütteln von seiten des Kapitäns – »›so erteile ich ihm hiermit meinen Segen! Im Fall das beiliegende Papier nicht gesetzlich abgefaßt ist, so liegt nicht viel daran, denn es ist außer Euch und ihm keine beteiligte Person vorhanden, und mein Wunsch besteht einfach darin, daß die geringe Habe, die noch vorhanden ist, wenn er noch lebt – was ich leider nicht zu hoffen wage – auf ihn, andernfalls aber auf Euch komme, Ned. Ich weiß, Ihr werdet meinen Willen achten. Gott segne Euch dafür, wie auch für die viele Freundschaft, die Ihr erwiesen habt Eurem Solomon Gills‹. Bunsby!« fügte der Kapitän mit einer feierlichen Berufung an seinen Gefährten bei, »was denkt Ihr davon? Ihr seid ein Mann, der sich von Kindheit auf stets den Kopf zerbrochen und bei jedem Schädelbruch eine neue Erfahrung hineingekriegt hat. Was denkt Ihr jetzt davon?«
»Wenn er wirklich tot ist«, entgegnete Bunsby mit erstaunlicher Schnelligkeit, »so bin ich der Meinung, daß er nicht wieder zurückkommen wird; lebt er aber noch, so kriegt Ihr ihn ohne Zweifel wieder zu sehen. Sage ich dies für gewiß? Nein. Warum nicht? Weil die Erfahrung daß erst bestätigen muß.«
»Bunsby!« sagte Kapitän Cuttle, der den Wert der Ansichten seines ausgezeichneten Freundes nach der Schwierigkeit ihres Verständnisses zu ermessen schien, in tiefster Bewunderung, »Ihr tragt mit Leichtigkeit eine Last Geist, die einen Mann von meinem Tonnengehalt versenken würde. Aber was das Testament betrifft, so bin ich nicht willens, wegen der Besitznahme des Eigentums Schritte zu tun. Gott verhüte dies! Ich werde es nur aufbewahren, bis sich rechtmäßigere Ansprüche dartun, und hoffe noch immer, daß der alte Sol Gills am Leben ist und zurückkommen wird. So seltsam es auch erscheinen mag, daß keine Nachrichten von ihm eingelaufen sind. Was haltet Ihr davon, Bunsby, wenn wir diese Papiere da wieder wegstauten und auf der Außenseite bemerkten, daß sie an dem und dem Tag in Gegenwart von John Bunsby und Ed'ard Cuttle geöffnet worden seien?«
Da Bunsby weder an der Küste von Grönland noch sonstwo irgendeinen Grund zu Einwendungen gegen diesen Vorschlag bemerkte, so wurde die Sache ausgeführt. Der große Mann wandte sein Auge für einen Moment der Gegenwart zu und brachte die Unterschrift auf den Umschlag, wobei er sich mit charakteristischer Bescheidenheit jeglichen Gebrauchs von großen Buchstaben enthielt. Nachdem Kapitän Cuttle gleichfalls mit seiner linken Hand unterzeichnet und das Paket in die eiserne Truhe eingeschlossen hatte, bat er seinen Gast, sich noch ein Glas und eine Pfeife zu füllen, ging ihm mit gutem Beispiel voran und versenkte sich dann beim Anblick des Feuers in eine Reihe von Betrachtungen über das mögliche Schicksal des armen alten Instrumentenmachers.
Aber jetzt kam eine Überraschung, die auf Kapitän Cuttle so erschreckend und überwältigend wirkte, daß ohne Bunsbys Anwesenheit notwendig eine Niederlage hätte erfolgen müssen und er von Stund' an ein verlorener Mann gewesen wäre.
Wie sich der Kapitän sogar in seiner Freude über einen solchen Gast die Nachlässigkeit zuschulden kommen lassen konnte, die Tür nur zuzudrücken und nicht abzusperren, das ist eine von jenen Fragen, die wir für immer der Vermutung oder den unbestimmten Anschuldigungen des Schicksals überlassen müssen. Genug, daß in jenem ruhigen Augenblick durch die unverschlossene Tür Mrs. Mac Stinger in die Stube hereinwehte. Sie trug in ihren mütterlichen Armen den jugendlichen Alexander Mac Stinger, und in ihrem Gefolge waren Verwirrung und Rache, nicht zu gedenken der Miß Juliana Mac Stinger und ihres Bruders Charles Mac Stinger, der auf den Tummelplätzen seiner jugendlichen Spiele nur unter dem Namen Kuhlen bekannt war. Ihr Eintritt war so schnell und geräuschlos wie das Rauschen des Windes in der Nähe der Ostindiendocks gewesen, und Kapitän Cuttle hatte sie kaum zu Gesicht bekommen als sein ruhiges gedankenvolles Gesicht plötzlich den Ausdruck des Schreckens und Entsetzens annahm.
Sobald er jedoch die volle Ausdehnung seines Mißgeschicks begriff, bewog ihn die Pflicht der Selbsterhaltung zu einem schleunigen Fluchtversuch. Er eilte nach der kleinen Tür hin, die von dem Stübchen aus nach der steilen Kellertreppe führte, und wollte diese kopfüber hinuntereilen, wie ein Mann, der, gleichgültig gegen Beulen und Quetschungen, es nur darauf abgesehen hat, sich in den Eingeweiden der Erde zu verbergen. Diese mutige Anstrengung wäre ihm auch wahrscheinlich gelungen, wenn ihn nicht die liebevollen Wesen Juliana und Kuhlen, von denen jedes ihn an einem Bein hielt, mit kläglichem Geschrei als ihren Freund zurückgerufen hätten. Mittlerweile verrichtete Mrs. Mac Stinger, die sich nie auf eine wichtige Handlung einließ, ohne zuvor Alexander Mac Stinger umzukehren, eine scharfe Batterie von Klopsen gegen ihn spielen zu lassen und ihn dann zur Abkühlung auf den Boden zu setzen, wie ihn der Leser zum ersten Male erblickt hat – diese feierliche Zeremonie, als ob sie ihn bei gegenwärtigem Anlaß den Furien opfern wollte. Dann wandte sie sich mit voller Entschlossenheit auf den Kapitän zu, die den sich ins Mittel legenden Bunsby mit der Schärfe der Nägel zu bedrohen schien.
Das Geschrei der beiden älteren Mac Stinger und das Gewinsel des jungen Alexander, der sozusagen eine schreckliche Kindheit verleben mußte, sintemal er während der Hälfte dieser schönen Daseinsperiode in seinem Gesicht alle Farben des Regenbogens zeigte, trug dazu bei, diese Heimsuchung um so furchtbarer zu machen. Der Schrecken hatte seinen Höhepunkt erreicht, als wieder Stillschweigen herrschte und der Kapitän mit großen Schweißtropfen auf der Stirn mit demütiger Miene Mrs. Mac Stinger gegenüber stand.
»O, Kapt'n Cuttle, Kapt'n Cuttle«, rief Mrs. Mac Stinger, ihr Kinn in eine starre Haltung bringend und im Einklang mit dieser das schüttelnd, was man, wenn die Schwäche ihres Geschlechtes nicht wäre, ihre Faust nennen könnte, »O, Kapt'n Cuttle, Kapt'n Cuttle, wagt Ihr es, mir noch ins Gesicht zu sehen, ohne in die Erde zu versinken?
Der Kapitän, der nichts weniger als waghalsig aussah, murmelte leise vor sich hin:
»Halt bei!«
»O, was war ich für eine schwache vertrauensvolle Törin, als ich Euch unter mein Dach aufnahm, Kapitän Cuttle!« fuhr Mrs. Mac Stinger fort. »Schon der Gedanke an die Wohltaten, mit welchen ich diesen Mann überhäufte, und an die Art, wie ich meine Kinder erzog, daß sie ihn liebten und ehrten, als ob er ihr Vater wäre, während es keinen Hauswirt und keinen Mieter in unserer Straße gibt, der nicht wüßte, daß ich durch diesen Mann und sein Gegurgel und Gewurgel« – das letztere Wort brauchte Mrs. Mac Stinger mehr zur Verstärkung und der Lautmalerei halber, als um irgendeine Idee damit auszudrücken – »mein Geld verlor. Sie rufen jetzt alle samt und sonders pfui über ihn aus, weil er eine fleißige Flau verlassen hat, die früh und spät tätig ist für das Beste ihrer jungen Familie und ihr bescheidenes Haus so reinlich hält, daß jeder sein Mittagessen und, wenn er Lust hätte, auch seinen Tee auf jedem Stubenboden und jeder Treppe einnehmen könnte, trotz all seines Gegurgels und Gewurgels: denn so viel Sorge und Mühe habe ich mir um seinetwillen gemacht!«
Mrs. Mac Stinger hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, und ihr Gesicht glühte triumphierend ob dieser zweiten glücklichen Anführung von Kapitän Cuttles Gewurgel.
»Und er geht fo–o–o–rt!« rief Mrs. Mac Stinger, die letzte Silbe in einer Weise dehnend, daß der unglückliche Kapitän sich als den gemeinsten aller Menschen betrachten mußte, »und bleibt zwölf Monate aus! Ist das ein Gewissen? Er hat nicht den Mut, mir keck entgegenzutreten, sondern schleicht sich weg, wie ein Di–i–eb« – wieder lange Silbe. »Wenn mein Bübchen da«, fügte Mrs. Mac Stinger mit plötzlicher Hast bei, »es versuchen wollte, sich so fortzustehlen, so würde ich meine Mutterpflicht an ihm erfüllen, bis es über und über mit Schwielen bedeckt wäre.«
Der junge Alexander, der diese Worte als eine bestimmte Zusage deutete, die bald in Erfüllung gehen würde, überpurzelte sich vor Furcht und Schrecken, so daß er seine Schuhsohlen in die Höhe streckte, und begleitete diese Bewegung mit einem so betäubenden Geschrei, daß es Mrs. Mac Stinger nötig fand, ihn auf ihre Arme zu nehmen, wo sie ihn, so oft er wieder losbrach, durch ein Schütteln beruhigte, das alle seine Milchzähne zum Wackeln bringen konnte.
»Ja, ein sauberer Mann, dieser Kapt'n Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger mit einem scharfen Nachdruck auf der ersten Silbe seines Namens, »und es war wohl der Mühe wert, daß man sich um ihn kümmerte, um seinetwillen den Schlaf verlor, für ihn sich abzehrte, ihn sogar für tot hielt und wie toll die ganze Stadt auf- und abrannte, um nach ihm zu fragen! O, ein sauberer Mann! Ha, ha, ha, ha! Er verdient all diesen Schmerz und dieses Herzeleid, ja, noch viel mehr. Gott behüte, dies ist noch nichts! Ha, ha, ha, ha! – Kapt'n Cuttle«, fügte Mrs. Mac Stinger mit großer Strenge in Ton und Wesen bei, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr wieder nach Hause kommen wollt.«
Der erschreckte Kapitän schaute in seinen Hut hinein, als sehe er keine andere Möglichkeit, als ihn aufzusetzen und sich gefangen zu geben.
»Kapt'n Cuttle«, wiederholte Mrs. Mac Stinger in der gleichen entschiedenen Weise, »ich wünsche zu wissen, ob Ihr nach Hause kommen wollt, Sir!«
Der Kapitän schien vollkommen bereitwillig zu sein, mitzugehen, murmelte aber einige Worte des Inhalts hin, daß sie keinen solchen Lärm darüber aufschlagen solle.
»Ja, ja«, legte sich Bunsby mit beschwichtigendem Ton ins Mittel. »Halt Frieden, mein Mädel, halt Frieden!«
»Und wer mögt Ihr sein, wenn ich fragen darf«, versetzte Mrs. Mac Stinger mit züchtigem Stolz. »Habt Ihr je in Nummer neun Brig-Place gewohnt, Sir? Mein Gedächtnis ist vielleicht schlecht, aber ich denke, bei mir wohntet Ihr nicht. Vor mir gehörte das Haus Nummer neun einer Mrs. Jollson, und vielleicht seht Ihr mich irrtümlicherweise für diese an. Nur in solcher Weise kann ich mir Eure Vertraulichkeit erklären, Sir.«
»Komm, laß das, mein Mädel – halt Frieden!« sagte Bunsby. Kapitän Cuttle konnte es sogar von diesem großen Mann kaum glauben, obschon er es mit weit offenen Augen geschehen sah; aber Bunsby trat keck auf Mrs. Mac Stinger zu, schlang seinen rauhen blauen Arm um sie und begütigte sie durch die magische Art, wie er dies tat, und durch jene paar Worte – er sagte nichts weiter – so sehr, daß sie, nachdem sie ihn einige Augenblicke angesehen hatte, in Tränen zerschmolz. Ihr Mut war dahin, und ein Kind hätte sie jetzt besiegen können.
Vor Erstaunen sprachlos, sah der Kapitän zu, wie Mr. Bunsby diese unerbittliche Frau allgemach in den Laden hinaus expedierte, dann zurückkehrte, um Grog und ein Licht zu holen, beides ihr brachte und sie in solcher Weise begütigte, ohne daß er hierzu nur ein Wort zu brauchen schien. Dann kam er wieder in seinem Lotsenrocke herein und bemerkte: »Cuttle, ich bin im Begriffe, die alte Fracht heimzulotsen.«
Der Kapitän hätte nicht überraschter sein können, wenn man ihn selbst zum sicheren Transport nach Brig-Place in Fesseln gelegt hätte, als jetzt, da er die Familie mit Mrs. Mac Stinger an der Spitze friedlich abziehen sah. Er hatte kaum Zeit, seine Zinnbüchse herunterzunehmen und verstohlenerweise Juliana Mac Stinger, seinem vormaligen Liebling, und Kuhley, der um seines seemännischen Körperbaus willen natürliche Ansprüche an ihn hatte, einige Geldstücke in die Hand zu drücken, als der Midshipman schon von allen verlassen war und Bunsby als der Nachtrab des Häufleins die Tür hinter sich zudrückte, nachdem er zuvor dem Kapitän zugeflüstert, er wolle es schon recht machen und Ned Cuttle wieder aufsuchen, ehe er an Bord gehe.
Als der Kapitän wieder nach dem kleinen Stübchen zurückkehrte und sich daselbst allein fand, gab er anfangs der unruhigen Vorstellung Raum, er müsse wohl im Schlaf gewandelt oder mit Gespenstern und nicht mit einer Familie von Fleisch und Blut verkehrt haben. Dann folgte ein grenzenloses Vertrauen zu dem Kommandeur der vorsichtigen Clara, und die Bewunderung vor diesem großen Genius versetzte den Kapitän eigentlich in ein verzücktes Träumen. Gleichwohl begannen in dem Kapitän unruhige Bedenken anderer Art aufzutauchen, als die Zeit fortschritt, ohne daß Bunsby wieder erschien. War dieser wohl arglistig nach Brig-Place verlockt und daselbst als Geisel für seinen Freund in sichere Verwahrung genommen worden? In diesem Fall wurde es für den Kapitän Ehrensache, ihn durch Aufopferung seiner eigenen Freiheit zu erlösen. Hatte Mrs. Mac Stinger einen Angriff auf ihn gemacht, ihn geschlagen, und wollte er aus Scham über seine Niederlage sich nicht zeigen? War Mrs. Mac Stinger in der Wandelbarkeit ihrer Gemütsart auf andere Gedanken gekommen und vielleicht umgekehrt, um den Midshipman abermals zu erobern, während Bunsby unter dem Vorwande, sie einen kürzeren Weg zu führen, sich alle Mühe gab, die Familie in den abenteuerlichen wilden Plätzen der City so zu verwirren, daß sie nicht mehr wußte, wohin sie sich wenden sollte? Vor allem aber, was sollte Kapitän Cuttle tun für den Fall, daß er weder von den Mac Stingers, noch von Bunsby wieder etwas hörte? Denn unter einer so wundervollen und unvorhergesehenen Verkettung der Ereignisse ließ sich eine derartige Möglichkeit wohl denken.
Er ging mit sich zu Rate, bis er müde war; aber noch immer erschien kein Bunsby. Er hielt sein Bett unter dem Ladentisch bereit, damit er sich nur hineinzubugsieren brauchte; aber noch immer kein Bunsby. Nachdem ihn endlich der Kapitän für diesen Abend wenigstens schon aufgegeben und seine Kleider abzulegen angefangen hatte, ließ sich das Rasseln eines Wagens, der an der Tür haltmachte, und unmittelbar darauf Bunsbys Ruf vernehmen.
Der Kapitän zitterte bei dem Gedanken, er könnte der Mrs. Mac Stinger nicht losgeworden und sie in der Kutsche wieder mitgebracht haben.
Aber nein. Bunsby hatte keine andere Begleitung, als einen großen Koffer, den er mit eigenen Händen in den Laden hineinschaffte, wo er ihn niedersetzte, um darauf Platz zu nehmen. Kapitän Cuttle erkannte darin sogleich sein in Mrs. Mac Stingers Haus zurückgelassenes Eigentum und betrachtete jetzt, das Licht in der Hand, seinen Freund um so aufmerksamer, da er meinte, der späte Ankömmling müsse wohl schief geladen oder mit andern Worten betrunken sein. Es war jedoch schwer, hierüber ins klare zu kommen, da das Gesicht des Kommandeurs auch im nüchternen Zustand durchaus keinen Ausdruck zeigte.
»Cuttle«, sagte der Kommandeur, von dem Koffer aufstehend und den Deckel öffnend, »ist das Euer Zeug?«
Kapitän Cuttle sah hinein und überzeugte sich, daß es seine Habe war.
»Nicht wahr, Kamerad, das ist hübsch knapp und takelfest abgelaufen?« bemerkte Bunsby.
Der von Dank erfüllte Kapitän reichte ihm in seiner Verwirrung die Hand und wollte eben seiner Bewunderung Ausdruck verleihen, als Bunsby sich durch einen Ruck seines Handgelenks wieder losriß und den Versuch machte, mit seinem beweglichen Auge zu blinzeln, obschon in seinem Zustand diese Anstrengung ihn beinahe aus dem Gleichgewicht gebracht hätte. Dann öffnete er plötzlich die Tür und schoß weiter, um mit aller Eile nach der vorsichtigen Clara zurückzukehren – wenigstens war das stets seine Gewohnheit, sooft er etwas Rechtes ausgeführt zu haben meinte. Da Bunsby kein Freund von vielem Zuspruch war, so verzichtete Kapitän Cuttle darauf, am andern Tag zu ihm zu gehen oder nach ihm zu schicken, indem er sich vornahm, eine Weile abzuwarten, ob der Kommandeur nicht selbst etwas von sich hören lassen wolle. Er begann daher am nächsten Morgen wieder seine einsame Lebensweise und machte sich Tag um Tag Gedanken über Sol Gills, über Bunsbys Gutachten und über die Hoffnungen, die er um die Rückkehr des alten Mannes hegte. Letztere steigerten sich, je mehr der Kapitän sich mit ihnen trug, und er ging darin sogar so weit, daß er – wie er jetzt in seiner unerwarteten Freiheit wohl tun durfte – vor der Tür nach dem Instrumentenmacher auslugte, den Stuhl für ihn an seinen Platz stellte und das kleine Stübchen in die alte Ordnung brachte, für den Fall sein Freund unerwarteterweise in der Heimat anlangte. In weiser Vorsorge nahm er auch ein kleines Miniaturbild, das Walter als Schulknaben vorstellte, von seinem Nagel herunter, damit es nicht auf den zurückgekehrten Greis eine allzu erschütternde Wirkung übe. Bisweilen hatte der Kapitän sogar Ahnungen, daß er an diesem und jenem Tag ankommen müsse, und namentlich an einem Sonntag glaubte er seiner Sache so gewiß zu sein, daß er eine doppelte Portion Mittagessen bringen ließ. Aber der alte Solomon erschien nicht, und die Nachbarn bemerkten, daß der Seefahrer in dem Glanzhut den ganzen Nachmittag vor der Ladentür stand, wo er ohne Unterlaß die Straße aufwärts und abwärts schaute.
Vierzigstes Kapitel . HÄUSLICHE VERHÄLTNISSE
Es lag nicht in der Natur der Dinge, daß bei einem Mann von Mr. Dombeys Gemütsart durch den Widerspruch eines Geistes, wie er ihn selbst sich gegenübergestellt hatte, die gebieterische Strenge gemildert oder die kalte, harte Rüstung des Stolzes, in die er eingehüllt war, durch den steten Gegensatz von hochmütigem Trotz und Hohn nachgiebiger gemacht werden konnte. Es ist der Fluch einer solchen Natur und ein Hauptteil der schweren Wiedervergeltung, die sie in sich selbst trägt, daß sie aus dem Widerspruch und einer Zurückweisung ihrer gewalttätigen Ansprüche ebenso gut Nahrung findet, als aus der Ehrerbietung und den gemachten Zugeständnissen, durch die ihre schlimmen Eigenschaften anschwellen und großgezogen werden. Das Böse darin findet selbst in den Gegensätzen die Mittel des Wachstums und der Fortpflanzung. Es zieht Kräftigung und Leben aus dem Süßen wie aus dem Bitteren: Mißachtung sowohl, wie Kriecherei bilden ein Vollwerk um die Brust, wo es seinen Thron aufgeschlagen hat, und mag es verehrt oder zurückgewiesen werden, stets ist es ein so despotischer Gebieter wie der Teufel im Märchen. Gegen seine erste Gattin hatte sich Mr. Dombey in seiner kalten, stolzen Anmaßung benommen als das hoch über ihr stehende Wesen, das er fast zu sein meinte. Er war für sie »Mr. Dombey« gewesen, als sie ihn zum ersten Male sah, und trat als »Mr. Dombey« an ihr Sterbebette. Während ihres ganzen ehelichen Lebens hatte er seine Größe behauptet, und sie hatte diese schüchtern anerkannt. Er saß hoch oben auf der Spitze seines Throns, sie bescheiden nur auf der untersten Treppe desselben, und es bereitete ihm einen Genuß, einsam als Sklave seiner einzigen Idee zu leben. Seiner Ansicht nach sollte der stolze Charakter seiner zweiten Gattin eine Zugabe sein zu dem seinigen – sollte sich mit demselben vermengen und seine Größe erhöhen. Er hatte geglaubt, höher auftreten zu können, als je, wenn Ediths Stolz dem seinigen dienstbar sei, dabei aber nie an die Möglichkeit gedacht, daß derselbe gegen ihn auftreten könne. Jetzt mußte er übrigens finden, daß die Eigenschaft, von der er sich so viel versprochen, bei jedem Tritt, bei jeder Wendung auf dem Pfade seines täglichen Lebens ihr kaltes, trotziges, Verachtung ausdrückendes Antlitz ihm entgegenhielt. Gleichwohl übte das keine demütigende, niederschlagende Wirkung auf seinen Hochmut aus, der im Gegenteil nur neue Sprossen trieb, sich mehr und mehr befestigte, und finsterer, widerwärtiger und unbeugsamer wurde, als er je zuvor gewesen.
Wer eine solche Rüstung führt, trägt auch stets eine andere schwere Wiedervergeltung in seinem Innern. Der Harnisch ist fest gegen Versöhnlichkeit, Liebe und Vertrauen, gegen jede Teilnahme von außen und gegen jede sanftere Regung, während er dagegen bloßliegt den tiefen Dolchstößen der Eigenliebe, wie die unbeschützte Brust der blanken Waffe. Und solche Wunden eitern quälender, als jede andere, namentlich wenn sie die gepanzerte Hand des Stolzes selbst dem machtloseren Stolze, den sie entwaffnet und niedergeworfen, geschlagen hat.
Derartige Wunden waren die seinigen. Er fühlte sie aufs empfindlichste in der Einsamkeit seiner alten Gemächer, wohin er sich nun oft wieder zurückzuziehen begann, uni stundenlang allein zu sein. Das Geschick, stolz und gewaltig, schien es über ihn verhängt zu haben, daß er stets gedemütigt und machtlos werden sollte, wo er gerne am kräftigsten gewesen wäre. Wer mochte wohl bestimmt sein, dieses Gericht an ihm zu erfüllen?
Wer? Wer war es, der seine Gattin gewinnen konnte, wie sie seinen Sohn genommen hatte! Wer war es, der ihm diesen neuen Sieg gezeigt hatte, als er in der dunkeln Ecke saß! Wer war es, der mit dem kleinsten Wort auszurichten vermochte, was allen seinen Mitteln nicht gelang! Wer war es, der ohne den Beistand seiner Liebe und seiner Beachtung zur Schönheit heranwuchs, während jene, denen dieser Beistand zugute gekommen war, starben! Wer konnte es anders sein, als dasselbe Kind, auf das er in seiner Verwaisung so oft unruhig und mit einer Art Furcht hingeblickt hatte, es möchte noch so weit kommen, daß er sie hassen müsse! Seine Ahnung war jetzt erfüllt, denn er haßte sie aus dem Grunde seines Herzens.
Ja, und er klammerte sich fest an diesen Haß, wenn auch einzelne Funken des Lichts, in dem sie an dem denkwürdigen Abend seiner Heimkehr erschienen war, gelegentlich um ihn her aufblitzten. Er wußte jetzt, daß sie schön war, stellte ihre gewinnende Anmut nicht in Abrede und konnte sich die Überraschung nicht verhehlen, in die ihn das schöne Morgenrot ihrer Jungfräulichkeit versetzt hatte. Aber auch das diente nur als Waffe gegen sie. Der unglückliche Mann fühlte wohl, wie alle Herzen sich ihm entfremdet hatten, und konnte sich einer unbestimmten Sehnsucht nach dem, was er sein ganzes Leben über zurückgewiesen, nicht entschlagen. Aber in seinem düstern, krankhaften Sinnen schuf er sich ein verzerrtes Bild von seinen Rechten, die er gekränkt wähnte, und waffnete sich in solcher Weise mit Scheingründen gegen Florence. Je würdiger sie seiner zu werden in Aussicht stellte, desto mehr Anlaß nahm er daraus, Rückblicke zu tun auf ihre frühere Pflichtmäßigkeit und Unterwerfung. Wann hatte sie ihm je Gehorsam und Unterwürfigkeit erwiesen? War sie ein Schmuck seines Lebens – oder nicht vielmehr Ediths? Hatte ihr Willkommen zuerst ihm gegolten – oder Edith? Waren sie von Florence Geburt an je wie Vater und Kind gegeneinander gewesen? Nein, es hatte stets eine Entfremdung stattgefunden. Überall und in jeder Weise war sie ihm in den Weg getreten, und auch jetzt stand sie gegen ihn im Bunde. Ihre Schönheit erweichte Charaktere, die sich ihm gegenüber stahlhart anließen, und beleidigte ihn durch ihren unnatürlichen Triumph.
Möglich, daß in all diesen Beschwerden das Erwachen eines freilich nur selbstsüchtigen und durch seine unvorteilhafte Stellung veranlaßten Bewußtseins lag, wozu sie sein Leben hätte machen können. Aber er brachte diesen fernen Donner durch den tobenden Wellenschlag seines Stolzes zum Schweigen. Nur auf die Stimme des letzteren wollte er hören, und in seinem Stolze warf er, ein Gemeng von Unbeständigkeit, Elend und Selbstpeinigung, seinen Haß auf sie.
Dem finstern, launenvollen, störrischen Dämon, von dem er besessen war, setzte seine Gattin einen Stolz von ganz anderer Art mit voller Macht entgegen. Sie hätten nie miteinander ein glückliches Leben führen können. Nichts indessen war geeigneter, es so ganz elend zu machen, als der eigensinnige, entschlossene Krieg solcher Elemente. Sein Hochmut sah sich darauf hingewiesen, seine vornehme Überlegenheit zu behaupten und ihr die Anerkennung derselben abzuringen, während sie ihrerseits selbst auf der todbringenden Folter bis zum letzten Augenblicke ihres Lebens den Blick ruhiger, unwandelbarer Verachtung auf ihn gerichtet haben würde. Solch ein Dank von Edith! Er wußte wenig, durch welche Stürme, welchen Kampf sie vorwärts getrieben wurde, bis sie die Ehre seiner Hand annahm – ja, er hatte nicht die mindeste Ahnung davon, wieviel sie ihm eingeräumt zu haben glaubte, wenn s i e ihm gestattete, sie seine Gattin zu nennen.
Mr. Dombey war entschlossen, ihr sein Übergewicht zu zeigen. Er verlangte zwar, daß sie stolz sei; aber sie sollte es für ihn, nicht gegen ihn sein. Wann er in seinen finsteren Gedanken allein dasaß, hörte er sie oft ausgehen und zurückkommen. Sie betrat die Runde des Londoner Lebens, ohne auf seine Zustimmung oder seine Unzufriedenheit mehr zu achten, als wäre er ihr Stallknecht gewesen. Ihre kalte, rücksichtslose Gleichgültigkeit – er glaubte allein zu dieser Eigenschaft berechtigt zu sein – verletzte ihn tiefer, als dies durch jede andere Behandlung hätte geschehen können, und er beschloß, sie unter seinen großartigen stattlichen Willen zu beugen.
Er war längst mit solchen Gedanken umgegangen, bis er endlich eines Abends, als er sie spät nach Hause zurückkommen hörte, sie auf ihrem Zimmer aufsuchte. Sie saß in ihrer prächtigen Toilette allein da und hatte unmittelbar zuvor ihrer Mutter einen kurzen Besuch gemacht. Auf ihrem Gesicht lag bei seinem Eintritt ein wehmütiger, gedankenvoller Ausdruck; ein Blick nach dem Spiegel aber, aus dem ihm dieser entgegenkam, zeigte ihm plötzlich, wie in einem Bilderrahmen, wieder die furchige Stirne und die düstere Schönheit, die er so gut kannte.
»Mrs. Dombey«, begann er, »ich muß mir die Freiheit nehmen, einige Worte mit Euch zu sprechen.«
»Morgen«, lautete ihre Erwiderung.
»Keine Zeit ist dazu passender, als die augenblickliche, Madame«, versetzte er. »Ihr verkennt Eure Stellung. Ich bin daran gewöhnt, mir meine Zeit zu wählen, nicht aber sie mir vorschreiben zu lassen. Es scheint mir, Ihr begreift kaum, wer und was ich bin, Mrs. Dombey.«
»Ich denke, ich weiß dies vollkommen«, antwortete sie.
Mit diesen Worten blickte sie zu ihm auf, legte ihre weißen, von Gold und Edelsteinen funkelnden Arme über der schwellenden Brust zusammen und wandte ihre Augen wieder ab.
Wäre sie weniger schön und in ihrer ruhigen Haltung weniger stattlich gewesen, so würde es ihr schwerlich gelungen sein, ihn zu dem Bewußtsein seiner unvorteilhaften Stellung zu bringen, dessen er sich sogar in seinem Stolze nicht erwehren konnte. Doch sie besaß diese Gewalt, und er fühlte es tief – fühlte es noch mehr, als er im Zimmer umherschaute und sah, wie der kostbare Schmuck und die reichen Kleider achtlos umhergestreut waren, nicht in bloßer Laune oder Nachlässigkeit, sondern in entschlossener, stolzer Mißachtung der wertvollen Gegenstände. Häubchen mit Blumen, Hutfedern, Juwelen, Spitzen, Samt und Seide – wohin er auch blickte, überall lag der Reichtum umher, als wäre er eitler Tand, Sogar die Diamanten – ein Hochzeitsgeschenk – die sich ungeduldig auf ihrem Busen hoben und senkten, schienen begierig zu sein, die Kette, an der sie um ihren Hals geschlungen waren, zu zerbrechen und auf dem Boden hinzurollen, damit ihre Gebieterin sie mit Füßen treten könne.
Er fühlte seinen Nachteil und zeigte es in der linkischen Verlegenheit, mit der er der stolzen Frau gegenüberstand, deren unbeugsame Schönheit sich in dem Reichtum von Farben und in dem üppigen Gefunkel wie in ebenso vielen Teilen eines Spiegels brach. Natürlich mußte alles, was ihrer Verachtung ausdrückenden Ruhe dienstbar war, seinen Unmut noch mehr aufregen. Mit sich selbst zürnend, setzte er sich nieder und fuhr in keineswegs gebesserter Stimmung fort:
»Mrs. Dombey, es ist sehr nötig, daß es zwischen uns zu einem Verständnis komme. Euer Benehmen gefällt mir nicht, Madame.«
Sie sah bloß nach ihm hin, wandte aber sogleich ihren Blick wieder ab. Der Ausdruck, mit welchem sie dies tat, war sprechender, als die Rede einer ganzen Stunde.
»Ich wiederhole, Mrs. Dombey, es gefällt mir nicht. Ich habe schon einmal die Gelegenheit ersehen, Euch zu bitten, daß Ihr es verbessern möget. Jetzt bestehe ich darauf.«
»Ihr wähltet einen passenden Anlaß für Eure erste Vorstellung, Sir, und bringt Eure zweite in einer sehr geeigneten Weise und in sehr zweckmäßigen Worten vor. Ihr besteht darauf gegen mich!«
»Madame«, entgegnete Mr. Dombey, in der verletzendsten Weise all seinen Stolz aufbietend, »ich habe Euch zu meiner Gattin gemacht. Ihr führt meinen Namen und seid Teilhaberin meiner Stellung, meines Rufs. Ich will nicht sagen, daß die Welt im allgemeinen zu glauben geneigt sein dürfte, Ihr seiet durch diese Verbindung geehrt; aber so viel erkläre ich Euch, daß ich gewöhnt bin, meinen Angehörigen und Untergebenen gegenüber auf meinem Willen zu bestehen.«
»Welche von diesen Eigenschaften beliebt Ihr mir zuzuweisen?« fragte sie.
»Vielleicht denke ich, meine Gattin werde – oder müsse beide in sich vereinigen, Mrs. Dombey.«
Sie warf ihm einen festen Blick zu und preßte ihre bebenden Lippen zusammen. Er sah das Klopfen ihrer Brust – sah, wie ihr Gesicht erglühte und dann blaß wurde. Alles das konnte er bemerken, und er bemerkte es auch. Dagegen war ihm nicht bekannt, daß in dem tiefsten Innern ihres Herzens ein einziges Wort ihr zuflüsterte, sich ruhig zu verhalten. Dieses Wort war Florence.
Blinder Tor, der du einem Abgrunde zustürzest! Er wähnte sie eingeschüchtert – durch ihn!
»Ihr macht zu viel Aufwand, Madame«, sagte Mr. Dombey – »einen übermäßigen Aufwand. Ihr verbraucht große Summen – oder Summen, die in den Taschen der meisten Gentlemen große genannt werden könnten – um Euch in einer Gesellschaft umzutreiben, die mir nutzlos – ja, die mir geradezu widerwärtig ist. In allen diesen Punkten muß ich auf einer durchgreifenden Änderung bestehen. Ich weiß zwar, daß die Frauen in der Neuheit des Besitzes gern zu einem plötzlichen Extrem übergehen, selbst wenn ihnen das Glück nur den zehnten Teil der Mittel zugewiesen hat, der Euch zur Verfügung steht, aber diesem Extrem ist jetzt mehr als Genüge geschehen, und ich muß bitten, daß Mrs. Dombey sich die ganz anderen Erfahrungen der Mrs. Granger zur Lehre dienen lasse.«
Noch immer der unverwandte Blick, die bebenden Lippen, die klopfende Brust und das Gesicht, das bald glühend rot, bald wieder leichenblaß wurde; aber auch das tiefe Flüstern: »Florence, Florence, das in dem Klopfen ihres Herzens zu ihr sprach.
Seine dünkelvolle Anmaßung bewirkte, wie er sah, diese Veränderung in ihr. Ebenso kochend über die ihm erwiesene Verachtung und das kürzliche Gefühl seiner unvorteilhaften Stellung, als durch ihre gegenwärtige vermeintliche Unterwürfigkeit aufgebläht, wurde das, was in seinem Innern gärte, zu übermächtig für seine Brust und sprengte alle Bande. Wer hätte auch seinem stolzen Willen und Befehle auf die Dauer widerstehen können! Er hatte beschlossen, sie zu beugen – und siehe da!
»Ihr werdet ferner die Güte haben, Madame«, fuhr Mr. Dombey im Ton herrscherischen Befehls fort, »Euch zu merken, daß ich Ehrerbietung und Gehorsam verlange – daß mir auf die entschiedenste Weise Ehrerbietung von der Welt erzeigt werde, Madame. Ich bin daran gewöhnt, – verlange es als mein Recht – und will es, mit einem Wort, haben. Ich sehe darin nur ein billiges Entgelt für die derzeitigen Vorteile, die Euch dafür zugefallen sind, und glaube, niemand wird sich darüber wundern, wenn ich es von Euch verlange oder Ihr es leistet – gegen mich – gegen mich!« fügte er mit Nachdruck bei.
Kein Wort von ihrer Lippe. Keine Veränderung in ihr. Der Blick unverwandt auf ihm haftend.
»Ich habe von Eurer Mutter gehört, Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey mit schulmeisterischer Wichtigkeit, »was Ihr ohne Zweifel selbst wißt – daß ihr nämlich um ihrer Gesundheit willen Brighton empfohlen worden ist. Mr. Carker hat die Güte gehabt – –«
Ein plötzlicher Wechsel bei Edith. Ihr Gesicht und ihr Hals erglühten, als breche sich daran das rote Licht eines zornigen Sonnenuntergangs. Ohne hierauf zu achten, und den Wechsel nach seiner eigenen Art deutend, fuhr Mr. Dombey fort:
»Mr. Carker hat die Güte gehabt, hinzugehen und eine Wohnung zu bestellen. Wenn der Haushalt wieder nach London verlegt wird, werde ich zu dessen besserer Besorgung die Schritte tun, die ich für nötig halte. Einer davon wird, wenn es angeht, darin bestehen, daß ich in Brighton einer sehr achtbaren, in ihren Vermögensverhältnissen heruntergekommenen Person, einer Mrs. Pipchin, die früher in meiner Familie mit einem Dienste betraut war, die Stelle einer Haushälterin übertrage. Ein solches Hauswesen, über dem nur dem Namen nach eine Leitung steht, Mrs. Dombey, fordert einen fähigen Kopf.«
Sie hatte, ehe er bei diesen Worten anlangte, ihre Haltung verändert und saß jetzt da, den Blick noch immer ihm zugekehrt und eine Spange auf ihrem Arme hin und her drehend, nicht in leichter weiblicher Berührung, sondern sie über die glatte Haut hinzerrend, bis das Weiß einen breiten, roten Reif zeigte.
»Ich bemerkte«, sagte Mr. Dombey, »und das soll der Schlußstein zu dem sein, was ich Euch vorderhand mitzuteilen für nötig halte, Mrs. Dombey – ich bemerkte vor einem Augenblick, Madame, daß meine Erwähnung des Mr. Carker in einer eigentümlichen Weise aufgenommen wurde. Als ich Euch in der Gegenwart dieses meines vertrauten Beistandes über die Art, wie Ihr meine Gäste aufnahmt, meine Meinung eröffnete, hat es Euch beliebt, gegen seine Anwesenheit Einwendungen zu erheben. Ihr werdet Euch nunmehr eines Besseren besonnen haben, Madame, denn es ist wahrscheinlich, daß etwas Ähnliches noch oft vorkommen wird, wenn Ihr nicht zu dem Euch freistehenden Abhilfsmittel greift, mir keinen Anlaß zur Beschwerde zu geben. Mr. Carker«, fügte Mr. Dombey bei; denn nach der vorhin bemerkten Aufregung legte er ein großes Gewicht auf diese Art, sein stolzes Weib in die Enge zu hetzen, während er vielleicht auch gute Lust hatte, diesem Gentleman seine Macht in einem neuen triumphierenden Licht zu zeigen, »Mr. Carker besitzt mein Vertrauen, und es wird deshalb gut sein, Mrs. Dombey, wenn er insoweit auch das Eure teilt. Ich hoffe, Mrs. Dombey«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während der ihm in seinem sich steigernden Hochmut der Kamm geschwollen war, »ich werde es nicht nötig finden, Mr. Carker mit Vorstellungen oder Verweisen an Euch zu beauftragen. Da es aber meiner Stellung und meinem Ruf Abtrag tun würde, mich oft in ärmliche Streitigkeiten mit einer Dame einzulassen, der ich die höchste mir zu Gebot stehende Auszeichnung erwiesen habe, so werde ich kein Bedenken tragen, seine Dienste in Anspruch zu nehmen für den Fall, daß es mir passend erscheint.«
»Und nun«, dachte er, in seiner moralischen Größe sich steifer und unnahbarer als je erhebend, »kennt sie mich und meinen Entschluß.«
Die Hand, die so ungestüm an der Armspange gezerrt hatte, legte sich jetzt schwer auf ihre Brust. Aber sie sah noch immer mit unverändertem Gesicht nach ihm hin und sagte mit gedämpfter Stimme:
»Halt! um Gotteswillen! Ich muß mit Euch sprechen.«
Warum hatte sie das nicht schon einige Minuten früher getan, und durch welchen innern Kampf war sie dazu unfähig geworden? In dem starren Zwang, den sie ihren Zügen auflegte, erschien ihr Gesicht so unbeweglich, wie das einer Statue – und sie schaute nach ihm hin, weder Nachgebung noch Unbeugsamkeit, weder Liebe noch Haß, weder Stolz noch Demut, nichts als einen spähenden Ausdruck in ihren Blick legend.
»Habe ich Euch je verlockt, meine Hand zu suchen? Habe ich irgendeinen Kunstgriff aufgeboten, um Euch zu gewinnen? War ich zur Zeit, als Ihr mich verfolgtet, einladender gegen Euch, als ich während unserer Ehe gewesen bin? Habe ich mich Euch je anders gezeigt, als wie ich bin?«
»Es ist völlig unnötig, Madame«, sagte Mr. Dombey, »auf solche Erörterungen einzugehen.«
»Glaubtet Ihr, ich liebe Euch? Wußtet Ihr das Gegenteil? Mensch, habt Ihr Euch je gekümmert um mein Herz oder die Absicht gehabt, dieses wertlose Ding zu gewinnen? Kam es überhaupt bei unserm Handel nur zur Sprache – auf Eurer Seite oder auf der meinen?«
»Diese Fragen führen ganz und gar von der Sache ab, Madame«, entgegnete Mr. Dombey.
Sie trat zwischen ihn und die Tür, um sein Fortgehen zu hindern, richtete ihre majestätische Gestalt in voller Höhe auf und blickte ihn noch immer fest an.
»Ihr beantwortet jede derselben. Ich sehe, Ihr beantwortet sie, noch ehe ich gesprochen habe. Wie sollte ich auch etwas anderes von Euch erwarten, der Ihr die unglückliche Wahrheit so gut kennt wie ich? Aber redet. Wenn ich Euch aus der Tiefe meiner Seele liebte, könnte ich mehr tun, als mein ganzes Sein und Wollen an Euch hingeben, wie Ihr eben verlangt habt? Wenn mein Herz in reiner Unerfahrenheit in Euch seinen Abgott sehen würde, könntet Ihr mehr fordern – könntet Ihr überhaupt mehr besitzen?«
»Vielleicht nicht, Madame«, versetzte er mit Kälte.
»Ihr wißt, wie ganz anders es bei mir steht. Ihr seht jetzt meinen Blick auf Euch haften und könnt in meinem Gesicht die Wärme der Leidenschaft lesen, die in mir für Euch atmet.« Kein Aufwerfen der stolzen Lippe, kein Blitzen des dunkeln Auges, nichts als derselbe spähende Blick begleitete diese Worte. »Ihr kennt im allgemeinen meine Geschichte. Ihr habt von meiner Mutter gesprochen. Glaubt Ihr, Ihr könnet mich zu Unterwerfung und Gehorsam herabwürdigen – mich beugen oder brechen?«
Mr. Dombey lächelte, wie er vielleicht auf die Frage gelächelt haben würde, ob er glaube, daß er zehntausend Pfund beschaffen könne.
»Wenn hierin etwas Ungewöhnliches liegt«, sagte sie, indem sie mit der Hand über die Stirn fuhr, ohne jedoch auch nur einen Augenblick ihren unbeweglichen und im übrigen ausdruckslosen Blick zu ändern, – »ich weiß, daß es hier ungewöhnliche Gefühle gibt«, – sie drückte die Hand auf ihre Brust und ließ sie dann wieder sinken, »so vergeßt nicht, daß in der Aussprache, die ich an Euch richten will, keine gewöhnliche Bedeutung liegt. Ja, ich habe wirklich im Sinn«, fügte sie wie in schneller Antwort auf etwas in seinem Gesicht bei, »eine Aussprache an Euch ergehen zu lassen.«
Mit einem leichten, herablassenden Senken seines Kinns, so daß die steife Halsbinde rauschte und krachte, setzte sich Mr. Dombey auf ein nahestehendes Sofa nieder, um ihren Worten Gehör zu schenken.
»Wenn Ihr glauben könnt, mein Wesen sei von der Art« – er meinte in ihren Augen Tränen glänzen zu sehen und wähnte selbstgefällig, er habe sie ihr entrungen, obschon keine auf ihre Wange niederfiel und sie ihn so fest wie je im Auge behielt – »daß meine nunmehrigen Worte, zu jedem Wann gesprochen, der mein Gatte geworden wäre, vor allem aber zu Euch gesprochen, mir selbst fast unglaublich erscheinen, so werdet Ihr vielleicht ein desto größeres Gewicht darauf legen. In das dunkle Ende, auf das wir lossteuern und dem wir wahrscheinlich nicht entrinnen, werden wir nicht bloß uns – denn dies wäre nicht viel –, sondern auch andere verstricken.«
Andere! Er wußte, was sie damit sagen wollte, und runzelte finster die Stirn.
»Ich spreche zu Euch um anderer willen. Auch Euret- und meinetwegen. Seit unserer Verheiratung seid Ihr anmaßend gegen mich gewesen, und ich habe Euch mit gleicher Münze bezahlt. Jeden Tag, jede Stunde zeigtet Ihr mir und unserer ganzen Umgebung, Ihr dächtet, daß ich durch den Bund mit Euch geehrt und ausgezeichnet sei. Ich bin nicht dieser Ansicht und habe es Euch auch gezeigt. Es scheint, Ihr begreifet nicht, oder es liege, soweit Eure Macht reicht, nicht in Eurer Absicht, daß jeder von uns einen gesonderten Weg gehen müsse, und erwartet statt dessen von mir eine Huldigung, zu der ich mich nie herablassen werde.«
Obschon ihr Gesicht wandellos dasselbe blieb, lag doch eine nachdrückliche Bekräftigung dieses »Nie« sogar in ihren Atemzügen.
»Ich fühle keine Liebe zu Euch: dies wißt Ihr. Wäre es der Fall, oder könnte ich es, so würdet Ihr Euch nicht darum kümmern. Ich weiß ebensogut, daß auch Ihr keine Liebe zu mir hegt. Doch wir sind aneinander gefesselt, und in den Knoten, der uns bindet, sind, wie gesagt, auch andere eingeschlossen. Wir beide müssen sterben; wir beide stehen bereits mit dem Jod in Verbindung, jedes von uns durch ein kleines Kind. Laßt uns gegenseitig nachsichtig sein!«
Mr. Dombey atmete tief auf, als wollte er sagen: »O, ist das alles?«
»Es gibt keinen Reichtum«, fuhr sie fort, und ihr Antlitz wurde blasser, während ihre auf ihm haftenden Augen einen erhöhten Glanz zeigten, »der mir diese Worte und den Sinn, der darin liegt, abkaufen könnte. Einmal weggeworfen als eitler Hauch, ist kein Reichtum und keine Macht mehr imstande, sie zurückzubringen. Es ist mir feierlich ernst damit: ich habe sie abgewogen und werde treulich an dem halten, was ich mir vornehme. Wenn Ihr mir Eurerseits Nachsicht versprechen wollt, so gebe ich Euch für mich dieselbe Zusage. Wir sind ein höchst unglückliches Paar, in dem aus verschiedenen Ursachen jedes Gefühl ausgerottet ist, das die Ehe rechtfertigt oder zu einem Segen macht. Gleichwohl könnte im Lauf der Zeit einige Freundschaft oder ein wenig gegenseitiges Anbequemen zu erzielen sein. Ich will versuchen, dies zu hoffen, wenn Ihr Euch gleichfalls Mühe geben wollt. Vielleicht mache ich von den Jahren meiner Reife einen besseren und glücklicheren Gebrauch, als das mit der Zeit meiner Jugend und meiner Blüte der Fall war.«
Sie hatte stets mit gedämpfter, einfacher Stimme gesprochen, die sich weder hob noch fiel. Nachdem sie zu Ende war, ließ sie die Hand sinken, auf die sie sich in ihrer leidenschaftslosen, bestimmten Gegenrede gestützt hatte, obschon ihr Auge sich nicht von ihm wandte.
»Madame«, versetzte Mr. Dombey mit seiner geschraubtesten Würde, »ich kann nicht auf einen so außerordentlichen Vorschlag eingehen.«
Sie sah ihn noch immer an ohne den mindesten Wechsel.
»Ich will in unserer Angelegenheit«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er sich von seinem Sitz erhob, »über die Ihr meine Ansichten und Erwartungen vernommen habt, Mrs. Dombey, nicht zaudern oder mit Euch unterhandeln. Ihr habt mein Ultimatum vernommen, Madame, und ich muß Euch nur ersuchen, ihm Eure ernstlichste Aufmerksamkeit zuzuwenden.«
Wie ihr Gesicht den alten Ausdruck wieder annahm, nur vertieft in seiner Stärke! Wie ihre Augen sich senkten, als wollten sie den Anblick eines gemeinen, häßlichen Gegenstandes vermeiden! Welch ein Wetterleuchten auf der stolzen Stirn! Welche unwillige Verachtung, welcher entrüstete Abscheu, als der blasse, gleichförmige Ernst gleich einem Nebel verschwand! Er konnte alledem nicht ausweichen, obschon der Anblick unheimlich auf ihn wirkte.
»Geht, Sir!« sagte sie, mit gebieterischer Hand nach der Tür weisend. »Das erste und das letzte Vertrauen, das zwischen uns stattgefunden hat, ist zu Ende. Nichts kann uns fortan fremder gegeneinander machen, als wir es sind.«
»Madame«, versetzte Mr. Dombey, »verlaßt Euch darauf, daß ich, uneingeschüchtert durch allgemeine Deklamationen, den Weg gehen werde, zu dem ich berechtigt bin.«
Sie wandte ihm den Rücken zu und setzte sich, ohne ihm eine Antwort zu geben, vor ihrem Spiegel nieder.
»Ich hoffe, Ihr werdet Euch eines Besseren besinnen und mehr Eure Pflicht ins Auge fassen, Madame«, sagte Mr. Dombey.
Keine Silbe von ihren Lippen. Der Ausdruck, den ihr vom Spiegel zurückgeworfenes Gesicht ihm zeigte, gab so wenig Rücksicht auf ihn kund, als wäre er eine unbemerkte Spinne an der Wand oder ein Käfer auf dem Boden gewesen. Ja, als sie sich endlich von ihm abwandte, sah sie sogar aus, als hätte sie ihn wie das erwähnte ekelhafte Ungeziefer zertreten und für immer vergessen können.
Während er zur Tür hinausging, schaute er noch einmal auf das hell erleuchtete, reiche Zimmer, die überall umherliegenden schönen, funkelnden Gegenstände, die in ihrem kostbaren Gewand vor dem Spiegel sitzende Gestalt Ediths und das Gesicht zurück, das sich ihm im Spiegel zeigte. Dann begab er sich nach seinem alten Gedankenstübchen, von allen diesen Dingen im Geiste ein lebhaftes Bild mit fortnehmend und sich in unsteten Grübeleien ergehend, wie sie wohl aussehen dürften, wann er das nächste Mal ihrer ansichtig würde.
Im übrigen verhielt sich Mr. Dombey sehr schweigend und würdevoll, zuversichtlich darauf bauend, daß er sein Vorhaben durchsetzen könne. In dieser Stimmung beharrte er.
Er hatte nicht im Sinn, die Familie nach Brighton zu begleiten, sondern teilte am Morgen der Abreise, die ein paar Tage nach dem vorerwähnten Auftritt stattfinden sollte, Kleopatra beim Frühstück in Gnaden mit, daß man ihn bald erwarten dürfe. Es war hohe Zeit, Kleopatra nach einem Ort zu bringen, der als gesund empfohlen wurde, denn sie schien wahrhaft im letzten Viertel der Erdenlaufbahn zu stehen.
Ohne gerade einen entschiedenen zweiten Anfall erlitten zu haben, war es doch von ihrer ersten Genesung an mehr und mehr rückwärts mit ihr gegangen. Sie wurde sichtlich noch magerer und welker, ihre Geistesschwäche nahm zu, und ihr Gedächtnis verwirrte sich in der befremdlichsten Weise. Unter andern Anzeichen dieses letzteren Leidens verfiel sie in die Gewohnheit, die Namen ihrer beiden Schwiegersöhne, des lebenden und des toten, wirr durcheinander zu bringen, so daß sie in der Regel Mr. Dombey entweder »Grangeby« oder »Domber« nannte, bei Gelegenheit wohl auch beide Namen ohne Unterschied auf ihn anwendete.
Aber sie war jugendlich, noch sehr jugendlich, und so erschien sie auch vor ihrer Abreise in einem ausdrücklich bestellten Hut und in einem Reisekleid, das wie das eines alten Wickelkindes verbrämt und gestickt war, beim Frühstück. Es war nicht leicht, ihr das flugfertige Hütchen aufzusetzen oder es an der Hinterseite ihres armen, nickenden Kopfes festzuhalten, wenn es einmal angebracht war. Im gegenwärtigen Fall übte es nur die nicht sachgemäße Wirkung, daß es immer auf die eine Seite hing und stets von Flowers, der Zofe, die zu Verrichtung dieses Dienstes während des Frühstücks im Hintergrunde stand, an den Kopf zurückgedrückt werden mußte. »Mein teuerster Grangeby«, sagte Mrs. Skewton, »Ihr müßt uns versp–« sie schnitt manche ihrer Worte kurz ab und ließ andere gar aus – »recht bald hinunterzukommen.«
»Ich habe Euch bereits gesagt, Madame«, versetzte Mr. Dombey laut und mühsam, »daß ich mich nach einem oder zwei Tagen einfinden werde.«
»Gott segne Euch, Dombey!«
Jetzt ergriff der Major, der gekommen war, um sich von den Damen zu verabschieden, und mit der uneigennützigen Ruhe eines unsterblichen Wesens durch seine schlagflüssigen Augen Mrs. Skewtons Gesicht musterte, das Wort:
»Alle Welt, Ma'am, Ihr ladet den alten Joe nicht ein, Euch zu besuchen?«
»Scheußlicher Wicht, von wem spricht er denn?« lispelte Kleopatra. Ein Klopfen auf dem Hut von seiten Flowers schien jedoch ihr Gedächtnis anzuspornen, und sie fügte bei: »O, Ihr meint Euch, Ihr garstiges Geschöpf!«
»Verteufelt seltsam, Sir«, flüsterte der Major Mr. Dombey zu. »Schlimmer Fall. Nie warm genug gekleidet.« Der Major war bis an das Kinn zugeknöpft. »Ei, wen sollte J. B. unter Joe anders meinen, als den alten Joe Bagstock – Joseph – Euern Sklaven – Joe, Ma'am? Hier! hier ist der Mann! hier sind Bagstocks Blasebälge, Ma'am!« rief der Major, sich einen dröhnenden Schlag auf die Brust versetzend.
»Meine liebe Edith – Grangeby – es ist ganz'erordentlich«, sagte Kleopatra verdrießlich, »daß Major –«
»Bagstock! J. B.« rief der Major, als er bemerkte, daß sie um seinen Namen verlegen war.
»Nun, es liegt nichts daran«, sagte Kleopatra, »Edith, meine Liebe, du weißt, daß ich mir die Namen nie merken konnte. Was wollte ich doch sagen? O! ganz 'erordentlich, daß so viele Leute mich da drunten zu besuchen wünschen. Ich gehe nicht auf lange. Ich komme wieder zurück. Sicherlich können sie warten, bis ich wieder hier bin!«
Kleopatra sah sich bei diesen Worten am ganzen Tisch um und schien sehr unruhig zu sein.
»Ich wünsche keine Besuche – brauche in der Tat keine Besuche«, sagte sie: »ein wenig Ruhe – und dergleichen – ist alles, was ich nötig habe. Keine garstige Bären dürfen mir kommen, bis ich diese Taubheit 'schüttelt habe.«
Und in greulicher Wiederaufnahme ihres koketten Wesens führte sie mit ihrem Fächer einen Stoß nach dem Major, traf aber statt dessen die in ganz anderer Richtung stehende Kaffeetasse des Mr. Dombey, die unter diesem Angriff überstürzte.
Dann beschied sie Withers vor und trug ihm auf, ja nicht zu vergessen, daß einige kleine Veränderungen in ihrem Zimmer vorgenommen werden sollten, die fertig sein müßten, ehe sie wieder zurückkomme. Er habe dies augenblicklich zu besorgen, da man nicht wissen könne, wie bald sie wieder hier sei; denn sie habe bei allerlei Personen so gar viele Besuche zu machen. Withers nahm diese Weisungen mit geziemender Ehrerbietung entgegen und verbürgte sich für ihre pünktliche Besorgung. Als er aber um einen oder zwei Schritte hinter ihr zurücktrat, schien es, als müsse er noch einen eigentümlichen Blick dem Major zuwerfen, der seinerseits gleichfalls mit einem eigentümlichen Ausdruck nach Mr. Dombey hinsah. Von diesem Beispiel angesteckt, betrachtete letzterer Kleopatra auch in eigentümlicher Weise, während dieser guten Dame das Hütchen über das eine Auge niederfiel und das von ihr gebrauchte Besteck auf dem Teller klapperte, als ob sie mit Kastagnetten spiele.
Nur Edith erhob ihr Auge nie zu irgendeinem Gesicht an dem Tisch und schien auch durch nichts ängstlich gemacht zu werden, was ihre Mutter sagte oder tat. Sie hörte ihrem unzusammenhängenden Gerede zu oder wandte wenigstens den Kopf gegen sie, wenn die Worte ihr galten, gab im Notfall eine leise einsilbige Erwiderung, unterbrach sie bisweilen, wenn die alte Dame allzusehr faselte, oder führte ihre Gedanken durch eine kurze Bemerkung nach dem Punkt zurück, von dem aus sie abgeschweift waren. So unsicher die Mutter übrigens auch in andern Dingen geworden war, blieb sie doch darin beständig, daß sie fast kein Auge von ihr verwandte. Sie schaute in das schöne Gesicht mit seiner strengen marmornen Ruhe bald in einer Art furchtsamer Bewunderung, bald in einem kichernden, törichten Versuch, es zu einem Lächeln zu bewegen, bald mit launenhaften Tränen und eifersüchtigem Kopfschütteln, als halte sie sich für vernachlässigt, stets aber mit einem bestimmten Bezug auf Edith, und der wechselte nicht, wie ihre andern Gedanken, sondern wirkte beharrlich fort. Von Edith konnte sie bisweilen in einer Weise, die sich wild genug ausnahm, nach Florence hin und dann wieder nach Edith zurückblicken. Mitunter versuchte sie auch, anderswohin zu schauen, als wolle sie dem Antlitz ihrer Tochter ausweichen. Aber ihr Auge schien nach diesem zurückgedrängt zu werden, obschon Ediths Blick den ihren nie unaufgefordert suchte.
Das Frühstück war zu Ende. Mrs. Skewton tat in gezierter Mädchenhaftigkeit, als wolle sie sich auf den Arm des Majors lehnen, mußte aber auf der andern Seite von Flowers, der Zofe, und von hinten durch Withers, den Pagen, kräftig unterstützt werden. So geleitet, gelangte sie nach dem Wagen, der sie, Florence und Edith nach Brighton bringen sollte.
»Und ist Joseph unbedingt verbannt?« sagte der Major, sein Purpurgesicht zum Kutschenschlag hineinsteckend. »Beim Henker, Ma'am, ist Kleopatra so hartnäckig, ihrem treuen Antonius Bagstock zu verbieten, daß er in ihre Nähe komme?«
»Fort mit Euch!« versetzte Kleopatra. »Ich kann Euch nicht ausstehen. Wenn Ihr Euch recht wacker aufführt, könnt Ihr mich besuchen, wann ich wieder zurückkomme.«
»Sagt Joseph, er dürfe in Hoffnung leben, Ma'am«, erwiderte der Major; »oder er wird in Verzweiflung sterben.«
Kleopatra schauderte und lehnte sich zurück.
»Edith, meine Liebe«, rief sie, »sage ihm –«
»Was?«
»So schreckliche Worte«, sagte Kleopatra. »Er braucht so schreckliche Worte!«
Edith bedeutete ihm mit einem Wink, er möchte zurücktreten, gab das Zeichen zur Abfahrt und überließ den anstößigen Major Mr. Dombey, zu dem dieser pfeifend zurückkehrte.
»Ich will Euch was sagen, Sir«, begann der Major, der, die Hände auf den Rücken gelegt, seine Beine weit spreizte, »eine schöne Freundin von uns hat ihr Quartier in einer wunderlichen Straße aufgeschlagen.«
»Was meint Ihr damit, Major?« fragte Mr. Dombey.
»Nichts anders, Dombey«, erwiderte der Major, »als daß Ihr bald eine Schwiegerwaise sein werdet.«
Mr. Dombey schien diese scherzhafte Bezeichnung seiner Person so wenig zu gefallen, daß der Major mit dem Pferdehusten schloß.
»Gott verdamm mich, Sir«, sagte der Major, »es hilft nicht«, eine Tatsache zu bemänteln. Joe ist derb, Sir. Das liegt in seiner Natur. Wollt Ihr den alten Josh überhaupt haben, so müßt Ihr ihn nehmen, wie Ihr ihn findet; und Ihr werdet ein verteufelt rostiges altes Kratzeisen, eine scharfzahnige J.B.-Feile an ihm finden. Dombey«, fügte der Major bei, »die Mutter Eurer Gattin ist auf der Reise, Sir.«
»Ich fürchte«, versetzte Mr. Dombey mit philosophischer Ruhe, »daß Mrs. Skewton sehr leidend ist.«
»Leidend, Dombey?« entgegnete der Major. »Sie ist so gut wie hin.«
»Eine Luftveränderung übrigens«, fuhr Mr. Dombey fort, »und sorgfältige Pflege können noch viel tun.«
»Glaubt das nicht, Sir«, erwiderte der Major. »Hole mich der Kuckuck, sie hat sich nie warm genug gekleidet. Wenn man sich nicht ordentlich einhüllt«, fügte er hinzu, indem er einen weitern Knopf seiner hellgelben Weste zumachte, »so hat man nichts, auf was man sich verlassen könnte. Aber die Leute wollen sterben. Sie wollen es. Gott verdamm mich, sie wollen. Sie sind starrsinnig. Laßt Euch was sagen, Dombey. Vielleicht ist's nicht gerade zierlich und fein ausgedrückt; vielleicht sogar rauh und zäh, aber ein bißchen von dem echten altenglischen Bagstock-Urstoff, Sir, würde in der ganzen Welt der menschlichen Zucht trefflich zustatten kommen.«
Nachdem der Major, der jedenfalls echt blau war, was für andere Eigenschaften er auch haben mochte, um in die echt altenglische Klassifikation eingereiht werden zu können – diesen großartigen Witz gemacht hatte, trug er seine Hummernaugen und seine Gicht nach dem Klub, wo er den ganzen Tag über hustete.
Kleopatra, die das eine Mal ärgerlich, dann wieder selbstgefällig, bisweilen wach und dann wieder schläfrig, zu allen Zeiten aber sehr jugendlich war, langte noch am nämlichen Abend in Brighton an, fiel wie gewöhnlich in Stücke und wurde zu Bett gebracht. Eine düstere Phantasie hätte sich wohl ein gewaltiges Gerippe vorstellen können, das den Dienst der Jungfer versah, wie es ja auch im Geiste dort lauerte unter den rosenfarbigen Vorhängen, die man mitgenommen hatte, damit sie ihren Abglanz auf Mrs. Skewton ergössen. In dem hohen Rate medizinischer Autoritäten war beschlossen worden, daß sie jeden Tag eine Spazierfahrt ins Freie machen sollte. Auch sei es sehr wichtig, daß sie täglich ein wenig gehe, wenn sie es könne. Edith war bereit, sie zu begleiten – stets dazu bereit mit derselben mechanischen Sorgfalt und unbeweglichen Schönheit – und sie fuhren allein aus; denn nun es mit ihrer Mutter schlechter wurde, fühlte sich Edith unruhig in Florences Nähe, weshalb sie derselben mit einem Kusse sagte, es wäre ihr lieber, wenn sie beide allein blieben.
Eines Tages befand sich Mrs. Skewton ganz besonders in jener unschlüssigen, gewalttätigen, eifersüchtigen Stimmung, die nach ihrer Genesung von dem ersten Anfall sich ausgebildet hatte. Als sie eine Weile schweigend in dem Wagen gesessen und Edith angesehen hatte, ergriff sie deren Hand und küßte sie leidenschaftlich. Die Hand wurde weder gegeben noch zurückgezogen, sondern verhielt sich leidend und sank, sobald sie frei gelassen war, gleichsam empfindungslos wieder nieder. Hierauf begann Mrs. Skewton zu wimmern und zu stöhnen; sie klagte, was sie für eine Mutter gewesen und wie sie jetzt so ganz und gar vergessen sei. Dies währte in launenhaften Zwischenräumen lange fort, als sie ausgestiegen waren und Mrs. Skewton, von Withers und einem Stocke unterstützt, neben Edith herging, während der Wagen langsam in einiger Entfernung nachfolgte.
Es war ein düsterer, kalter, windiger Tag, und sie befanden sich auf den Dünen, wo nur ein kahler Streifen Landes zwischen ihnen und dem Himmel lag. Die Mutter, die sich in der Eintönigkeit ihrer Klagen gefiel und diese von Zeit zu Zeit mit gedämpfter Stimme wiederholte, ging langsam neben der stolzen Gestalt ihrer Tochter her, bis sie über einen dunkeln Hügelrücken weggekommen waren, wo sie in einiger Entfernung ein paar Gestalten erblickten, in denen Edith eine so treffende karikierte Nachbildung ihrer selbst erkannte, daß sie stehen blieb.
In demselben Augenblick machten auch die zwei Personen halt. Die eine, die Edith wie ein verzerrter Schatten ihrer Mutter vorkam, sprach angelegentlich mit der andern und deutete nach ihnen herüber. Sie schienen geneigt zu sein, umzukehren. Aber die andere, in der Edith eine so große Ähnlichkeit mit sich selbst bemerkte, daß sie von einem ungewöhnlichen, mit Furcht untermengten Gefühl überwältigt wurde, kam heran, während ihre Begleiterin sich an sie anschloß.
Edith hatte das meist während des Gehens bemerkt, da sie nur für einen Augenblick stehengeblieben war. Eine nähere Betrachtung zeigte ihr, daß die beiden Personen nach Weise herumziehenden Landvolkes sehr ärmlich gekleidet waren. Die jüngere Frau trug Strickwaren und ähnliche Gegenstände zum Verkauf bei sich, die Alte aber mühte sich mit leeren Händen weiter.
Welcher Abstand auch in Kleidung, Würde und Schönheit vorhanden war, Edith konnte doch nicht anders, als noch immer die jüngere Frau mit sich selbst zu vergleichen. Möglich, daß sie auf ihrem Gesicht auch einige Züge sah, die, wie sie wußte, in ihrer eigenen Seele harrten, wenn sie sich auch nicht äußerlich kund gaben. Als aber die Fremde herankam, in Erwiderung von Ediths Blick ihre leuchtenden Augen auf sie heftete und, in Haltung und Statur ihr so ganz ähnlich, sogar mit ihren Gedanken in eine Wechselbeziehung zu treten schien, – da überflog das schönere Gegenbild der Unbekannten ein Frösteln, als ob der Tag sich in Nacht hülle und der Wind kälter werde.
Die Fremden waren nun ganz herangekommen. Die Alte streckte zudringlich ihre Hand aus und blieb stehen, um bei Mrs. Skewton zu betteln. Auch die jüngere machte halt. Sie und Edith sahen sich gegenseitig in die Augen.
»Was habt Ihr zu verkaufen?« fragte Edith.
»Nur dies«, versetzte die Angeredete, indem sie ihre Waren feilbot, ohne danach hinzusehen. »Mich selbst habe ich längst verkauft.«
»Meine Lady, glaubt ihr nicht«, krächzte die Alte Mrs. Skewton zu: »glaubt nicht, was sie sagt. Es macht ihr Freude, so zu sprechen. Sie ist meine schöne, undankbare Tochter und überhäuft mich nur mit Vorwürfen, meine Lady, für alles, was ich an ihr getan habe. Schaut sie nur an, meine Lady, welche Blicke sie ihrer armen alten Mutter zuwirft.«
Als Mrs. Skewton mit zitternder Hand ihre Börse herauszog, um daraus hastig etwas Geld zu nehmen, dem die andere Alte mit Gier entgegensah, – in ihrer Hast und Gebrechlichkeit berührten sich beinahe die beiden Köpfe – nahm Edith wieder das Wort.
»Ich habe Euch schon früher gesehen«, sagte sie zu der Alten.
»Ja, meine Lady«, entgegnete die Alte mit einem Knix. »In Warwickshire drunten. An jenem Morgen unter den Bäumen. Als Ihr mir nichts geben wolltet. Aber der Gentleman – er gab mir etwas. O, vergelt ihm, vergelt es ihm Gott!« murmelte die Alte, indem sie ihre runzelige Hand hinhielt und fürchterlich nach ihrer Tochter hingrinste. »Versuch' nicht, mich zurückzuhalten, Edith!« sagte Mrs. Skewton, verdrießlich einer Einwendung ihrer Tochter vorgreifend. »Du verstehst nichts davon, und ich lasse mir nicht abraten. Das ist bestimmt eine treffliche Frau und eine gute Mutter.«
»Ja, meine Lady, ja«, plapperte die Alte, ihre habgierige Hand ausstreckend. »Danke, meine Lady. Gott vergelte es Euch, meine Lady. Wieder sechs Pence, meine hübsche Lady. O, Ihr seid zuverlässig selbst eine gute Mutter.«
»Und ich versichere Euch, mein gutes altes Geschöpf, eine Mutter, die bisweilen gleichfalls undankbar genug behandelt wird«, versetzte Mrs. Skewton wimmernd. »Da! gebt mir Eure Hand. Ihr seid ein sehr gutes Geschöpf – voll, von wie nennt man's doch – und dergleichen. Ihr seid ganz Liebe et cetera – ist es nicht so?«
»O ja, meine Lady!«
»Ich wußte es, und so ist auch jener kavalierhafte Mensch, Grangeby. Ich muß Euch in der Tat noch einmal die Hand drücken. So, jetzt könnt Ihr gehen; und ich hoffe«, sie wandte sich dabei an die Tochter, »Ihr werdet fortan mehr Dankbarkeit, natürliches wie nennt man's doch und all dergleichen mehr – ach, ich kann mir die Namen nie merken – zeigen, denn es hat nie eine bessere Mutter gegeben, als das gute alte Geschöpf da gegen Euch gewesen ist. Komm, Edith!«
Während die Ruine der Kleopatra wimmernd weiter wankte und sich sentimental und vorsichtig wegen des aufgelegten Rots die Augen wischte, humpelte die Alte, die ihr Geld zählte, mit wackelndem Kinn nach der entgegengesetzten Richtung weiter. Kein Wort, keine Gebärde weiter war zwischen Edith und der jüngeren Frau ausgetauscht worden. Aber sie hatten keinen Augenblick die Augen von einander verwandt. So blieben sie sich gegenüber stehen, bis Edith, wie aus einem Traum erwachend, langsam weiter ging.
»Ihr seid eine schöne Frau«, murmelte ihr Schatten, der ihr nachblickte; »aber das gute Aussehen wird Euch nicht retten. Und Ihr seid eine stolze Frau; aber auch der Stolz wird Euch nicht retten. Wir werden einander wohl kennen, wenn wir uns wiedersehen!«
Einundvierzigstes Kapitel. NEUE STIMMEN AUF DEN WELLEN
Alles geht seinen gewohnten Gang. Die Wellen sind heiser von der Wiederholung ihres Geheimnisses; der Sand häuft sich am Ufer auf. Die Seevögel streichen durch die Luft; Winde und Wolken jagen dahin, ohne eine Spur zurückzulassen, und die weißen Wogenarme winken in dem Mondlicht nach dem weit entlegenen unsichtbaren Lande.
Mit wehmütiger Freude ist Florence wieder an der alten, früher mit Trauer betretenen Stätte. Sie fühlt sich glücklich, wenn ihre Gedanken den Bruder nach dem ruhigen Plätzchen zurückrufen, wo er und sie so oft miteinander gesprochen hatten, während die Wellen um sein Lager her spielten. Auch jetzt, wie sie so gedankenvoll dasitzt, hört sie in dem wilden, dumpfen Gemurmel des Meeres eine Wiederholung seiner kleinen Geschichte, ja sogar seiner Worte. Sie findet, daß all ihr seitheriges Leben, Hoffen und Grämen – in dem einsamen Hause sowohl, wie in dem Palast, in den es sich verwandelt hat – zu dem Schlußreim jenes wunderbaren Liedes gehört.
Und der schüchterne Mr. Toots, der in der Ferne wandert, sehnsüchtig nach der von ihm angebeteten Gestalt hinblickt und ihr hierher gefolgt ist, obschon er es in seinem Zartgefühl nicht über sich gewinnen kann, sie zu einer solchen Zeit zu stören – vernimmt gleichfalls das Requiem des kleinen Dombey auf den Wellen, die mit den Pausen in ihrem ewigen Loblied auf Florence steigen und fallen. Ja, und der arme Mr. Toots begreift einigermaßen, daß sie etwas sagen von einer Zeit, in der sein Kopf noch lichter und nicht so umnebelt war, und die Tränen, die sich in seinen Augen heben, wenn er fürchtet, er sei jetzt blöde, dumm und zu nichts gut, als um verlacht zu werden, mindern in ihrem beschwichtigenden Mahnen seine Zufriedenheit darüber, daß er für den Augenblick aller Verantwortlichkeit gegen den Preishahn enthoben ist, weil besagter Ehrenmann eben auf Toots' Kosten eine Landpartie gemacht hat, um mit dem Larkeyjungen anzubinden.
Aber Mr. Toots faßt Mut; denn die Wellen flüstern ihm einen freundlichen Gedanken zu, und mit langsamen Schritten, wobei er oft unschlüssig haltmacht, nähert er sich Florence. Er ist zwar ihrem Reisewagen auf dem ganzen Wege von London Meile für Meile gefolgt, da ihm sogar der erstickende Staub seiner Räder teuer ist. Trotzdem drückt er, sobald er ihr nahe gekommen, unter Erröten stammelnd, sein Erstaunen aus, daß er sie sieht, und sagt, er sei in seinem ganzen Leben nie so überrascht gewesen.
»Und Ihr habt auch Diogenes mitgebracht. Miß Dombey?« sagt Mr. Toots, und ein Prickeln durchfliegt seinen ganzen Körper bei der Berührung der kleinen Hand, die ihm so lieblich und unverhohlen dargeboten wird.
Ohne Zweifel ist Diogenes da und ohne Zweifel hat Mr. Toots allen Grund, ihn zu bemerken, denn er fährt geradewegs auf die Beine des jungen Gentleman los und überpurzelt sich in der Verzweiflung, mit der er seinen Angriff macht. Aber seine holde Gebieterin hält ihn zurück.
»Nieder Di, nieder. Erinnerst du dich nicht mehr, wer uns zuerst miteinander bekannt gemacht hat, Di? Pfui, schäme dich!«
Ach, wohl hat Di Ursache, schmeichelnd seine Nase unter ihre Hand zu schieben, fort, wieder zurück und um sie her zu laufen, zu bellen und köpflings auf jeden Herankommenden loszustürzen, damit er seine Ergebenheit zeige. Mr. Toots würde gleichfalls köpflings auf jeden Menschen losgerannt sein. Ein Offizier geht vorbei, und Mr. Toots wäre nichts lieber gewesen, als wenn er hätte voll gegen ihn anrennen können.
»Diogenes fühlt sich wieder in seiner heimischen Luft – meint Ihr nicht, Miß Dombey?« fragte Mr. Toots.
Florence gibt mit einem anmutigen Lächeln ihre Zustimmung.
»Miß Dombey«, sagt Mr. Toots, »ich bitte um Verzeihung; aber wenn Ihr einen Besuch bei Blimbers machen möchtet, ich – ich gehe hin.«
Ohne ein Wort zu sprechen, legt Florence ihren Arm in den seinigen und sie gehen miteinander weiter, Diogenes voraus. Mr. Toots zittern die Knie, und obgleich er prächtig gekleidet ist, fühlt er sich doch unbehaglich und sieht Runzeln auf den Meisterwerken von Burgeß und Co. Er wünscht, daß er sein glänzendstes Paar Stiefel angezogen hätte.
Das Äußere von Mr. Blimbers Hause erscheint noch ebenso schulmeisterlich und akademisch, wie nur je; und dort oben ist das Fenster, wo sie nach dem blassen Gesicht hinaufzuschauen pflegte, wo das blasse Gesicht sich erheiterte, wenn es sie gewahrte, und wo die abgezehrte kleine Hand ihr Küsse zuwarf, wenn sie vorüberging. Die Tür wird durch denselben kurzsichtigen Mann geöffnet, in dessen ausdruckslosem Grinsen beim Anblick von Mr. Toots sich die verkörperte Geistesschwäche kundgibt. Sie werden nach dem Studierzimmer des Doktors gewiesen, wo ihnen der blinde Homer und Minerva wie ehedem zu dem nüchternen Ticken der großen Wanduhr in der Halle Audienz erteilt und wo die Erd- und Himmelskugeln noch immer an ihren gewohnten Plätzen stehen, als sei auch die Welt stillgestanden und nie etwas darin nach dem allgemeinen Gesetz, daß auf dem rollenden Erdball alles zur Erde abruft, zugrunde gegangen.
Doktor Blimber ist da mit seinen gelehrten Beinen. Mrs. Blimber ist da mit ihrer himmelblauen Haube. Und Cornelia ist da mit ihrer gelben kleinen Lockenreihe und ihrer glänzenden Brille, noch immer wie ein Totengräber in den Gräbern der Sprachen arbeitend. Dort steht der Tisch, auf dem fremd und verlassen der »neue Knabe« der Schule saß, und man hört das ferne Getümmel der alten Knaben, wie sie sich nach dem alten Grundsatz in der alten Stube umtreiben.
»Toots«, sagt Doktor Blimber. »Es freut mich sehr, Euch zu sehen, Toots.«
Mr. Toots kichert zur Erwiderung.
»Und Euch noch dazu in so guter Gesellschaft zu sehen, Toots«, sagt Doktor Blimber.
Mr. Toots setzt mit einem puterroten Gesicht auseinander, daß er zufällig mit Miß Dombey zusammengetroffen sei, und daß Miß Dombey gleich ihm gewünscht habe, die alte Stätte zu sehen. Dies der Grund, warum sie miteinander kämen.
»Ohne Zweifel möchtet Ihr, Miß Dombey«, sagt Doktor Blimber, »unter unsere jungen Freunde treten. Lauter vormalige Studiengenossen von Euch, Toots. Ich glaube, meine Liebe«, fügt er gegen Cornelia bei, »es sind in unserer kleinen Akademie keine neuen Schüler, seit Mr. Toots uns verlassen hat.«
»Bitherstone ausgenommen«, entgegnete Cornelia.
»Ja, richtig«, sagte der Doktor. »Bitherstone ist für Mr. Toots neu.«
Auch für Florence ist er es beinahe; denn der Bitherstone in der Schulstube – nicht länger Master Bitherstone bei Mistreß Pipchin – zeigt sich in Vatermördern und Halsbinde und trägt eine Uhr. Aber der unter einem schlimmen bengalischen Stern geborene Bitherstone ist ungemein tintig und sein Wörterbuch hat von dem beharrlichen Gebrauch ein so wassersüchtiges Aussehen, daß es nicht mehr schließen will und in einer Weise gähnt, als könne es die langweilige Behandlung nicht länger aushalten. Seinem Herrn, Bitherstone selbst, auf dem Doktor Blimbers Hochdruck lastet, ergeht es ebenso. Aber in seinem Gähnen liegt ein boshaftes Kläffen, und man hat ihn sagen hören, er wünsche nur, daß er den »alten Blimber« einmal in Indien erwische. Er wolle ihn dann bald durch einige von seinen (Bitherstones) Kulis landaufwärts geschafft und den Thugs Berüchtigte indische Sekte, die Raubmörderei als eine Art religiöses System betreiben. (Vgl. Richard Garbe, Beiträge zur indischen Kulturgeschichte, S. 183 ff.) überantwortet haben – das sage er ihm zum voraus.
Briggs mahlt noch immer in der Mühle der Wissenschaft; auch Tozer, Johnson und alle übrigen. Die älteren Zöglinge sind eifrig damit bemüht, wieder zu vergessen, was sie in jüngeren Jahren gelernt haben. Alle sind so geschniegelt und blaß, wie nur je, und unter ihnen ist Mr. Feeder, B.A., mit seiner knöchernen Hand und dem stoppeligen Haarwuchs der alte Treiber. Der Herodot ruht für den Augenblick, und seine übrigen Waffen liegen auf dem Sims hinter ihm.
Selbst unter diesen ernsten jungen Leuten erregt ein Besuch des emanzipierten Toots gewaltiges Aufsehen. Man betrachtet ihn mit einer Art Ehrfurcht als einen Menschen, der den Rubikon überschritten und geschworen hat, nie wieder zurückzukommen. Was aber den Schnitt seiner Kleider und seinen Schmuck betrifft, so flüstert man sich gegenseitig hinter den Händen erstaunte Bemerkungen zu. Der gallsüchtige Bitherstone, der nicht aus der Zeit des Mr. Toots stammt, tut gegen die kleineren Knaben, als verachte er einen derartigen Schmuck, und sagt, er wisse das besser; man solle ihn nur einmal in Bengalen besuchen, wo seine Mutter einen ihm gehörigen Smaragd habe, der aus dem Fußschemel eines Raja genommen sei.
Auch der Anblick Florencens weckt berückende Gefühle, und jeder junge Gentleman verliebt sich augenblicklich wieder in sie, den vorerwähnten gallsüchtigen Bitherstone ausgenommen, der aus hellem Widerspruchsgeist nichts davon wissen will. Gegen Mr. Toots erhebt sich bittere Eifersucht, und Briggs ist der Meinung, daß Toots im Grunde nicht mal alt genug sei. Aber diese beschimpfende Andeutung wird schleunigst durch Mr. Toots zunichte gemacht, der laut zu Mr. Feeder B.A. sagt: »Wie geht's Euch, Feeder?« und ihn auf heute abend zu einem Diner nach dem Bedford einlädt. Kraft dieser Großtat hätte er sich anstandslos für den alten Parr ausgeben können, wenn es ihm darum zu tun gewesen wäre.
Es gibt viele Händedrücke, viele Verbeugungen, und bei jedem jungen Gentleman macht sich der sehnliche Wunsch bemerklich, Toots in Miß Dombeys Gunst auszustechen. Nachdem Mr. Toots sein altes Pult mit Kichern begrüßt hat, zieht er sich mit Florence, Mistreß Blimber und Cornelia wieder zurück. Er ist der letzte, der herauskommt, und hört noch, während er die Tür schließt, Doktor Blimber sagen: »Meine Herren, wir wollen jetzt unsere Studien wieder aufnehmen.« Denn dieses und nicht viel mehr ist es, was der Doktor die Wellen sagen hört oder sein ganzes Leben über aus ihrem Sprechen verstand.
Florence schleicht sich dann fort und geht mit Mrs. Blimber und Cornelia nach dem alten Schlafstübchen hinauf. Mr. Toots, der fühlt, daß weder er, noch sonst jemand dort nötig ist, steht unter der Tür des Studierzimmers und spricht mit dem Doktor, oder hört vielmehr dem Sprechen des Doktors zu. Dabei wundert er sich, wie er besagtes Studierzimmer je für ein großes Heiligtum und den Doktor mit seinen krummen Beinen, als wäre dieser eine geistliche Orgel, für einen furchtbaren Mann hatte halten können. Florence kommt bald wieder herunter und verabschiedet sich. Auch Mr. Toots nimmt Abschied, und Diogenes, der die ganze Zeit über dem kurzsichtigen jungen Mann aufs erbarmungsloseste zugesetzt hatte, schießt zur Tür hinaus, um in frohem Trotz über die Klippe hinunter zu bellen. Melia und eine andere von des Doktors weiblichen Dienstboten sehen zu einem oberen Fenster heraus, lachen ›über den Toots da‹ und sagen von Miß Dombey: ›Wahrhaftig, gleicht sie nicht ihrem Bruder, nur daß sie hübscher ist?‹
Mr. Toots, der nach Florences Wiedereintreten Tränen auf ihrem Gesicht bemerkt hat, ist verzweifelt ängstlich und unruhig und fürchtet anfangs sogar, er habe unrecht getan, indem er ihr den Besuch vorschlug. Aber er fühlt sich bald erleichtert, weil sie sagt, es freue sie sehr, wieder hier gewesen zu sein, und ganz heiter über alles spricht, während sie an dem Ufer weiter gehen. Er hört die Stimmen auf den Wellen, hört ihre süße Stimme. Solange bis sie in die Nähe von Mr. Dombeys Haus kommen, wo er sie verlassen muß, ist er so verstrickt, daß er über keine Spur freien Willens mehr gebieten kann. Sie reicht ihm die Hand zum Abschied, aber es ist ihm unmöglich, sie wieder loszulassen.
»Miß Dombey, ich bitte um Verzeihung«, sagt Mr. Toots in traurigem Flüsterton: »aber wenn Ihr mir erlauben wolltet, zu – zu –«
Florences lächelnder, nichts ahnender Blick bewirkt, daß er nicht weiter fortfahren kann.
»Wenn Ihr mir erlauben wolltet, zu – wenn Ihr es nicht als eine Dreistigkeit ansehen wolltet, Miß Dombey, wenn ich – ohne irgend eine Ermutigung, wenn ich hoffen dürfte« – sagt Mr. Toots.
Florence sieht ihn fragend an.
»Miß Dombey«, sagt Mr. Toots, der fühlt, daß er jetzt einmal im Zuge ist, »ich bin in der Tat in jenem Zustand von Anbetung gegen Euch, daß ich nicht weiß, was ich mit mir selbst anfangen soll. Ich bin der beklagenswerteste Unglückliche. Wenn es nicht gerade an der Ecke des Square wäre, so würde ich auf meine Knie niederfallen und Euch bitten und anflehen, ohne eine Ermutigung, mich nur hoffen zu lassen, daß ich – daß ich es für möglich halten dürfe, Ihr –«
»O, ich bitte, haltet inne!« ruft Florence in einem augenblicklichen Schrecken. »O, ich bitte, haltet inne, Mr. Toots. Sprecht nicht weiter. Wenn Ihr mir eine Liebe, eine Gunst erweisen wollt, so fahrt nicht fort.«
Mr. Toots ist schrecklich beschämt und sperrt den Mund weit auf.
»Ihr seid so gütig gegen mich gewesen«, sagt Florence, »und ich erkenne es dankbar an. Ich habe allen Grund, in Euch einen wohlwollenden Freund zu lieben, und habe Euch wirklich so gern«, – ihr offenes Gesicht lächelt ihm dabei mit dem lieblichsten, ehrlichsten Blick von der Welt zu – »daß ich von Euch überzeugt bin, Ihr wolltet weiter nichts, als mir Lebewohl sagen.«
»Jawohl, Miß Dombey«, versetzt Mr. Toots. »Ich – ich – das ist es gerade, was ich meine. Es ist von keinem Belang.«
»Gott befohlen!« ruft Florence.
»Gott befohlen. Miß Dombey!« stammelt Mr. Toots. »Ich hoffe, Ihr werdet nichts Schlimmes davon denken. Es ist – es ist von keinem Belang, danke Euch – von durchaus keinem Belang.«
Der arme Mr. Toots geht in einem Zustand von Verzweiflung nach seinem Hotel zurück, schließt sich in sein Schlafgemach ein, wirft sich auf sein Bett und bleibt daselbst geraume Zeit liegen, als ob es dennoch vom größten Belang sei. Glücklicherweise stellt sich aber Mr. Feeder B.A. zum Diner ein, da man sonst kaum sagen könnte, wann er wieder aufgestanden wäre. Mr. Toots sieht sich genötigt, ihn zu bewillkommnen und gastlich zu bewirten.
Und der allgemeine Einfluß jener sozialen Tugend, der Gastfreundschaft (des Weins und des guten Mahls nicht zu gedenken), öffnet Mr. Toots das Herz und erwärmt ihn zur Redseligkeit. Er sagt Mr. Feeder B.A. nicht, was an der Ecke des Square vorgegangen ist. Aber als Mr. Feder ihn fragt, »wann es losgehen werde«, versetzte Mr. Toots, »es gebe gewisse Dinge –«, eine Bemerkung, die Mr. Feeder um einige Grade wieder herunterstimmt. Mr. Toots fügt bei, er wisse nicht, was Blimber berechtige, über sein Erscheinen in Miß Dombeys Gesellschaft sich Bemerkungen zu erlauben, und wenn er glauben könnte, der Doktor habe damit eine Unverschämtheit beabsichtigt, so wolle er es ihm geben, Doktor hin, Doktor her. Er meint übrigens, es sei nur die Unwissenheit des Mannes schuld daran, und Mr. Feeder sagt, daß er nicht daran zweifle.
Mr. Feeder jedoch wird als ein vertrauter Freund von der Angelegenheit nicht ausgeschlossen, und Mr. Toots hat nur den Wunsch, daß diese Angelegenheit geheimnisvoll und mit Gefühl angedeutet werde. Nach einigen Gläsern Wein bringt er Miß Dombeys Gesundheit aus und bemerkt:
»Feeder, Ihr habt gar keine Vorstellung von den Gefühlen, mit denen ich diesen Toast begleite.«
»O ja, die habe ich wohl, mein teurer Toots«, versetzt Mr. Feeder, »und sie gereichen Euch sehr zu Ehre, alter Knabe.«
Mr. Feeder ist vor Freundschaft sehr aufgeregt, drückt seinem Wirt die Hände und sagt, wenn Toots je einen Bruder brauchte, so wisse er, wo er ihn finden könne, entweder direkt durch Post oder durch Boten. Auch meint er, wenn er Mr. Toots einen Rat erteilen dürfe, so würde er ihm empfehlen, die Gitarre oder wenigstens die Flöte spielen zu lernen; denn Frauenzimmer lieben an denen, die ihnen ihre Huldigung darbringen, musikalische Fertigkeit, und er hat selbst schon gefunden, welchen Vorteil man daraus ziehe.
Das bringt Mr. Feeder B.A. zu dem Geständnis, daß er sein Auge auf Cornelia Blimber geworfen hat. Er teilt Mr. Toots mit, daß er nichts gegen Brillen einzuwenden habe, und wenn der Doktor sich so wacker anläßt, ihm das Geschäft zu übergeben, ei, so sind sie – versorgt. Seiner Meinung nach ist jeder Mensch, der sich durch sein Geschäft eine schöne Summe erworben hat, verpflichtet, dasselbe aufzugeben, und Cornelia wäre dabei eine Gehilfin, auf die man stolz sein könnte. Mr. Toots antwortet mit einem wilden Übergang auf Miß Dombeys Lob und mit Hindeutungen, daß es ihm bisweilen sei, als möchte er sich eine Kugel durchs Hirn jagen. Mr. Feeder stellt ihm sehr nachdrücklich vor, daß dies ein übereilter Versuch sein würde, und zeigt ihm, um ihn wieder mit dem Dasein zu versöhnen, Cornelias Porträt mit Brille und Zubehör.
So verbringen diese ruhigen Geister den Abend, und sobald der Abend der Nacht gewichen ist, begleitet Mr. Toots seinen Gast nach Hause und verabschiedet sich von ihm an Doktor Blimbers Tür. Mr. Feeder geht aber nur die Treppe hinauf und kommt, sobald Mr. Toots fort ist, wieder herunter, um einsam an dem Gestade zu wandeln und über seine Aussichten nachzudenken. Er vernimmt in der Stimme der Wellen deutlich die Mitteilung, Doktor Blimber wolle das Geschäft aufgeben, fühlt eine sanfte romantische Lust, wenn er das Äußere des Hauses ansieht und sich dabei denkt, der Doktor werde es anstreichen und gründlich ausbessern lassen.
Mr. Toots geht gleichfalls außerhalb der Mauern, die sein Kleinod bergen, hin und her, und schaut in einer kläglichen Gemütsstimmung – die Polizei hat ein mißtrauisches Auge auf ihn geworfen – nach einem Fenster hinauf, wo noch Licht ist. Er zweifelt nicht daran, daß es aus Florences Zimmer komme, irrt aber hierin; denn es ist das Nachtlicht der Mrs. Skewton. Während Florence unter den alten Schauplätzen schläft und in ihren Träumen frühere Erinnerungen wieder aufleben, liegt in grimmiger Wirklichkeit, wachend und wimmernd, die Gestalt des alten Weibes da, die dem nämlichen Zimmer den geduldigen Knaben ersetzt, um es – aber wie ganz anders – abermals mit Hinfälligkeit und Tod in Verbindung zu bringen. Hager und häßlich liegt sie auf dem unruhigen Bett, und daneben sitzt Edith in ihrer erschreckenden, leidenschaftslosen Lieblichkeit – denn auf das erblindete Auge der Leidenden wirkt sie in der Tat erschreckend. Was rufen ihnen die Wellen zu in der Stille der Nacht?
»Edith, was soll dieser steinerne Arm da, der aufgehoben ist, mich zu schlagen? Siehst du ihn nicht?«
»Es ist nichts, Mutter, als Eure Phantasie.«
»Als meine Phantasie? Alles ist meine Phantasie. Schau nur! Ist es möglich, daß du ihn nicht siehst?«
»In der Tat, Mutter, es ist nichts da. Könnte ich auch so ruhig hier sitzen, wenn Ihr von etwas Derartigem bedroht würdet?«
»Ruhig?« entgegnete die Kranke, wild nach ihr hinschauend. »Er ist jetzt fort – und warum bist du so ruhig? Das ist nicht meine Phantasie, Edith. Eiskalt geht es mir durch die Glieder, wenn ich dich so an meiner Seite sitzen sehe.«
»Ich bin traurig, Mutter.«
»Traurig? Du scheinst immer traurig zu sein. Aber du bist es nicht um meinetwillen.«
Sie fängt zu wimmern an, wirft auf ihrem Kissen ruhelos den Kopf von Seite zu Seite, klagt über Vernachlässigung, nachdem sie eine solche Mutter gewesen, und spricht von der Mutter, die ihnen begegnet, dem guten alten Geschöpf und dem schlechten Dank, den solche Mütter von ihren Töchtern erhalten. Mitten in ihrem Irrereden hält sie an, blickt nach ihrer Tochter hin, ruft, daß sie ihren Verstand verliere, und verbirgt ihr Gesicht in dem Kissen.
Teilnahmsvoll beugt sich Edith über sie hin und redet sie an. Die kranke Alte umklammert ihren Hals und sagt mit einer Miene des Entsetzens:
»Edith, wir gehen bald wieder nach Hause – kehren zurück. Du meinst doch auch, daß ich wieder nach Hause soll?«
»Ja, Mutter, ja.«
»Und was sagte der, wie heißt er doch – ich kann mir nie die Namen merken – der Major – jenes schreckliche Wort, als wir weggingen – ist es nicht wahr? Edith!« ruft sie kreischend und ihre Augen werden starr, »ist's nicht eben dies, was jetzt mich überfällt?« –
Nacht für Nacht blinkt das Licht durch die Fenster. Die Gestalt liegt auf dem Bett, Edith sitzt an ihrer Seite, und die ruhelosen Wellen singen ihnen die ganze Nacht hindurch zu. Nacht für Nacht wiederholen die Wellen heiser ihr Geheimnis; der Sand liegt an dem Ufer aufgehäuft; die Seevögel schweben durch die Luft; die Winde und Wolken eilen hin, ohne eine Spur zurückzulassen, und die weißen Arme winken im Mondlicht nach dem fernen, unsichtbaren Lande.
Und noch schaut die kranke Alte in die Ecke, wo der steinerne Arm – ein Stück von einem Grabmonument, sagt sie – erhoben ist, um sie zu schlagen. Endlich fällt er nieder; ein stummes altes Weib liegt auf dem Bett und krümmt sich zusammen. Die Hälfte von ihr ist tot.
So sieht die Gestalt aus, die Tag für Tag – geschminkt und bemalt, um die Sonne zu verhöhnen – langsam durch das Gedränge gefahren wird; sie sieht sich nach dem guten alten Geschöpf um, das eine solche Mutter war, und verzieht den Mund, wenn sie vergeblich nach ihr späht. So sieht die Gestalt aus, die man in einem Räderbett an den Meeresstrand bringt und dort ruhen läßt. Aber kein Wind kann ihr Frische zuwehen, und das Gemurmel des Ozeans hat kein beruhigendes Wort für sie. Sie liegt da und hört es stundenlang; aber die Sprache ist ihr unbekannt und dunkel. Auf ihrem Gesicht ist Furcht zu lesen, und wenn ihre Augen über die Fläche hinwandern, sehen sie nur einen breiten Strich Öde zwischen Erde und Himmel.
Florence wird nur selten zu ihr gelassen, und wenn es geschieht, so ist sie ärgerlich und zankt. Edith ist immer an ihrer Seite und hält Florence fern. Florence aber, wenn sie nachts in ihrem Bett liegt, zittert bei dem Gedanken an den Tod in einer solchen Gestalt, kann oft lange nicht schlafen und lauscht in der Meinung, er sei gekommen. Niemand verpflegt die Kranke als Edith; denn es ist besser, daß nur wenige Augen sie sehen. Die Tochter wacht allein an ihrem Lager.
Es fällt ein weiterer Schatten auf das umschattete Gesicht; die spitzigen Züge werden noch spitziger, und der Schleier vor den Augen verdichtet sich zu einem schwarzen Tuch, das die trübe Welt ausschließt. Ihre unsicheren Hände liegen über der Decke matt Fläche an Fläche, bewegen sie nach der Tochter hin, und eine Stimme – ungleich der ihrigen und ungleich jeder Stimme, die in unserer sterblichen Sprache redet – sagt:
»Denn ich habe dich erzogen!«
Tränenlos kniet Edith neben dem Bett nieder, um dem ersterbenden Haupt ihre Stimme näher zu bringen und erwidert:
»Mutter, könnt Ihr mich hören?«
Die Augen weit aufsperrend, versucht sie mit Nicken zu antworten.
»Erinnert Ihr Euch der Nacht vor meiner Hochzeit?«
Der Kopf ist regungslos, drückt aber einigermaßen eine Bejahung aus.
»Ich sagte Euch damals, daß ich Euch Eure Beteiligung dabei verzeihe, und flehte zu Gott, daß er mir auch die meinige vergebe. Ich erklärte Euch, daß die Vergangenheit jetzt zwischen uns abgeschlossen sei. Ich sage das wieder. Küßt mich, Mutter.«
Edith berührt die weißen Lippen, und für einen Moment ist alles still. Einen Augenblick nachher richtet sich ihre Mutter mit ihrem mädchenhaften Lachen und dem Skelett der Kleopatra-Manier in ihrem Bette auf.
Laßt diese rosenfarbigen Vorhänge nieder. Außer dem Wind und den Wolken ist auch etwas anderes auf der Flucht! Laßt die rosenfarbigen Vorhänge nieder!
Die Nachricht von dem Ereignis ergeht an Mr. Dombey in London, der dem Vetter Feenix, der sich noch nicht zur Abreise nach Baden-Baden hat entschließen können und gleichfalls schon von dem Vorgang unterrichtet ist, einen Besuch macht. Ein so gefälliges Wesen, wie Vetter Feenix, ist gerade der rechte Mann für Trauungen sowohl wie für Leichenbegängnisse, und seine Stellung in der Familie gibt ihm ein Recht, zu Rat gezogen zu werden.
»Dombey«, sagte Vetter Feenix, »bei meiner Seele, ich bin erschüttert, Euch um eines so traurigen Anlasses willen bei mir zu sehen. Meine arme Tante! Sie war eine fabelhaft lebhafte Frau.«
»Jawohl«, versetzte Mr. Dombey.
»Und Ihr wißt, sie hat sich beziehungsweise ganz jung gemacht«, sagte Vetter Feenix. »Am Tage Eurer Trauung meinte ich wahrhaftig, sie könne wohl noch zwanzig Jahre aushalten. Ich sagte dies auch bei Brooks zu dem kleinen Billy Joper – Ihr kennt ihn ohne Zweifel – dem Mann mit einem Glas in seinem Auge?«
Mr. Dombey macht eine verneinende Gebärde.
»Ich möchte wegen ihrer Beisetzung hören, ob Ihr – – –«
»Ah, bei meinem Leben«, sagt Vetter Feenix und streichelt mit dem bißchen Hand, das unter seinen Manschetten hervorsteht, das Kinn, »ich weiß in der Tat nicht. In dem Park bei meinem Haus ist ein Mausoleum. Aber ich fürchte, es bedarf sehr der Ausbesserung, da es sich wahrhaftig in einem miserablen Zustand befindet. Wenn ich mich nicht meist auswärtig aufhielte, so würde ich schon Sorge getragen haben; aber ich glaube, die Leute kommen und machen dorthin Picknick-Ausflüge innerhalb der eisernen Geländer.«
Mr. Dombey sieht ein, daß dies nicht angehen würde.
»Es ist eine ungemein schöne Kirche im Dorf«, sagt Vetter Feenix nachdenkend, »rein im ersten anglonormannischen Stil gehalten, und man hat einen bewundernswürdigen Kupferstich von ihr – Zeichnung von Lady Jane Finchbury – sehr geschnürte Dame. Ich hörte übrigens, die Kirche sei durch den Maler sehr verdorben worden.«
»Vielleicht Brighton selbst«, deutete Mr. Dombey an.
»Auf meine Ehre, Dombey, ich glaube nicht, daß wir etwas Besseres tun könnten«, sagt Vetter Feenix. »Ihr seht, man ist schon am Platz, und der Ort wäre recht angenehm.«
»Und wann ist es Euch gelegen?« fragt Mr. Dombey.
»Es ist eine Ehrensache für mich, auf jeden Tag zuzusagen, der Euch passend dünkt«, antwortete Vetter Feenix. »Mit dem größten Vergnügen – natürlich mit wehmütigem Vergnügen – werde ich meine arme Tante begleiten zu den Schranken des – – ja, zum Grabe«, fügt Vetter Feenix bei, da ihm der Schwung der andern Phrase nicht gelingen will.
»Könnt Ihr am Montag von London abkommen?« fragt Mr. Dombey.
»Der Montag ist mir vollkommen gelegen«, erwidert Vetter Feenix.
Demgemäß verspricht Mr. Dombey, an dem besagten Tag Vetter Feenix abzuholen, und verabschiedet sich. Vetter Feenix begleitet ihn bis zur Treppe und bemerkt noch: »Es tut mir in der Tat außerordentlich leid, Dombey, daß Ihr in der Sache so viele Mühe habt«, worauf Mr. Dombey antwortet: »Durchaus nicht.«
Zu der bestimmten Zeit treffen Vetter Feenix und Mr. Dombey zusammen, fahren nach Brighton und begleiten, in ihren zwei Personen alle übrigen Leidtragenden vertretend, die Überreste der hingeschiedenen Dame nach ihrer Ruhestätte. Vetter Feenix, der in dem Trauerwagen sitzt, bemerkt auf der Straße zahllose Bekannte, nimmt aber anstandshalber keine andere Rücksicht auf sie, als daß er sie Mr. Dombey laut nennt; zum Beispiel: »Tom Johnson. Mann mit Korkbein – kenne ihn von White. Wie, Ihr auch da, Tommy? Vernarrt in eine Vollblutstute. Die Smalder-Mädchen«, und so weiter. Bei der Feierlichkeit ist Vetter Feenix traurig; denn er weiß, bei solchen Gelegenheiten müsse man die Leute glauben machen, daß man wirklich erschüttert sei. Zudem sind seine Augen, nachdem die Sache vorüber ist, in der Tat feucht. Er sammelt sich jedoch bald wieder, und das Gleiche ist der Fall bei dem Rest der Freunde und Verwandten von Mrs. Skewton, über die der Major in seinem Klub unaufhörlich zu erzählen weiß, daß sie sich nie warm genug gekleidet habe. Die junge Dame mit dem Rücken dagegen, die so viel mit ihren Augenlidern zu schaffen hatte, sagt mit einem Seufzer, sie müsse ungeheuer alt gewesen sein und habe einen entsetzlichen Tod erlitten; man dürfe nur nicht davon reden.
So liegt Ediths Mutter in ihrem Grabe, und nichts bleibt von ihr zurück in der Erinnerung ihrer lieben Freundinnen, die taub sind gegen die Wellen, die heiser ihr Geheimnis wiederholen, nichts von dem am Ufer aufgehäuften Sand sehen und keine Augen haben für die weißen Arme, die im Mondlicht nach dem fernen, unsichtbaren Lande winken. Aber an dem Saume des unbekannten Meeres geht alles in der gewohnten Weise fort, und Edith, die allein dasteht und auf die Stimme der Wellen lauscht, sieht das moderige Schilf zu ihren Füßen, das ihren ganzen Lebenspfad bestreuen soll.
Zweiundvierzigstes Kapitel. VERTRAULICH UND ZUFÄLLIG.
Nicht mehr in Kapitän Cuttles schwarzen Kleidern und in dem Südwesterhut, sondern in eine gute, braune Livree gehüllt, die, während sie gesetzte Nüchternheit heuchelte, in der Tat so stolz und zuversichtlich war, wie nur ein Schneider sie anzufertigen wünschen konnte, stand jetzt der in seinem äußeren Menschen so umgewandelte Rob, der Schleifer, im Dienst seines Gönners, Mr. Carker. In seinem Innern nahm er keine weitere Rücksicht auf den Kapitän und den Midshipman, als daß er einige Minuten seiner Muße der Aufgabe weihte, diese beiden unzertrennlichen Würdenträger zu verhöhnen und unter der Beifall zollenden Musik jenes Blech-Instrumentes, seines Gewissens, sich die triumphierende Manier zu vergegenwärtigen, durch die er von ihnen losgekommen war. Mitbewohner von Mr. Carkers Haus und mit dem persönlichen Dienst um seinen Beschützer betraut, hielt dafür Rob seine runden Augen mit Furcht und Zittern auf die weißen Zähne geheftet und fühlte, daß er nötig habe, sie weiter als je offenzuhalten.
Wäre er in den Dienst eines mächtigen Zauberers gekommen und hätten an besagten Zähnen die kräftigsten Bannsprüche gehaftet, so wären sie doch sicherlich nicht imstande gewesen, seinem ganzen Wesen eine größere Scheu einzuflößen. In den Augen des Knaben besaß sein Gebieter eine Gewalt und eine Autorität, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahmen und ihn zum unbedingtesten Gehorsam zwangen. Ja, selbst in Carkers Abwesenheit fühlte er sich, wenn er an ihn dachte, kaum sicher, ob er nicht plötzlich wieder am Kragen gepackt werde, wie an jenem Morgen der ersten Zusammenkunft, und ob nicht die Zähne die geheimste Regung seines Innern aufzufinden und zu würdigen wüßten. Angesicht in Angesicht mit ihm, zweifelte Rob ebensowenig daran, daß Mr. Carker seine geheimen Gedanken lese, oder doch, wenn er wolle, sie leicht lesen könne. Das Übergewicht war so vollständig und hielt ihn dermaßen im Bann, daß er kaum wagte, an etwas anderes zu denken, als an den unwiderstehlichen Einfluß seines Gönners und an dessen Macht, alles mit ihm anzufangen. Deshalb harrte er auch stets ängstlich seiner Befehle und versuchte in einer Art geistiger Spannung, denselben vor allen andern Dingen zuvorzukommen.
In seinem damaligen Gemütszustand wußte vielleicht Rob selbst nicht, und es wäre wohl ein Akt nicht gewöhnlicher Vermessenheit gewesen, sich darüber Gedanken zu machen, ob er sich nicht bloß deshalb so vollständig diesem Einflusse unterwarf, weil ihm der Argwohn vorschwebte, sein Gönner sei Meister in gewissen tückischen Künsten, in denen er selbst durch die Schleifer-Schule zu einem ärmlichen Anfänger geworden war. So viel ist gewiß, daß er ihn ebensosehr bewunderte wie fürchtete. Mr. Carker kannte vielleicht die Quellen seiner Macht besser und versäumte nicht, sie zu benützen.
An dem Abend nach dem Austritt aus des Kapitäns Dienst verkaufte Rob sogleich seine Tauben, ohne sich in der Eile viel an den schlechten Erlös zu kehren, und rannte geradewegs nach Mr. Carkers Haus, wo er sich mit glühendem Gesicht, das Rob zu erwarten schien, seinem neuen Gebieter vorstellte.
»Wie, du Galgenstrick!« sagte Mr. Carker, nach seinem Bündel hinsehend, »hast du deinen Platz verlassen, um zu mir zu kommen?«
»Ach, mit Eurer Erlaubnis, Sir«, stotterte Rob, »Ihr wißt ja, als ich zum letztenmal hier war, sagtet Ihr –«
» Ich sagte etwas?« erwiderte Mr. Carker. »Und was sagte ich?«
»Ich bitt' um Verzeihung, Sir, Ihr sagtet eigentlich nichts, Sir«, versetzte Rob in großer Verblüffung und durch die Art dieser Frage gewarnt.
Sein Gönner musterte ihn mit einer breiten Schaustellung des Zahnfleisches, schüttelte seinen Zeigefinger und bemerkte:
»Ich sehe voraus, mein vagabundierender Freund, daß es mit dir zu einem schlimmen Ende kommen wird. Es steht dir der Untergang bevor.«
»O, ich bitte, sprecht nicht so, Sir!« rief Rob, und die Knie zitterten unter ihm. »Gewiß, Sir, ich möchte nur für Euch arbeiten, Sir, Euch aufwarten, Sir, und getreulich alles tun, was Ihr mir befehlt, Sir.«
»Du wirst gut tun, alles, was man dir aufträgt, getreulich zu erfüllen, wenn du überhaupt mit mir zu schaffen hast«, erwiderte sein Gönner.
»Ja«, versetzte der unterwürfige Rob. »Ich bin davon überzeugt, Sir. Wenn Ihr nur so gut sein wolltet, es mit mir zu probieren! Und wenn Ihr je an mir findet, daß ich gegen Eure Wünsche handle, so mögt Ihr mich auf der Stelle totschlagen.«
»Du Hund!« sagte Mr. Carker, in seinem Stuhle sich zurücklehnend und ruhig nach ihm hinlächelnd. »Das wäre noch nichts gegen das, was ich dir antun würde, wenn du versuchtest, mich zu täuschen.«
»Ja, Sir«, versetzte der Schleifer geduckt, »ich weiß wohl, Ihr würdet schrecklich mit mir umgehen, Sir. Ich werde mir gewiß keinen solchen Versuch einfallen lassen, Sir, und wenn man mich sogar mit goldenen Guineen bestechen wollte.«
In seinen Erwartungen auf Lob vollkommen getäuscht, stand der verdutzte Schleifer da und sah seinen Gönner an, obschon er mit der Unruhe, die oft in ähnlicher Lage ein bissiger Hund kundgibt, vergeblich bemüht war, nicht nach ihm hinzublicken.
»Du hast also deinen alten Dienst verlassen und bist hierhergekommen, um mich zu bitten, daß ich dich in den meinen nehme?« fragte Mr. Carker.
»Mit Erlaubnis, ja, Sir«, entgegnete Rob, der bei seinem Schritt nur nach den Weisungen seines Gönners gehandelt hatte, obschon er es jetzt nicht wagte, sich durch die mindeste Andeutung darauf zu rechtfertigen.
»Gut!« sagte Mr. Carker. »Du kennst mich, Junge?«
»Ja, Sir«, erwiderte Rob, der seinen Hut rieb und noch immer durch Mr. Carkers Auge gebannt war, während er zugleich vergeblich sich abmühte, den Bann zu lösen.
Mr. Carker nickte mit dem Kopf.
»So sieh dich vor!«
Rob drückte durch eine Anzahl kurzer Verbeugungen aus, wie vollkommen er diese Warnung begriff, und setzte seine Kratzfüße bis nach der Tür fort, in der getrosten Hoffnung, sie bald hinter sich zu haben, als sein Gönner ihm Halt gebot.
»He!« sagte Mr. Carker, ihn rauh zurückrufend, »du hast – schließe die Tür dort.«
Rob gehorchte, als ob sein Leben von seiner Behendigkeit abhinge.
»Du hast dich ans Lauschen gewöhnt. Weißt du, was das besagen will?«
»Horchen, Sir?« – warf Rob aufs Geratewohl hin, nachdem er eine Weile verlegen sich besonnen hatte.
Sein Gönner nickte.
»Aufpassen und dergleichen.«
»Hier würde ich so etwas gewiß nicht tun, Sir«, erwiderte Rob. »Auf Ehre, gewiß nicht, Sir. Lieber wollte ich sterben, Sir, und wenn man mir auch alles Erdenkliche verspräche. Die ganze Welt könnte mich nicht zu so etwas bestechen, Sir, wenn es mir nicht befohlen würde, Sir.«
»Ich möchte es dir auch nicht raten. Du bist außerdem ans Schwatzen und Klatschen gewöhnt«, sagte sein Gönner mit vollkommener Ruhe. »Nimm dich hier in acht davor, Spitzbube, oder es ist um dich geschehen.« Er lächelte wieder und winkte abermals mit dem Zeigefinger.
Der Schleifer konnte vor Bestürzung kaum mehr atmen. Er versuchte die Reinheit seiner Absichten zu beteuern, konnte aber den lächelnden Gentleman nur in einer unterwürfigen Betäubung anglotzen, mit der Mr. Carker sehr wohl zufrieden zu sein schien; denn er befahl ihm nach einem kurzen Schweigen, die Treppe hinunterzugehen, und machte ihm damit bemerklich, daß er in Dienst genommen sei.
So gelangte Rob, der Schleifer, zu einem neuen Herrn, und seine ängstliche Ehrerbietung vor Mr. Carker wurde womöglich mit jeder Minute seines Dienstes noch erhöht und gekräftigt.
Er war einige Monate in seinem neuen Dienst gewesen, als er eines Morgens früh Mr. Dombey, der einer Verabredung gemäß bei seinem Gebieter frühstücken sollte, die Gartentür öffnete. Im gleichen Augenblick kam auch eiligst Mr. Carker herbei, um den angesehenen Gast zu empfangen und mit allen seinen Zähnen zu bewillkommnen.
»Ich hätte wahrhaftig nie gedacht«, sagte Mr. Carker, indem er Mr. Dombey beim Absteigen vom Pferd seine Unterstützung anbot, »Euch hier zu sehen. Das ist ein außerordentlicher Tag in meinem Kalender. Bei einem Mann wie Ihr kann es freilich als nichts Besonderes erscheinen, da Ihr in der Lage seid, alles zu tun; aber bei einem Mann wie ich gestaltet sich der Fall ganz anders.«
»Ihr habt hier eine sehr geschmackvolle Wohnung, Carker«, sagte Mr. Dombey, der sich herabließ, auf dem Rasen haltzumachen und umherzuschauen.
»Es beliebt Euch nur, so zu sagen«, entgegnete Carker. »Ich danke Euch.«
»In der Tat«, fuhr Mr. Dombey mit stolzer Gönnermiene fort, »ich habe auch allen Grund dazu. Soviel ich sehe, ist dies ein sehr bequemes, wohl eingerichtetes Heim – eigentlich elegant.«
»Es verdient wahrhaftig diese Bezeichnung nicht«, erwiderte Carker mit der Miene der Bescheidenheit. »Doch es ist genug davon gesprochen, und ich bin Euch nichtsdestoweniger dankbar, wenn Ihr es mit einem Lobe bedenkt, das ihm nicht gebührt. Wollt Ihr eintreten?«
Im Hause drinnen entgingen Mr. Dombey die vollständige Einrichtung der Zimmer und die zahlreichen Bequemlichkeiten und Zierden, an denen es wimmelte, nicht. Mr. Carker nahm in seiner geheuchelten Demut die Bemerkungen darüber mit einem ehrerbietigen Lächeln hin und sagte, er begreife wohl den zarten Sinn in Mr. Dombeys Worten und wisse ihn zu würdigen; aber in Wahrheit sei das Häuschen gut genug für einen Mann von seiner Stellung, vielleicht sogar besser, als es ihm gebühre, wie gering dasselbe auch sein möge.
»Euch aber, der Ihr so hoch über mir steht, mag es in der Tat vielleicht besser vorkommen, als es ist«, fügte er hinzu, und sein falscher Mund verzog sich von einem Ohre bis zum andern. »Gerade wie auch Monarchen in dem Leben von Bettlern einen Reiz zu finden glauben.«
Während er so sprach, richtete er einen scharfen Blick und ein scharfes Lächeln auf Mr. Dombey – einen noch schärferen Blick und ein noch schärferes Lächeln, als Mr. Dombey in der Haltung, die er so oft als der zweite im Kommando nachzubilden gewöhnt war, sich vor dem Feuer aufstellte und die Gemälde an den Wänden musterte. Das kalte Auge seines Prinzipals wanderte flüchtig darüber hin, und Mr. Carkers schlauer Blick folgte ihm allenthalben, genau sich merkend, wo es anhielt und was es sah.
Als es namentlich auf einem Gemälde ruhen blieb, schien Carker kaum zu atmen, und sein Blick wurde katzenartig lauernd; aber das Auge des großen Mannes ging darüber hin und nahm sichtlich keinen größeren Eindruck mit, als von den übrigen.
Carker sah dann hin – es war das Bild, welches Ähnlichkeit mit Edith hatte – als ob es ein lebendes Wesen wäre; ein boshaftes, stummes Lachen überflog sein Gesicht und schien teilweise dem Bild zu gelten, obschon es hauptsächlich einen Spott für den großen Mann enthielt, der ihm nichtsahnend zur Seite stand. Bald nachher dampfte das Frühstück auf dem Tisch, und während er Mr. Dombey einen Stuhl anbot, dessen Lehne dem Gemälde zugekehrt war, nahm er wie gewöhnlich ihm gegenüber seinen Sitz ein.
Mr. Dombey war sogar noch ernster, als sonst, und verhielt sich sehr schweigsam. Der Papagei, der sich auf dem vergoldeten Reif seines schönen Käfigs wiegte, gab sich vergeblich Mühe, die Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zu ziehen; denn Mr. Carker war zu sehr von seinem Gast in Anspruch genommen, um auf den Vogel zu achten, und Mr. Dombey, der sich ganz seinem Nachdenken hingab, schaute starr, um nicht zu sagen verdrießlich, über seine steife Halsbinde weg, ohne die Augen von dem Tischtuch zu erheben. Was den dienstleistenden Rob betraf, so galten alle seine Fähigkeiten zu sehr der Aufmerksamkeit auf seinen Gebieter, als daß er es hätte wagen können, dem Gedanken Raum zu geben, der Gast sei der vornehme Herr, dem er in seiner Kindheit als Zeugnis für die Gesundheit der Familie vorgestellt worden war und dem er seine ersten Lederhosen zu danken hatte.
»Erlaubt mir die Frage«, sagte Carker plötzlich, »wie sich Mrs. Dombey befindet.«
Er beugte sich dabei unterwürfig vorwärts und stützte das Kinn auf seine Hand; zu gleicher Zeit aber richtete er seine Augen auf das Gemälde, als wollte er sagen: »Nun werden wir sehen, wie ich ihn weiterzuführen imstande bin.« »Mrs. Dombey befindet sich vollkommen wohl«, antwortete Dombey errötend. »Ihr erinnert mich hierdurch an einen Punkt, Carker, über den ich mit Euch sprechen möchte.«
»Robin, du kannst gehen«, sagte Mr. Carker in so mildem Ton, daß Robin betroffen darüber wurde, obschon er beim Fortgehen die Augen bis zum letzten Moment auf seinem Gebieter haften ließ. »Ihr erinnert Euch natürlich dieses Knaben?« fügte er hinzu, sobald der verstrickte Schleifer das Zimmer verlassen hatte.
»Nein«, sagte Mr. Dombey mit großartiger Gleichgültigkeit.
»Von einem Mann, wie Ihr, auch nicht wahrscheinlich – ja, kaum möglich«, murmelte Carker. »Er gehört aber zu der Familie, aus der Ihr eine Amme nahmt. Vielleicht erinnert Ihr Euch noch, daß Ihr Euch großmütig mit seiner Erziehung belastetet?«
»Ist dies der Knabe?« versetzte Mr. Dombey mit einem Stirnrunzeln. »Ich glaube, er macht seiner Erziehung wenig Ehre.«
»Ich fürchte, er ist ein junger Galgenvogel«, erwiderte Carker mit einem Achselzucken; »wenigstens steht er in diesem Ruf. Die Sache verhält sich übrigens so, daß ich den Burschen in meinen Dienst nahm, weil er keine andere Beschäftigung finden konnte und – ohne Zweifel wurde er zu Hause so unterrichtet – eine Art Anspruch an Euch zu haben glaubte, weshalb er denn auch Euch überall nachging, um Euch sein Anliegen vorzubringen. Zwar beschränkte sich meine Beziehung zu Euren Angelegenheiten nur auf Geschäftssachen; aber gleichwohl nehme ich aus freien Stücken Anteil an allem, was Euch angeht, so daß ich – –« er hielt inne, als wollte er erst erkunden, ob er Mr. Dombey schon weit genug geführt habe. Und abermals stützte er das Kinn auf seine Hand, um nach dem Gemälde hinzuschielen.
»Carker«, sagte Mr. Dombey, »ich weiß, Ihr beschränkt Eure – –«
»Dienstpflicht«, ergänzte der lächelnde Geschäftsführer.
»Nein; ich sage lieber Eure Anhänglichkeit –« bemerkte Mr. Dombey mit dem Bewußtsein, daß er ihm ein sehr schmeichelhaftes Kompliment mache – »nicht auf bloße Geschäftssachen. Eure Rücksicht auf meine Gefühle, meine Hoffnungen und getäuschten Erwartungen in dem kleinen Beispiel, das Ihr eben erwähntet, ist mir ein Beweis dafür. Ich bin Euch verbunden, Carker.«
Mr. Carker verbeugte sich langsam und rieb sehr sanft seine Hände, als fürchte er, durch jede andere Gebärde den Strom von Mr. Dombeys Vertrauen zu stören.
»Eure Hindeutung darauf kommt ganz gelegen«, fuhr Mr. Dombey nach kurzem Zaudern fort, »denn sie bahnt das an, was ich Euch sagen möchte, und erinnert mich daran, daß nicht unbedingt neue Beziehungen zwischen uns erwachsen, obschon meinerseits mehr persönliches Vertrauen ins Spiel kommen dürfte, als bisher – –«
»Mir in so auszeichnender Weise zuteil wurde«, ergänzte Carker mit einer abermaligen Verbeugung. »Ich will Euch nicht sagen, wie geehrt ich mich fühle, denn ein Mann, wie Ihr, weiß wohl, daß es in seiner Macht steht, beliebig Ehre zu vergeben.«
»Wir beide, Mrs. Dombey und ich«, fuhr Mr. Dombey fort, dieses Kompliment mit majestätischer Selbstverleugnung übergehend, »sind über manche Punkte nicht ganz einig. Es scheint, als ob wir uns gegenseitig noch nicht verstehen. Mrs. Dombey hat noch etwas zu lernen.«
»Mrs. Dombey ist mit vielen, seltenen, schönen Eigenschaften beglückt und ohne Zweifel sehr an Schmeichelei gewöhnt«, sagte der glatte, geschmeidige Geschäftsführer, der jeden Blick, jeden Ton seines Herrn aufs sorgfältigste beobachtete. »Aber wo Liebe, Pflichtgefühl und Achtung herrscht, werden kleine Mißverständnisse, die aus solchen Ursachen hervorgehen, bald ausgeglichen sein.«
Mr. Dombey dachte unwillkürlich an das Gesicht, das in dem Salon seiner Gattin ihn angeblickt, und an die gebieterische Hand, die nach der Tür hingewiesen hatte. Bei der Erinnerung an die Liebe, das Pflichtgefühl und die Achtung, welche sich hierin ausgesprochen, fühlte er, wie ihm das Blut in die Wangen schoß, ebenso deutlich, als es das beobachtende Auge ihm gegenüber sah.
»Ich hatte mit Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »vor Mrs. Skewtons Tod einen kleinen Wortwechsel über die Gründe meiner Unzufriedenheit, von denen Ihr Euch eine allgemeine Vorstellung gebildet haben werdet aus der Szene, die in Eurer Gegenwart zwischen Mrs. Dombey und mir in unserm – in meinem Hause stattfand.«
»Ich bedauerte recht sehr, Zeuge sein zu müssen«, sagte der lächelnde Carker. »So sehr ein Mann in meiner Stellung notwendig auf Euer Vertrauen stolz sein muß – zwar darf ich es Euch nicht hoch anrechnen, da Ihr alles tun könnt, ohne Euch etwas zu vergeben – und so geehrt ich mich fühlte, als Ihr mich Mrs. Dombey vorstelltet, ehe sie sich noch der Auszeichnung erfreute, Euren Namen zu tragen, muß ich Euch doch die Versicherung geben, daß ich an jenem Abend fast bedauerte, der Gegenstand einer so ganz besonderen Gunst zu sein.«
Daß jemand unter was immer für Umständen bedauern konnte, durch Herablassung und Gönnerschaft ausgezeichnet zu werden, war für Mr. Dombey ein moralisches Wunder, das er nicht begreifen konnte. Er antwortete daher mit beträchtlicher Steigerung seiner Würde: »Wirklich? Und warum?«
»Ich fürchte«, versetzte der Geschäftsführer, »daß Mrs. Dombey, die mir nie sehr geneigt war – ein Mann in meiner Stellung konnte dies auch nicht erwarten von einer Dame, die von Natur aus so stolz ist und der ihr Stolz so gut steht – mir meine unschuldige Beteiligung an jenem Gespräch nicht leicht vergeben werde. Ihr müßt bedenken, daß Euer Mißfallen nichts Geringes ist, und es vor einer dritten Person fühlen zu müssen – –«
»Carker«, sagte Mr. Dombey in anmaßendem Tone, »ich denke doch, daß mir die erste Rücksicht gebührt.«
»O! Kann hierüber ein Zweifel obwalten?« entgegnete der andere mit der Ungeduld eines Mannes, der eine bekannte unumstößliche Tatsache einräumt.
»Ich meine, wenn wir beide in Frage kommen, so nimmt Mrs. Dombey eine untergeordnete Stellung ein«, fuhr Mr. Dombey fort. »Ist's nicht so?«
»Ob es so ist?« erwiderte Carker. »Weiß jemand besser, als Ihr, daß hierüber keine Frage nötig ist?«
»Dann hoffe ich, Carker«, sagte Mr. Dombey, »daß Euer Bedauern über das Mißfallen der Mrs. Dombey fast aufgewogen werden dürfte durch das Bewußtsein, mein Vertrauen und meine gute Meinung gewonnen zu haben.«
»Ich habe also das Unglück gehabt«, entgegnete Carker, »dieses Mißfallen auf mich zu laden. Hat sich Mrs. Dombey so gegen Euch geäußert?«
»Mrs. Dombey hat allerlei Ansichten, über die ich nicht mit ihr einverstanden bin«, sagte Mr. Dombey mit majestätischer Kälte und Gleichgültigkeit, »und ich bin nicht geneigt, mich darauf einzulassen, oder sie mir wieder ins Gedächtnis zu rufen. Wie ich Euch bereits mitteilte, habe ich gegen Mrs. Dombey erklärt, daß ich auf gewissen Punkten häuslicher Ehrerbietung und Unterwürfigkeit notwendig bestehen müsse. Es ist mir nicht gelungen, sie zu überzeugen, es sei ebensowohl für ihren Frieden und ihre Wohlfahrt, als für meine Würde zweckdienlich, daß sie unverweilt in solchen Beziehungen ihr Benehmen ändere, weshalb ich ihr bedeutete, wenn ich es nötig finde, ihr wieder Vorstellungen zu machen, so werde ich ihr meine Ansicht durch Euch, meine vertraute Mittelsperson, zugehen lassen.«
In den Blick, den Mr. Carker auf ihn heftete, mischte sich ein teuflisches Schielen nach dem Gemälde an der Wand, das wie ein Blitz danach hinzuckte.
»Ich nehme keinen Anstand, Carker«, fuhr Mr. Dombey fort, »Euch zu sagen, daß ich meinen Entschluß durchzuführen beabsichtige. Ich lasse nicht mit mir spielen. Mrs. Dombey muß belehrt werden, daß mein Wille Gesetz ist, und daß ich von dieser ganzen Regel meines Lebens keine Ausnahme gestatten kann. Ihr werdet die Güte haben, Euch dieser Aufgabe zu unterziehen; ich hoffe, Ihr habt nichts dagegen einzuwenden, da sie von mir ausgeht, wie sehr Ihr es auch aus Höflichkeit gegen Mrs. Dombey bedauern mögt – ein Bedauern, für das ich Euch in ihrem Namen danke. Auch bin ich überzeugt, Ihr werdet sie so pünktlich wie jeden andern Auftrag erfüllen.«
»Ihr wißt«, sagte Mr. Carker, »daß Ihr mir nur zu befehlen braucht.«
»Ich weiß«, entgegnete Mr. Dombey mit majestätischer Zustimmung, »daß ich Euch nur zu befehlen brauche. Es ist nötig, daß ich durchgreifend verfahre. Mrs. Dombey ist eine Dame, die ohne Zweifel in vielfacher Beziehung hohe Eigenschaften besitzt, so daß sie – –«
»Sogar Eurer Wahl Ehre macht«, ergänzte Carker mit schmeichelnder Schaustellung seiner Zähne.
»Meinetwegen, wenn Ihr die Worte so gestellt wissen wollt«, sagte Mr. Dombey in seinem vornehmen Tone, »obschon ich für den Augenblick nicht bemerke, daß Mrs. Dombey diese Ehre in der gebührenden Weise zu schätzen weiß. Sie besitzt einen Widerspruchsgeist, der ausgerottet und bewältigt werden muß. Mrs. Dombey scheint nicht zu begreifen«, fügte er mit Nachdruck hinzu, »daß schon der Gedanke eines Widerstandes gegen mich ungeheuerlich und abgeschmackt ist.«
»Wir in der City kennen Euch besser«, versetzte Carker mit einem Lächeln von Ohr zu Ohr.
»Ihr kennt mich besser«, sagte Mr. Dombey. »Ich hoffe es. Gleichwohl muß ich Mrs. Dombey die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß meine Ermahnung, wie wenig dies sich auch mit ihrem späteren, sich stets gleich bleibenden Benehmen zu vertragen scheint, einen sehr mächtigen Eindruck auf sie machte, als ich ihr bei der erwähnten Gelegenheit mit etwas Strenge erklärte, daß ich nicht mit ihr zufrieden sein könne und deshalb entschieden gegen sie auftreten müsse.« Mr. Dombey entledigte sich dieser Worte mit einer ungemein wichtigtuenden Stattlichkeit. »Ich wünsche nunmehr, Carker, Ihr möget die Güte haben, Mrs. Dombey von mir aus mitzuteilen, daß ich ihr das frühere Gespräch ins Gedächtnis rufen wolle, und daß ich erstaunt sei, noch keine Wirkung desselben wahrzunehmen. Ich müsse darauf bestehen, daß sie ihr Benehmen nach den Einschärfungen regle, die sie aus jenem Gespräche kennt. Ich sei nicht zufrieden mit ihrem Betragen – ja sogar sehr unzufrieden, und werde mich in die unangenehme Notwendigkeit versetzt sehen, Euch zum Überbringer noch unwillkommenerer und bestimmterer Erklärungen zu machen, wenn ihr Verstand und ihr richtiges Gefühl sie nicht bewege, sich meinen Wünschen anzubequemen, wie dies bei der ersten Mrs. Dombey der Fall war, und – ich glaube, wohl hinzufügen zu dürfen – auch bei jeder andern Dame an ihrer Stelle der Fall sein würde.«
»Die erste Mrs. Dombey lebte sehr glücklich«, bemerkte Mr. Carker.
»Die erste Mrs. Dombey war verständig«, versetzte Mr. Dombey mit gentlemanischer Toleranz gegen die Tote, »und besaß ein sehr richtiges Gefühl.«
»Glaubt Ihr wohl, daß Miß Dombey ihrer Mutter gleiche?« fragte Carker.
Mr. Dombeys Gesicht veränderte sich schnell und wurde düster. Die vertraute Mittelsperson faßte es scharf ins Auge.
»Ich habe einen schmerzlichen Gegenstand berührt«, sagte er im sanften Tone des Bedauerns, der sich mit dem spähenden Blick schlecht vertrug, »und bitte daher um Verzeihung. In meiner Teilnahme übersah ich das Verbindungsglied zwischen Tochter und Mutter. Verzeiht mir.«
Ungeachtet dieser Worte blieb der Spürblick unverwandt auf Mr. Dombeys gesenktem Antlitz haften und blitzte dann in seltsamem Triumph nach dem Gemälde hin, als fordere er dasselbe auf, Zeuge zu sein, wie er seinen Prinzipal vorwärtsführe und was noch kommen werde.
»Carker«, sagte Mr. Dombey, der zuweilen auf den Tisch niederschaute, während er mit etwas veränderter, hastigerer Stimme und mit blasseren Lippen sprach, »es ist kein Grund zu einer Entschuldigung vorhanden. Ihr seid im Irrtum. Euer vermeintliches Bindeglied hat es mit der Gegenwart, nicht aber mit irgendeiner Erinnerung zu schaffen. Mrs. Dombeys Benehmen gegen meine Tochter gefällt mir nicht.«
»Verzeiht mir«, sagte Mr. Carker; »ich verstehe Euch nicht ganz.«
»Ich meine«, erwiderte Mr. Dombey, »daß Ihr Mrs. Dombey diesen Punkt von mir aus vorhalten möget. Ihr werdet die Güte haben, es zu tun – werdet ihr sagen, daß die Art, wie sie sich gegen meine Tochter anstellt, mir unangenehm ist. Sie fällt auf und könnte den Leuten Anlaß geben, Mrs. Dombey in ihrer Beziehung zu meiner Tochter mit Mrs. Dombey in ihrer Beziehung zu mir gegeneinander zu stellen. Ihr werdet so gefällig sein, Mrs. Dombey einfach wissen zu lassen, daß ich Einspruch dagegen erhebe, und daß ich von ihr erwarte, sie werde meinen Wünschen unverweilt Folge geben. Ob es Mrs. Dombey ernst sei, ob sie nur eine Grille verfolge, oder ob sie es im Widerspruch gegen mich tue, in jedem von diesen Fällen ist mir ihr Benehmen unangenehm. Wenn meine Gattin nach der ihr zustehenden Unterwürfigkeit gegen mich noch überflüssige Zärtlichkeit und Pflichten zu haben meint, so mag sie meinetwegen über dieselben verfügen, wo es ihr gut dünkt; aber zuerst will ich Unterwerfung haben! – Carker«, fügte Mr. Dombey hinzu, indem er der ungewöhnlichen Erregung, mit der er gesprochen, Einhalt tat und in einen Ton überging, der mehr mit der gewohnten Behauptung seiner Größe im Einklang stand, »Ihr werdet so gefällig sein, diesen Punkt nicht zu versäumen oder leicht darüber hinzugehen, denn ich wünsche, daß Ihr ihn als einen sehr wichtigen Teil Eures Auftrags betrachtet.«
Mr. Carker beugte den Kopf, stand von dem Tisch auf, trat, gedankenvoll die Hand an sein glattes Kinn gelegt, vor das Feuer und blickte mit der arglistigen Schlauheit eines antiken Schnitzwerks, in welchem sich halb ein menschlicher, halb ein tierischer Charakter ausdrückt, oder gleich dem lauernden Gesicht an einem alten Springbrunnen auf Mr. Dombey nieder. Letzterer, der allmählich seine Fassung wieder gewann, oder dessen Erregung in dem Bewußtsein seiner hohen Stellung nachließ, warf sich aufs neue in seine steife Haltung und schaute nach dem Papagei hin, der in dem großen Trauring seine Purzelbäume machte.
»Ich bitte um Verzeihung«, sagte Carker, der nach einer Pause plötzlich seinen Stuhl wieder einnahm und sich Mr. Dombey gegenüber setzte, »aber ich wünsche weitere Belehrung. Ist Mrs. Dombey davon unterrichtet, daß Ihr mich möglicherweise zum Organ Eures Mißfallens machen könntet?«
»Ja«, versetzte Mr. Dombey. »Sie weiß es.«
»Ja«, erwiderte Carker hastig; »aber wie?«
»Wie?« entgegnete Mr. Dombey nicht ohne Zögern. »Weil ich es ihr gesagt habe.«
»So?« versetzte Carter. »Aber warum habt Ihr es ihr gesagt? Ihr seht«, fuhr er mit einem Lächeln fort, indem er seine Samthand gleich einer Katze, die ihre Klauen eingezogen hat, sanft auf Mr. Dombeys Arm legte, »wenn ich vollkommen Eure Gesinnung weiß, so kann ich Euch nur um so nützlicher sein und desto wirksamer dienen. Ich glaube zwar, daß ich Euch verstehe. Ich habe nicht die Ehre, bei Mrs. Dombey in Gunst zu stehen, und kann es in meiner Stellung auch nicht erwarten. Dies muß ich wohl als Tatsache voraussetzen?«
»Ich glaube es«, sagte Mr. Dombey.
»Wenn Ihr also Mrs. Dombey derartige Mitteilungen durch mich machen laßt«, fuhr Carker fort, »so werden sie dieser Dame besonders unangenehm sein?«
»Es dünkt mich«, sagte Mr. Dombey mit stolzer Zurückhaltung, aber doch mit einiger Verlegenheit, »daß Mrs. Dombeys Ansichten über den Gegenstand keinen Einfluß auf den Gesichtspunkt ausüben, in dem er sich Euch und mir darstellt, Carker. Ihr mögt recht haben.«
»Und – verzeiht mir – verstehe ich Euch recht«, entgegnete Carker, »wenn ich annehme, Ihr glaubet hierin das beste Mittel gefunden zu haben, Mrs. Dombeys Stolz – ich bediene mich dieses Wortes, da es eine Eigenschaft bezeichnet, die, in den gebührenden Schranken gehalten, einer durch Schönheit und Talente so ausgezeichneten Dame nur zum Schmuck und zur Zierde gereichen kann – zu demütigen, ich will nicht sagen, sie zu strafen, sondern sie zur Unterwerfung zu bringen, auf die Ihr natürlich so gerechte Ansprüche habt?«
»Ihr wißt, Carker«, sagte Mr. Dombey, »ich bin gewohnt, für die Schritte, die mir als passend erscheinen, ausführliche Gründe anzugeben; indes will ich Euch hierin nicht widersprechen. Etwas anders ist es, wenn Ihr Einwendungen dagegen zu machen habt, und dann reicht Eure bloße Erklärung vollkommen zu. Ich gestehe übrigens, daß ich nicht geglaubt hatte, mein Vertrauen könne Euch möglicherweise herabwürdigen –«
»O! mich herabwürdigen!« rief Carter. »In Eurem Dienst!«
»Oder in eine falsche Stellung bringen«, fuhr Mr. Dombey fort.
» Ich in einer falschen Stellung!« rief Carker. »Ich werde stolz darauf sein – es macht mir Freude, wenn ich Euer Vertrauen rechtfertigen kann. Zwar hätte ich gewünscht, der Dame, zu deren Füßen ich gern meine bescheidene Huldigung niederlegen würde – denn ist sie nicht Eure Gattin? – keinen neuen Anlaß zur Abneigung geben zu müssen; aber vor Euren Wünschen treten natürlich alle andern weltlichen Rücksichten in den Hintergrund. Außerdem, wenn Mrs. Dombey von solchen kleinen Verirrungen ihres Urteils abgekommen ist, die ohne Zweifel nur die Folge der Neuheit ihrer Stellung sind, so wird sie hoffentlich in meiner geringen Beteiligung nur einen Gran – mein so weit unten stehender Wirkungskreis gibt für wenig mehr Raum – meiner Achtung für Euch erkennen und alle Rücksichten Euch unterordnen, indem es ihr dann eine Lust und ein heiliges Vorrecht sein wird, Euch jeden Tag Opfer zu bringen.«
Mr. Dombey schien in diesem Augenblick wieder die nach der Tür deutende Hand zu sehen und durch die milde Rede seiner vertrauten Mittelsperson ein Echo der Worte zu vernehmen: »Nichts kann uns fremder machen, als wir fortan gegeneinander sein werden!« Er schüttelte jedoch diese Vorstellung, die seinen Entschluß nicht wankend machen konnte, ab und sagte:
»Ja, ohne Zweifel.«
»Habt Ihr nichts weiter zu bemerken?« fragte Carker, der seinen Stuhl wieder an den alten Platz rückte – sie hatten bis jetzt noch wenig von dem Frühstück genossen – und auf Antwort harrend stehenblieb, ehe er sich niedersetzte.
»Nichts, als dies«, sagte Mr. Dombey. »Ihr werdet ihr gefälligst bemerken, Carker, daß keine Weisung, mit der Ihr möglicherweise an Mrs. Dombey betraut seid, eine Erwiderung zuläßt. Habt daher die Güte, mir keine Antwort mitzuteilen. Mrs. Dombey weiß, daß es sich nicht mit meiner Würde verträgt, über obwaltende Meinungsverschiedenheiten zu verhandeln und in Erörterungen einzugehen. Was ich ihr sagen lasse, ist maßgebend.«
Mr. Carter deutete durch ein Zeichen an, daß er mit dieser Vollmacht einverstanden sei, und sie beendigten nun mit gutem Appetit ihr Frühstück. Zuletzt erschien auch der Schleifer wieder, der von seinem Gebieter kein Auge verwandte und in einer steten Verzückung ehrfurchtsvollen Schreckens war. Mr. Dombeys Pferd wurde vorgeführt; auch Mr. Carker bestieg das seine, und sie ritten gemeinschaftlich der City zu.
Mr. Carker war sehr aufgeräumt und sprach viel. Mr. Dombey hörte mit der hohen Miene eines Mannes zu, der ein Recht hat, unterhalten zu werden, und ließ sich gelegentlich herab, einige Worte einzuflechten. So ritten sie charakteristisch genug weiter. Mr. Dombey in seiner Würde hatte sehr lange Steigbügel, sehr lose Zügel und ließ sich selten herab, nach dem Weg hinunterzuschauen, den sein Pferd nahm. Daher fügte es sich, daß letzteres beim Wenden um eine Ecke über einen Steinhaufen strauchelte, seinen Reiter abwarf, über denselben hinstürzte und im Ringen, sich wieder zu erheben, ihn mit seinem Hufe verletzte.
Raschen Blicks und mit sicherer Hand hatte sich Mr. Carker, der ein guter Reiter war, schnell von seinem Pferde geworfen, das gestürzte Tier beim Zügel gefaßt und es im Nu wieder aufgerichtet. Weniger Eile von seiner Seite, und Mr. Dombey würde ihm an diesem Morgen wohl zum letzten Male sein Vertrauen geschenkt haben. Das Rot der Anstrengung lag noch auf seinem Gesicht, als er sich über seinen Prinzipal mit einer Schaustellung aller seiner Zähne niederbeugte und murmelnd zu sich selber sagte: » Jetzt habe ich Mrs. Dombey einen guten Grund zum Unwillen gegeben, wenn sie es erfährt.«
Mr. Dombey lag besinnungslos da, und das Blut strömte ihm über das Gesicht. Einige Arbeiter brachten ihn Carkers Weisung gemäß nach einem nahe gelegenen Wirtshaus, wo sich bald eine Anzahl Wundärzte um ihn sammelte, die rasch von allen Seiten herströmten und von dem geheimnisvollen Instinkte beseelt zu sein schienen, wie der Geier lehrt, sich um ein in der Wüste gefallenes Kamel zu scharen. Nachdem Mr. Dombey mit Mühe wieder zum Bewußtsein gebracht war, untersuchten diese Gentlemen die Beschaffenheit seiner Verletzungen. Der eine Wundarzt, der in der Nachbarschaft wohnte, erklärte sich für einen komplizierten Beinbruch – eine Ansicht, der auch die Wirtin beipflichtete; aber zwei andere Chirurgen aus größerer Entfernung, die nur zufällig in diese Gegend gekommen waren, bestritten diese Meinung so uneigennützig, daß endlich die Entscheidung erfolgte, der Patient habe zwar schwere Quetschungen erlitten, aber mit Ausnahme einer kleineren Rippe oder so keinen Knochenbruch erlitten, könne folglich unter Anwendung großer Vorsicht wohl vor Abend nach Hause geschafft werden. Die Anlegung der Verbände brauchte lange Zeit, und als endlich Mr. Dombey der Ruhe überlassen wurde, stieg Mr. Carker wieder auf sein Pferd, um zu Hause die Kunde von dem Unfall zu melden.
So verschmitzt und grausam sein Gesicht auch zur besten Zeit war, – allerdings ein in Form und Regelmäßigkeit der Züge hinreichend schönes Gesicht – nahm es sich doch ganz besonders schlimm aus, als er diese Botschaft antrat. Angefeuert von der List und Grausamkeit seiner inneren Gedanken, bewogen ihn eher die unbestimmten Hinblicke auf eine ferne Möglichkeit, als klare Absichten und Pläne, zu reiten, als habe er Männer und Weiber zu hetzen. Erst als er in die besuchteren Straßen kam, hielt er die Zügel an und mäßigte seine Eile, indem er sein weißbeiniges Tier wieder die reinlichsten Wege aufsuchen ließ und sich selbst sowohl, als sein Elfenbeinlächeln so gut wie möglich unter seinem glatten, geschmeidigen, lauernden Wesen verbarg.
Er ritt geraden Weges auf Mr. Dombeys Haus zu, stieg vor der Tür ab und bat um die Erlaubnis, Mrs. Dombey wegen einer wichtigen Angelegenheit zu sprechen. Der Diener, der ihn nach Mr. Dombeys Zimmer wies, kehrte bald mit der Meldung zurück, Mrs. Dombey nehme um diese Zeit keine Besuche an; er müsse um Verzeihung bitten, daß er dies nicht gleich anfänglich erwähnt habe.
Mr. Carker, der auf einen kalten Empfang vollkommen vorbereitet war, schrieb auf eine Karte, daß er sich die Freiheit nehmen müsse, dringlichst um Gehör zu bitten; er würde sich nicht erdreisten, dies zum zweiten Male zu tun (die mit gesperrter Schrift gedruckten Worte waren unterstrichen), wenn er nicht überzeugt wäre, daß der Anlaß dazu ihn vollkommen rechtfertigen werde. Nach einigem Zögern erschien Mrs. Dombeys Mädchen und führte ihn nach einem Zimmer hinauf, in welchem sich Edith und Florence befanden.
Er hatte sich Edith früher nie halb so schön gedacht. Wie sehr er auch die frisch in seiner sinnlichen Erinnerung lebende Anmut ihres Gesichts und ihrer Gestalt bewunderte, hatte er sich sie dennoch nie halb so schön vorgestellt.
Ihr stolzer Blick fiel schon an der Schwelle auf ihn; aber er richtete den seinen – obschon nur unter Begleitung einer Kopfverbeugung beim Eintritt – mit einem ununterdrückbaren Ausdruck der neuen Gewalt, die ihm gegeben war, auf Florence. Es war ein Triumph für ihn, zu bemerken, daß jener Blick unsicher wurde, und daß Edith sich halb erhob, um ihn zu empfangen.
Er bedauerte sehr – es tat ihm ungemein leid – er konnte gar nicht sagen, welche schmerzliche Aufgabe es für ihn war, sie auf die Kunde von einem kleinen Unfall vorzubereiten. Er bat Mrs. Dombey, sich zu fassen. Auf sein heiliges Ehrenwort, es sei kein Grund zur Unruhe vorhanden. Aber Mr. Dombey – –
Florence stieß einen plötzlichen Schrei aus. Er sah nicht nach ihr hin, sondern nach Edith. Sie stieß keinen Schreckensruf aus. Nein, nein.
Mr. Dombey war beim Reiten ein Unfall zugestoßen. Sein Pferd hatte gestrauchelt und ihn abgeworfen.
»Ach, er ist schwer verwundet – wohl gar tot!« rief Florence außer sich.
Nein. Bei seinem Ehrenwort, obschon anfangs betäubt – war doch Mr. Dombey bald wieder zur Besinnung gekommen, und wenn er auch verletzt worden, so konnte doch von Gefahr durchaus nicht die Rede sein. Verhielte es sich nicht vollkommen so, so würde er, der bestürzte Aufdringling, nun und nimmermehr den Mut gehabt haben, sich Mrs. Dombey vorzustellen. Was er mitgeteilt, war, wie er feierlich versicherte, die vollkommene Wahrheit.
Alles dies sprach er nicht zu Florence, sondern zu Edith, auf der fortwährend sein Lächeln und seine Blicke hafteten.
Dann fuhr er fort, zu berichten, wo Mr. Dombey liege, und bat, ihm einen Wagen zur Verfügung zu stellen, damit er den Leidenden nach Hause bringen könne.
»Mama«, stotterte Florence in Tränen, »darf ich es wohl wagen, mitzugehen?«
Mr. Carker sah, als er diese Worte hörte, Edith an, warf ihr im geheimen einen bedeutungsvollen Blick zu und schüttelte leicht den Kopf. Es entging ihm nicht, welchen Kampf es sie kostete, ehe sie ihm mit ihren schönen Augen Antwort gab; aber er erzwang sie – zeigte ihr, daß er sie haben müsse, wenn er nicht selbst mit Florence sprechen und ihr Herz aufs tiefste verletzen sollte – und sie antwortete. Wie er am Morgen das Gemälde angeblickt hatte, so sah er jetzt nach ihr hin, als sie ihre Augen wieder abwandte. »Ich bin mit dem Ersuchen beauftragt«, sagte er, »daß die neue Haushälterin – Mrs. Pipchin, glaube ich, ist ihr Name –«
Nichts entging ihm. Er sah im Nu, daß dies ein neuer Schimpf war, den Mr. Dombey seiner Gattin zufügen wollte.
»– – Mr. Dombeys Wunsch gemäß die Weisung erhalte, seine Zimmer unten herzurichten, da er dieselben allen übrigen vorzieht. Ich kehre sogleich wieder zu Mr. Dombey zurück. Es bedarf wohl kaum der Versicherung, Madame, daß für seine Bequemlichkeit bestmöglichst Sorge getragen und er aufs angelegentlichste verpflegt wird. Erlaubt mir wiederholt die Bemerkung, daß nicht der mindeste Grund zur Besorgnis vorhanden ist. Glaubt mir, sogar Ihr könnt völlig beruhigt sein.«
Er verließ unter Bücklingen und mit Kundgebung der größten Ehrerbietigkeit das Gemach, kehrte nach Mr. Dombeys Zimmer zurück, erteilte Auftrag, ihm einen Wagen in die City nachzuschicken, und bestieg dann aufs neue sein Pferd, um langsam weiterzureiten. Unterwegs sowohl, als in der City und in dem Wagen, der ihn nach dem Wirtshaus führen sollte, wo Mr. Dombey zurückgeblieben, gab er sich tiefen Gedanken hin, so daß er erst an dem Bett seines Prinzipals wieder der wahre Carker und seiner Zähne bewußt wurde.
Um die Zeit der Dämmerung half man dem von Schmerzen schwer heimgesuchten Mr. Dombey in den Wagen und bereitete ihm mit Mänteln und Kissen ein geeignetes Lager, wahrend die vertraute Mittelsperson auf dem Vordersitz ihrem Gebieter Gesellschaft leistete. Da der Leidende nicht gerüttelt werden durfte, so kamen sie nur langsam weiter, und es war bereits völlig dunkel, als sie Mr. Dombeys Wohnung erreichten. Bitter, grimmig und – das ganze Hauswesen konnte aus Erfahrung davon reden – stets der peruvianischen Mine eingedenk, nahm Mrs. Pipchin den Patienten an der Tür in Empfang und belebte die Dienstboten mit einigem Sprenkeln von dem Essig ihrer Worte, als diese ihr den Herrn nach seinem Zimmer schaffen halfen. Mr. Carker blieb, bis sich der Leidende wohlbehalten im Bett befand, und machte dann, da letzterer sich alle weiblichen Besuche, den der Werwölfin ausgenommen, verbat, Mrs. Dombey noch einmal seine Aufwartung, um ihr über den Zustand ihres Gemahls Bericht zu erstatten.
Edith war wieder mit Florence allein, und er richtete abermals die Flut seiner beschwichtigenden Worte ausschließlich an erstere, als sei sie eine Beute der liebevollsten, peinlichsten Besorgnis. Ja er wurde in seiner achtungsvollen Teilnahme so dringend, daß er – mit einem weiteren Blick nach Florence hin – sich erdreistete, ihre Hand zu ergreifen, sich darüber hinzubeugen und sie mit seinen Lippen zu berühren.
Edith zog weder die Hand zurück, noch schlug sie ihm dieselbe in sein schönes Gesicht, obschon ihre Wange erglühte, ihre Augen blitzten und ihre Brust sich erweiterte. Aber als sie allein in ihrem Zimmer war, schlug sie diese Hand mit einer Gewalt, daß sie beim ersten Streiche blutete, gegen den marmornen Kaminsims und hielt sie in die Nähe des hellen Feuers, wie wenn sie sich dieses Glied abreißen und es verbrennen möchte.
Bis weit in die Nacht hinein saß sie in düsterer, drohender Schönheit allein vor der schwindenden Flamme, die schwarzen Schatten beobachtend, die ihre Gedanken, die Körper zu gewinnen schienen, an die Wand warfen. Was immer für Gestalten von Schimpf und Kränkung – was immer für dunkle Ahnungen der Dinge, die da kommen mußten, unbestimmt und riesenartig, vor ihr aufzuckten, stets stand an ihrer Spitze ein einziger rachsüchtiger Schatten. Es war der Schatten ihres Mannes.
Dreiundvierzigstes Kapitel. NACHTWACHEN
Florence, seitdem längst aus ihrem Traume erwacht, bemerkte mit Wehmut die Entfremdung, die zwischen ihrem Vater und Edith stattfand und mit jedem Tage weiter und bitterer wurde. Der Schatten, der auf ihrem Lieben und Hoffen lag, wurde immer tiefer, und der alte Schmerz, der eine kleine Weile geschlummert hatte, lastete schwerer als je auf ihr.
Es war hart – wie hart, konnte niemand besser wissen als Florence –, die natürliche Zuneigung eines treuen, warmen Herzens in Kummer umwandeln und statt zärtlichen Schutzes und liebevoller Sorgfalt nur Hintansetzung und düstere Zurückweisung finden zu müssen. Wie schwer, in tiefster Seele ihre Gefühle zu tragen und nie das Glück auch nur einer leichten Erwiderung zu empfinden! Aber noch viel schlimmer war es, entweder an ihrem Vater oder an Edith, die ihr beide so teuer waren, zweifeln und an ihre Liebe zu dem einen oder der andern abwechselnd nur mit Scheu denken zu müssen.
Und doch kam es bei Florence allmählich so weit; es war eine Aufgabe, die ihr sogar von der Reinheit ihrer Seele auferlegt wurde und der sie nicht ausweichen konnte. Sie sah, daß ihr Vater gegen Edith ebenso kalt und starrsinnig, so hart und unbeugsam war, wie gegen sie selbst. War es möglich, fragte sie sich mit hervorquellenden Tränen, daß ihre eigene teure Mutter durch solche Behandlung unglücklich geworden – daß der Gram ihren frühen Tod herbeigeführt hatte? Dann dachte sie daran, wie vornehm und stolz sich Edith gegen jedermann benahm, nur gegen sie nicht – mit welcher Geringschätzung sie ihren Vater behandelte –, wie sie sich so fern von ihm hielt, und was sie ihr am Abend ihrer Ankunft im Hause gesagt hatte. In solchen Augenblicken kam es Florence fast als ein Verbrechen vor, daß sie jemand lieben konnte, der ihrem Vater so schroff gegenüberstand, und daß dieser, wenn er es wußte, sie in seinem einsamen Gemach für eine unnatürliche Tochter halten mußte, die zu dem alten, so viel beweinten Fehler, von Geburt an nie die väterliche Liebe gewinnen zu können, auch dieses neue Unrecht hinzufügte. Aber das nächste freundliche Wort, der nächste freundliche Blick von Edith erschütterte diese Gedanken wieder und ließ sie ihr im Lichte schwarzen Undanks erscheinen; denn wer, als die neue Mutter, hatte ihr tief verwundetes, vergehendes Herz aufgerichtet und war ihre beste Trösterin gewesen? So in ihrem edlen Wesen gegen beide hingezogen, ihr Elend fühlend und im steten Zweifel, ob sie ihre Pflicht gegen sie erfülle, legten Florence ihre umfassendere Liebe und Ediths Nähe eine weit schwerere Last auf, als sie getragen hatte, während sie noch ihr Geheimnis ungeteilt in dem traurigen Hause bewahrte und ehe ihre schöne Mama ein Dämmerlicht darauf geworfen hatte.
Ein großes Unglück, das dieses bei weitem überwogen haben würde, blieb Florence erspart. Sie hatte nie die mindeste Ahnung davon, daß Edith durch ihre Liebe zu ihr die Kluft zwischen ihrem Vater nur erweiterte und ihm neuen Grund zur Abneigung gab. Wie schmerzhaft hätte ihr der bloße Gedanke an eine solche Möglichkeit fallen müssen, welche Opfer würde nicht das arme, liebevolle Mädchen zu bringen versucht haben, und der Himmel weiß, wie schnell und sicher unter einer solchen Last ihr stiller Hingang zu jenem höheren Vater gewesen wäre, der die Liebe seiner Kinder nicht verschmäht und schwer geprüfte, gebrochene Herzen nicht zurückweist! Es war gut, daß ein solcher Argwohn nie in ihr auftauchte.
Zwischen Florence und Edith wurde nie ein Wort über diese Dinge gesprochen. Letztere hatte erklärt, daß sie sich hierin nie einigen könnten – daß ein Grabesschweigen darüber herrschen müsse, und Florence fühlte, daß sie recht hatte.
So standen die Dinge, als ihr Vater leidend und kaum der Bewegung fähig nach Hause gebracht wurde; er hatte sich düster in seine eigenen Zimmer zurückgezogen, wo Dienstboten seiner warteten, ohne daß ihm Edith nahe kam, und kein Freund oder Gesellschafter ihm zur Seite stand als Mr. Carker, der gegen Mitternacht das Haus verließ.
»Und was er für eine saubere Gesellschaft ist. Miß Floy«, sagte Susanna Nipper. »O, er ist ein köstliches Stück Ware. Wenn er je ein Zeugnis braucht, so soll er nur nicht zu mir kommen, dies möge er sich gesagt sein lassen.«
»Liebe Susanna, sprich nicht so«, entgegnete Florence.
»O, Ihr könnt gut sagen, ›sprich nicht so‹, Miß Floy«, erwiderte die Nipper in großer Gereiztheit; »aber mit Erlaubnis, wir kommen in der Tat in eine solche Enge, daß es einem alles Blut in Steck- und Nähnadeln umwandelt, die überall mit ihren Spitzen stechen. Mißversteht mich nicht, Miß Floy, ich will nichts gegen Eure Stiefmama sagen, die mich immer behandelt hat, wie man es von einer Lady erwarten darf, obschon sie's etwas hoch nimmt, wenn ich gleich mir nicht anmaßen darf, ihr in dieser Beziehung einen Vorwurf zu machen; aber wenn nun gar solche Mrs. Pipchinsen kommen, die über uns gesetzt sind und an der Tür Eures Papas wie Krokodile auf der Lauer liegen – es ist nur gut, daß sie keine Eier legen –, so hat man allen Grund, außer sich zu geraten!«
»Du weißt, Susanna«, versetzte Florence, »Papa hat eine gute Meinung von Mrs. Pipchin und auch das Recht, seine Haushälterin zu wählen. Laß das also.«
»Gut, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »und wenn Ihr mir dies befehlt, so hoffe ich nichts mehr und nichts weniger, Miß, als daß Mrs. Pipchin wie unreife Stachelbeeren auf mich wirken.«
Susanna war an jenem Abend – es war der, an dem Mr. Dombey nach Haus gebracht worden war – in ihrem Vortrag ungewöhnlich eifrig und nahm gar keine Rücksicht auf die Punktation; denn Florence hatte sie hinuntergeschickt, um nach ihrem Vater zu fragen, und sie war bei dieser Gelegenheit genötigt gewesen, ihren Auftrag an ihre Todfeindin Mrs. Pipchin auszurichten, die, ohne Mr. Dombey davon in Kenntnis zu setzen, eine von Miß Nipper sogenannte schnippische Antwort auf eigene Verantwortlichkeit nahm. Die Jungfer legte dies als eine große Anmaßung von seiten dieser musterhaften Märtyrerin der peruvianischen Minen und für einen Schimpf gegen ihre junge Dame aus, der nicht verziehen werden könne, und insoweit war ihre Aufregung speziell. Aber seit der Hochzeit hatte sie sich in einem Zustande unablässig sich steigernden Argwohns und Mißtrauens befunden, da sie wie die meisten Menschen ihrer Geistesrichtung, die gegen Personen von weit höherer Stellung eine lebhafte und aufrichtige Zuneigung bewahren, sehr eifersüchtig war – eine Eifersucht, die natürlich Edith galt, weil diese ihr altes Reich teilte und zwischen sie und ihre junge Gebieterin getreten war. So sehr es auch Susanna Nipper zu stolzer Freude gereichte, daß Florence aus dem Schauplatz ihrer alten Vernachlässigung an den ihr gebührenden Platz vorrückte und die schöne Gattin ihres Vaters zur Gefährtin und Beschützerin hatte, konnte sie doch nicht ohne Murren und ohne ein unbestimmtes Gefühl von Groll irgendeinen Teil ihres alten Besitzes der schönen Frau überlassen, um so weniger, da sie den Stolz und die Leidenschaftlichkeit in dem Charakter der Dame schnell erfaßt hatte und diese Eigenschaften sehr uneigennützig zu würdigen wußte. Die Heirat hatte sie notwendig etwas in den Hintergrund gedrängt, und sie blickte daher auf die häuslichen Angelegenheiten im allgemeinen mit der unerschütterlichen Überzeugung, daß bei Mrs. Dombey nichts Gutes herauskommen könne, obschon sie bei allen möglichen Gelegenheiten anzukündigen bemüht war, daß sie nichts gegen dieselbe einzuwenden habe.
»Susanna«, bemerkte Florence, die noch in tiefen Gedanken an ihrem Tisch saß, »es ist sehr spät. Ich brauche heute nichts mehr.«
»Ach, Miß Floy«, entgegnete die Nipper, »ich wünsche mir wahrhaftig oft die alten Zeiten zurück, in denen ich mit Euch noch viel länger aufblieb und vor Müdigkeit einschlief, während Ihr noch brillenhell wachtet; aber Ihr habt jetzt eine Stiefmutter, Miß Floy, die Euch Gesellschaft leistet, und ich darf ihr in der Tat dankbar sein für diese Ablösung. Ich habe nicht ein Wort dagegen einzuwenden.«
»Ich werde nie vergessen, wer meine alte Gefährtin war, als ich keine andere hatte, Susanna«, erwiderte Florence sanft.
Dabei schlang sie ihren Arm um den Nacken ihrer dienenden Freundin, zog ihr Gesicht zu sich nieder, küßte sie und wünschte ihr gute Nacht. Dies rührte Miß Nipper dermaßen, daß sie zu schluchzen anfing.
»Ich will jetzt wieder hinuntergehen, meine teure Miß Floy«, sagte Susanna, »und sehen, was Euer Vater macht, denn ich weiß, Ihr grämt Euch um seinetwillen; laßt mich deshalb hinunter, damit ich selbst an seine Tür poche.«
»Nein«, sagte Florence. »Geh zu Bett. Wir werden es ja morgen hören. Ich will morgen selbst nachfragen. Ohne Zweifel ist Mama unten gewesen« – Florence errötete, da sie keiner solchen Hoffnung Raum gab – »oder vielleicht noch dort. Gute Nacht.«
Susanna war in einer zu weichen Stimmung, um über die Wahrscheinlichkeit von Mrs. Dombeys Besuch bei ihrem Gatten ihre eigene Ansicht auszudrücken, und entfernte sich schweigend. Sobald sich Florence allein sah, verbarg sie, wie sie oft in früheren Tagen getan hatte, ihr Antlitz in den Händen und ließ ihren Tränen freien Lauf. Das Elend dieser häuslichen Zwietracht, die so lang gehegte, jetzt vernichtete Hoffnung – wenn man es anders eine Hoffnung nennen konnte –, je das Herz ihres Vaters zu gewinnen, ihr Zweifeln und Fürchten zwischen beiden, die Hinneigung ihres unschuldigen Herzens zu der neuen Mutter sowohl, als zu ihrem Erzeuger, der herbe Gram darüber, daß alles, was sie so verheißungsvoll vor sich gesehen, ein derartiges Ende nehmen sollte – dies waren die Betrachtungen, die sich in ihrem Geiste drängten und ihre Tränen reichlicher strömen ließen. Mutter und Bruder tot, der Vater kalt gegen sie, Edith schroff und abstoßend gegen ihn, aber doch voll Liebe gegen sie und von ihr geliebt – es schien, als ob ihre Zuneigung nie gedeihen könne, wem sie dieselbe auch zuwenden mochte. Diese vernichtende Vorstellung wurde zwar bald beseitigt; aber die Gedanken, denen sie entsprungen, waren zu zwingend und wahr, als daß sie auch dieser sich hätte entschlagen können. Sie verbrachte eine trostlose Nacht.
In ihrem Nachdenken trat stets das Bild ihres Vaters vor sie hin, der verwundet, in Schmerzen und allein in seinem Zimmer lag, die trägen Stunden in einsamer Qual verbringend, ohne daß ihn diejenigen pflegten, die ihm am nächsten stehen sollten. Der entsetzliche Gedanke, ob dem sie die Hände zusammenschlug, obschon er ihrem Geiste kein neuer war, drängte sich, ihren ganzen Körper erschütternd, ihr auf, er könnte sterben, ohne sie wiederzusehen oder ihren Namen auszusprechen. Zitternd vor Aufregung faßte sie den Entschluß, wieder die Treppe hinunterzuschleichen und sich an seine Tür zu wagen.
Sie horchte zuerst an ihrer eigenen. Im Hause herrschte die tiefste Ruhe, und alle Lichter waren ausgelöscht. Wie lange, lange her ist es, dachte sie, seit jener nächtlichen Wanderung nach seiner Tür. O wie lange – versuchte sie zu denken –, seit sie um Mitternacht in sein Zimmer getreten und er sie nach dem Fuß der Treppe zurückgeführt hatte!
Mit demselben kindlichen Gefühl wie ehedem, mit denselben schüchternen Augen und wallendem Haar schlich Florence, ihrem Vater in ihrer frühen, jungfräulichen Blüte so fremd wie in ihrer Kindheit, lauschend die Treppe hinunter und näherte sich seinem Zimmer. Niemand im Hause rührte sich. Die Tür war angelehnt, um der Luft Zutritt zu lassen, und drinnen alles so still, daß sie das Knistern des Feuers hören und die Pendelschläge der Uhr zählen konnte, die auf dem Kaminsims stand.
Sie blickte hinein. Die Haushälterin saß, von einer Decke umhüllt, in einem Armstuhl vor dem Feuer und schlief. Die Tür zwischen diesem und dem nächsten Zimmer war nicht ganz geschlossen, und ein Schirm stand davor; aber es brannte ein Licht dort, das den Rand seines Bettes erhellte. Alles war so still, daß man schon aus seinem Atem entnehmen konnte, er schlafe. Dies gab ihr den Mut, um den Schirm herumzugehen und in das Gemach hineinzusehen.
Der Anblick seines schlafenden Gesichtes machte sie so betroffen, als habe sie nicht erwartet, es zu sehen. Sie war wie an die Stelle gebannt und hätte bleiben müssen, selbst wenn er erwacht wäre.
Über seine Stirne lief eine Wunde, und man hatte sein Haar benetzt, das jetzt wirr und zusammengeklebt auf dem Kissen lag. Der eine seiner Arme lag, in einen Verband gehüllt, auf der Decke, und der Schlafende sah ungemein blaß aus. Es war jedoch nicht dies, was Florence nach dem ersten raschen Blick und der gewonnenen Überzeugung seines Schlafens an den Boden fesselte. Der feierliche Eindruck, den der Anblick auf sie machte, hatte einen ganz andern Grund.
Sie hatte in ihrem ganzen Leben sein Gesicht nie gesehen, ohne daß – wenigstens war es ihr so vorgekommen – ihre Nähe einen unangenehmen Einfluß auf dasselbe übte. Sie hatte es nie gesehen, ohne daß die Hoffnung in ihr erstarb und ihr Auge sich senkte vor seiner starren, lieblosen, abstoßenden Härte. Und als sie jetzt hinblickte, zeigte es sich ihr zum erstenmal frei von der Wolke, die es seit ihrer Kindheit umdüstert hatte. Statt ihrer lag jetzt stille, ruhige Nacht darauf. Er sah aus, als sei er schlafen gegangen mit einem Segenswunsche über seine Tochter.
Erwache, liebloser Vater! Erwache jetzt, finsterer Mann! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt. Erwache!
Kein Wechsel auf seinem Gesicht! Sie blickte ängstlich hin, und die regungslose Ruhe rief ihr die Gesichter der Heimgegangenen ins Gedächtnis. So sahen sie aus, so mußte er einst aussehen, so sie, sein weinendes Kind, das sich nur nach dem Wann fragte, so die ganze umgebende Welt mit ihrer Liebe, ihrem Haß und ihrer Gleichgültigkeit! Wenn diese Zeit kam, wurde sie ihm vielleicht nicht schwerer um dessenwillen, was sie jetzt zu tun im Begriffe war, ihr aber sicherlich leichter.
Mit verhaltenem Atem schlich sie an sein Bett, beugte sich über ihn und gab seinem Gesicht einen leichten Kuß; dann legte sie ihr Köpfchen für eine kurze Weile an seine Seite und schlang den Arm, mit dem sie ihn nicht zu berühren wagte, um das Kissen, auf dem er ruhte.
Erwache, unseliger Mann, solange sie nahe ist! Die Zeit entfleucht; die Stunde naht mit zornigem Tritt; ihr Fuß ist schon im Hause. Erwache!
In ihrem Geiste betete sie zu Gott, er möchte ihren Vater segnen und ihn, wenn es möglich sei, milder gegen sie stimmen – wo nicht, ihm vergeben, wenn er unrecht tue, und ihr dieses Gebet verzeihen, das ihr fast eine Sünde zu sein schien. Dann blickte sie wieder mit von Tränen geblendeten Äugen auf ihn nieder, schlich sich schüchtern zurück, verließ sein Zimmer, ging durch das andere und war verschwunden.
Er kann jetzt fortschlafen. Er mag fortschlafen, solange er Lust hat. O daß er beim Erwachen sich umsehe nach jener schmächtigen Gestalt und sie in seiner Nähe finde, wenn die Stunde gekommen ist!
Traurig und mit gramerfülltem Herzen stieg Florence leisen Schrittes die Treppe hinan. Seit ihrem Herunterkommen war das ruhige Haus noch unheimlicher geworden. Der Schlaf, den sie aber in Mitte der stillen Nacht gesehen, hatte ihr zumal das feierliche Bild von Leben und Tod gezeigt. Ihr eigenes verstohlenes Treiben machte die Nacht geheimnisvoll, schweigsam und bedrückend. Sie war nicht imstande, in ihr Schlafzimmer zu gehen, sondern trat in den Salon, wo der umwölkte Mond durch die Blenden hereinschien, und schaute in die leeren Straßen hinaus.
Der Wind ächzte kläglich. Das Licht der Lampen brannte bleich und zitterte, als ob es friere. Fern am Himmel zeigte sich ein Dämmern von etwas, das nicht ganz Dunkelheit, aber auch nicht Licht zu nennen war, und die ahnungsvolle Nacht schauderte rastlos wie ein Sterbender vor seinem angstvollen Ende. Florence erinnerte sich, wie sie während einer ähnlich frostigen Nacht an einem Krankenlager gewacht hatte, und fühlte wie in einem geheimen, natürlichen Widerwillen dagegen ihren Einfluß. Es war jetzt so gar, so gar unheimlich.
Ihre Mama war in dieser Nacht nicht nach ihrem Zimmer gekommen – dies mit ein Grund, warum sie so lang aufgeblieben. In ihrer Unruhe und in ihrem glühenden Wunsche, jemand in ihrer Nähe zu haben, mit dem sie sprechen konnte, richtete Florence, um den schweren Bann des Düsters und Schweigens zu brechen, ihre Schritte nach dem Zimmer, wo Edith schlief.
Die Tür war innen nicht abgesperrt und wich leicht dem zögernden Druck ihrer Hand. Sie erstaunte sehr, ein hellbrennendes Licht zu finden, noch mehr aber, als sie beim Hineinsehen bemerkte, daß ihre Mama, erst halb entkleidet, noch immer vor der knisternden Asche des entschwindenden Feuers saß. Die Augen derselben waren aufwärts gerichtet, und in ihrem Glänze, in Ediths Gesicht, Gestalt und in den Händen, die die Armlehnen des Stuhls umfaßt hielten, als ob sie aufspringen wollte, erkannte Florence den Ausdruck einer so wilden Aufregung, daß sie davor erschrak.
»Mama«, rief sie; »was ist Euch?«
Edith fuhr zusammen, und in ihrem Gesicht drückte sich ein so eigentümlicher Zug von Furcht aus, daß Florence nur noch erschrockener wurde.
»Mama«, sagte sie, hastig näher tretend; »liebe Mama, was gibt es denn?«
»Ich bin nicht wohl gewesen«, versetzte Edith zitternd und mit demselben befremdlichen Ausdruck ihres Antlitzes. »Ich habe schlimme Träume gehabt, meine Liebe.«
»Und noch gar nicht im Bett gewesen, Mama?« entgegnete Florence.
»Nein«, erwiderte Edith. »Halbwache Träume.«
Ihre Züge wurden allmählich sanfter. Sie ließ Florence herankommen, schlang ihre Arme um sie und sagte in mildem Ton:
»Aber was macht mein Vögelchen hier – was macht mein Vögelchen hier?«
»Ich bin unruhig gewesen, Mama, weil ich Euch heute nacht nicht sah und weil ich nicht wußte, wie es dem Papa geht! Deshalb – –«
Florence hielt inne.
»Ist es schon spät?« fragte Edith, sanft die Locken zurückstreichend, die sich mit ihrem eigenen schwarzen Haar gemengt hatten und auf ihr Gesicht niedergefallen waren.
»Sehr spät. Nahezu Tag.«
»Nahezu Tag?« wiederholte sie erstaunt.
»Liebe Mama, was habt Ihr mit Eurer Hand gemacht?« fragte Florence.
Edith zog sie plötzlich zurück und betrachtete sie einen Augenblick mit dem früheren Ausdruck von Furcht – es lag eine Art scheuen Zurückbebens darin; dann aber entgegnete sie hastig.
»Nichts, nichts. Ein Stoß. Meine Florence!« fügte sie hinzu, und ihre Brust wogte schwer, während sie zugleich in ein leidenschaftliches Weinen ausbrach.
»Mama!« sagte Florence. »Was kann, was soll ich tun, um Euch glücklicher zu machen. Gibt es denn gar nichts?«
»Gar nichts«, lautete die Antwort.
»Wißt Ihr es auch gewiß? Wäre es nicht möglich? Ihr werdet mir gewiß keine Vorwürfe machen«, sagte Florence, »wenn ich jetzt, trotz unserer Übereinkunft von dem spreche, was meine Gedanken vorzugsweise beschäftigt.«
»Es ist vergeblich«, versetzte sie, »vergeblich. Ich habe dir gesagt, meine Liebe, daß ich von schlimmen Träumen heimgesucht wurde. Nichts kann sie anders machen, oder ihr Kommen hindern.«
»Ich verstehe Euch nicht«, entgegnete Florence, Edith in das aufgeregte Gesicht blickend, das immer düsterer zu werden schien.
»Ich träumte«, fuhr Edith mit gedämpfter Stimme fort, »von einem Stolz, der völlig machtlos ist fürs Gute, aber allmächtig für das Böse – von einem Stolz, der mich viele schimpfliche Jahre gequält und gehetzt hat, immer nur auf sich selbst zurückprallend –, von einem Stolz, der seine Besitzerin mit dem Bewußtsein der tiefsten Demütigung heimsuchte und sie nie unterstützte, dieselbe zu ahnden, ihr auszuweichen, oder zu sagen: ›dies darf nicht geschehen‹ – von einem Stolz, der unter gehöriger Leitung vielleicht zu besseren Dingen geführt haben würde, in seiner falschen, verkehrten Richtung aber wie alles andere, das der gleichen Besitzerin gehört, Selbstverachtung zur Folge hatte und am Ende nur in zugrunde richtender Unerschrockenheit bestand.«
Sie sah Florence nicht an und richtete auch ihre Worte nicht an das Mädchen, sondern sprach weiter, als ob sie allein wäre.
»Ich habe von Gleichgültigkeit und Härte geträumt, die aus dieser Selbstverachtung hervorgingen. O des elenden, unnützen, kläglichen Stolzes, der mit gedankenlosen Schritten sogar an den Altar trat, dem alten bekannten winkenden Finger nachgebend – o Mutter, Mutter! – während er ihn verachtete und ein für allemal lieber sich selbst gehaßt, als sich täglich seinen stets in neuer Gestalt auftretenden Foltern preisgegeben hätte. Trauriges, armes Geschöpf!«
Die Aufregung wurde übermächtig in ihr, und sie warf Florence wieder denselben Blick zu, wie bei ihrem Eintritt.
»Und ich träumte«, sagte sie, »daß er in einem ersten, späten Versuch, ein besseres Ziel zu erringen, niedergetreten wurde von einem schändlichen Fuß, obschon er Widerstand leistete. Es träumte mir, er sei verwundet, bedrängt und mit Hunden gehetzt worden. Aber er stellt sich zur Wehr und will sich nicht ergeben; nein, dies kann er nicht, selbst wenn er wollte; aber er sieht sich gezwungen, den Menschen zu hassen, gegen ihn aufzutreten und ihm Trotz zu bieten.«
Ihre Hand umfaßte den zitternden Arm, den sie in dem ihrigen hielt, fester, und als sie auf das verwunderte, erschreckte Antlitz niederschaute, wurden ihre Züge ruhiger.
»O Florence!« sagte sie, »ich bin heute nacht fast wahnsinnig geworden!«
Ihr stolzes Haupt sank demütig auf den Nacken des Mädchens nieder, und sie weinte abermals.
»Verlaß mich nicht! Bleibe mir nahe! Ich habe keine Hoffnung, als in dir!« Diese Worte wiederholte sie oft und vielmal.
Sie wurde bald wieder ruhiger. Florences Tränen und ihr Wachen zu so später Stunde erfüllte sie mit Mitleid. Da der Tag jetzt dämmerte, nahm Edith das Mädchen in ihre Arme, brachte es, ohne selbst niederzuliegen, auf ihr Bett, nahm daneben ihren Sitz und forderte es zu dem Versuch auf, zu schlafen.
»Denn du bist müde und unglücklich, mein Herz; du bedarfst der Ruhe.«
»Ach, teure Mama, heute nacht bin ich in der Tat unglücklich«, sagte Florence. »Aber auch Ihr seid müde und unglücklich.«
»Nicht, wenn du mir schlafend so nahe liegst, mein Herz.«
Sie küßten einander, und die erschöpfte Florence versank allmählich in einen sanften Schlummer. Aber als sich ihre Augen vor dem Gesicht neben ihr schlossen, kamen ihr so traurige Gedanken über das Gesicht oben, daß ihre Hand Edith nahete, als suche sie Trost bei ihr, obschon sie auch in dieser Gebärde zögerte, als fürchte sie, damit eine Sünde an ihm zu begehen. So versuchte sie in ihrem Schlaf die beiden zu versöhnen und ihnen zu zeigen, daß sie das eine wie das andere liebe; aber es wollte nicht gehen, und ihr wacher Gram bildete einen Teil ihrer Träume.
Edith, die an dem Bett saß, blickte auf die dunkeln Wimpern nieder, die feucht auf den glühenden Wangen lagen. Inniges Mitleid erfüllte ihre Seele, denn sie kannte die Wahrheit. Aber kein Schlaf senkte sich auf ihre Augen. Als der Tag kam, saß sie noch immer wachend da, die kleine Hand in der ihrigen, und wenn sie auf das geängstigte Gesicht niederschaute, flüsterte sie bisweilen: »Bleibe mir nahe, Florence. Ich habe keine Hoffnung, als in dir!«
Vierundvierzigstes Kapitel. EINE TRENNUNG
Mit dem Tage, obschon nicht gleichzeitig mit der Sonne, stand Miß Susanna Nipper auf. Um die ungemein scharfen, schwarzen Augen dieser jungen Person lag eine Schwere, die das Funkeln derselben etwas minderte und im Widerspruch mit ihrer gewöhnlichen Eigenschaft auf die Möglichkeit hindeutete, daß sie bisweilen geschlossen seien. Auch ihr Gesicht sah geschwollen aus, als ob sie die Nacht über geweint hätte. Gleichwohl war die Nipper durchaus nicht niedergeschlagen, sondern auffallend lebhaft und kühn; sie schien alle ihre Tatkraft zu irgendeiner Heldentat aufgeboten zu haben. Dies gab sich sogar in ihrem Anzug, mit dem sie sich besondere Mühe gegeben, und in den gelegentlichen Rucken ihres Kopfes zu erkennen, die bei ihrem Umherschießen im Haus auf einen gewaltigen Entschluß hindeuteten. Mit einem Wort, sie hatte sich etwas Großes vorgenommen – nichts Geringeres, als bis zu Mr. Dombey zu dringen und diesen Gentleman unter vier Augen zu sprechen.
»Ich habe schon oft gesagt, ich wolle es tun«, bemerkte sie an jenem Morgen in drohender Weise und mit vielen Rucken ihres Kopfs gegen sich selbst; »aber jetzt muß es einmal geschehen.«
Mit einer Schärfe, wie sie nur ihr eigentümlich war, sich zur Ausführung dieses verzweifelten Planes spornend, spukte Susanna Nipper den ganzen Vormittag auf der Treppe und in der Halle umher, ohne für ihren Angriff eine günstige Gelegenheit zu finden. Sie ließ sich jedoch durch die vergeblichen Versuche nicht irre machen, sondern lauerte nur mit erhöhter Wachsamkeit, bis sie endlich gegen Abend bemerkte, ihre geschworene Feindin Mrs. Pipchin mache, weil sie die ganze Nacht über auf gewesen, in ihrem Zimmer ein Schläfchen und Mr. Dombey sei jetzt allein anzutreffen.
Mit einem Ruck – diesmal nicht bloß des Kopfes, sondern ihrer ganzen Person – schlich die Nipper auf den Zehen nach Mr. Dombeys Tür und klopfte.
»Herein!« sagte Mr. Dombey.
Susanna ermutigte sich mit einem Schlußruck und ging hinein.
Der auf einem Sofa liegende Mr. Dombey, der zum Zeitvertreib das Feuer betrachtet hatte, warf jetzt seinem Besuch einen erstaunten Blick zu und stützte sich ein wenig auf seinen Arm. Die Nipper machte einen Knix.
»Was wollt Ihr?« fragte Mr. Dombey.
»Mit Erlaubnis, Sir, ich wünsche mit Euch zu sprechen«, sagte Susanna.
Mr. Dombey bewegte seine Lippen, als wiederhole er die Worte, schien aber ob der Anmaßung des jungen Frauenzimmers so in Erstaunen verloren zu sein, daß er keinen Laut dafür finden konnte.
»Ich bin nun zwölf Jahre in Eurem Dienst, Sir«, sagte Susanna Nipper mit ihrer gewöhnlichen Geschwindigkeit, »und bediene so lang meine junge Lady, Miß Floy, die noch nicht recht sprechen konnte, als ich hierher kam, und ich war schon alt in diesem Hause, als Mrs. Richards neu war, und wenn ich auch kein Methusalem bin, so bin ich doch auch nicht ein Wickelkind.«
Mr. Dombey, der auf seinen Arm gestützt sie ansah, störte sie nicht in dieser einleitenden Aufzählung von Tatsachen.
»Es hat nie eine liebere oder gesegnetere junge Lady gegeben, als meine junge Lady ist, Sir«, fuhr Susanna fort, »und ich muß dies wohl besser wissen als irgend jemand, denn ich habe sie gesehen in ihrem Kummer und habe sie gesehen in ihrer Freude, was freilich nicht oft bei ihr vorkam, und ich habe sie gesehen mit ihrem Bruder und habe sie gesehen in ihrer Verlassenheit, und gewisse Personen haben sie nie gesehen, und ich sage jedem, der es hören will, ja, dies tue ich« – die Schwarzäugige schüttelte den Kopf und stampfte leicht mit dem Fuß – »daß Miß Floy der gesegnetste und liebevollste Engel ist, der je einen Lebensatem hatte, und je mehr man mich in Stücke reißen wollte, desto mehr würde ich es sagen, obschon ich vielleicht keine Märtyrerin bin.«
Der von seinem Sturz schon blasse Mr. Dombey wurde noch blasser vor Unwillen und Erstaunen, während seine Augen auf der Sprecherin hafteten, als glaubte er, daß diese Organe und seine Ohren dazu ihn betrögen.
»Man kann nichts anderes als treu und anhänglich an Miß Floy sein, Sir«, sagte Susanna, »und ich rechne mir meine zwölfjährige Dienstleistung nicht zum Verdienst an, denn ich liebe sie, – ja, und dies sage ich jedem, der es hören will!« – Die Schwarzäugige schüttelte abermals den Kopf, stampfte leicht mit dem Fuß und erstickte einen Seufzer; »aber meine treuen Dienste geben mir hoffentlich das Recht, zu sprechen, und sprechen muß und will ich jetzt, mag es nun recht oder unrecht ausfallen.«
»Was wollt Ihr damit, Weib?« rief Mr. Dombey sie mit großen Augen ansehend. »Wie könnt Ihr Euch unterstehen –«
»Ich will nur mit aller Achtung und ohne Anstoß zu geben mich aussprechen, Sir, und wie ich mich unterstehen kann, weiß ich selbst nicht, aber ich tue es einmal!« sagte Susanna. »O, Ihr kennt meine junge Dame nicht, Sir, Ihr kennt sie wahrhaftig nicht, denn wenn es der Fall wäre, würdet Ihr nicht so wenig von ihr wissen.«
Mr. Dombey streckte wütend seine Hand nach der Klingelschnur aus; aber sie befand sich nicht auf dieser Seite des Kamins, und er war nicht in der Lage, ohne Unterstützung aufzustehen und sich nach der andern hinüber zu begeben. Das rasche Auge der Nipper entdeckte augenblicklich seine Hilflosigkeit und wußte jetzt, wie sie nachher erklärte, daß sie ihn »fest« hatte.
»Miß Floy«, sagte Susanna Nipper, »ist die treuste, die geduldigste, die liebevollste und schönste von allen Töchtern, es gibt keinen Gentleman, nein, Sir, keinen, und wenn er so groß und so reich wie alle die Größten und Reichsten von ganz England zusammengenommen wäre, der nicht stolz sein dürfte auf sie, ja und stolz auf sie wäre und stolz auf sie sein sollte. Wenn er ihren Wert recht kennen würde, so würde er lieber seine Größe und sein Vermögen Stück für Stück aufgeben und sich in Lumpen von Tür zu Tür betteln – ja, dies erkläre ich jedem, der es hören will!« rief Susanna Nipper, in Tränen ausbrechend, »als über ihr zartes Herz das Leid bringen, das ich sie in diesem Hause habe erdulden sehen!«
»Weib«, rief Mr. Dombey, »verlaßt das Zimmer!«
»Mit Erlaubnis, nein, Sir«, entgegnete die beharrliche Nipper, »und wenn ich den Platz verlieren müßte, auf dem ich so viele Jahre gewesen und so viel gesehen habe, obschon ich hoffe, Ihr werdet nicht das Herz haben, mich um einer solchen Ursache von Miß Floy fortzuschicken. Ich gehe nicht, bis ich alles gesagt habe, ich bin vielleicht keine indianische Witwe, Sir, und will auch keine sein oder werden, aber wenn ich mir einmal vorgenommen hätte, mich lebendig zu verbrennen, so würde ich es tun, und jetzt habe ich den Entschluß gefaßt, weiter zu reden.«
Hieran ließ sich nicht zweifeln und Susanna Nippers Gesicht drückte es ebensogut aus, wie ihre Worte.
»Es gibt keine Person in Eurem Dienst, Sir«, fuhr die Schwarzäugige fort, »die vor Euch mehr Ehrfurcht gehabt hätte, als ich, und Ihr könnt Euch denken, wie wahr dies ist, wenn ich zu sagen so frei bin, daß ich hundert und hunderte Male daran gedacht habe, mit Euch zu reden, ohne zu einem Entschluß zu kommen, bis gestern nacht, aber die gestrige Nacht hat entschieden.«
In einer weiteren Zornaufwallung griff Mr. Dombey abermals nach der Klingelschnur, die nicht da war, und riß dann in Ermangelung derselben lieber an seinem Haar, als an gar nichts.
»Ich habe Miß Floy sich mühen und mühen sehen«, sagte Susanna Nipper, »als sie nur noch ein Kind war, so süß und geduldig, daß die besten Frauen sie zum Muster hätten nehmen können, ich habe gesehen, wie sie oft und vielmal die halbe Nacht aufblieb, um ihren zarten Bruder im Lernen zu unterstützen, ich habe gesehen, wie sie zu andern Zeiten ihm half und bei ihm wachte – manche Personen wissen wohl, wann –, ich habe gesehen, wie sie ohne Ermutigung und Beistand zu einer Lady heranwuchs, so daß sie, Gott sei Dank, der Stolz und die Zierde jeder Gesellschaft ist, in die sie geht, und habe immer gesehen, wie sie grausam vernachlässigt und ihr Herz bitter verletzt wurde – ja, dies erkläre ich jedermann, der es hören will – obschon sie nie ein Wörtchen darüber sagte – aber sich bescheiden und ehrerbietig gegen seine Oberen benehmen, ist noch kein Anbeten geschnitzter Bilder, und ich will und muß sprechen.«
»Ist denn niemand da!« rief Mr. Dombey laut hinaus. »Wo sind die Bedienten – wo die Weiber! Ist denn niemand da!«
»Ich verließ gestern nacht meine liebe junge Dame, wie sie noch nicht zu Bett gegangen war«, fuhr Susanna fort, ohne sich einschüchtern zu lassen, »und ich wußte, warum sie aufblieb, denn Ihr wart krank, Sir, und sie wußte nicht, wie krank, und dies reichte hin, um sie so elend zu machen, wie ich sie sah. Ich bin vielleicht kein Pfau, aber ich habe meine Augen, und ich blieb in meinem eigenen Stübchen auf, weil ich dachte, sie könnte in ihrer Einsamkeit mich brauchen, und da sah ich, wie sie die Treppe hinunterschlich und an diese Tür kam, als sei es ein Verbrechen, nach dem eigenen Pa zu sehen, und dann schlich sie wieder zurück in den langweiligen Salon, und weinte dabei so, daß ich es kaum mit anhören konnte. Nein, ich kann's nicht mit anhören«, sagte Susanna, ihre schwarzen Augen wischend und sie furchtlos auf Mr. Dombeys wütendes Gesicht richtend. »Es ist nicht das erstemal, daß ich es gehört habe, o wie viel und vielmal, und ich wiederhole Euch, Ihr kennt Eure Tochter nicht, Sir, und wißt nicht, was Ihr tut, Sir, und ich erkläre jedem, der es hören will«, rief Susanna Nipper mit einem endlichen Losplatzen, »daß es eine Sünde und eine Schande ist!«
»Ei der Tausend!« rief die Stimme der Mrs. Pipchin, während das schwarze Bombassingewand jener schönen Märtyrerin der peruvianischen Minen in das Zimmer rauschte. »Was soll denn dies heißen?«
Susanna beglückte Mrs. Pipchin mit einem Blick, den sie schon bei der ersten Bekanntschaft ausdrücklich für sie erfunden hatte, und überließ die Antwort Mr. Dombey.
»Was dies heißen soll?« wiederholte Mr. Dombey fast schäumend. »Ich will an Euch diese Frage richten, Ma'am, denn bei Euch, die Ihr an der Spitze dieses Hauswesens steht und verpflichtet seid, es in Ordnung zu halten, ist sie wohl eher am Ort. Kennt Ihr dieses Weib?«
»Ich weiß nicht viel Gutes von ihr, Sir«, krächzte Mrs. Pipchin. »Wie kann ein solcher Racker sich unterstehen, hierher zu kommen! Fort mit Euch!«
Die unbeugsame Nipper beehrte jedoch Mrs. Pipchin nur mit einem weiteren Blick und blieb.
»Nennt Ihr es Ordnung im Hause halten, Madame«, sagte Mr. Dombey, »wenn eine Person, wie diese, hereinlaufen und mich anreden kann? Ein Gentleman – in seinem eigenen Hause – in seinem eigenen Zimmer – und nicht einmal sicher vor der Unverschämtheit weiblicher Dienstboten!«
»Ich beklage es ungemein, Sir«, entgegnete Mrs. Pipchin, und ihr hartes, graues Auge blitzte Rache. »Nichts kann ordnungswidriger, maßloser und toller sein; aber es tut mir leid, sagen zu müssen, Sir, daß diese junge Person aller Disziplin Trotz bietet. Sie ist von Miß Dombey verzogen worden und nimmt von niemand Belehrung an. Ihr wißt dies selbst am besten«, fügte Mrs. Pipchin mit Schärfe hinzu, indem sie gegen Susanna Nipper den Kopf schüttelte. »Pfui über den Racker! fort mit Euch!«
»Wenn Ihr in meinem Dienste Leute findet, die sich nicht fügen wollen, Mrs. Pipchin«, sagte Mr. Dombey, sich wieder dem Feuer zuwendend, »so wißt Ihr vermutlich, was mit ihnen zu geschehen hat. Es ist Euch doch bekannt, um wessen willen Ihr hier seid? Schafft sie fort!«
»Sir, ich weiß, was ich zu tun habe, und werde mich natürlich danach verhalten«, entgegnete Mrs. Pipchin. »Susanna Nipper«, fügte sie in kurz angebundener Abfertigung hinzu, »seht Euch auf heute über vier Wochen nach einem andern Platz um.«
»O, in der Tat?« rief Susanna, sich in die Brust werfend.
»Ja«, versetzte Mrs. Pipchin. »Ihr braucht nicht nach mir herzulächeln, Hexe, oder ich will den Grund wissen! Jetzt augenblicklich fort mit Euch!«
»Ja, Ich gehe augenblicklich, darauf mögt Ihr Euch verlassen«, entgegnete die zungenfertige Nipper. »Ich habe in diesem Haus meine junge Dame ein Dutzend Jahre bedient, will aber keine Stunde mehr bleiben, wenn ich von einer Person, die den Namen Pipchin führt, eine Kündigung annehmen muß, Mrs. P.«
»Gut, daß man dieses schlimme Unkraut los wird!« sagte die aufgebrachte alte Dame. »Fort mit Euch, oder ich lasse Euch in anderer Art den Weg weisen.«
»Es ist mir ein Trost«, entgegnete Susanna, auf Mr. Dombey zurückblickend, »daß ich mir heute doch ein Stückchen Wahrheit vom Herzen geschafft habe, das schon längst hätte heraus sollen und nie zu oft oder zu deutlich gesagt werden kann, gottlob, daß alle Pipchinsen der Welt – ich hoffe, ihre Anzahl ist nicht groß« (Mr. Pipchin stieß ein sehr scharfes »Fort mit Euch!« aus, und Miß Nipper wiederholte ihren Blick) – »nicht ungesprochen machen können, was ich gesagt habe, und wenn sie sich das ganze Jahr mit Kündigungen plagten von morgens zehn Uhr an ohne Unterlaß bis nachts zwölf und dann an Erschöpfung stürben, was eine Freude sein würde im Himmel und auf Erden.«
Mit diesen Worten ging Miß Nipper ihrem Feinde voran aus dem Zimmer und begab sich, zum bitteren Ärger der zornigen Pipchin, mit großer Stattlichkeit nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich unter ihren Schachteln niedersetzte und zu weinen begann.
Aus dieser weichen Stimmung wurde sie bald durch die heilsame und erfrischende Wirkung geweckt, die Mrs. Pipchins Stimme vor der Tür draußen auf sie übte.
»Gedenkt die keckstirnige Schlumpe«, rief die schnöde Pipchin, »die Kündigung anzunehmen oder nicht?«
Miß Nipper erwiderte von innen, die angezogene Person wohne nicht in diesem Teil des Hauses; ihr Name sei Pipchin und man könne sie in dem Zimmer der Haushälterin finden.
»Naseweiser Balg!« erwiderte Mrs. Pipchin, mit der Hand an der Türklinke rasselnd. »Macht, daß Ihr noch in dieser Minute fortkommt. Packt augenblicklich Eure Sachen zusammen. Wie könnt Ihr Euch erdreisten, in solcher Weise mit einer anständigen Frau zu reden, die bessere Tage gesehen hat?«
Miß Nipper antwortete darauf aus ihrer Festung, sie habe Mitleid mit den besseren Tagen, die Mrs. Pipchin gesehen, und was sie selbst betreffe, so betrachte sie es für die schlimmsten Tage im Jahr, wenn man in Sehweite dieser Dame sein müsse, obschon sie für besagte Dame selbst noch viel zu gut seien.
»Ihr habt übrigens nicht nötig, so viel Lärm an meiner Tür zu machen«, fuhr Susanna Nipper fort, »und braucht auch das Schlüsselloch nicht mit Eurem Auge zu verunreinigen, denn Ihr könnt darauf schwören, daß ich jetzt zusammenpacke und mich zum Fortgehen fertig mache.«
Die Witwe drückte ihre lebhafte Zufriedenheit über diese Kunde aus und entfernte sich unter einigen Bemerkungen über junge Racker im allgemeinen nebst einigen besonderen Hindeutungen auf ihre Wertlosigkeit, wenn sie durch Miß Dombey verzogen seien, um den Lohn der anstößigen Person ins reine zu bringen. Susanna tummelte sich nun mit ihren Koffern, um sogleich einen würdevollen Weggang feiern zu können, schluchzte aber aus tiefstem Herzen, so oft sie an Florence dachte.
Der Gegenstand ihres Leides zögerte nicht lange, zu ihr zu kommen, denn die Kunde, Susanna Nipper habe mit Mrs. Pipchin Streit gehabt, verbreitete sich schnell durch das ganze Haus mit dem Zusatz, die beiden feindseligen Parteien hätten sich auf Mr. Dombey berufen, in dessen Zimmer ein beispielloser Auftritt stattgefunden habe; die Folge davon sei, daß Susanna fort müsse. Den letzteren Teil dieses verwirrten Gerüchtes erkannte Florence als Wahrheit; denn als sie in Susannas Zimmer trat, fand sie, daß ihre treue Dienerin schon den letzten Koffer geschlossen und mit ihrem Hut auf demselben Platz genommen hatte.
»Susanna!« rief Florence. »Du willst mich verlassen? Du?«
»O, um aller Barmherzigkeit willen. Miß Floy«, versetzte Susanna schluchzend, »redet doch kein Wort mit mir, oder ich mache mich gemein vor den Pi–i–ipchinsen, und ich möchte nicht um alle Welt, Miß Floy, daß sie mich weinen sähe!«
»Susanna!« versetzte Florence. »Mein liebes Mädchen – meine alte Freundin! Was soll ich anfangen ohne dich? Kannst du es über dich gewinnen, so zu gehen?«
»Nei–ei–ei–ein, meine liebe herzige Miß Floy, ich kann es in der Tat nicht«, schluchzte Susanna. »Aber es läßt sich nicht ändern, ich habe meine Pflicht getan, Miß, ja, das habe ich, und die Schuld liegt nicht an mir. Ich muß mich darein erge–ben. Ich könnte meinen Monat nicht aushalten oder könnte Euch dann gar nicht verlassen, meine teure Miß, und ich müßte es am Ende doch so gut wie jetzt; sprecht nicht mit mir, Miß Floy, denn wenn ich auch ziemlich fest zu sein glaube, bin ich doch kein marmorner Türpfosten, meine liebe Miß.«
»Was hat es denn gegeben? Warum dies?« fragte Florence. »Du willst es mir nicht sagen?« fügte sie hinzu, da Susanna den Kopf schüttelte.
»Nei–nei–nein, meine liebe Miß«, entgegnete Susanna. »Fragt mich nicht, denn ich kann nicht, und was Ihr auch tun mögt, so legt ja kein gutes Wort für mich ein, denn es geschähe doch nicht, und Ihr würdet nur Euch selbst unrecht tun, so behüt Euch Gott, mein liebes Herz, und vergebt mir, was ich Euch in allen diesen vielen Jahren zuleid getan habe!«
Mit dieser aus tiefstem Herzen kommenden Bitte schlang Susanna die Arme um ihre Gebieterin.
»Meine liebe Miß, es gibt viele, die Euch dienen können und froh darüber sein werden, ja, und wohl auch Euch gute, treue Dienste leisten«, sagte Susanna; »aber das ist mein Trost, daß Euch niemand mit so viel Anhänglichkeit dienen oder Euch nur halb so lieben kann, wie ich. Lebt wo–o–ohl, süße Miß Floy!«
»Und wohin willst du gehen, Susanna?« fragte Florence unter Tränen.
»Ich habe einen Bruder im Lande drunten. Miß – einen Farmer in Esser«, versetzte die Nipper unter herzbrechendem Schluchzen, »der immer so viele Kü–ü–ühe hält und Schweine, und ich will mit der Landkutsche zu ihm fahren und bei ihm bleiben; kümmert Euch nicht um mich, denn ich habe Geld in der Sparkasse, meine Liebe, und brauche nicht sogleich wieder in Dienst zu gehen, was ich jetzt ja doch nicht könnte, meine herzige Miß Floy.«
Susanna schloß mit einem Schmerzensausbruch, dem zu gelegener Zeit Einhalt geschah durch die Stimme der Mrs. Pipchin, die unten sprach. Sobald sie dies hörte, trocknete sie ihre roten, geschwollenen Augen und versuchte die nur schlecht gelingende Ausrede, Mr. Towlinson munter zuzurufen, er solle einen Wagen holen und ihre Koffer hinuntertragen.
Die arme Florence wagte es auch hier nicht, nutzlose Fürsprache einzulegen, weil sie eine neue Spaltung zwischen ihrem Vater und seiner Gattin, deren finsteres, entrüstetes Gesicht ihr schon vor einigen Augenblicken zur Warnung gedient hatte, zu veranlassen fürchtete; ja sie besorgte sogar, daß sie, ohne es zu wissen, Schuld trage an der Verabschiedung ihrer alten Dienerin und Freundin, weshalb sie der letzteren trostlos, blaß und unter Tränen in Ediths Salon nacheilte, wohin sich Susanna begeben hatte, um sich von Mrs. Dombey zu verabschieden.
»So, der Wagen ist da und die Koffer sind draußen. Jetzt fort mit Euch!« sagte Mrs. Pipchin, die fast in dem gleichen Augenblick eintrat. »Ich bitte um Verzeihung, Ma'am, aber Mr. Dombey hat die bestimmtesten Befehle erteilt.«
Edith, der das Kammermädchen sich ankleiden half – sie wollte auswärts speisen – bewahrte ihr stolzes Gesicht und tat, als ob sie nichts hörte.
»Hier ist Euer Geld«, sagte Mrs. Pipchin, die gemäß ihres alten Systems mit den Dienstboten umzugehen gewöhnt war, wie sie ihre jungen Brightoner Kostgänger behandelt hatte – zur unsterblichen Erbitterung des Master Bitherstone, »und je früher dies Haus Euern Rücken sieht, desto besser ist es.«
Susanna war so kleinlaut, daß sie nicht einmal Mrs. Pipchin den Blick zuwerfen konnte, der ihr von Rechts wegen gebührte; sie machte daher ihre Verbeugung gegen Mrs. Dombey, die, ohne ein Wort zu sprechen, den Kopf neigte und nur für Florence einen Blick zu haben schien, umschlang ihre junge Gebieterin noch einmal und nahm deren Abschiedsumarmung entgegen. Bei dieser Krisis zeigte das Gesicht der armen Susanna eine Reihe der außerordentlichsten physiognomischen Erscheinungen, die man je sehen konnte, denn sie war, trotz des Überströmens ihrer Gefühle, entschlossen, ihr Schluchzen zu ersticken, damit es nicht für Mrs. Pipchin hörbar würde und diese liebenswürdige Dame einen Triumph feiern könnte.
»Ich bitte um Verzeihung, Miß«, sagte Towlinson, der mit den Koffern vor der Tür stand, zu Florence, »aber Mr. Toots ist in dem Speisezimmer und läßt unter Vermeldung seiner Komplimente anfragen, wie es Diogenes und dem Herrn ergehe.«
Mit Gedankenschnelle glitt Florence aus dem Zimmer und eilte die Treppe hinunter, wo sie Mr. Toots in seiner prächtigsten Kleidung, der im Zweifel und in der Aufregung über den Zweck seines Erscheinens kaum atmen konnte, antraf.
»O, wie geht es Euch, Miß Dombey?« sagte Mr. Tools. »Um Gottes willen!«
Dieser letztere Ausruf hatte seinen Grund in seiner tiefen Teilnahme mit dem Kummer, den er in Florences Antlitz bemerkte. Mr. Toots hielt sogar in einem Anfall von Kichern inne und bot ein leibhaftiges Bild der Verzweiflung dar.
»Lieber Mr. Toots«, sagte Florence, »Ihr seid so freundlich gegen mich und so ehrlich, daß ich Euch gewiß um eine Gefälligkeit bitten darf.«
»Miß Dombey«, entgegnete Mr. Toots, »wenn Ihr mir etwas auftragen wollt, so werdet Ihr – werdet Ihr mir meinen Appetit wiedergeben, der mir«, fügte er mit Gefühl hinzu, »seit langer Zeit vergangen ist.«
»Susanna, eine alte Freundin von mir, die älteste, die ich habe«, sagte Florence, »ist im Begriff, plötzlich das Haus zu verlassen, und das arme Mädchen steht so ganz allein. Sie will in ihre Heimat auf dem Lande. Darf ich Euch bitten, daß Ihr Euch ihrer annehmt, bis sie in der Kutsche ist?«
»Miß Dombey«, erwiderte Mr. Toots, »Ihr erweist mir in der Tat eine Ehre und eine Liebe. Dieser Beweis Eures Vertrauens nach der erzdummen Weise, in der ich mich in Brighton benahm –«
»Ja«, versetzte Florence hastig – »nein, denkt nicht daran. Ihr wollt also die Güte haben, zu – zu gehen – und sie zu erwarten, bis sie herauskommt? Tausend, tausend Dank! Ihr erleichtert mir das Herz. Sie sieht dann doch nicht so ganz verlassen aus. Ihr könnt gar nicht glauben, wie verpflichtet ich mich Euch fühle oder welchen Freundschaftsdienst Ihr mir erweist.«
Und Florence dankte ihm in ihrem Eifer wieder und wieder, während Toots in dem seinen forteilte – aber rücklings, damit er ja keinen Blick von ihr verliere.
Florence hatte nicht den Mut, hinauszutreten, als sie die arme Susanna in die Halle kommen sah, Mrs. Pipchin hinter ihr drein und Diogenes um sie herhüpfend, bei welcher Gelegenheit letzterer Mrs. Pipchin im höchsten Grade durch sein wiederholtes Schnappen nach ihren Bombassinschößen und durch sein ohrzerreißendes Heulen bei dem Ton ihrer Stimme erschreckte; denn die gute Duenna war die teuerste Antipathie seiner Hundebrust. Aber sie sah, wie Susanna sämtlichen Dienstboten die Hand drückte und noch einmal sich umwandte, um ihre alte Heimat zu betrachten: und sie sah Diogenes, der mit ihr wollte, nach dem Wagen hinausstürzen, wo er fast nicht überzeugt werden konnte, daß er nicht mit zu der Fracht gehöre. Der Kutschenschlag wurde geschlossen, das Getümmel legte sich, und ihre Tränen flossen um den Verlust einer alten Freundin, die niemand ersetzen konnte. Niemand. Niemand.
Mr. Toots, die treue zuverlässige Seele, hatte im Nu den Wagen angehalten und teilte Susanna Nipper seinen Auftrag mit, über den sie nur um so heftiger weinte.
»Auf Leib und Seele!« sagte Toots, der seinen Sitz an ihrer Seite nahm, »ich fühle für Euch. Bei meinem Ehrenwort, ich glaube, Eure Empfindungen können Euch kaum so klar sein, als ich sie mir vorstelle. Es gibt gewiß nichts Schrecklicheres, als Miß Dombey verlassen zu müssen.«
Susanna gab sich jetzt ganz ihrem Schmerze hin, und es war in der Tat rührend, sie anzusehen.
»O, tut dies jetzt nicht«, sagte Mr. Toots. »Ich meine wenigstens, es wäre jetzt besser, wenn – –«
»Wenn was, Mr. Toots?« entgegnete Susanna.
»Wenn Ihr mit mir nach Hause ginget und ein Diner einnähmet, ehe Ihr aufbrecht«, sagte Mr. Toots. »Meine Köchin ist eine sehr achtbare Person – eine der mütterlichsten Personen, die ich je gesehen habe – und es wird sie freuen, wenn sie's Euch gemütlich machen kann. Ihr Sohn«, fügte Mr. Toots als zugäbliche Empfehlung bei, »wurde in der Blaurockschule erzogen und flog mit einer Pulvermühle in die Luft.«
Da Susanna dieses freundliche Anerbieten gefiel, so führte Mr. Toots sie nach seiner Wohnung. Sie wurden daselbst von der fraglichen Matrone, die das ihr gespendete Lob vollkommen rechtfertigte, und von dem Preishahn empfangen, der, als er in dem Wagen eine Dame sah, anfänglich glaubte, Mr. Dombey sei in Gemäßheit seines alten Rats eingeknickt und Miß Dombey entführt worden. Dieser Gentleman setzte Miß Nipper in nicht geringeres Erstaunen, denn er hatte in dem Kampf mit einem übermütigen Jungen eine Niederlage erlitten, und infolge davon befand sich sein Gesicht in einem so kläglichen Zustand, daß er sich in Gesellschaft kaum zeigen konnte, ohne bei den Zuschauern Anstoß zu erregen. Der Preishahn selbst schrieb seinen Nachteil dem Umstand zu, daß der Straßenjunge zu unehrenhaften, nicht kampfgerechten Mitteln Zuflucht genommen habe, obschon die veröffentlichten Gerüchte über diesen großen Strauß das Gegenteil behaupteten und dem andern Streiter bezeugten, er habe den Preishahn in aller Ordnung gewalkt und gepfeffert, bis derselbe demütig weich nachgegeben habe.
Nach einem guten Mahl, bei dem es der gastfreundliche Toots an nichts fehlen ließ, brach Susanna wieder von ihrem Wirte begleitet in einem andern Wagen nach dem Beförderungsbureau auf. Bei dieser Gelegenheit bestieg der Preishahn den Bock, obschon dieser Ehrenmann – um seiner zahlreichen Pflaster willen – der kleinen Gesellschaft nicht sehr zur Zierde gereichte, wie hoch auch die Auszeichnung anzuschlagen sein mochte, die er derselben durch das moralische Gewicht und den Heroismus seines Charakters zuteil werden ließ. Der Preishahn hatte übrigens im geheimen ein Gelübde getan, von Mr. Toots, der im Innern seines Herzens sich sehnte, ihn los zu werden, bloß unter der Bedingung abzulassen, daß ihm derselbe durch seine Mittel zur Betreibung einer Wirtschaft behilflich sei – ein Geschäft, das ihm sein ehrgeiziger Wunsch, sich sobald als möglich tot zu trinken, besonders wünschenswert erscheinen ließ, und um diesen Zweck um so eher zu erreichen, war er mit sich einig geworden, seine Gesellschaft so unangenehm als möglich zu machen.
Die Nachtkutsche, deren sich Susanna zu ihrer Reise bedienen wollte, war eben im Begriff, abzufahren. Nachdem Mr. Toots die junge Dame im Innern untergebracht hatte, zögerte er noch unschlüssig an dem Schlage, bis der Kutscher sich anschickte, den Bock zu besteigen. Dann schwang er sich in den Tritt hinauf, zeigte im Licht der Lampe sein ängstliches, verwirrtes Gesicht und sagte abgebrochen:
»He, Susanna! Miß Dombey, Ihr wißt –«
»Ja, Sir.«
»Glaubt Ihr, sie könnte – Ihr wißt – wie?«
»Ich bitte um Verzeihung, Mr. Toots«, versetzte Susanna, »aber ich höre Euch nicht.«
»Glaubt Ihr, sie könnte – Ihr versteht mich – nicht gerade auf einmal, aber mit der Zeit – wie lange es auch anstehen mag, dazu gebracht werden, mich – zu – zu lieben? So!« sagte der arme Mr. Toots.
»O Himmel, nein!« entgegnete Susanna, den Kopf schüttelnd. »Ich darf wohl sagen nie. Ni – ie!«
»Danke Euch«, sagte Mr. Toots. »Es ist von keinem Belang. Gute Nacht. Es ist von keinem Belang, danke Euch.«
Fünfundvierzigstes Kapitel. DIE ZUVERLÄSSIGE MITTELSPERSON.
Edith ging an jenem Tag allein aus und kehrte früh wieder zurück. Es waren nur wenige Minuten nach zehn Uhr, als ihr Wagen in die Straße einfuhr, in der Mr. Dombeys Haus stand.
Auf ihrem Antlitz lag dieselbe erzwungene Ruhe, wie zur Zeit, als sich Susanna von ihr verabschiedete, und der Kranz auf ihrem Kopf umgab die nämliche kalte, feste Stirne. Es wäre aber ein minder bedrückender Anblick gewesen, wenn ihre leidenschaftliche Hand die Blätter und Blumen in Stücke zerrissen, oder das krampfhafte Pochen eines nach Ruhe sich sehnenden wirren Gehirns den Kranz formlos gemacht hätte. So starr, so unnahbar und unbeugsam, daß man glauben mußte, nichts könne das Herz eines solchen Weibes erweichen und alles im Leben habe nur dazu beigetragen, es zu verhärten.
Sie war vor der Haustür angelangt und wollte eben aussteigen, als jemand, der mit entblößtem Haupt in der Halle stand, herankam und ihr den Arm darbot. Da der Diener beiseite gedrängt worden war, so blieb ihr keine andere Wahl, als die Hilfe anzunehmen, und nun sah sie, wessen Arm ihr dieselbe geboten hatte.
»Was macht Euer Patient, Sir?« fragte sie mit aufgeworfener Lippe.
»Es geht besser«, versetzte Carker. »Es geht ihm ganz gut. Ich habe ihm bereits gute Nacht gewünscht.«
Sie beugte den Kopf und wollte eben die Treppe hinaufgehen, als er sie noch mit den Worten zurückhielt:
»Madame, darf ich mir die Gunst eines kurzen Gehörs erbitten?«
Sie blieb stehen und schaute nach ihm zurück.
»Die Zeit ist sehr unpassend, Sir, und ich bin müde. Habt Ihr ein so dringendes Anliegen?«
»Ein sehr dringendes«, versetzte Carker. »Da ich so glücklich war, Euch noch zu treffen, so gestattet mir, meine Bitte zu wiederholen.«
Sie blickte einen Moment auf seine glänzenden Zähne, während er nach ihr, die in ihrem stattlichen Anzug ein paar Treppen höher stand, hinaufsah und abermals dachte, wie schön sie sei.
»Wo ist Miß Dombey?« fragte sie den Diener laut.
»In dem Frühstückszimmer, Ma'am.«
»So geht dahin voran!«
Sie wandte ihre Augen abermals nach dem aufmerksamen Gentleman am Fuß der Treppe, bedeutete ihm mit einem leichten Winke ihres Kopfes, daß er ihr folgen könne, und ging weiter.
»Ich bitte um Verzeihung, Madame – Mrs. Dombey!« rief der glatte hurtige Carker, der im Nu an ihrer Seite war. »Ist mir die Bitte gestattet, mein Anliegen Euch nicht in Miß Dombeys Gegenwart vorbringen zu dürfen?«
Sie sah ihn mit einem raschen Blick, aber mit derselben Fassung und Festigkeit an.
»Ich möchte Miß Dombey die Kunde von dem ersparen, was ich Euch zu sagen habe«, fuhr Carker mit gedämpfter Stimme fort. »Wenigstens solltet Ihr entscheiden können, Madame, ob sie davon wissen soll oder nicht. Es geschieht um Eurer selbst willen, und ich glaube, Euch dies schuldig zu sein. Nach unserer früheren Besprechung wäre es schmählich von mir, wenn ich anders handelte.«
Sie wandte langsam ihre Augen von seinem Gesicht ab und rief dem Diener zu: »Ein anderes Zimmer.« Letzterer ging nach dem Salon voran, wo er Lichter aufstellte und sich sodann entfernte. Während seiner Abwesenheit wurde kein Wort gesprochen. Edith nahm auf einem Sofa neben dem Kamin Platz, während Mr. Carker, den Hut in der Hand und die Augen auf den Teppich gerichtet, in einiger Entfernung vor ihr stehen blieb.
»Ehe Ihr sprecht, Sir«, sagte Edith, sobald die Tür geschlossen war, »wünsche ich, daß Ihr mich anhöret.«
»Von Mrs. Dombey angeredet zu werden«, versetzte er, »selbst wenn es im Tone unverdienten Vorwurfs geschieht, ist eine Ehre, die ich so hoch zu schätzen weiß, daß ich, wäre ich auch nicht in allen Stücken ihr Diener, mich aufs bereitwilligste einem solchen Wunsche unterwerfe.«
»Wenn Ihr von dem Manne, den Ihr eben verlassen« – Mr. Carker erhob seine Augen, als wolle er damit Überraschung ausdrücken, aber der Blick, mit dem ihm die ihren entgegenkamen, taten ihm, wenn anders dies seine Absicht war, Einhalt – »einen Auftrag an mich auszurichten habt, so gebt Euch keine Mühe damit, denn ich werde ihn nicht annehmen. Ich brauche kaum zu fragen, ob Ihr zu einem solchen Zweck hier seid, denn ich habe längst etwas Derartigem entgegengesehen.«
»Leider bin ich ganz gegen meinen Willen in solcher Absicht hier«, versetzte er. »Erlaubt mir, zu bemerken, daß zwei Punkte mich zu Euch führen, den einen habt Ihr erraten.«
»Er ist abgetan, Sir«, erwiderte sie. »Oder wenn Ihr darauf zurückkommt – –«
»Kann Mrs. Dombey glauben«, sagte Carker, näher tretend, »daß ich so ihren Befehlen zuwiderzuhandeln imstande bin. Ist es möglich, daß Mrs. Dombey mit Absicht so ungerecht sein kann, ohne Rücksicht auf meine leidige Stellung mich stets für unzertrennlich von meinem Auftraggeber zu halten?«
»Sir«, entgegnete Edith, ihren dunkeln Blick voll auf ihn heftend und in einer steigenden Leidenschaftlichkeit sprechend, unter der ihre stolzen Nasenlöcher sich ausdehnten, der Busen schwoll und der leicht um ihre Schultern geworfene zarte weiße Schwanenpelz in seiner schneeigen Nachbarschaft unruhig sich bewegte, »warum tretet Ihr, wie Ihr es getan habt, vor mich hin, um mit mir von Liebe und Pflicht gegen meinen Gatten zu reden und Euch anzustellen, als haltet Ihr mich für glücklich verheiratet und als seiet Ihr der Meinung, ich ehre ihn? Wie erdreistet Ihr Euch, mich so zu kränken, während Ihr doch wißt – ich selbst weiß es nicht besser, Sir, denn ich habe dies in jedem Eurer Blicke gesehen, in jedem Eurer Worte gehört – daß zwischen uns statt Liebe Abneigung und Verachtung herrscht, daß ich ihn kaum weniger verabscheue, als ich mich selbst verabscheue, weil ich die Seinige heiße? Ungerechtigkeit! Hätte ich der Qual, die Ihr mich fühlen ließt, und dem Schimpf, den Ihr mir antatet, Genüge leisten wollen, so hätte ich Euch ermorden müssen!«
Sie hatte ihn gefragt, warum er dies getan habe. Wäre sie nicht durch ihren Stolz, ihren Zorn und ihre Selbstdemütigung geblendet gewesen – dies war der Fall, so wild sie auch ihren Blick auf ihn heftete – so hätte sie in seinem Gesicht die Antwort lesen können. Der Grund war, sie zu dieser Erklärung zu bringen.
Sie sah es jedoch nicht und kümmerte sich auch nicht darum, da sie nur ein Auge für die Beschimpfungen und Kämpfe hatte, die sie durchgemacht, die ihr noch bevorstanden und die eben jetzt ihr Innerstes durchwühlten. Während sie so dasaß und ihren Blick eher ihrer Zerrissenheit als ihm zuwandte, riß sie aus der Schwinge eines seltenen schönen Vogels, der an einem goldenen Kettchen von ihrem Armband niederhing, um ihr als Fächer zu dienen, die Federn und streute sie über den Boden.
Er bebte nicht zurück vor ihrem Blick, sondern blieb in der Erwartung, bis die äußeren Zeichen ihres unwillkürlich ausbrechenden Zornes sich gelegt hätten, mit der Miene eines Mannes stehen, der auf eine genügende Antwort gefaßt und sie vorzubringen bereit ist. Dann begann er mit einem festen Blick in ihre funkelnden Augen:
»Madame«, sagte er, »ich weiß und wußte längst, daß ich bei Euch nicht in Gunst stehe. Auch der Grund ist mir bekannt. Ja. Ich weiß, warum. Ihr habt offen gegen mich gesprochen, und ich fühle mich so erleichtert durch den Besitz Eures Vertrauens – –«
»Vertrauen!« wiederholte sie mit Verachtung.
»– Daß ich nicht versuchen will, etwas vor Euch zu verhehlen. Ich sah in der Tat von Anfang an, daß Ihr keine Liebe hegtet zu Mr. Dombey – wie hätte dies auch bei so verschiedenen Charakteren möglich sein können! Auch entging mir nicht, daß seitdem mächtigere Gefühle als bloße Gleichgültigkeit in Eurer Brust um sich griffen – wie ließ sich dies auch unter Verhältnissen, wie die Euren sind, anders erwarten! Aber kam es mir zu, dieses mein Mitwissen in Worten gegen Euch kundzugeben?«
»Kam es Euch zu, Sir«, versetzte sie, »einen andern Glauben zu heucheln und ihn dreist mir Tag für Tag vorzuhalten?«
»Ja, Madame«, entgegnete er hastig. »Hätte ich weniger getan, hätte ich überhaupt anders gehandelt, so könnte ich nicht so mit Euch sprechen, und ich sah voraus – wer könnte dies besser, als ein Mann, der Mr. Dombey so genau kennt, wie ich? – wenn Euer Charakter nicht ebenso nachgiebig und gehorsam wäre, als der seiner ersten unterwürfigen Gattin, was ich von Euch nicht annahm – –«
Ein stolzes Lächeln gab ihm Anlaß, zu glauben, daß er dies wiederholen könne.
»Ich sage, was ich von Euch nicht annahm – so müsse ohne Zweifel eine Zeit kommen, in der ein Einverständnis wie das, zu dem es jetzt zwischen uns gekommen ist, zweckmäßig werden könnte.«
»Für wen zweckmäßig, Sir?« fragte sie verächtlich.
»Für Euch. Ich will nicht hinzufügen, für mich, weil ich mich enthalten soll, Mr. Dombey auch das beschränkte Lob zu spenden, das ich ihm mit aller Ehrlichkeit nachrühmen kann. Ich möchte mir nicht das Unglück zuziehen, einer Dame, deren Widerwillen und Verachtung« – er sprach dies mit großem Nachdruck – »so bitter sind, etwas Unangenehmes zu sagen.«
»Es ist sehr ehrlich von Euch, Sir«, versetzte Edith, »dieses beschränkte Lob einzuräumen und sogar von ihm in solchem Ton der Geringschätzung zu sprechen, während Ihr doch sein Hauptratgeber und Schmeichler seid.«
»Ratgeber – ja«, sagte Carker. »Schmeichler – nein. Ich fürchte, ein wenig Rückhaltung einräumen zu müssen; aber unser Interesse und die Schicklichkeit überhaupt nötigen gemeiniglich viele von uns, sich in einer Weise zu benehmen, bei der das Gefühl sich nicht beteiligen kann. Es gibt jeden Tag Geschäftsverbindungen aus Interesse und Konvenienz, einen Verkehr im allgemeinen aus Interesse und Konvenienz, und Heiraten aus Interesse und Konvenienz.«
Sie biß sich in ihre blutrote Lippe, ohne jedoch den düsteren strengen Blick, mit dem sie ihn ins Auge faßte, von ihm zu wenden.
»Madame«, fuhr Mr. Carker fort, mit der Miene der tiefsten, rücksichtsvollsten Achtung sich auf einen in der Nähe stehenden Sessel niederlassend, »warum sollte ich jetzt, der ich mich ganz und gar Eurem Dienst geweiht habe, Anstand nehmen, offen zu sprechen? Es war natürlich, daß eine Dame von Euren trefflichen Eigenschaften es für möglich hielt, in manchem Betracht den Charakter ihres Gatten umzuwandeln und ihn in eine bessere Form zu gießen.«
»Bei mir war dies nicht natürlich, Sir«, entgegnete sie. »Ich habe nie etwas der Art erwartet oder beabsichtigt.«
Das stolze unerschütterliche Gesicht zeigte ihm, daß es entschlossen war, die ihm angebotene Maske nicht aufzunehmen, und rücksichtslos sich zeigen wollte, in was immer für einem Lichte es dann auch erscheinen mochte.
»Wenigstens war es natürlich«, nahm er wieder auf, »daß Ihr es für möglich hieltet, mit Mr. Dombey als Gattin zu leben, ohne Euch ihm zu unterwerfen oder ohne mit ihm in einen so entschiedenen Widerstreit zu kommen. Wenn Ihr übrigens dies glaubt, so habt Ihr, wie Euch seitdem die Erfahrung gelehrt haben muß, Mr. Dombey nicht gekannt. Ihr wußtet nicht, wie anspruchsvoll und stolz er ist. Wenn ich mich so ausdrücken darf, so möchte ich ihn den Sklaven seiner Größe nennen, denn er zieht im Joche seines eigenen Triumphwagens wie ein Lasttier, ohne einer andern Idee Raum zu geben, als daß er ihn hinter sich habe, und daß er über und durch alles fortgeschleppt werden müsse.«
Seine Zähne glänzten in boshaftem Behagen über diesen Gedanken, während er zu sprechen fortfuhr:
»Mr. Dombey, Madame, ist gegen Euch ebensowenig einer wahren Rücksicht fähig, als gegen mich. Der Vergleich scheint zwar einen ungeheuren Abstand zu bieten; aber sei es darum – er ist richtig. Im Gefühl seiner Machtvollkommenheit stellte mir Mr. Dombey gestern das Ansinnen, ich solle seine Mittelsperson gegen Euch machen – wie er mir selbst mitteilte, aus keinem andern Grund, als weil er weiß, daß ich Euch unangenehm bin, und er in dieser Weise die Strafe zu erhöhen meint: auch ist er in der Tat der Ansicht, daß die Verwendung seines bezahlten Dieners in solchen Aufträgen der Würde – nicht der Dame, mit der ich zu sprechen das Glück habe, denn diese ist für ihn gar nicht vorhanden, sondern seiner Gattin, eines Teils seiner eigenen Person, Abtrag tue. Ihr könnt Euch denken, wie rücksichtslos er gegen mich ist, und wie er sogar nicht die Möglichkeit zu fassen vermag, als könnte ich hierin anderer Meinung sein, wenn er mir so unumwunden mitteilt, daß er sich aus einem solchen Grunde meiner Vermittlung bediene. Auch erseht Ihr vollkommen seine Gleichgültigkeit gegen Eure Gefühle aus dem Umstand, daß er Euch mit einem solchen Boten drohte – denn natürlich ist Euch noch im Gedächtnis, daß er dies getan hat.«
Sie faßte ihn noch immer aufmerksam ins Auge, aber er sie gleichfalls, und es wurde ihm daraus klar, daß ein Mitwissen um einen Auftritt, der zwischen ihr und ihrem Gatten vorgegangen war, in ihrer stolzen Brust wie ein vergifteter Pfeil schmerzte.
»Ich führe dies nicht an, um die Kluft zwischen Euch und Mr. Dombey zu erweitern, Madame – der Himmel verhüte dies, denn was könnte es mir nützen – sondern nur um Euch zu beweisen, wie hoffnungslos es ist, ihn zur Überzeugung zu bringen, daß irgend jemand Rücksicht verdiene, sobald er in Frage kommt. Ich muß allerdings sagen, daß wir, die wir um ihn sind, in unsern verschiedenen Stellungen das Unsrige beigetragen haben, um ihn in dieser Denkweise zu befestigen; aber wäre es von uns nicht geschehen, so würden es andere getan haben – oder sie hätten's nicht bei ihm aushalten können. So ist es immer gewesen, ich möchte sagen vom Beginn seines Lebens an. Mit einem Wort, Mr. Dombey hat nie mit jemand anders verkehrt, als mit unterwürfigen, abhängigen Personen, die Knie und Nacken vor ihm beugten. Er weiß nicht, was es heißt, beleidigten Stolz und den kräftigen Willen, eine Kränkung zu ahnden, gegen sich zu haben.«
»Jetzt soll er es erfahren«, schien sie zu entgegnen, obschon ihre Lippen sich nicht öffneten und ihr Auge unbeweglich blieb. Er sah den weichen Schwanenpelz abermals auf ihrer Brust zittern, sah, wie sie das Gefieder des schönen Vogels einen Augenblick an ihren Busen drückte, und schlug einen weiteren Ring des Taus, mit dem er sich ausgerüstet hatte.
»Obschon ein im höchsten Grade ehrenhafter Mann«, fuhr er fort, »so ist er doch sehr geneigt, selbst die Tatsachen, die gegen ihn sprechen, nach seinem eigenen Sinn zu verdrehen, und ich kann Euch kein besseres Beispiel davon geben, als wenn ich Euch sage: er glaubt aufrichtig (Ihr werdet die Torheit dessen, was ich nun vorbringe, entschuldigen, da sie nicht von mir ausgeht), seine entschiedene Meinungsäußerung gegen seine dermalige Gattin bei einem gewissen besonderen Anlaß, der, wie sie sich erinnern wird, vor dem viel beklagten Tode der Mrs. Skewton stattfand, habe eine vernichtende Wirkung geübt und sie für den Augenblick ganz zu Paaren getrieben.«
Edith lachte. Wie hart und unmusikalisch, brauchen wir nicht zu schildern. Es ist genug, daß er erfreut war, sie so lachen zu hören.
»Madame«, nahm er wieder auf, »genug davon, Eure eigenen Ansichten sind so energisch und, wie ich überzeugt bin, so unwandelbar« – er wiederholte diese Worte langsam und mit großem Nachdruck – »daß ich fast Euer Mißfallen von neuem auf mich zu ziehen fürchte, wenn ich sage, ich sei trotz dieser Mängel und meiner vollen Kenntnis derselben so an Mr. Dombey gewöhnt, daß ich ihn hochschätze. Glaubt mir übrigens, wenn ich so spreche, geschieht es nicht, um mit einem Gefühle zu prahlen, das so ganz im Widerstreit mit dem Euren ist und für das Ihr keine Sympathie haben könnt« – o wie bestimmt, klar und nachdrücklich war nicht dies! – »sondern um Euch eine Versicherung von dem Eifer zu geben, mit dem ich in dieser unglücklichen Angelegenheit Euch dienen möchte. Ihr könnt daraus entnehmen, mit welchem Unwillen mich die Rolle erfüllen muß, die zu spielen man von mir erwartet hat.«
Sie saß da, als scheue sie sich, ihre Augen von seinem Gesicht zu verwenden.
Und nun zu Abwindung des letzten Tauringes.
»Es wird spät«, sagte Carker nach einer Pause, »und Ihr seid, wie Ihr sagtet, ermüdet. Aber ich darf den zweiten Punkt dieser Unterredung nicht vergessen. Aus zureichenden Gründen muß ich Euch empfehlen – ja, Euch aufs dringlichste bitten, in Kundgebung Eurer Zuneigung für Miß Dombey vorsichtig zu sein.«
»Vorsichtig? Was meint Ihr damit?«
»Ihr müßt Sorge tragen, daß Ihr dieser jungen Dame nicht allzuviel Liebe erzeiget.«
»Allzuviel Liebe, Sir?« versetzte Edith, und ihre breite Stirne furchte sich, während sie von ihrem Sitze aufstand. »Wer urteilt über meine Liebe, oder ermißt sie? Ihr?«
»Nein, ich gewiß nicht.«
Er war verwirrt oder stellte sich wenigstens so.
»Wer denn?«
»Könnt Ihr dies nicht erraten?«
»Ich will nicht raten«, antwortete sie.
»Madame«, sagte er nach kurzem Zögern, während dessen sie sich gegenseitig in der früheren Weise angesehen hatten, »ich befinde mich in einer schwierigen Lage. Ihr habt mir erklärt, daß Ihr keinen Auftrag annehmen wollet, und das Verbot daran geknüpft, diesen Gegenstand überhaupt zu berühren; aber ich finde, die beiden Punkte sind so eng miteinander verflochten, daß ich die mir von Euch auferlegte Einschärfung zu verletzen genötigt bin, wenn Ihr Euch nicht mit dieser unbestimmten Warnung eines Mannes begnügen wollt, der jetzt die Ehre hat, Euer Vertrauen zu besitzen, obschon er dazu durch Euer Mißfallen sich Bahn brechen mußte.«
»Ihr wißt, daß Ihr die Freiheit habt, dies zu tun«, sagte Edith. »Sprecht.«
So blaß, so zitternd, so leidenschaftlich; er hatte sich also in der Wirkung nicht verrechnet.
»Er hat mir aufgetragen«, entgegnete er mit gedämpfter Stimme, »daß ich Euch erklären solle, Euer Benehmen gegen Miß Dombey sei ihm nicht angenehm. Es führe zu Vergleichen mit ihm, die ihm nicht günstig seien, und er verlange deshalb, daß es gänzlich geändert werde. Wenn es Euch ernst damit sei, so hoffe er um so zuversichtlicher, daß dies geschehe, denn die fortgesetzte Kundgebung Eurer Zuneigung dürfte dem Gegenstand derselben übel zustatten kommen.«
»Dies ist eine Drohung!« sagte sie.
»Ja, eine Drohung«, antwortete er in seiner tonlosen Weise und fügte dann laut hinzu, »die aber nicht Euch gilt.«
Sie stand ihm stolz, aufrecht und würdevoll gegenüber und richtete ihr blitzendes Auge voll auf ihn, als ob sie ihn durchbohren wolle; dann überflog ihr Antlitz ein Lächeln voll Verachtung und Bitterkeit, bis sie endlich niedersank, als ob der Grund unter ihr eingesunken wäre. Sie würde zu Boden gesunken sein, wenn er sie nicht mit seinen Armen aufgefangen hätte. Aber in dem Augenblick der Berührung schüttelte sie ihn ab, trat zurück und stand unbeweglich mit ausgestreckter Hand vor ihm.
»Habt die Güte, mich zu verlassen. Sprecht heute nichts mehr.«
»Ich fühle die Dringlichkeit des Umstandes«, sagte Mr. Carker, »weil es unmöglich ist, zu wissen, welche unvorhergesehene Folgen daraus entspringen mögen, oder wie bald sie stattfinden dürften, wenn Ihr nicht von seiner Stimmung unterrichtet seid. Wie ich höre, ist Miß Dombey schuld an der Entlassung ihrer alten Dienerin – vielleicht schon eine der kleineren Folgen. Ihr macht mir doch keinen Vorwurf, daß ich Euch bat, Miß Dombey bei unserer Besprechung nicht anwesend sein zu lassen? Darf ich dies hoffen?«
»Ich mache Euch keinen Vorwurf. Habt die Güte, mich zu verlassen, Sir.«
»Ich weiß und bin vollkommen überzeugt, daß Eure Liebe zu dieser jungen Dame sehr aufrichtig und innig ist; aber eben deshalb müßte es Euch sehr unglücklich machen, wenn in Eurem Innern der Gedanke Raum gewinnen könnte, Ihr selbst hättet ihre Stellung beeinträchtigt und ihre künftigen Hoffnungen zugrunde gerichtet«, sagte Carker hastig und mit großem Eifer.
»Heute nichts mehr. Verlaßt mich, wenn ich bitten darf.«
»Ich werde stets hier im Hause und um ihn sein, da dies schon die Geschäfte erfordern. Ihr erlaubt mir doch, Euch wieder zu besuchen, damit ich mich bei Euch über das, was zu geschehen hat, Rats erholen und Eure Wünsche kennenlernen kann?«
Sie winkte ihm nach der Tür.
»Ich bin noch nicht einmal mit mir im klaren, ob ich ihm sagen soll, daß ich mit Euch gesprochen habe, oder ob es nicht besser ist, ihn in dem Glauben zu lassen, ich sei nicht imstande gewesen, seinen Auftrag zu erfüllen, entweder aus Mangel an Gelegenheit, oder aus irgendeinem andern Grunde. Es dürfte daher nötig sein, daß ich mich hierüber sehr bald mit Euch verständige.«
»Wann Ihr wollt, nur jetzt nicht«, antwortete sie.
»Ihr werdet einsehen, daß auch bei der nächsten Besprechung Miß Dombey nicht anwesend sein kann. Darf ich des Glaubens leben, Ihr sähet bei jener Zusammenkunft in mir nur einen Mann, der das Glück hat, Euer Vertrauen zu besitzen, und bereit ist, Euch jeden ihm zu Gebot stehenden Beistand zu leisten – ja, vielleicht auch sich in der Lage befindet, von ihr Schlimmes abzuwehren?«
Von ihrer Seite noch immer dieselbe Furcht, ihn auch nur einen Moment von dem Einfluß ihres festen Blickes, welch derselbe auch sein mochte, zu entbinden. Sie antwortete mit Ja und hieß ihn abermals sich entfernen.
Er machte eine willfährige Verbeugung, wandte sich aber, als er die Tür nahezu erreicht hatte, noch einmal um und sagte:
»Erfreue ich mich Eurer Verzeihung und habe ich meinen Fehler aufgeklärt? Darf ich – um Miß Dombeys und um meiner selbst willen – Eure Hand ergreifen, ehe ich gehe?«
Sie reichte ihm die mit dem Handschuh bedeckte Hand, die sie abends zuvor verstümmelt hatte. Er nahm sie, drückte einen Kuß darauf und entfernte sich. Sobald er die Tür hinter sich geschlossen, schwenkte er die Hand, in der die ihre gelegen, und legte sie auf seine Brust.
Sechsundvierzigstes Kapitel. PRÜFEND UND NACHDENKLICH
Unter verschiedenen kleineren Änderungen, die um diese Zeit in Mr. Carkers Leben und Gewohnheiten stattzufinden begannen, war keine merkwürdiger, als der außerordentliche Fleiß, mit dem er sich dem Geschäft widmete, und die Sorgfalt, mit der er die vor ihm offen daliegenden Angelegenheiten des Hauses bis ins einzelnste verfolgte. Obgleich er in solchen Dingen stets tätig und scharfblickend war, hatte sich doch jetzt seine luchsäugige Wachsamkeit ums zwanzigfache gesteigert. Seine behutsame Aufmerksamkeit hielt nicht nur gleichen Schritt mit jenen Punkten, die jeder Tag ihm in irgendeiner neuen Form darbot, sondern er fand auch inmitten dieser sich häufenden Beschäftigungen Muße – d.h. er nahm sich dieselbe – die früheren Verbindungen der Firma, die während einer langen Reihe von Jahren abgeschlossen worden waren, und seine Beteiligung dabei zu prüfen. Oft, wenn sämtliche Angestellte fort waren, die Kontore leer und dunkel, und alle ähnlichen Geschäftslokale geschlossen waren, pflegte Mr. Carker, vor dem die ganze Anatomie des eisernen Zimmers offen dalag, mit dem geduldigen Eifer eines Mannes, der die kleinsten Nerven und Fasern eines tierischen Körpers zergliedert, die Geheimnisse der Bücher und Papiere zu erforschen. Der Ausläufer Perch, der bei solchen Gelegenheiten gewöhnlich dablieb, um sich beim Licht einer einzigen Kerze mit dem Lesen der Preisliste zu unterhalten, oder im äußeren Kontor auf die Gefahr hin, jeden Augenblick kopfüber in die Kohlentruhe zu purzeln, über dem Feuer schlummerte, konnte diesem Fleiß den Zoll seiner Bewunderung nicht versagen, wie sehr er auch dadurch in dem Genusse seines häuslichen Glückes verkürzt wurde, und verbreitete sich wieder und wieder gegen Mrs. Perch, die jetzt Zwillinge säugte, über den Eifer und die Pünktlichkeit ihres geschäftsführenden Gentlemans in der City.
Dieselbe gesteigerte, scharfe Aufmerksamkeit, mit der Mr. Carker die Geschäfte des Hauses behandelte, verwendete er auch auf seine persönlichen Angelegenheiten. Obgleich er kein Associé der Firma war, da diese Auszeichnung bisher nur den Erben des großen Namens Dombey vorbehalten gewesen, bezog er doch von dem Ertrag gewisse Prozente, und da es ihm vermöge seiner Stellung sehr leicht wurde, Geld vorteilhaft zu verwenden, so galt er bei den Schmerlen unter den Tritonen des Ostens als ein reicher Mann. Diese schlauen Beobachter begannen schon untereinander zu bemerken, daß Jem Carker bei Dombey sich umschaue, um zu sehen, was er wert sei, und als ein in die Ferne blickender Mann darauf Bedacht nehme, sein Geld in guter Zeit einzuziehen; ja es wurden sogar auf der Stockbörse Wetten auf die Wahrscheinlichkeit angeboten, daß Jem eine reiche Witwe heiraten werde.
Gleichwohl taten diese vermehrten Geschäfte Mr. Carker in dem Bewachen seines Prinzipals, in seiner Reinlichkeit, seiner Glätte oder irgendeiner katzenartigen Eigenschaft, die er besaß, nicht den mindesten Abtrag. In seinen Gewohnheiten war nicht derart ein Wechsel vorgegangen, sondern sie zeigten sich nur in einer gesteigerten Tätigkeit. Alles, was man früher an ihm bemerken konnte, war auch jetzt noch an ihm zu sehen, nur in höherem Grade konzentriert. Er besorgte jedes einzelne, als ob es nichts anderes für ihn gebe – ein ziemlich sicheres Anzeichen bei einem Mann von seiner Fähigkeit und seinem Geiste, daß er etwas tut, was seine ganze Energie schärft und rege erhält. Die einzige entschiedene Veränderung an ihm bestand darin, daß er, wenn er in den Straßen hin und her ritt, oft in ein ähnliches tiefes Nachdenken versank, wie das, in dem er an dem Morgen von Mr. Dombeys Unfall das Haus des letzteren verlassen hatte. Zu solchen Zeiten wich er nur mechanisch den im Wege liegenden Hindernissen aus, und es hatte den Anschein, als sehe und höre er nichts, bis er seinen Bestimmungsort erreichte, oder ein plötzlicher Zufall ihn aus seinen Träumen weckte.
So ließ er eines Tages sein weißbeiniges Pferd im Schritt nach dem Kontor von Dombey und Sohn gehen, ohne das Lauern von zwei Paar Weiberaugen oder den von seinem Anblick bezauberten Schleifer Rob zu bemerken, der, um seine Pünktlichkeit zu zeigen, eine Straßenlänge näher, als auf dem bestimmten Platz, seines Gebieters harrte und vergeblich durch ein wiederholtes Greifen an seinen Hut die Aufmerksamkeit desselben auf sich zu ziehen suchte, weshalb er denn jetzt zu Fuß an seiner Seite hintrabte, um bei seinem Absteigen sogleich bereit zu sein, ihm den Bügel zu halten.
»Siehst du ihn vorbeireiten?« rief eine der beiden Frauen, eine alte Hexe, die ihre welke Hand ausstreckte, um ihn ihrer jüngeren Begleiterin, die unter einem Torweg dicht an ihrer Seite stand, zu zeigen.
Auf dieses Geheiß von seiten der Mrs. Brown schaute ihre Tochter hinaus, und in ihrem Gesicht zeigte sich die wilde Aufregung des Zorns und der Rachsucht.
»Ich hätte nie gedacht, ihn wieder zu sehen«, sagte sie mit gedämpfter Stimme; »aber es ist vielleicht gut so. Ich sehe. Ich sehe!«
»Nicht verändert!« sagte die Alte mit einem boshaften Blick.
» Er verändert?« entgegnete die andere. »Warum auch? Was hat er gelitten! Nur in mir ist Veränderung genug für zwanzig. Genügt das nicht?«
»Sieh, wie er reitet!« murmelte die Alte, die roten Augen auf ihre Tochter heftend: »so leicht und so geschniegelt auf seinem Pferd, während wir im Kot –«
»Und von Kot sind«, unterbrach sie die Tochter ungeduldig. »Wir sind der Schmutz unter den Füßen seines Pferdes. Was könnten wir auch anders sein?«
In der Begierde, mit der sie ihm wieder nachsah, machte sie, als die Alte antworten wollte, mit der Hand eine hastige Gebärde, wie wenn der bloße Ton einer Stimme sie im Sehen störe. Mrs. Brown, die nur sie, nicht ihn im Auge behielt, blieb stumm, bis der funkelnde Blick ihrer Tochter milder geworden war. Letztere atmete endlich tief auf, als fühle sie sich erleichtert, daß er fort war.
»Herzchen!« begann die Alte. »Alice! Schönes Mädel! Ally!« Sie zupfte sie leicht am Ärmel, um ihre Aufmerksamkeit zu wecken. »Willst du ihn so ziehen lassen, da du ihm doch Geld abringen kannst? Ei, das wäre gottlos, meine Tochter.«
»Habe ich Euch nicht gesagt, daß ich kein Geld von ihm wolle?« versetzte Alice. »Und Ihr glaubt mir noch immer nicht? Habe ich von seiner Schwester Geld angenommen? Würde ich auch nur einen Penny berühren, wenn ich wüßte, er sei durch seine weißen Hände gegangen – es wäre denn, daß ich denselben vergiftet ihm zurückschicken könnte? Seid stille, Mutter, und kommt mit.«
»Und er so reich?« murmelte die Alte. »Und wir so arm!«
»Arm, weil wir nicht imstande sind, ihm etwas von dem Leid heimzuzahlen, das wir ihm verdanken«, entgegnete die Tochter. »Könnte er mir solche Schätze ablassen, so würde ich sie von ihm annehmen und Gebrauch davon machen. Kommt mit; es führt zu nichts, seinem Pferde nachzusehen, kommt mit, Mutter!«
Für die Alte aber schien der Anblick Robs, des Schleifers, der das reiterlose Pferd die Straße heraufführte, irgendein außerordentliches Interesse zu haben, das er an sich selbst nicht besaß; sie betrachtete daher den jungen Menschen mit der größten Angelegentlichkeit und faßte, was sie auch sonst für Bedenken hegen mochte, bei seinem Näherkommen schnell einen Entschluß. Mit einem funkelnden Blick nach ihrer Tochter legte sie den Finger an ihre Lippe, trat in dem Augenblick, als Rob vorüberging, aus dem Torweg und legte ihre Hand auf seine Schulter.
»Ei, wo ist denn mein munterer Rob diese ganze Zeit über gewesen?« fragte sie, als er sich umwandte.
Der muntere Rob, dessen Munterkeit durch diese Begrüßung sehr gemindert wurde, machte ein sehr langes Gesicht und entgegnete, während ihm das Wasser in die Augen stieg:
»O! warum könnt Ihr einen armen Burschen nicht gehen lassen, Mrs. Brown, wenn er einem ehrlichen Unterhalt nachgeht und sich ordentlich aufführt? Warum kommt Ihr her, um einen jungen Burschen dadurch seines guten Namens zu berauben, daß Ihr ihn auf der Straße anredet, während er das Pferd seines Herrn nach einem ehrlichen Stall bringt – ein Pferd, das Ihr für Katzen- und Hundefleisch verkaufen würdet, wenn man Euch gewähren ließe! Ich dachte wahrhaftig«, fügte der Schleifer hinzu, seine Schlußbemerkung in einer Weise vorbringend, als sei sie der Höhepunkt aller von ihm erlittenen Kränkungen, »Ihr wäret längst tot.«
»So spricht er jetzt mit mir«, rief die Alte, sich an ihre Tochter wendend, »und doch hat er wochen- und monatelang mit mir Bekanntschaft gepflogen, mein Herzchen, und ich bin oft und vielmals seine Freundin gewesen unter den Galgenstricken, die sich mit dem Fang von Tauben und Vögeln abgaben.«
»O redet mir nur nicht von den Vögeln, Mrs. Brown«, versetzte Rob im Ton der bittersten Reue. »Ich denke, es ist besser, sich mit Löwen abzugeben als mit solchen kleinen Geschöpfen, denn sie fliegen einem immer ins Gesicht zurück, wo man es am wenigsten erwartet, Nun, wie geht es Euch und was wollt Ihr?«
Der Schleifer brachte diese höflichen Fragen vor, als verwahre er sich dagegen in großer Gereiztheit.
»Höre, wie er mit einer alten Freundin spricht, mein Schatz!« sagte Mrs. Brown, sich wieder an ihre Tochter wendend. »Doch es gibt einige von seinen alten Freunden, die nicht so geduldig sind wie ich. Wenn ich einigen, die er kennt, mit denen er sich umgetrieben und mit denen er Spitzbübereien angerichtet hat, mitteile, wo sie ihn finden können –«
»Wollt Ihr Euer Maul halten, Mrs. Brown«, unterbrach sie der unglückliche Schleifer, der jetzt hurtig umherschaute, als erwarte er die glänzenden Zähne seines Gebieters neben seinem Ellenbogen zu sehen. »Macht es Euch denn eine so große Freude, einen jungen Burschen zugrunde zu richten? Und noch dazu in Eurem Alter, in dem Ihr an ganz andere Dinge denken solltet.«
»Welch ein schönes Pferd«, sagte die Alte, den Hals des Tieres streichelnd.
»Wollt Ihr so gut sein, es gehen zu lassen?« rief Rob, ihre Hand zurückschiebend. »Ihr seid imstande, einen reuigen, jungen Burschen von Sinnen zu bringen.«
»Ei, was schadet's ihm denn, Kind?« entgegnete die Alte.
»Was es ihm schadet?« fragte Rob. »Es hat einen Herrn, der dahinterkommt, und wenn es nur mit einem Strohhalm berührt wird.«
Er blies auf die Stelle, wo die Hand der Alten einen Augenblick geruht hatte, und glättete sie sanft mit seinen Fingern, als glaube er ernstlich an die Wahrheit seiner Worte.
Die Alte, die nach der ihr folgenden Tochter murmelnd zurücksah, hielt sich dicht an die Ferse Robs, der mit dem Zügel in der Hand weiterging, und setzte das Gespräch fort.
»Ein guter Platz, Rob, he?« sagte sie. »Ihr seid im Glück, mein Kind.«
»O sprecht mir nicht von Glück, Mrs. Brown«, versetzte der unglückliche Schleifer, indem er sein Gesicht umwandte und haltmachte. »Wenn Ihr nie hierhergekommen wäret oder wenn Ihr fortginget, dann könnte sich ein junger Bursch in der Tat für ziemlich glücklich halten. Wollt Ihr denn gar nicht gehen und ablassen, mich zu verfolgen, Mrs. Brown?« heulte Rob in plötzlichem Trotz. »Wenn die junge Frauensperson eine Freundin von Euch ist, warum nimmt sie Euch nicht lieber hinweg, statt daß sie Euch gestattet, Euch hier so unangenehm zu machen!«
»Was?« krächzte die Alte und näherte mit einem boshaften Grinsen, das ihre welke Haut bis nach dem Hals hinunter in Falten legte, ihr Gesicht dem seinen. »Ihr verleugnet Eure alten Kameradschaften? Seid Ihr nicht dutzend- und dutzendmal in mein Haus geschlichen und habt bei mir in einer Ecke geschlafen, als Ihr kein anderes Bett hattet als das Straßenpflaster – und jetzt sprecht Ihr so mit mir? Habe ich nicht, als Ihr noch ein vagabundierender Schuljunge wart, Euch in meiner Art fortgeholfen und für Euch gekauft und verkauft – und jetzt kommt Ihr mir und heißt mich gehen? Bin ich nicht imstande, Euch schon morgen früh einen Haufen alter Kameraden über den Hals zu schicken, die sich wie Euer Schatten an Euch heften und Euch ins Verderben hetzen können – und Ihr werft mir so kecke Blicke zu? Doch ich will gehen. Komm, Alice.«
»Haltet, Mrs. Brown!« rief der Schleifer außer sich. »Was wollt Ihr denn? Geratet nur nicht so in Zorn! O, seid so gut, sie nicht gehen zu lassen. Ich hab's ja nicht böse gemeint. Sagte ich nicht gleich anfangs: ›Wie geht's Euch?‹ aber Ihr wolltet nicht antworten. Wie geht's Euch? Außerdem könntet Ihr ja selbst einsehen«, fügte Rob mit einer Jammermiene hinzu, »daß es einem Burschen nicht möglich ist, mit dem Pferd seines Gebieters auf der Straße stehenzubleiben, wenn es gestriegelt werden sollte, und der Herr gleich hinter alles kommt, sobald nur im geringsten etwas Unrechtes vorfällt.«
Die Alte tat, als sei sie teilweise beschwichtigt, schüttelte aber noch immer den Kopf und maulte vor sich hin.
»Kommt mit nach dem Stall und laßt Euch ein Gläschen schmecken, das Euch gut tun wird – könnt Ihr nicht, Mrs. Brown?« sagte Rob. »Dies wäre doch besser, als daß Ihr's in solcher Weise macht, die weder Euch noch jemand anders von Nutzen ist. Bringt sie mit, wollt Ihr so gut sein?« fügte Rob gegen Alice hinzu, »Gewiß, es hätte mich sehr gefreut, sie wieder zu sehen, wenn das Pferd nicht gewesen wäre!«
Mit dieser Rechtfertigung wandte sich Rob, ein jämmerliches Bild der Verzweiflung, ab und führte sein Tier eine Nebenstraße hinunter. Die Alte, die nach ihrer Tochter hinmurmelte, blieb nicht zurück, und Alice folgte.
Nachdem sie ein ruhiges kleines Square oder einen Hofraum, den ein großer Kirchturm überragte und dessen Geschäftsplätze aus den Magazinen eines Packers und eines Flaschenhändlers bestanden, erreicht hatten, überlieferte Rob, der Schleifer, das weißbeinige Tier einem Stallknecht und lud Mrs. Brown mit ihrer Tochter ein, sich auf einer steinernen Bank neben dem Stalltor niederzulassen. Dann begab er sich nach einem benachbarten Wirtshaus, um einige Augenblicke später mit einer zinnernen Maßkanne und einem Glas wieder zurückzukehren.
»Auf die Gesundheit Eures Gebieters – des Mr. Carker, Kind!« lautete der langsam vorgebrachte Trinkspruch der Alten. »Gott segne ihn.«
»Ei, ich habe Euch ja nicht gesagt, wie er heißt«, bemerkte Rob mit weit aufgesperrten Augen.
»Wir kennen ihn vom Ansehen«, versetzte Mrs. Brown, deren murmelnder Mund und wackelnder Kopf in der Spannung ihrer Aufmerksamkeit unbeweglich wurden. »Wir sahen ihn heute früh vorbeireiten und Euch in seiner Nähe, um ihm das Pferd abzunehmen.«
»Ei, daß dich!« entgegnete Rob, augenscheinlich im geheimen wünschend, daß ihn sein Diensteifer lieber an jeden andern Platz hingeführt hätte. »Was ist denn mit ihr – will sie nicht trinken?«
Diese Frage bezog sich auf Alice, die, in ihren Mantel eingehüllt, ein wenig zur Seite saß, ohne auf das ihr angebotene volle Glas auch nur im mindesten zu achten.
Die Alte schüttelte den Kopf.
»Kehrt Euch nicht an sie«, sagte sie. »Ihr fändet ein sonderbares Geschöpf in ihr, wenn Ihr sie kennen würdet, Rob. Aber Mr. Carker –«
»Bst!« versetzte Rob, der vorsichtig seine Blicke nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers hin schießen ließ, als fürchte er, Mr. Carker könnte aus den Fenstern auf ihn niederschauen. »Still!«
»Ei, er ist ja nicht hier!« rief Mrs. Brown.
»Ich weiß das nicht gewiß«, murmelte Rob und sein unsteter Blick wandelte nach dem Kirchturm hinauf, als könnte er von dort aus, mit einer übernatürlichen Hörgabe versehen, ihn belauschen.
»Ein guter Herr?« fragte Mrs. Brown.
Rob nickte und fügte mit gedämpfter Stimme bei:
»Aber haarscharf.«
»Er wohnt außerhalb der Stadt – nicht wahr, mein Schatz?« sagte die Alte.
»Wenn er zu Hause ist«, versetzte Rob; »aber wir haben jetzt ein anderes Quartier.«
»Wo?« fragte die Alte.
»Eine Mietwohnung – in der Nähe von Mr. Dombeys Haus«, antwortete Rob.
Die jüngere Frauensperson heftete ihre Augen so plötzlich und so spähend auf Rob, daß dieser völlig verwirrt wurde und ihr abermals das Glas anbot, obschon mit nicht größerem Erfolg als früher.
»Mr. Dombey – Ihr wißt. Ihr und ich, wir beide pflegten bisweilen von ihm zu sprechen«, sagte Rob zu Mrs. Brown. »Ihr hattet es gern, wenn ich Euch von ihm erzählte.«
Die Alte nickte.
»Nun, Mr. Dombey hat einen Unfall gehabt und ist vom Pferd gestürzt«, fuhr Rob wider Willen fort. »Mein Herr muß deshalb jetzt mehr als gewöhnlich entweder bei ihm oder bei Mrs. Dombey sein, und so sind wir in die Stadt gekommen.«
»Sind sie gute Freunde, mein Schatz?« fragte die Alte.
»Wer?« entgegnete Rob.
»Er und sie?«
»Wie, Mr. und Mrs. Dombey?« sagte Rob. »Wie könnte ich das wissen?«
»Nicht sie – Euer Herr und Mrs. Dombey, mein Hühnchen«, versetzte die Alte schmeichelnd.
»Ich weiß es nicht«, sagte Rob, sich wieder umschauend. »Ich glaube es. Wie neugierig Ihr seid, Mrs. Brown. Je weniger man davon spricht, desto besser ist es.«
»Ei, was sollte es denn schaden?« rief die Alte, indem sie lachend die Hände zusammenschlug. »Der muntere Rob ist ja ganz zahm geworden, seit es ihm gut geht! Es kann nichts schaden.«
»Ich weiß es wohl«, entgegnete Rob mit demselben mißtrauischen Blicke nach der Kirche sowohl als nach den Magazinen des Packers und des Flaschenhändlers; »aber das Plaudern geht nicht an, wenn's auch nur die Zahl der Knöpfe auf dem Rocke meines Herrn beträfe. Ich sage Euch, bei ihm geht es nicht, und ein junger Bursche täte besser, vorher ins Wasser zu springen. Er sagte dies, und ich würde Euch sicherlich seinen Namen nicht genannt haben, wenn Ihr ihn nicht zuvor gewußt hättet. Sprecht lieber von jemand anders.«
Während Rob sich abermals vorsichtig im Hof umsah, machte die Alte eine geheime Bewegung gegen ihre Tochter. Dies war nur ein Moment, aber die Tochter wandte mit einem leichten Ausdruck des Verständnisses ihre Augen von dem Gesicht des Knaben ab und blieb wieder in ihren Mantel gehüllt sitzen.
»Rob, mein Schätzchen«, sagte die Alte, ihm nach dem andern Ende der Bank zuwinkend, »Ihr seid immer mein Liebling gewesen. War's etwa nicht so – und wißt Ihr es nicht selbst?«
»Ja, Mrs. Brown«, entgegnete der Schleifer nicht in der angenehmsten Stimmung.
»Und Ihr konntet mich verlassen«, sagte die Alte, ihre Arme um seinen Hals schlingend. »Ihr konntet weggehen und groß werden, so daß man Euch kaum mehr kennt – ohne auch nur ein einziges Mal zu Eurer armen alten Freundin zu kommen und ihr zu erzählen, wie glücklich Ihr geworden seid! Stolzer Junge – oho, oho!«
»O, es ist schrecklich für einen armen Burschen, der einen hellwachenden Herrn in der Nachbarschaft hat«, rief der unglückliche Schleifer, »wenn er sich so anheulen lassen muß.«
»Wollt Ihr mich nicht besuchen, Robby?« sagte Mrs. Brown. »Oho, wollt Ihr nie kommen und nach mir sehen?«
»Ja, sage ich Euch! Ja, ich will!« antwortete der Schleifer.
»So ist's recht, Rob, mein Schätzchen!« sagte Mrs. Brown, die Tränen von ihrem welken Gesicht wegwischend und ihm einen empfindsamen Händedruck gebend. »Am alten Platze, Rob?«
»Ja«, versetzte der Schleifer.
»Bald, mein lieber Robby«, rief Mrs. Brown, »und oft?«
»Ja. Ja«, entgegnete Rob. »Ich verspreche es Euch auf Seele und Leib.«
»Und dann«, sagte Mr«. Brown, ihren Arm zum Himmel erhebend und den wackelnden Kopf zurückwerfend, »wenn er Wort hält, will ich nie in seine Nähe kommen, obschon ich weiß, wo er ist, und nie eine Silbe über ihn verlauten lassen. Nie!«
Dieser Ausruf schien wie ein Tröpflein Trostes auf den unglücklichen Schleifer zu wirken. Er gab Mrs. Brown die Hand und bat sie flehentlich und mit Tränen in den Augen, sie möchte einen jungen Burschen gehen lassen und nicht seine Aussichten zerstören. Mrs. Brown sagte dies unter einer abermaligen zärtlichen Umarmung zu; aber als sie schon im Begriff war, ihrer Tochter zu folgen, wandte sie sich mit verstohlen aufgerichtetem Finger noch einmal um und bat ihn mit heiserem Flüstern um etwas Geld.
»Einen Schilling, mein Schatz«, sagte sie mit gierigem Gesicht, »oder sechs Pence! Um alter Bekanntschaft willen. Ich bin so arm. Und mein schönes Mädel, Rob«, – sie blickte über ihre Achseln zurück – »sie ist mein Mädel, Rob – nagt mit mir am Hungertuche.«
Während der Schleifer mit Widerstreben ihrer Forderung entsprach, kehrte die Tochter ruhig zurück, ergriff die Hand ihrer Mutter und entrang ihr die Münze.
»Wie, Mutter!« sagte sie. »Immer Geld – Geld vom Anfang an bis zuletzt? Denkt Ihr so wenig an das, was ich Euch vor kurzem erst gesagt habe. Hier. Nehmt es wieder.«
Die Alte stieß bei der Zurückerstattung des Geldes ein tiefes Stöhnen aus, ohne jedoch einen andern Widerstand zu versuchen, und folgte humpelnd ihrer Tochter nach der Nebenstraße, die von dem Hof abführte. Der erstaunte und entsetzte Rob, der ihnen mit weit aufgesperrten Augen nachglotzte, sah, daß sie bald nachher haltmachten und sich sehr angelegentlich miteinander besprachen, dabei bemerkte er mehr als einmal eine wild drohende Gebärde der jüngeren Frauensperson (augenscheinlich hatte sie Beziehung auf eine Person, von der sie redete) und eine ärmliche Nachahmung derselben von seiten der Mrs. Brown, eine Wahrnehmung, die ihm die ernstliche Hoffnung einflößte, daß nicht er der Gegenstand ihres Gespräches sein möchte.
Mit dem vorläufigen Trost, daß sie fort seien, und der Aussicht, Mrs. Brown könne nicht ewig leben und werde ihn wahrscheinlich nicht mehr lange belästigen, suchte der Schleifer, der seine schlimmen Streiche nur dann bereute, wenn sie für ihn von derartigen schlimmen Folgen begleitet waren, die Bestürzung seines Gesichtes in einen heiteren Ausdruck umzuwandeln, indem er an die bewunderungswürdige Weise dachte, mit der er Kapitän Cuttle abgefertigt hatte – eine Erinnerung, die selten verfehlte, seinen Geist wieder in Schwung zu bringen. Dann begab er sich nach Dombeys Kontor, um die Befehle seines Gebieters einzuholen. Dort empfing ihn das Auge seines Gebieters so schlau und wachsam, daß er davor zurückbebte, weil er mehr als halbwegs erwartete, es werde ihm seine Besprechung mit Mrs. Brown vorgehalten werden. Mr. Carker übergab ihm die gewöhnliche Briefkapsel für Mr. Dombey und ein Billett an Mrs. Dombey, wobei er als Einschärfung pünktlicher und schneller Besorgung nur mit dem Kopf nickte. Diese geheimnisvolle Ermahnung schloß, wie der Schleifer sich einbildete, die unheimlichsten Warnungen und Drohungen in sich und wirkte mächtiger auf ihn, als es alle Worte imstande gewesen wären. Mr. Carker ging in seinem Zimmer wieder allein ans Geschäft und arbeitete den ganzen Tag. Er ließ viele Besuche vor, überblickte eine Menge von Dokumenten, begab sich nach verschiedenen Handelsplätzen und ließ keine Zerstreutheit aufkommen, bis die Aufgabe des Tages beendigt war. Sobald er jedoch seinen Tisch in der gewohnten Weise von den Papieren gesäubert hatte, versank er wieder in seine gedankenvolle Stimmung.
Er stand in der gewöhnlichen Haltung an seinem alten Platz, die Augen auf den Boden geheftet, als sein Bruder eintrat, um einige Briefe zurückzubringen, die im Laufe des Tages ausgetragen worden waren. Er legte sie ruhig auf den Tisch und wollte sich sogleich wieder entfernen; aber Mr. Carker, der Geschäftsführer, dessen Augen bei seinem Eintritt auf ihm ruhten, als hätten sie stets ihn und nicht den Zimmerboden zum Gegenstand ihrer Betrachtung gehabt, redete ihn an:
»Nun, John Carker, was bringt Ihr da?«
Sein Bruder deutete auf die Papiere und wollte wieder gehen.
»Es wundert mich«, sagte der Geschäftsführer, »daß Ihr kommen und gehen könnt, ohne zu fragen, wie sich Euer Herr befindet.«
»Es ist heute morgen im Kontor gemeldet worden, daß es mit Mr. Dombey gut gehe«, versetzte sein Bruder.
»Ihr seid ein so zahmer Bursche«, bemerkte der Geschäftsführer mit einem Lächeln, – »oder seid es doch im Lauf der Jahre geworden, – daß ich darauf schwören will. Ihr würdet Euch unglücklich fühlen, wenn ihm etwas Schlimmes zustieße.«
»Es würde mir in der Tat sehr leid tun, James«, entgegnete der andere.
»Es würde ihm leid tun!« sagte der Geschäftsführer, nach ihm hindeutend, als ob eine andere Person zugegen sei, an die er sich berufe, »Es würde ihm in der Tat leid tun! Dieser Bruder von mir! Der Junior des Platzes, dieses verachtete Stück Gerümpel, beiseite geschoben mit dem Gesicht gegen die Wand gleich einem verschimmelten Gemälde, und so gelassen, der Himmel weiß, wie viele Jahre; er möchte mich glauben machen, daß er voll Dankbarkeit, Achtung und Anhänglichkeit sei!«
»Ich will Euch nichts glauben machen, James«, erwiderte der andere. »Seid gegen mich so gerecht, wie Ihr es gegen jeden andern sein würdet, der unter Euch steht. Ihr fragt mich, und ich antworte.«
»Und du hast dich über nichts gegen ihn zu beschweren, hündische Seele?« sagte der Geschäftsführer mit ungewöhnlicher Gereiztheit. »Keine stolze Behandlung, keine Unverschämtheit, keine Anmaßung irgendeiner Art zu ahnden? Was zum Teufel – bist du ein Mensch oder eine Maus?«
»Es müßte wunderlich zugehen, wenn zwei Personen, namentlich in der Stellung des Vorgesetzten und des Untergeordneten, so viele Jahre beisammen sein könnten, ohne daß sie gegenseitig an sich etwas auszusetzen fänden – jedenfalls in Gedanken«, versetzte John Carker. »Aber abgesehen von meiner Geschichte hier – –«
»Seine Geschichte hier!« rief der Geschäftsführer, »Ja, da liegt's. Sogar der Umstand, der ihn zu einem äußersten Fall macht, wirft ihn aus dem ganzen Kapitel! Nun?«
»Abgesehen davon, liegt in ihr, wie Ihr andeutet, für mich (zum Glück für alle übrigen) ein ausschließlicher Grund zum Dank, und es ist gewiß niemand im Hause, der nicht teilnehmend mitfühlen würde, wenn dem Prinzipal ein Unglück zustößt. Ihr glaubt doch nicht, daß in einem solchem Falle irgend jemand hier gleichgültig bleiben könnte?«
»Ja, Ihr habt guten Grund, an ihn gefesselt zu sein!« sagte der Geschäftsführer verächtlich. »Seht Ihr denn nicht ein, daß man Euch nur hier behält als ein wohlfeiles, glänzendes Beispiel der Milde von Dombey und Sohn, das die Ehre des erlauchten Hauses ausposaunen soll?«
»Nein«, versetzte sein Bruder mild. »Ich habe stets geglaubt, daß ich aus wohlwollenderen, uneigennützigeren Gründen hierbehalten wurde.«
»Wie ich bemerkte«, sagte der Geschäftsführer mit dem Pfauchen einer Tigerkatze, »wart Ihr im Zuge, irgendeinen christlichen Spruch vorzubringen.«
»Nein, James«, entgegnete der andere; »aber obschon das brüderliche Band längst zwischen uns zerbrochen und abgelöst ist –«
»Wer zerbrach es, mein guter Sir?« fragte der Geschäftsführer.
»Ich, durch mein schlechtes Benehmen. Euch mache ich daher keinen Vorwurf.«
Der Geschäftsführer erwiderte mit derselben stummen Tätigkeit seines wohlbewehrten Mundes, »o, Ihr macht mir keinen Vorwurf!« und hieß ihn weiter sprechen.
»Ich sage, obgleich kein solches Band mehr zwischen uns besteht, so bitte ich Euch doch flehentlich, mich nicht mit unnötigem Hohn anzugreifen, oder das, was ich spreche oder sprechen will, falsch zu deuten. Ich wollte nur bemerken, daß Ihr im Irrtum seid, wenn Ihr glaubt, bloß Ihr nähmet Rücksicht auf sein Wohl und seinen Ruf, weil Ihr um Eurer Treue willen vor allen andern so hoch in Mr. Dombeys Vertrauen steht, mit ihm fast auf dem Fuße der Gleichheit umgeht und von ihm bereichert worden seid. Ja, ich glaube aufrichtig, daß von Euch herab bis zum Niedrigsten niemand sich im Haus befindet, der nicht warme Teilnahme fühlt für das Wohlergehen des Prinzipals.«
»Ihr lügt!« rief der Geschäftsführer, den eine plötzliche Zornglut überflog. »Ihr seid ein Heuchler, John Carter, und lügt!«
»James!« entgegnete der andere, gleichfalls tief errötend. »Wie muß ich diese beschimpfenden Worte nehmen? Warum behandelt Ihr mich in so schnöder Weise, ohne daß ich Euch Anlaß dazu gab?«
»Ich will Euch nur sagen«, erwiderte der Geschäftsführer, »daß mir Eure Heuchelei und Demut – alle Heuchelei und Demut an diesem Platze nicht so viel gilt«, er schnippte dabei mit den Fingern. »Ich durchschaue sie, als ob sie Luft wäre! Es ist niemand zwischen mir und dem Geringsten an diesem Platze (Ihr habt guten Grund, Euch um den letzteren so anzunehmen, da er nicht fern ist), den es nicht von Herzen freuen würde, seinen Herrn gedemütigt zu sehen – der ihn nicht im geheimen haßte – der ihm nicht lieber Schlimmes als Gutes wünschte – und der ihm nicht zuwiderhandelte, wenn er die Macht und den Mut dazu hätte. Je näher seiner Gunst, desto näher seiner Unverschämtheit – je näher an ihm, desto weiter von ihm ab. Das ist hier das Glaubensbekenntnis.«
»Ich weiß nicht«, versetzte sein Bruder, dessen Unwille bald der Überraschung gewichen war, »wer Euch mit solchen Darstellungen behelligt haben mag, oder warum Ihr gerade mich und nicht lieber einen andern wählen mußtet, um ihre Wirkung zu versuchen. So viel sehe ich ein, daß Ihr mich auf die Probe stellen wolltet. Euer Wesen und Aussehen ist ganz anders, als ich es je an Euch bemerkte. Indes muß ich Euch noch einmal sagen, daß Ihr getäuscht seid.«
»Das weiß ich«, entgegnete der Geschäftsführer, »und habe es Euch gesagt.«
»Nicht durch mich«, erwiderte sein Bruder – »durch Euren Angeber, wenn ein solcher vorhanden ist, – wo nicht, durch Eure Gedanken und durch Euren Argwohn.«
»Ich habe keinen Argwohn«, sagte der Geschäftsführer, »sondern Gewißheit. Ihr hasenherzigen, verächtlichen, kriechenden Hunde! Alle stellen sich in der gleichen Weise an, alle leiern das nämliche Lied, alle winseln dieselben Beteuerungen her, und alle bergen das nämliche durchsichtige Geheimnis in ihrem Innern.«
Sein Bruder entfernte sich, ohne weiter zu sprechen, und drückte die Tür hinter sich zu. Mr. Carker, der Geschäftsführer, brachte einen Stuhl dicht vor das Feuer und fing an, mit dem Schüreisen sanft auf die Kohlen loszuschlagen.
»Die feigen, wedelnden Schufte«, murmelte et, und seine beiden glänzenden Zahnreihen entblößten sich. »Es ist keiner unter ihnen, der nicht dergleichen täte, als fühle er sich ebenso erschüttert und beleidigt! Pah! Und doch würde jeder, wenn er einmal die Macht, den Verstand und den Mut dazu hätte, Dombeys Stolz so schonungslos in den Staub legen, wie ich hier diese Asche auseinander breite.«
Er fuhr mit einem gedankenvollen Lächeln in diesem Geschäft fort.
»Noch dazu, ohne daß ihm dieselbe Königin winkte!« fügte er plötzlich hinzu: »und wohlgemerkt, es ist Stolz da, wie wir aus eigener Erfahrung wissen!«
Er versank in ein noch tieferes Brüten und blieb vor dem Kamin sitzen, bis die Funken nahezu erstorben waren; dann stand er gleich einem Manne auf, der sich in ein Buch vertieft hat, schaute umher, nahm Hut und Handschuhe auf, begab sich nach dem Platz, wo sein Pferd wartete, bestieg dasselbe und ritt in den nächsten Straßen weiter; denn es war Abend.
Er ritt in die Nähe von Mr. Dombeys Haus, wo er sein Tier im Schritt gehen ließ und nach den Fenstern hinaufschaute. Das Fenster, wo er vordem Florence mit ihrem Hund hatte sitzen sehen, fesselte zuerst seine Aufmerksamkeit, obschon es nicht erhellt war; dann ließ er seine Blicke lächelnd an der hohen Vorderseite des Hauses hingleiten, als sei er längst weg über den früheren Gegenstand.
»Es gab eine Zeit«, sagte er, »in der es sich schon der Mühe verlohnte, sogar über deinem aufgehenden kleinen Stern zu wachen und sich nach der Richtung der Wolken umzusehen, um dich im Notfall damit zu beschatten. Aber ein Planet ist aufgestiegen, und in seinem Licht verschwindet das deine.«
Er lenkte das weißbeinige Pferd um die Straßenecke und suchte an der Hinterseite des Hauses ein anderes Fenster auf, das erhellt war. Es knüpfte sich daran die Erinnerung an eine gewisse stattliche Person, an eine mit dem Handschuh bedeckte Hand, an die Schwungfedern eines schönen Vogels, die auf dem Boden umhergestreut worden, und an das Beben des leichten, weißen Schwanenflaums, als ahne derselbe einen fernen Sturm. Mit solchen Vorstellungen erfüllt, wandte er sich wieder ab und ritt raschen Trabs durch die dunkler werdenden verlassenen Parke.
Verhängnisvolle Wahrheit, – seine Gedanken galten einer Frau, einer stolzen Frau, die ihn haßte, die aber durch seine Schlauheit und durch ihren eigenen gekränkten Stolz langsam und sicher dazu verleitet worden war, seine Gesellschaft zu dulden und ihn mehr und mehr als einen Mann zu empfangen, der das Vorrecht hatte, mit ihr von ihrer trotzigen Mißachtung des Gatten und ihrer Rücksichtslosigkeit für sich selbst zu sprechen. Sie galten einer Frau, die ihn aus tiefster Seele haßte, – die ihn kannte und Mißtrauen in ihn setzte, weil sie ihn und er sie kannte, aber gleichwohl durch ihre wilde Rachsucht sich bewegen ließ, zu gestatten, daß er ihr mit jedem Tage näher kam, ungeachtet des Hasses, den sie gegen ihn hegte.
Ungeachtet desselben? Nein, gerade deswegen; denn auf dem Grunde – zu weit unten, als daß ihr drohendes Auge es hätte erfassen können, obschon sie es in unbestimmten Zügen sah – lag die düstere Vergeltung, deren leisester Schatten – einmal und nie wieder unter Schaudern bemerkt – zugereicht haben würde, ihre Seele zu beflecken.
Umspukte ihn das Phantom eines solchen Weibes auf seinem Wege – der Wirklichkeit getreu und von ihm erkannt?
Ja. Er sah sie in seinem Geiste gerade so, wie sie war. Sie leistete ihm Gesellschaft mit ihrem Stolz, ihrer Rachsucht und ihrem Haß, alles ihm so deutlich wie ihre Schönheit, aber nichts deutlicher als ihr Haß gegen ihn. Er sah sie bisweilen stolz und abstoßend an seiner Seite, bisweilen aber unter den Hufen seines Pferdes, gefallen und im Staube. Doch stets sah er sie, wie sie war, ohne Maske, und bewachte sie auf dem gefährlichen Wege, den sie ging.
Nachdem er seinen Ritt beendigt und sich umgekleidet hatte, kam er mit gesenktem Haupte, weicher Stimme und beschwichtigendem Lächeln in das Licht ihres prächtigen Zimmers. Auch jetzt sah er sie noch ebenso deutlich. Er argwöhnte sogar das Geheimnis der Hand in dem Handschuh, und hielt sie um dieses Verdachtes willen nur um so länger in der seinen. Auf dem gefährlichen Pfade, den sie ging, war auch er, und sie ließ keine Spur ihres Fußes zurück, ohne daß er sogleich seinen eigenen darauf setzte.
Siebenundvierzigstes Kapitel. DER DONNERSCHLAG
Die Schranke zwischen Mr. Dombey und seiner Gattin wurde durch die Zeit nicht geringer. Unglücklich in ihrem Innern und durch einander, durch kein Band zusammengeknüpft, als durch die Kette, die gegenseitig ihre Hände fesselte, und an der sie so mächtig zerrten, daß sie bis auf den Knochen schnitt, war die Zeit, diese Trösterin im Leid, diese Beschwichtigerin der Leidenschaft, außerstande, dem schlecht zusammenpassenden Paare zu helfen. Ihr Stolz, wie verschieden er auch der Art und dem Gegenstand nach war, blieb stets in der gleichen Höhe, so daß in dem gegenseitigen kieselharten Zusammenprallen Funken aufflogen, die je nach den Umständen still fortglosteten oder in helle Lohe ausbrachen, stets aber alles in ihrem wechselseitigen Bereich niederbrannten und den Weg ihrer Ehe zu einem Aschenpfad machten.
Laßt uns gerecht gegen ihn sein. In der ungeheuerlichen Verblendung seines Lebens, die sich mit jedem Sandkorn im Stundenglase steigerte, drängte er sie vorwärts, ohne daß er sich einfallen ließ, wohin, oder auf die dazu gewählten Mittel Rücksicht nahm; aber dennoch blieb sein Gefühl gegen sie stets das gleiche wie im Anfang. Es haftete an ihr die große Verschuldung, der Anerkennung seines gewaltigen Einflusses und ihrer völligen Unterwerfung unter denselben einen unerklärlichen Widerspruch entgegenzusetzen, und insoweit war es nötig, sie zu bessern und zur Besinnung zu bringen; aber anderseits sah er in seiner kalten Weise in ihr noch immer eine Dame, die, wenn sie wollte, imstande war, seiner Wahl und seinem Namen Ehre zu machen, so daß er sich auf ihren Besitz etwas zugute tun konnte.
Sie dagegen richtete von jener Nacht an, als sie die Schatten an der Wand betrachtend dasaß, bis zu der schnell kommenden tieferen Nacht, mit der ganzen Stärke leidenschaftlichen, stolzen Rachegefühls täglich und stündlich ihren düsteren Blick auf eine einzige Gestalt, die mit Demütigungen aller Art darauf antwortete, und diese Gestalt war die ihres Gatten.
Kann man wohl den Hauptmangel, der so unerbittlich Mr. Dombey beherrschte, einen unnatürlichen Charakterzug nennen? Es dürfte bisweilen der Mühe wert sein, zu fragen, was die Natur ist, wie die Menschen arbeiten, um sie umzuwandeln, und ob bei den hierdurch veranlaßten Verzerrungen das Unnatürlichsein nicht als natürlich erscheint. Man bringe was immer für einen Sohn oder Tochter unserer mächtigen Mutter in eine enge Sphäre, knüpfe sie fest an eine einzige Idee, die man durch kriechende Unterwerfung von seiten der kleinen, schüchternen oder arglistigen Umgebung nährt, und was wird die Natur sein für den freiwilligen Gefangenen, der sich nie mit den Fittichen eines freien Geistes aufgeschwungen hat? Sicher vermag er bald nicht mehr, sie im Lichte ihrer umfassenden Wahrheit zu erkennen!
Ach, gibt es denn so wenige Dinge in unserer nächsten Umgebung, die ganz natürlich höchst unnatürlich sind? Höre man die Ermahnungen der Richter und Magistratspersonen an die unnatürlichen Auswürflinge der Gesellschaft – unnatürlich in ihren tierischen Gewohnheiten, unnatürlich in ihrem Mangel an Anstand, unnatürlich in dem Mangel an Erkenntnis des Guten und Bösen, unnatürlich in Unwissenheit, Laster, Leichtsinn, Schande, Geist, Miene und allem. Folge man nur dem wackeren Geistlichen oder Arzt, der, mit jedem Atemzug sein Leben gefährdend, in ihre Höhlen geht, in denen man den Widerhall von dem Rasseln unserer Prachtwagen und den täglichen Tritt der Menschen auf dem Straßenpflaster hört. Seht Euch um in der Welt voll häßlicher Anblicke – Millionen unsterblicher Wesen haben auf Erden keine andere Welt –, bei deren leisester Erwähnung schon die Menschheit sich empört und die ekle Verfeinerung in der nächsten Straße sich die Ohren verstopft; seht Euch um in ihr und sprecht: »Ich glaube es nicht.« Atmet die befleckte Luft, angefüllt mit jeder Unreinigkeit, die die Gesundheit und das Leben vergiftet; denkt Euch jeden Sinn, der unserem Geschlecht zum Glück und zur Freude geschenkt wurde, aufs abscheulichste beleidigt und zu einem Kanal umgewandelt, durch den nur Elend und Tod eintreten kann. Macht den vergeblichen Versuch, Euch eine einfache Pflanze, eine Blume oder ein gesundes Gewächs zu denken, die, in ein so häßliches Beet versetzt, ihren natürlichen Wuchs haben oder ihre Blätter der Sonne zuwenden könnten, wie es Gott beabsichtigt hat. Und dann ruft irgendein leichenhaft aussehendes Kind mit verkümmerter Gestalt und boshaftem Gesicht auf, haltet ihm seine unnatürliche Sündigkeit vor und beklagt, daß es in seiner frühen Jugend schon so weit abgekommen ist vom Himmel – denkt aber auch ein wenig daran, daß es in einer Hölle gezeugt, geboren und erzogen wurde.
Diejenigen, die die physikalischen Wissenschaften in ihrem Verhältnis zur Gesundheit des Menschen zu erforschen bemüht sind, sagen uns, wenn die schädlichen Teilchen, die aus einer verdorbenen Luft aufsteigen, dem Gesicht erkennbar wären, so würden wir sie über solchen Schlupfwinkeln in dichten schwarzen Wolken schweben sehen, die langsam weiterrollen, um auch die besseren Teile der Stadt in ihr Bereich zu ziehen. Aber wenn die moralische Pest, die sich mit ihnen hebt und nach den ewigen Gesetzen der beleidigten Natur von ihnen unzertrennlich ist, gleichfalls dem Auge zugänglich wäre, welche Schrecken müßten sich da nicht offenbaren? Wir würden sittliche Verderbnis, Gottlosigkeit, Trunksucht, Diebstahl, Mord und eine lange Reihe namenloser, gegen die Statur verstoßender Sünden über den unglücklichen Plätzen hängen und sich weiterverbreiten sehen, um die Unschuldigen in ihre feindselige Atmosphäre zu ziehen und auch unter die Reinen Ansteckung zu bringen. Wir würden sehen, wie dieselben vergifteten Quellen, die in unsern Spitälern und Lazaretten springen, die Gefängnisse unter Wasser setzen, die Deportationsschiffe fast zum Versinken bringen, ihre Wellen über die Meere hin entsenden und ungeheure Kontinente mit Verbrechen überfluten. Mit Entsetzen würden wir erfahren, daß wir, wo wir Krankheiten aufkommen lassen, die unsere Kinder wegraffen und sich sogar an ungeborene Geschlechter anheften, durch denselben Prozeß auch eine Kindheit heranziehen, die keine Unschuld kennt, eine Jugend ohne Bescheidenheit oder Scham, eine Reife, die in nichts reif ist als in Leiden und Schuld, und ein hohes Alter, das zur Schmähschrift wird auf die Gestalt, die wir tragen. Eine unnatürliche Menschheit! Wenn wir Trauben sammeln von Dornen und Feigen von den Disteln – wenn der Kehricht an den Straßen unserer verderbten Städte sich zu Getreidefeldern umwandelt und in den von Elend gemästeten Kirchhöfen Rosen aufblühen, dann mögen wir uns auch nach einer natürlichen Menschheit umsehen und ihr Gedeihen nach solch einer Saat erwarten.
O daß doch ein guter Geist mit mächtigerer und wohlwollenderer Hand als der lahme Dämon im Märchen, die Hausgiebel abnehmen und einem christlichen Volke zeigen könnte, welch schwarze Gestalten von solchen Herden aufsteigen, um das Gefolge des langsam weiterschreitenden Zerstörungsengels anzuschwellen! Könnten wir nur eine einzige Nacht die blassen Gespenster der Szenen sehen, die von uns zu lang vernachlässigt wurden, um dann mit der dicken, schweren Luft, in welcher Verbrechen und Fieber sich fortpflanzen, der schrecklichen Wiedervergeltung Einhalt zu tun, die stets von solchen Plätzen ausströmt und immer qualmender herankommt! Wie heiter und gesegnet müßte der Morgen nach einer solchen Nacht sein; denn die Menschen – nicht mehr durch selbstgeschaffene Hemmnisse aufgehalten, die nur Staubflecken sind auf dem Pfade zwischen ihnen und der Ewigkeit – würden als Geschöpfe einer gemeinsamen Abkunft, die dem Vater einer einzigen Familie dieselbe Pflicht schulden und nach dem gleichen gemeinsamen Ziele ringen, sich dann bemühen, die Welt zu einem besseren Aufenthalt zu machen!
Nicht weniger heiter und gesegnet würde der Tag sein, weil er in einigen, die nie hinausgeblickt haben auf die sie umgebende Welt von Menschenleben, das Bewußtsein ihrer eigenen Beziehung zu ihr weckte und sie in ihren engherzigen Sympathien und Ansichten eine Verkehrtheit der Natur erkennen ließe, die ebenso groß und, wenn ihre Entwicklung einmal angefangen hat, in ihrem Fortschreiten ebenso natürlich ist wie ihre niedrigste Abstufung.
Aber für Mr. Dombey oder seine Gattin, und für den Pfad, den jeder von ihnen eingeschlagen hatte, war nie ein solcher Tag aufgedämmert. Sechs Monate lang nach Mr. Dombeys Sturz mit seinem Pferde blieben sie stets in dem gleichen gegenseitigen Verhältnis. Ein Marmorfels hätte ihm nicht starrer im Wege liegen können als sie, während er so eisig kalt blieb wie die Quelle, die, nie von einem Lichtstrahle erheitert, in den Tiefen einer tiefen Höhle sprudelt.
Die Hoffnung, die in Florence sich regte, als ihr die Aussicht auf eine neue Heimat dämmerte, war jetzt ganz aus ihrer Seele gewichen. Diese Heimat war jetzt beinahe zwei Jahre alt, und sogar ihr geduldiges Vertrauen konnte nicht standhalten gegen den täglichen Mehltau einer solchen Erfahrung. Wenn sie auch im geheimen noch einem leisen Gedanken Raum gab, Edith und ihr Vater könnten vielleicht in einer fernen Zeit miteinander glücklich leben, so war jetzt jeder Funke von Hoffnung erstorben, daß ihr Vater je sie selbst lieben würde. Der kleine Zeitraum, in dem sie sich vorgestellt hatte, er sei etwas milder gegen sie geworden, geriet durch den Hinblick auf seine Kälte vor- und nachher in Vergessenheit, oder erschien ihr nur noch in dem Lichte einer schmerzlichen Selbsttäuschung.
Florence liebte ihn noch, war aber dabei allmählich so weit gekommen, daß sie sich bei ihrem Lieben nicht in der kalten Wirklichkeit, die vor ihren Augen stand, sondern als etwas vorstellte, was der Vergangenheit angehörte oder doch hätte gewesen sein können. Etwas von der milden Trauer, mit der sie das Andenken an den kleinen Paul oder an ihre Mutter liebte, schien sich in ihre Gedanken an ihn zu mischen und sie sozusagen zu einer teuren Erinnerung zu machen. Lag der Grund darin, daß er für sie tot war, oder teilweise in seiner Beziehung zu früheren Gegenständen ihrer Liebe und in dem Rückblick auf die lang genährten zärtlichen Hoffnungen, die durch ihn vernichtet worden waren? – Sie wußte es nicht; aber der Vater, den sie liebte, begann für sie eine unbestimmte träumerische Idee zu werden, die kaum wesenhafter mit ihrem wirklichen Leben verkettet war als das Bild, das sie sich bisweilen von ihrem Bruder heraufbeschwor, indem sie sich dachte, er sei noch am Leben, wachse zu einem Manne heran und werde sie liebevoll beschützen.
Dieser Wechsel, wenn man ihn so nennen kann, hatte sie beschlichen, wie der Übergang vom Kind zur Jungfrau, in dessen Gefolge er gekommen. Florence war fast siebzehn, als sie bei ihrem einsamen Grübeln sich dieser Gedanken bewußt wurde.
Sie war jetzt allein, denn auch in ihrem Verhältnis zu ihrer Mama war vieles anders geworden. Nach dem Unfall ihres Vaters, als dieser in seinem Zimmer unten lag, bemerkte Florence zum erstenmal, daß Edith ihr auswich. Verletzt und erschüttert, aber doch nicht imstande, diese Gefühle mit ihrer Liebe in Einklang zu bringen, suchte sie eines Abends wieder einmal ihre Mutter in ihrem Zimmer auf.
»Mama«, sagte Florence, leise an ihre Seite tretend, »habe ich Euch etwas zuleide getan?«
»Nein«, lautete Ediths Antwort.
»Und doch muß ich etwas Unrechtes begangen haben«, entgegnete Florence. »Sagt mir, worin es besteht. Ihr seid so ganz anders gegen mich geworden, liebe Mama. Ich kann Euch nicht beschreiben, wie schnell ich auch nur den mindesten Wechsel fühle, denn ich liebe Euch aus ganzer Seele.«
»Und ich dich auch«, sagte Edith. »Ach, Florence, glaube mir, ich liebte dich nie mehr als gerade jetzt!«
»Warum weicht Ihr mir so oft aus und haltet Euch fern von mir?« fragte Florence. »Und warum seht Ihr mich bisweilen so seltsam an, liebe Mama? Ihr wißt doch selbst, daß Ihr es tut?«
Edith deutete mit ihren dunkeln Augen eine Bejahung an.
»Warum«, entgegnete Florence bittend – »ach, sagt mir, warum, damit ich weiß, wie ich's anfangen muß, um Euch besser zu gefallen. Sagt es mir, und ich werde gewiß allen weiteren Anlaß vermeiden.«
»Meine Florence«, versetzte Edith, indem sie die Hand ergriff, die ihren Nacken umschlungen hielt, und in die so liebevoll zu ihr aufschauenden Augen blickte, während Florence vor ihr auf dem Boden kniete, »warum es so ist, kann ich dir nicht sagen, da es nicht für deine Ohren paßt. Genug, daß ich weiß, es muß so sein. Glaubst du, ich würde es tun, wenn es nicht der Fall wäre?«
»Sollen denn wir einander fremd werden, Mama?« fragte Florence, erschrocken zu ihr aufblickend.
Ediths stumme Lippen bildeten ein »Ja«.
Florence blickte sie mit zunehmender Furcht und Verwunderung an, bis sie unter den sie blendenden Tränen, die auf ihre Wangen niederfielen, nichts mehr sehen konnte.
»Florence! mein Leben!« sagte Edith hastig, »höre mich an. Ich kann es nicht ertragen, dich so bekümmert zu sehen. Beruhige dich. Du siehst, ich bin gefaßt – und meinst du, die Aufgabe werde mir so leicht?«
Bei den letzteren Worten nahm sie ihre gewöhnliche Festigkeit in Ton und Wesen wieder an und fügte dann hastig hinzu:
»Nicht ganz fremd, Nur teilweise – und auch dies nur zum Schein, Florence, denn in meinem Innern bin ich noch immer dieselbe gegen dich und werde es stets sein. Was ich tue, geschieht nicht um meinetwillen.«
»Etwa um meinetwillen, Mama?« fragte Florence.
»Es ist genug, zu wissen, daß es so ist«, antwortete Edith nach einer Pause. »An dem Warum liegt nicht viel. Liebe Florence, es ist besser – es ist notwendig, daß wir weniger häufig miteinander verkehren. Die Vertraulichkeit, die zwischen uns stattgefunden hat, muß abgebrochen werden.«
»Wann?« rief Florence. »O, Mama, wann?«
»Jetzt«, versetzte Edith.
»Für alle künftige Zeit?« fragte Florence.
»Ich will das nicht sagen«, antwortete Edith, »weiß es aber selbst noch nicht. Ebensowenig will ich behaupten, daß eine Freundschaft zwischen uns im besten Falle nur eine unpassende, unheilige Verbindung sei, von der ich hätte vorauswissen können, daß sie zu nichts Gutem führe. Mein Weg hier ging auf Pfaden, die du nie betreten wirst, und welches Ende ihm bevorsteht – Gott weiß es –, mir ist es noch dunkel –.«
Ihre Stimme erstarb in einem Schweigen, und wie sie so dasaß, schauderte sie fast vor Florence zurück, während sie ihr den nämlichen seltsamen, scheuen Blick zuwarf, den das Mädchen schon früher an ihr bemerkt hatte. Dann stürmte derselbe düstere Stolz und Zorn über ihre Züge hin, gleich einer zürnenden Hand über die Saiten einer wild ertönenden Harfe. Keine Weichheit, keine Milde folgte darauf. Sie senkte jetzt nicht weinend ihr Haupt und sagte, daß sie keine Hoffnung habe als in Florence, sondern hielt es aufrecht wie eine schöne Meduse, als wolle sie ihn Angesicht gegen Angesicht in Stein verwandeln. Ja, und sie würde es getan haben, wenn sie diesen Zauber besessen hätte.
»Mama«, sagte Florence ängstlich, »es ist eine Veränderung in Euch vorgegangen, größer, als Ihr mir sagt, und ich erschrecke darüber. Laßt mich ein wenig bei Euch bleiben.«
»Nein«, entgegnete Edith, »nein, meine Liebe. Es ist am besten, wenn ich jetzt allein bleibe – auch am besten für dich, wenn namentlich du dich fern von mir hältst. Stelle keine Fragen an mich und glaube nur, – wenn ich, was auch kommen mag, wankelmütig und launenhaft gegen dich erscheine, so geschieht dies nicht mit Absicht und gegen meinen Willen. Obgleich wir jetzt fremder gegeneinander sein müssen, als wir waren, so vertraue darauf, daß mein Inneres gegen dich unverändert ist. Vergib mir, daß ich je deine freudelose Heimat getrübt habe – ich weiß es wohl, ich bin ein Schatten darauf – und laß uns nie wieder davon sprechen.«
»Mama«, schluchzte Florence, »wir sollen uns doch nicht trennen?«
»Damit dies nicht geschehe, müssen wir so handeln«, sagte Edith. »Frage nicht weiter. Geh' jetzt, Florence! Meine Liebe und mein Schmerz begleiten dich.«
Sie entließ Florence mit einer Umarmung und sah der sich Entfernenden mit einem Blick nach, als weiche in der lieblichen Gestalt ihr guter Engel von ihr, um sie den stolzen, zürnenden Leidenschaften zu überlassen, die sich ihrer bemächtigt und ihr Siegel auf ihre Stirne gedrückt hatten.
Von dieser Stunde waren Florence und Edith einander nie mehr, was sie sich gewesen. Es vergingen Tage, ohne daß sie anders als bei Tisch und in Mr. Dombeys Gegenwart zusammentrafen. Edith saß dann gebieterisch, stumm und unbeugsam da, ohne nur nach ihr hinzusehen.
Nahm Mr. Carker an dem Mahl teil, was im Laufe von Mr. Dombeys Genesung und nachher oft geschah, so benahm sie sich sogar noch abgemessener gegen das arme Mädchen als zu anderen Zeiten. Trafen sie sich aber allein, so schlang sie Florence ebenso liebevoll in ihre Arme wie vordem, obschon nicht mit demselben Milderwerden ihres stolzen Aussehens, und oft, wenn sie spät nach Hause gekommen war, konnte sie wie früher im Dunkeln sich nach ihrem Zimmer hinaufstehlen, um über ihrem Pfühl ein »gute Nacht« zu flüstern. Florence, die in ihrem Schlummer nichts von solchen Besuchen ahnte, erwachte bei diesen leisen Worten zuweilen wie aus einem Traum, und es war ihr, als fühle sie ihr Gesicht von Lippen berührt. Doch kam dies im Laufe der Monate weniger und weniger häufig vor.
Und nun begann die Leere in Florences Herzen abermals eine Öde um sie her zu breiten. Wie das Bild ihres Vaters, den sie liebte, unbewußt zu einem bloßen Gedanken geworden war, so verblich auch Edith, das Schicksal aller übrigen teilend, an die sich ihre Liebe gekettet hatte, mit jedem Tage mehr in der Entfernung. Ganz allmählich wich sie von Florence zurück, gleich dem entschwindenden Geiste dessen, was sie gewesen; allmählich schien die Kluft zwischen ihnen weiter und tiefer zu werden; allmählich erstarrte die Innigkeit, die sie an den Tag gelegt hatte, mehr und mehr in dem kecken, zornigen Trotz, mit dem sie, ohne daß Florence eine Ahnung davon hatte, sich dem Rande eines tiefen Abgrunds näherte und in denselben niederschaute. Der schwere Verlust, den Florence in Edith erlitten, wurde nur durch eine einzige Rücksicht gemildert, und obschon ihr schwer belastetes Herz nicht viele Beruhigung darin fand, so versuchte sie doch, sich zu überreden, daß einiger Trost für sie darin liege. Nicht länger in ihrer Zuneigung und ihrem Pflichtgefühl gegen die Eltern geteilt, konnte sie jetzt beide lieben, ohne einem davon unrecht zu tun. Waren sie doch nur Schatten in ihrer warmen Einbildungskraft, und sie konnte ihnen in ihrem Herzen einen gleichen Platz anweisen, ohne daß sie zweifelhaft an ihr werden mußten.
Sie versuchte es so. Bisweilen, ja sogar oft konnten sich ihr verwunderte Mutmaßungen über den Grund zu Ediths verändertem Benehmen aufdrängen und ihr Schrecken einflößen; doch fand sie in der Ruhe ihrer Einsamkeit und ihres stummen Grams nicht Raum zu nachhaltigem Grübeln. Genügte es ja an der Erinnerung, daß der Stern ihrer Hoffnung von dem allgemeinen Düster, das über dem Hause hing, umwölkt war, und sie ergab sich darein mit Tränen.
In einem solchen Traumleben, in dem die überströmende Liebe ihres jungen Herzens sich an luftigen Gestalten erschöpfte, während sie in der wirklichen Welt nicht viel anderes erfuhr, als das Aufsichselbstzurückschlagen der gewaltigen Flut, wurde Florence siebzehn. Die Einsamkeit hatte sie zwar schüchtern gemacht, aber ihr sanftes Gemüt und die Innigkeit ihres Wesens nicht verbittert. In unschuldiger Einfalt ein Kind, in bescheidenem Selbstvertrauen und in der Wärme ihres Herzens eine Jungfrau, schienen diese beiden Eigenschaften sich zugleich als anmutiges Gemisch in ihrem schönen Gesicht und in der Zartheit ihres Körpers auszudrücken, gleichsam als wolle der Frühling nur ungern dem kommenden Sommer Platz machen, dessen Pracht er mit der früheren Schönheit seiner Blüten zu erhöhen suchte. In ihrer ansprechenden Stimme aber, in ihren ruhigen Augen, zuweilen in einem eigentümlichen ätherischen Licht, das auf ihrem Haupte zu ruhen schien, und stets in einem gewissen sinnigen Zug ihrer Schönheit lag ein Ausdruck, wie man ihn an dem toten Knaben gesehen hatte, und der hohe Rat in der Bedientenhalle flüsterte unter Kopfschütteln davon und aß und trank desto mehr in dem engen Bunde guter Kameradschaft.
Die erwähnte achtsame Körperschaft wußte gar viel über Mr. und Mrs. Dombey, namentlich aber über Mr. Carker zu sagen, der augenscheinlich den Vermittler zwischen beiden machen sollte und stets ab- und zuging, als versuche er Frieden zu stiften, obschon es nie gelang. Alle beklagten den unbehaglichen Stand der Angelegenheit und drückten vereint ihre Ansicht dahin aus, Mrs. Pipchin, die im höchsten Grade unpopulär war, habe ihre Hand mit im Spiel; im ganzen übrigens war es angenehm, eine so gute Zielscheibe zu haben, und man ging mit aller Lust auf dieselbe los.
Diejenigen, die im Hause Besuch machten oder die von Mr. und Mrs. Dombey besucht wurden, hielten – jedenfalls sofern der Stolz in Rechnung kam – das Ehepaar für ziemlich gut zusammenpassend und machten sich keine weiteren Gedanken darüber. Die junge Lady mit dem Rücken ließ sich einige Zeit nach Mrs. Skewtons Tode nicht mehr sehen und bemerkte gegen ihre besonderen Freunde mit ihrem gewöhnlichen mädchenhaften Gekreisch, daß sie bei dieser Familie stets an Grabsteine und derartige entsetzliche Dinge denken müsse; als sie aber endlich wieder erschien, bemerkte sie nichts Unrechtes, mit Ausnahme des Umstandes, daß Mr. Dombey einen großen Bündel goldener Petschafte an seiner Uhr trug, der ihr ein abergläubisches Entsetzen einflößte. Diese junge Herzenseroberin war der Ansicht, daß eine Stieftochter schon dem Grundsatz nach verwerflich sei; außerdem hatte sie gegen Florence nichts einzuwenden, als daß es ihr kläglich an »Stil« fehle, womit sie vielleicht »Rücken« sagen wollte. Viele, die nur bei besonders wichtigen Anlässen ins Haus kamen, wußten kaum, wer Florence war, und sagten beim Nachhausegehen:
»Das Mädchen in der Ecke war also Miß Dombey? Recht hübsch, aber so zart und gedankenvoll in ihrem Aussehen!«
Diese übergroße Zartheit wurde durch das Leben, das Florence während der letzten sechs Monate geführt hatte, nicht gemildert, und sie nahm am Abend vor dem zweiten Jahrestage der Vermählung ihres Vaters und Ediths (am ersten hatte Mrs. Skewton ihren Lähmungsanfall erlitten) mit einer Unruhe, die sich bis zur Furcht steigerte, an der Dinertafel Platz. Sie wußte sich eigentlich keinen anderen Grund dafür anzugeben, als das bevorstehende Fest, den Ausdruck in dem Gesicht ihres Vaters, den sie in einem hastigen Hinblick bemerkte, und die Anwesenheit Mr. Carkers, die ihr, obschon stets unangenehm, an diesem Tage bedrückender wurde als je.
Edith war reich gekleidet, denn sie und Mr. Dombey wollten an diesem Abend eine große Gesellschaft besuchen, und das Diner war auf eine späte Stunde bestellt worden. Mrs. Dombey erschien erst, als die übrigen schon Platz genommen hatten, und bei ihrem Eintritt erhob sich Mr. Carker, um sie nach ihrem Stuhl zu führen. So schön und prächtig sie auch war, lag doch in ihrem Gesicht und in ihrer Haltung ein Zug, der sie hoffnungslos von Florence und jedermann sonst zu scheiden schien. Und doch erblickte Florence für einen Moment einen Strahl von Wohlwollen in ihren Augen, der sie den Abstand, der zwischen ihnen stattfand, nur um so bitterer beklagen ließ.
Bei Tisch wurde nur wenig gesprochen, Florence hörte ihren Vater gelegentlich mit Mr. Carker über Geschäftssachen reden, worauf der letztere leise antwortete; aber sie achtete nicht auf das, was sie sagten, und wünschte nur, daß das Diner zu Ende wäre. Nachdem der Nachtisch aufgetragen worden und die Diener sich entfernt hatten, begann Mr. Dombey nach mehrmaligem Räuspern, das auf nichts Gutes deutete:
»Vermutlich wißt Ihr, Mrs. Dombey, daß ich der Haushälterin die kleine Gesellschaft angekündigt hatte, die morgen hier dinieren wird.«
»Ich speise nicht zu Hause«, entgegnete sie.
»Keine große Partie«, fuhr Mr. Dombey fort, indem er tat, als habe er sie nicht gehört; »nur zwölf oder vierzehn. Meine Schwester, Major Bagstock und einige andere, die Euch nur wenig bekannt sind.«
»Ich speise nicht zu Hause«, wiederholte sie.
»Wie zweifelhaften Grund ich auch haben mag, Mrs. Dombey,« sagte Mr. Dombey, majestätisch weitersprechend, als ob keine Silbe von ihr erwidert worden wäre, »den Anlaß eben jetzt in sehr erfreulicher Erinnerung zu tragen, so muß doch in diesen Dingen vor der Welt der Schein bewahrt werden. Wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt, Mrs. Dombey–«
»Ich habe keine«, unterbrach ihn Edith.
»Madame«, rief Mr. Dombey, mit der Hand auf den Tisch schlagend, »laßt mich ausreden, wenn ich bitten darf. Ich sage, wenn Ihr keine Achtung vor Euch selbst habt –«
»Und ich sage, daß ich keine habe«, antwortete sie.
Er blickte nach ihr hin; aber das Gesicht, das sie ihm zeigte, würde sich nicht verändert haben, selbst wenn der Tod ihr seinen Blick zugeworfen hätte.
»Carker«, sagte Mr. Dombey, sich mit mehr Ruhe an diesen Gentleman wendend, »da Ihr schon bei früheren Gelegenheiten die Vermittlung zwischen mir und Mrs. Dombey übernahmt, und da ich, soweit ich selbst mit in Beteiligung komme, den Anstand des Lebens wahren möchte, so will ich Euch um die Gefälligkeit bitten, Mrs. Dombey zu unterrichten, wenn sie keine Achtung vor sich selbst habe, so sei der Fall bei mir wenigstens anders, und ich bestehe deshalb auf meiner Maßregel für morgen.«
»Sagt Eurem souveränen Gebieter, Sir«, ergriff Edith das Wort, »daß ich mir die Freiheit nehmen werde, gelegentlich über diesen Gegenstand mit ihm zu sprechen, aber nur unter vier Augen.«
»Mr. Carker, Madame«, sagte ihr Gatte, »kennt den Grund, der mich nötigt, Euch dieses Vorrecht zu verweigern, und hat deshalb nicht nötig, sich mit einem solchen Auftrag zu befassen.«
Er bemerkte während dieser Worte eine Bewegung ihrer Augen und folgte derselben mit den seinen.
»Eure Tochter ist anwesend, Sir«, bemerkte Edith.
»Meine Tochter wird anwesend bleiben«, sagte Mr. Dombey.
Florence, die aufgestanden war, setzte sich wieder und verbarg zitternd ihr Antlitz mit den Händen.
»Meine Tochter, Madame« – begann Mr. Dombey.
Aber Edith fiel ihm mit einer Stimme ins Wort, die zwar nicht heftig, aber doch so klar, nachdrücklich und bestimmt klang, daß man sie in einem Sturm hätte hören können.
»Ich erkläre Euch, daß ich allein mit Euch sprechen will«, sagte sie, »Wenn Ihr nicht wahnsinnig seid, so achtet auf das, was ich sage.«
»Ich habe das Recht, Madame«, entgegnete ihr Gatte, »mit Euch zu sprechen, wann und wo es mir beliebt, und es beliebt mir, dies jetzt und hier zu tun.«
Sie stand auf, als wolle sie das Zimmer verlassen, setzte sich aber wieder nieder, blickte mit der größten äußeren Ruhe nach ihm hin und sagte mit derselben Stimme:
»So tut es!«
»Ich muß Euch zuvörderst bemerken, Madame«, sagte Mr. Dombey, »daß ich in Eurem Benehmen etwas Drohendes finde, das Euch nicht zusteht.«
Sie lachte. Die erschreckten Diamanten zitterten in ihrem Haare. Man kennt Sagen von kostbaren Steinen, die erblaßten, wenn sich ihr Träger in Gefahr befand. Wären diese mit solcher Eigenschaft begabt gewesen, so hätten ihre gefangenen Lichtstrahlen in diesem Augenblicke die Flucht ergriffen und einer trüben Bleifarbe Raum gegeben. Carker hörte mit zur Erde gesenkten Augen zu.
»Was meine Tochter betrifft, Madame«, sagte Mr. Dombey, den Faden seiner Rede wieder aufnehmend, »so ist es keineswegs mit ihrer Pflicht gegen mich unverträglich, wenn sie erfährt, welches Benehmen sie zu vermeiden hat. Ihr gebt ihr in diesem Augenblick eine sehr bezeichnende Probe davon, und ich hoffe, daß sie sich dieselbe zunutzen macht.«
»Ich will Euch nicht unterbrechen«, erwiderte seine Gattin unbeweglich in Blick, Stimme und Haltung, »ich würde nicht aufstehen, mich entfernen oder Euch im Sprechen auch nur eines Wortes hindern, selbst wenn das Zimmer in Flammen stünde.«
Mr. Dombey bewegte seinen Kopf, wie in spöttischem Dank für ihre Aufmerksamkeit, und fuhr fort. Aber nicht mit derselben Fassung wie zuvor, denn Ediths Unruhe in Beziehung auf Florence und ihre Gleichgültigkeit gegen ihn und seinen Tadel wirkten so bitter auf ihn wie eine starrende Wunde.
»Mrs. Dombey«, sagte er, »es wird sich wohl mit der besseren Belehrung meiner Tochter vertragen, wenn sie erfährt, wie sehr ein starrsinniger Charakter zu beklagen und wie nötig dessen Umwandlung ist, besonders da, wo er – ich muß hinzufügen, undankbar – nach Befriedigung des Ehrgeizes und des Interesses sich geltend macht. Ich glaube, diese beiden Punkte haben einigermaßen mitgewirkt, um Euch zu veranlassen, Eure gegenwärtige Stellung an diesem Tische einzunehmen.«
»Nein, ich will nicht aufstehen, will nicht gehen, will Euch an keiner Silbe hindern«, wiederholte sie in derselben Weise wie zuvor, »und wenn das Zimmer in Flammen stünde.«
»Es ist wohl natürlich genug, Mrs. Dombey«, fuhr er fort, »daß Ihr Euch bei so unangenehmen Wahrheiten durch die Anwesenheit von Zuhörern beunruhigt fühlt, obschon ich« – er konnte hier sein wahres Gefühl nicht verhehlen und ebensowenig es seinen Augen verwehren, daß sie nicht einen düsteren Blick nach Florence hinwarfen – »obschon ich gestehen muß, daß ich nicht begreife, wie jemand anders als ich, den sie so nahe angehen, ihnen einen größeren Nachdruck zu verleihen imstande sein sollte. Es mag natürlich genug sein, daß Ihr vor Zeugen nicht gern die Rüge Eures widerspenstigen Charakters anhört, den Ihr nicht bald genug zügeln könnt, den Ihr zügeln müßt, Mrs. Dombey, und den Ihr, wie ich schon vor unserer Vermählung bei mehreren Gelegenheiten mit Zweifel und Mißfallen bemerkte, leider sogar gegen Eure eigene Mutter kundgegeben habt. Doch das Abhilfmittel steht Euch zu Gebot. Ich habe von Anfang an keineswegs vergessen, daß meine Tochter zugegen ist, Mrs. Dombey, muß aber jetzt Euch bitten, nicht zu vergessen, daß morgen mehrere Personen anwesend sein werden, die Ihr mit einiger Rücksicht auf den Schein in anständiger Weise zu empfangen habt.«
»So, ist es nicht genug«, sagte Edith, »daß Ihr wißt, was zwischen Euch und mir vorgegangen; es ist nicht genug, daß dieser Anblick hier« – sie deutete auf Carker, der mit zu Boden gesenkten Augen noch immer zuhörte – »Euch an die Beschimpfungen erinnert, denen Ihr mich aussetztet; es ist nicht genug, daß Ihr jenes Wesen dort seht«, während sie nach Florence hinwies, bemerkte man das erste- und einzigemal ein leichtes Zittern ihrer Hand, »und dabei denkt, was Ihr getan habt, um mir täglich, stündlich und ohne Unterlaß den herbsten Schmerz zu bereiten; es ist nicht genug, daß vor allen andern im Jahr gerade dieser Tag mich erinnern muß an einen Kampf – er ist zwar wohl verdient, obschon ein Mann, wie Ihr seid, keinen Sinn dafür hat –, in dem mir der Tod so wünschenswert gewesen wäre! Ihr fügt zu alledem noch die das Ganze krönende Gemeinheit, daß Ihr sie zur Zeugin macht von der Tiefe, in die ich gefallen bin, während Ihr doch wißt, daß Ihr mich für Ihren Frieden zum Opfer machtet – das einzig edle Gefühl und Interesse meines Lebens –, während Ihr wißt, daß ich um ihretwillen sogar jetzt noch, wenn ich könnte – aber ich kann's nicht, meine Seele verabscheut Euch zu sehr – mich ganz Eurem Willen unterwerfen und der demütigste Abhängige sein würde, der unter Euch steht.«
Dies war nicht die Art, die Mr. Dombeys Größe gefallen konnte. Ihre Worte riefen das alte Gefühl stärker und ungestümer als je ins Dasein. Abermals zeigte sich ihm sein vernachlässigtes Kind auf dem rauhen Pfade seines Lebens sogar in seiner widerspenstigen Gattin als mächtig, wo er machtlos – als alles, wo er nichts war.
Er wandte sich an Florence, als sei sie die Sprecherin gewesen, und befahl ihr, das Zimmer zu verlassen. Mit verhülltem Antlitz gehorchte sie, indem sie zitternd und weinend sich entfernte.
»Ich begreife den Geist des Widerspruchs, Madame«, sagte Mr. Dombey mit der Glut eines grimmigen Triumphs auf seinem Gesicht, »der Eure Zuneigung in diesen Kanal leitete; aber sie hat keine Erwiderung gefunden, Mrs. Dombey – sie hat keine Erwiderung gefunden!«
»Um so schlimmer für Euch«, antwortete sie, unverändert in ihrer Stimme und in ihrem Wesen. »Ja!« sie wandte sich rasch um, während sie dieses sprach, »was schlimm für mich ist, wird zwanzigmillionenfältig schlimmer für Euch. Faßt dies ins Auge, wenn Ihr auch auf sonst nichts Rücksicht nehmt.«
Der Diamantenbogen, der sich über ihr dunkles Haar breitete, blitzte und funkelte wie eine Sternbrücke. Es war kein Warnzeichen, sonst wäre er trüb und dunkel geworden wie eine befleckte Ehre. Carker saß noch immer da und hörte mit niedergeschlagenen Augen zu.
»Mrs. Dombey«, sagte Mr. Dombey, seine frühere anmaßende Haltung nach Kräften wieder annehmend, »durch ein solches Verhalten werdet Ihr mich nicht versöhnen oder von irgendeinem Vorsatz abbringen.«
»Es ist das einzig Wahre, obschon nur ein matter Ausdruck dessen, was in meinem Innern lebt«, versetzte sie. »Wenn ich übrigens dächte, es könnte Euch versöhnen, so würde ich es unterdrücken, sofern dies menschlicher Anstrengung möglich wäre. Ich werde nichts tun, um was Ihr mich ersucht.«
»Ich bin nicht gewöhnt, zu ersuchen, Mrs. Dombey«, bemerkte er. »Ich befehle.«
»Was auch morgen in Eurem Hause vorgehen wird, ich werde keine Rolle dabei übernehmen, denn ich mag mich zu einer solchen Zeit nicht als die widerspenstige Sklavin, die Ihr gekauft habt, zur Schau stellen lassen. Wenn ich meinen Hochzeitstag feire, will ich ihn als einen Tag der Schmach begehen. Selbstachtung! Schein vor der Welt! Was soll dies mir? Ihr habt alles aufgeboten, um sie für mich zu nichts zu machen, und sie sind wirklich nichts.«
»Carker«, sagte Mr. Dombey mit gefurchter Stirn und nach kurzem Besinnen, »Mrs. Dombey hat alle Rücksichten auf sich und auf mich vergessen und versetzt mich in eine mit meinem Charakter so unverträgliche Stellung, daß ich diesen Stand der Dinge zu einem Schluß bringen muß.«
»So befreit mich von der Kette, durch die ich gefesselt bin«, entgegnete Edith, unbeweglich in Stimme, Blick und Haltung, wie sie es die ganze Zeit über gewesen. »Laßt mich ziehen.«
»Madame!« wiederholte er, »Mrs. Dombey!«
»Erlöst mich! Gebt mir die Freiheit!«
»Madame!« wiederholte er. »Mrs. Dombey!«
»Bedeutet ihm«, sagte Edith, ihr stolzes Gesicht Mr. Carker zukehrend, »daß ich die Scheidung wünsche – daß sie wohl das beste sein werde – daß ich sie ihm empfehle. Sagt ihm, er dürfe dabei seine eigenen Bedingungen machen – sein Reichtum ist nichts für mich –, aber sie könne nicht zu bald stattfinden.«
»Gütiger Himmel, Mrs. Dombey«, sagte ihr Gatte mit größtem Erstaunen, »haltet Ihr es für möglich, daß ich je einem solchen Vorschlag Gehör schenken könnte? Wißt Ihr, wer ich bin, Madame? Wißt Ihr, was ich vertrete? Habt Ihr je von Dombey und Sohn gehört? Die Leute sagen zu lassen, daß Mr. Dombey – Mr. Dombey! – von seiner Frau geschieden worden sei! Gemeines Volk sollte reden dürfen von Mr. Dombey und seinen häuslichen Angelegenheiten! Glaubt Ihr ernstlich, Mrs. Dombey, ich könne je meinen Namen in solcher Weise preisgeben? Bah, bah, Madame! Pfui! Ihr seid abgeschmackt.«
Mr. Dombey lachte hellauf.
Aber nicht wie sie. Besser, sie wäre tot gewesen, als daß sie lachen konnte, wie sie es jetzt tat, während ihr Blick noch immer fest auf ihm haftete. Besser, er wäre tot gewesen, als daß er dasitzen mußte in seiner Großartigkeit, um sie zu hören.
»Nein, Mrs. Dombey«, nahm er wieder auf, »nein, Madame. Eine Scheidung zwischen Euch und mir ist etwas Unmögliches, und ich rate Euch deshalb um so mehr, der Stimme Eures Pflichtgefühls Gehör zu schenken. Und Carker, wie ich gegen Euch bemerken wollte –«
Mr. Carker, der die ganze Zeit dagesessen und zugehört hatte, schlug jetzt seine Augen auf, in denen ein helles, ungewöhnliches Licht blitzte.
»Wie ich Euch bemerken wollte«, wiederholte Mr. Dombey, »ich muß Euch, nun die Sache so weit gekommen ist, bitten, Mrs. Dombey zu belehren, es sei gegen meine Grundsätze, zu gestatten, daß mir irgend jemand in den Weg trete – wer es auch sein mag, Carker – oder zu dulden, daß denjenigen, die mir zur Unterwürfigkeit verpflichtet sind, ein kräftigerer Beweggrund zum Gehorsam vorgehalten werde, als ich bin. Die Art, wie meiner Tochter erwähnt wurde, und der Gebrauch, der im Widerspruch gegen mich von meiner Tochter gemacht wurde, ist unnatürlich. Ob meine Tochter in wirklichem Einvernehmen mit Mrs. Dombey steht, weiß ich nicht, und ich kümmere mich auch nicht darum; aber nach dem, was Mrs. Dombey heute gesagt und was meine Tochter heute angehört hat, möchte ich Euch bitten, Mrs. Dombey mitzuteilen, daß ich, wenn sie fortfährt, dieses Haus in einen Kampfplatz umzuwandeln, dem eigenen Zugeständnisse dieser Dame gemäß, meine Tochter einigermaßen verantwortlich machen und mit meinem strengsten Mißfallen strafen werde, Mrs. Dombey hat gefragt, ob es nicht genug sei, daß sie dies und dies getan habe. Ihr seid wohl so gütig, ihr darauf zu antworten: ›Nein, es ist nicht genug.‹«
»Gestattet mir einen Augenblick«, rief Carker, sich ins Mittel legend. »So peinlich auch im besten Falle meine Lage ist, und wie leid es mir tut, wenn es den Anschein gewinnen sollte, als hege ich eine von der Eurigen verschiedene Meinung« – er wandte sich dabei an Mr. Dombey – »so möchte ich doch fragen, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr die Frage der Scheidung noch einmal in Erwägung zöget. Ich weiß, wie wenig sie sich mit Eurer hohen öffentlichen Stellung zu vertragen scheint, und kenne Eure Entschlossenheit, wenn Ihr Mrs. Dombey zu verstehen gebt« – das Licht in seinen Augen flog zu ihr hin, als er die nachstehenden Worte mit der Bestimmtheit ebenso vieler Glocken getrennt vortrug –, »daß nichts Euch je trennen könne, als der Tod. Nichts anderes. Wenn Ihr aber bedenkt, daß Mrs. Dombey, so lange sie in diesem Hause lebt und es, wie Ihr Euch ausdrücktet, zu einem Kampfplatz macht, in diesem Zwist nicht nur ihre Rolle hat, sondern auch (denn ich kenne Eure Entschiedenheit) jeden Tag Miß Dombey darin verflicht, so findet Ihr es doch vielleicht besser, sie vor einer unablässigen Geistesaufregung zu bewahren und ihr das fast unerträgliche Gefühl zu ersparen, daß sie ungerecht gegen jemand anders sei. Gewänne es andernfalls nicht den Anschein – ich will nicht sagen, daß es wirklich so sei –, als wolltet Ihr Mrs. Dombey bei der Erhaltung Eurer hohen und unangreifbaren Stellung zum Opfer bringen?«
Abermals fiel das Licht seiner Augen auf sie, als sie jetzt dastand und mit einem unheimlichen Lächeln auf ihrem Gesicht nach ihrem Gatten hinsah.
»Carker«, versetzte Mr. Dombey mit hochmütigem Stirnerunzeln und in einem Ton, der entscheidend sein sollte, »Ihr verkennt Eure Stellung, wenn Ihr mir über einen solchen Punkt Euren Rat anbietet, und verkennt auch, wie ich erstaunt bemerken muß, mich, indem Ihr mir mit einem derartigen Rat kommt. Ich habe nichts weiter zu sagen.«
»Vielleicht verkanntet Ihr meine Stellung«, sagte Carker, mit einem ungewöhnlichen und unbeschreiblichen Hohn in seiner Miene, »als Ihr mich mit den Aufträgen betrautet, die ich« – mit einer Handbewegung nach Mrs. Dombey hin – »hier auszurichten hatte.«
»Durchaus nicht, Sir, durchaus nicht«, entgegnete der andere hochmütig. »Es war Eure Aufgabe – –«
»Durch meine untergeordnete Persönlichkeit zu Mrs. Dombeys Demütigung beizutragen. Ich vergaß dies. O ja, dies war die wohlverstandene Absicht«, sagte Carker. »Ich bitte um Verzeihung!«
Während er mit einer Haltung von Unterwürfigkeit, die schlecht mit seinen in vollkommen bescheidenem Ton vorgebrachten Worten zusammenstimmte, gegen Mr. Dombey den Kopf verbeugte, drehte er ihn seitwärts gegen sie und entsandte seine spähenden Blicke in diese Richtung.
Besser, ihre Schönheit hätte sich in Häßlichkeit verwandelt und sie wäre tot zusammengesunken, als daß sie dastand mit einem solchen Lächeln auf ihrem Gesicht in der trotzigen Majestät eines gefallenen Geistes. Sie erhob ihre Hand zu dem Juwelen-Diadem, das auf ihrem Kopfe funkelte, riß es mit einem Ungestüm herab, so daß ihr grausam zerrauftes, üppiges schwarzes Haar wirr auf ihre Schultern niederfiel, und schleuderte die Edelsteine auf den Boden. Dann zerrte sie die diamantenen Spangen von ihren Armen, warf sie dem Kopfschmucke nach und zertrat den funkelnden Haufen mit ihren Füßen. Ohne ein Wort, ohne einen Schatten in dem Feuer ihres blitzenden Auges schaute sie, während sie sich nach der Tür hin bewegte, mit demselben unheimlichen Lächeln nach Mr. Dombey hin und verließ das Zimmer.
Florence hatte während ihrer Anwesenheit genug gehört, um daraus die Überzeugung zu gewinnen, daß Edith sie noch liebe, daß sie um ihretwillen gelitten und daß sie in der Stille ihr Opfer gebracht hatte, um nicht den Frieden des ihr teuren Wesens zu stören. Sie verlangte nicht, mit ihr hierüber zu sprechen – konnte es auch nicht, wenn sie dachte, wem sich ihre Mutter entgegengesetzt hatte –, aber sie sehnte sich nach einer einzigen stummen liebevollen Umarmung, um ihr die dankbare Versicherung zu geben, daß sie all dies in tiefster Seele empfand.
Ihr Vater ging an jenem Abend allein aus, und bald nach seiner Entfernung verließ Florence ihr Zimmer, um im Hause umherzuwandeln, ob ihr nicht Edith begegne; aber vergeblich. Letztere befand sich in ihren eigenen Gemächern, und Florence wagte schon lange nicht mehr, dorthin zu gehen, um nicht willkürlich neue Mißhelligkeiten herbeizuführen. Gleichwohl gab Florence der Hoffnung Raum, sie noch zu sehen, bevor sie sich schlafen legte, weshalb sie in dem so prächtigen und doch so traurigen Hause ruhelos die Zimmer durchwandelte.
Sie ging eben durch eine Galerie, die nach der Treppe hinführte und nur bei besonders wichtigen Anlässen beleuchtet wurde, als sie durch die bogenförmige Öffnung die Gestalt eines Mannes auf der entgegengesetzten Stiege herunterkommen sah, In der Furcht, ihrem Vater zu begegnen, machte sie im Dunkeln halt und schaute durch den Bogen in das Licht hinaus. Es war jedoch nicht Mr. Dombey, sondern Carker, der allein herabkam und über das Geländer nach der Halle hinunterschaute. Keine Klingel wurde angezogen, um seine Entfernung zu melden, und auch von den Dienern war niemand in der Nähe. Er stieg ruhig hinab, öffnete selbst die Türe, glitt ruhig hinaus und schloß leise hinter sich zu.
Ihr unüberwindlicher Widerwille gegen diesen Mann und vielleicht auch ihr heimliches Beobachten eines andern, das selbst unter so unschuldigen Umständen ihr wie ein Verbrechen vorkam, ließ sie vom Kopf bis zu den Füßen erzittern. Das Blut schien eiskalt durch ihre Adern zu rinnen, und sobald es ihr möglich war – denn anfangs bannte sie die Furcht an die Stelle – eilte sie hastig nach ihrem Zimmer hinauf, wo sie sich mit ihrem Hunde einschloß. Aber auch da noch fühlte sie ein Frösteln des Schreckens, als ob irgendwo in ihrer Nähe Gefahr lausche. Diese Vorstellung mischte sich in ihre Träume und beunruhigte sie die ganze Nacht. Nach einem unerquicklichen Schlaf stand sie am andern Morgen mit der peinlichen Erinnerung an das häusliche Unglück des gestrigen Tages auf und spähte abermals in allen Zimmern, die sie während der Frühstunden zu öfteren Malen durchwandelte, nach Edith. Diese aber blieb in ihren Gemächern, und Florence sah nichts von ihr. Als sie übrigens erfuhr, das beabsichtigte Diner im Hause sei verschoben worden, so hielt sie es für wahrscheinlich, ihre Mutter werde abends ausgehen, um der besprochenen Einladung Folge zu geben, weshalb sie sich vornahm, zu sehen, ob sie nicht mit ihr auf der Treppe zusammenkommen könne.
Bei Eintritt der Dämmerung hörte sie von dem Zimmer aus, in dem sie absichtlich harrte, einen Fußtritt auf der Treppe, den sie für den ihrer Mutter hielt. Sie eilte hinaus und begegnete ihr auf dem Weg nach ihrem Zimmer.
Florence wollte mit ihren verweinten Augen und ausgestreckten Armen auf sie zugehen; aber wie erschrak sie nicht, als Edith bei ihrem Anblick mit einem Aufschrei zurückwich.
»Komm nicht in meine Nähe!« rief sie. »Bleib zurück! Tritt mir nicht in den Weg!«
»Mama!« sagte Florence.
»Nenne mich nicht mit diesem Namen! Sprich nicht mit mir! Sieh mich nicht an, Florence!« Sie wich zurück, als Florence ihr einen Schritt näher kam, »berühre mich nicht.«
Während Florence wie gebannt dem hageren Gesichte und dem starren Blicke gegenüber stand, bemerkte sie wie in einem Traum, daß Edith ihre Hände über die Augen breitete, am ganzen Leibe schaudernd sich nach der Wand hin duckte, wie ein scheues Tier an ihr vorbeischlich, sich dann wieder aufrichtete und von hinnen floh.
Florence brach auf der Treppe ohnmächtig zusammen und wurde daselbst, wie sie glaubte, von Mrs. Pipchin aufgefunden. Sie kam erst wieder zur Besinnung, als sie auf ihrem Bette lag und die erwähnte Dame mit einigen Dienstboten um sie her stand.
»Wo ist Mama?« war ihre erste Frage.
»Zu einem Diner ausgegangen«, antwortete Mrs. Pipchin.
»Und Papa?«
»Mr. Dombey befindet sich auf seinem Zimmer, Miß Dombey«, sagte Mrs. Pipchin, »und Ihr tut wohl am besten, wenn Ihr jetzt Eure Kleider abnehmt und Euch sogleich zu Bett legt.«
Dies war das Heilmittel dieser weisen Frau gegen alle Beschwerden, namentlich aber gegen Schwermut und Schlaflosigkeit – ein paar Vergehungen, deretwegen viele junge Opfer in den Tagen des Brightoner Kastells oft schon morgens um zehn Uhr nach dem Bett verwiesen worden waren.
Ohne gerade Gehorsam zu versprechen, wohl aber unter dem Vorwande, daß sie völlig ungestört zu sein wünsche, befreite sich Florence, sobald sie konnte, von der fürsorglichen Mrs. Pipchin und ihrer Dienstleute, und nun machte sie sich in ihrer Einsamkeit Gedanken über den Vorgang auf der Treppe – anfangs an dessen Wirklichkeit zweifelnd, dann aber mit Tränen und endlich unter einer unbeschreiblichen Angst, ähnlich derjenigen, von der sie in der Nacht zuvor befallen worden war.
Sie beschloß, nicht zu Bett zu gehen, bis Edith zurückgekehrt wäre, damit sie wenigstens, wenn sie diese auch nicht sprechen könne, die Überzeugung habe, sie sei wohlbehalten zu Hause angelangt. Welche unbestimmte und schattenhafte Furcht sie zu diesem Entschluß bewog, wußte sie selbst nicht, und sie wagte es nicht einmal, daran zu denken. Nur dies fühlte sie, daß ihr schmerzender Kopf oder ihr pochendes Herz keine Ruhe finden konnte, ehe Edith zurück war.
Der Abend wurde zur Nacht und die Mitternacht kam heran; keine Edith.
Florence konnte nicht lesen und fand keinen Augenblick Ruhe. Sie schritt in ihrem Zimmer hin und her, öffnete die Tür, ging in der Treppengalerie draußen auf und ab, sah durchs Fenster in die Nacht hinaus, hörte auf das Sausen des Windes und das Klatschen des Regens, setzte sich nieder, um den Gesichtern im Feuer zuzusehen, stand aufs neue auf und blickte dem Mond nach, der wie ein vom Sturm getriebenes Schiff durch das Wolkenmeer hinflog.
Im Hause hatte sich mit Ausnahme zweier Dienstboten, die unten die Rückkehr ihrer Gebieterin erwarteten, alles zu Bett gelegt.
Ein Uhr. Die Wagen, die in der Ferne rasselten, schlugen eine andere Richtung ein, machten halt oder fuhren vorbei. Die tiefe Stille wurde immer seltener und zuletzt nur noch durch das Getöse des Windes oder des Regens unterbrochen. Zwei Uhr. Keine Edith.
Florences Aufregung steigerte sich. Sie fand weder in ihrem Zimmer, noch in der Galerie draußen Ruhe und schaute abermals in die Nacht hinaus, trübe von den Regentropfen an den Scheiben und von den Tränen in ihren Augen. Welchen Gegensatz bildete nicht das bewegte Treiben am Himmel zu der einsamen Ruhe unten! Drei Uhr! Jedes Fünkchen, das aus dem Feuer sprühte, war mit Schrecken beladen. Noch keine Edith.
Mit immer größerer Aufregung schritt Florence in ihrem Zimmer und auf der Galerie umher oder schaute nach dem Mond hinauf, der ihr jetzt wie ein bleicher Flüchtling vorkam, der von hinnen eilte, um sein schuldiges Gesicht zu verbergen. Vier – fünf Uhr! Noch immer keine Edith!
Aber jetzt regte es sich behutsam im Hause, und Florence fand, daß Mrs. Pipchin von denen, die aufgeblieben, geweckt worden war. Die Haushälterin hatte ihr Bett verlassen und sich nach der Türe Mr. Dombeys begeben. Florence, die sich die Treppe hinunterschlich, um der kommenden Dinge zu harren, sah ihren Vater in seinem Schlafrock heraustreten und zusammenfahren, als er die Kunde vernahm, daß seine Gattin nicht nach Hause zurückgekehrt sei. Er schickte einen Diener nach dem Stall, um nachfragen zu lassen, ob der Kutscher dort sei, und kleidete sich dann hastig an.
Der Diener kehrte eiligst mit dem Kutscher zurück, und dieser erklärte, er sei schon seit zehn Uhr zu Hause und in seinem Bett. Er habe seine Gebieterin nach ihrem alten Hause in Brook Street gefahren, wo sie mit Carker zusammengetroffen sei, –
Florence stand auf derselben Stelle, wo sie ihn hatte herunterkommen sehen. Abermals durchschauerte sie das namenlose Entsetzen jenes Anblicks, und es blieb ihr kaum Besinnung genug, um das, was nun folgte, zu hören und zu verstehen.
– der ihm bedeutet habe, fuhr der Kutscher fort, daß seine Gebieterin zu ihrer Rückkehr des Wagens nicht bedürfe und ihn in entsprechender Weise abfertigte.
Sie sah das Gesicht ihres Vaters leichenblaß werden und hörte ihn rasch und mit bebender Stimme nach Mrs. Dombeys Mädchen fragen. Das ganze Haus geriet in Aufregung; denn sie war im Augenblick herbeigeholt, sah sehr blaß aus und sprach unzusammenhängend.
Sie sagte, sie habe ihre Gebieterin früh ankleiden müssen – volle zwei Stunden früher, ehe sie ausging – und von ihr, wie dies oft geschehen sei, die Abfertigung erhalten, daß ihre Dienste für die Nacht nicht nötig wären. Sie komme eben von den Gemächern ihrer Frau herunter, aber –
»Was aber? was ist dort?« hörte Florence ihren Vater wütend fragen.
Aber das innere Ankleidezimmer sei abgeschlossen und der Schlüssel fort.
Mr. Dombey ergriff eine Kerze, die auf dem Boden brannte – es hatte sie jemand hingestellt und vergessen – und stürmte dann mit solcher Wut die Treppe hinauf, daß Florence in ihrer Furcht kaum Zeit hatte, sich vor ihm zu flüchten, Mit wild ausgebreiteten Händen, wallendem Haar und einem Gesicht, ähnlich dem einer Wahnsinnigen, eilte sie nach ihrem Zimmer zurück, und inzwischen hörte sie ihren Vater die Türe einschlagen.
»Was sah er dort, nachdem die Tür seinem Ungestüm gewichen war? Niemand erfuhr es. Aber in wirrer Masse lagen alle Kostbarkeiten, die sie als seine Gattin getragen, ihre kostbaren Kleider und alles, was sie besessen, auf dem Boden. Dies war das Zimmer, wo er im Spiegel das stolze Gesicht gesehen, das ihm die Türe wies. Dies war das Zimmer, in dem er der eitlen Neugierde Raum gegeben hatte, wie wohl die Gegenstände sich ausnehmen würden, wenn er sie zum nächsten Mal sähe.
Während er die Sachen wieder in die Schubfächer warf und eigentlich in einer Wuthast die Kummoden verschloß, sah er einige Papiere auf dem Tisch liegen. Der Ehevertrag, den er vor der Vermählung abgeschlossen, und ein Brief. Er las, daß sie fort war. Er las das Zeugnis seiner Entehrung. Er las, daß sie sich an dem Jahrestag ihres schmählichen Ehebundes mit dem Manne geflüchtet hatte, den er zu ihrer Demütigung auserlesen. Mit der verwirrten Vorstellung, er könne sie noch an der Stelle finden, nach der sie sich begeben hatte, stürzte er aus dem Zimmer und aus dem Hause, um mit seiner Faust ihr jede Spur von Schönheit aus dem triumphierenden Gesichte zu schlagen. Florence legte, ohne zu wissen, was sie tat, ein Halstuch um und setzte einen Hut auf. Sie träumte von einem Laufen durch alle Straßen, bis sie Edith gefunden habe, um sie dann in ihre Arme zu schlingen, sie zu retten und wieder zurückzuführen. Aber als sie auf die Treppe hinauskam und die erschreckten Diener sah, die mit Lichtern auf und nieder gingen, sich gegenseitig zuflüsterten und vor ihrem herunterkommenden Vater auswichen, erwachte sie zum Bewußtsein ihrer eigenen Machtlosigkeit. Sie verbarg sich in einem der großen Gemächer, die man um eines solchen Endes willen so prächtig ausgestattet hatte, und das Herz wollte ihr brechen vor Gram. Mitleid mit ihrem Vater war die erste bestimmte Regung, die gegen den gewaltigen Strom ihres Schmerzes sich anstemmte.
Ihre treue Seele fühlte sich in seinem Unglück so warm und innig zu ihm hingezogen, als wäre er in seinem Glück die Verkörperung jener Idee gewesen, die allmählich so matt und trübe geworden war. Obgleich sie den Schimpf, der ihn betroffen, nur aus den Einflüsterungen ihrer Furcht zu ermessen vermochte, stand er doch verlassen und gekränkt vor ihr, und ihr liebevolles Sehnen drängte sie an seine Seite. Er blieb nicht lange aus. Florence gab noch unter Tränen in dem großen Zimmer solchen Gedanken Raum, als sie ihn wieder zurückkehren hörte. Er befahl den Dienern, wieder ihren gewöhnlichen Geschäften nachzugehen, und begab sich nach seinem Gemach, in dem er so ungestüm auf und nieder schritt, daß man seine Tritte von einem Ende des Hauses bis zum andern hören konnte.
Noch einmal dem Antrieb ihrer Liebe nachgebend, zu allen andern Zeiten schüchtern, aber kühn in ihrer Treue zu ihm in seiner Widerwärtigkeit und uneingeschüchtert durch frühere Zurückweisung, eilte Florence, angekleidet wie sie war, die Treppe hinunter. Als sie ihren leichten Fuß in die Halle setzte, kam er aus seinem Zimmer heraus. Sie stürzte mit dem Rufe: »O lieber, lieber Papa!« auf ihn zu und breitete die Arme aus, als ob sie seinen Hals umschlingen wollte.
Und sie würde es getan haben. Aber in seiner Wut erhob er seine grausame Faust und ließ sie so schwer auf das Haupt seiner Tochter niederfallen, daß sie auf den Marmorboden hinstürzte; und während er den Streich führte, sagte er ihr, was Edith sei, und gab ihr die Weisung, der Entlaufenen zu folgen, da sie doch immer mit ihr im Bunde gestanden.
Sie sank nicht zu seinen Füßen nieder; sie schloß nicht seinen Anblick mit ihren zitternden Händen aus; sie weinte nicht und sprach keine Silbe des Vorwurfs. Aber sie sah nach ihm hin, und ein Schmerzensruf der Verlassenheit entrang sich ihrem Herzen. Denn mit diesem Blicke sah sie ihn jene teure Vorstellung morden, die sie so lange trotz aller Umstände mit Liebe gehegt hatte. Sie sah, daß seine Grausamkeit und sein Haß den Sieg davontrugen und jenes Bild zu Boden traten. Sie sah, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und flüchtete sich als Waise aus seinem Hause.
Sie floh aus seinem Hause. Ein Augenblick, und ihre Hand war auf der Klinke, der Schrei entrang sich ihren Lippen, und sein Gesicht nahm sich in dem doppelten Licht der tief niedergebrannten, träufenden Kerzen und der über der Tür einfallenden Tageshelle nur noch blasser aus. Ein weiterer Augenblick, und das dumpfe Düster des verschlossenen Hauses (man hatte es zu öffnen vergessen, obschon es längst Tag war) wich dem unerwarteten Licht und der Freiheit des Morgens. Florence stand mit gesenktem Haupt, weil sie den Schmerz ihrer Tränen verbergen wollte, auf der Straße.
Achtundvierzigstes Kapitel. FLORENCENS FLUCHT.
In dem Irrsinn seines Schmerzes, seiner Scham und seines Schreckens eilte das arme Mädchen durch den Sonnenschein eines herrlichen Morgens, als wäre er das tiefe Dunkel einer Mitternacht. Unter bitterem Weinen die Hände ringend, gegen alles unempfindlich, nur nicht gegen die tiefe Wunde in ihrer Brust, betäubt durch den Verlust aller ihrer Lieben und die einzige von dem Wrack eines großen Schiffes an eine verlassene Küste geworfene Überlebende, floh sie ohne Gedanken, ohne Hoffnung und ohne irgendeinen anderen Zweck, als eben zu fliehen, gleichviel, wohin es war.
Die lange, vom Morgenlicht vergoldete Straße, der Anblick des blauen Himmels und duftiger Wolken, die belebende Frische des Tages, so rosig nach dem Kampf mit der Nacht – all das weckte kein entsprechendes Gefühl in ihrer so tief verletzten Brust. Nur einen Platz, gleichviel, welcher es sein mochte, um ihr Haupt zu verbergen – irgendein Zufluchtsort, fern genug von der Stelle, der sie entronnen, um nie wieder ihren Blick auf sie werfen zu müssen!
Aber es gingen Leute hin und her; die Läden wurden geöffnet, und unter den Haustüren zeigten sich die Dienstboten. Das ruhige Getümmel des Tages hatte seinen Anfang genommen. Florence sah Überraschung und Neugierde in den an ihr vorbeieilenden Gesichtern, bemerkte zurückkehrende lange Schatten auf dem Pflaster und hörte fremde Stimmen fragen, wohin sie wolle und was es gebe. Obgleich dies anfangs sie nur um so mehr einschüchterte und ihre Hast beschleunigte, kam es ihr doch so weit zustatten, daß es sie einigermaßen zur Besinnung rief und sie an die Notwendigkeit einer größeren Fassung erinnerte.
Wohin gehen? Noch immer gleichgültig gegen den Ort – noch immer weiter; aber wohin? Sie gedachte jener einzigen anderen Zeit, in der sie sich unter der weiten Häuserwildnis verirrt hatte – allerdings damals nicht so verlassen wie jetzt – und schlug die gleiche Richtung ein. Nach der Heimat von Walters Onkel.
Sie unterdrückte ihr Schluchzen, trocknete ihre geschwollenen Augen und versuchte, ihr aufgeregtes Wesen zu beruhigen, damit sie nicht allzusehr die Aufmerksamkeit der Vorübergehenden auf sich ziehe. So lang es möglich war, die unbesuchteren Straßen einzuhalten, ging sie gelassener weiter, als mit einem Male ein bekannter kleiner Schatten auf dem sonnigen Pflaster vorbeischoß, haltmachte, wieder umwandte, dicht zu ihr herankam, wieder forteilte und um sie her hüpfte. Es war der ihres treuen Hundes, der sich jetzt, nach Luft schnappend, aber doch die Straße mit seinem frohen Bellen erfüllend, an ihre Kleider schmiegte.
»O, Di! o lieber, guter, treuer Di, wie bist du hierher gekommen? Daß ich auch dich zurücklassen konnte, Di, der du mich nie verlassen hast!«
Florence beugte sich gegen das Pflaster nieder und drückte seinen rauhen, närrischen alten Kopf an ihre Brust, worauf sie wieder miteinander weitergingen. Di, der mehr in der Luft als auf dem Boden war, bemühte sich, seine Gebieterin im Fluge zu küssen, überpurzelte sich oft und richtete sich mit der größten Gleichgültigkeit wieder auf, fuhr auf die großen Hunde mit dem possierlichen Trotz seiner Spielart los, erschreckte mit dem Anprall seiner Nase die Hausmägde, die die Türtreppen fegten, und machte inmitten von tausend Ungereimtheiten alle Augenblicke halt, um nach Florence zurückzusehen und zu bellen, bis alle Hunde in Hörweite Antwort gaben und alle, die herauskommen konnten, sich auf der Straße zeigten, um ihn anzuschauen.
Von diesem letzten Anhänger geleitet, eilte Florence in dem vorrückenden Morgen und in dem wachsenden Sonnenschein weiter nach der City. Die lärmenden Töne des Tages wurden lauter, die Vorübergehenden zahlreicher und die Läden rühriger, bis sie sich in einen Strom von Leben hineingerissen sah, der die nämliche Richtung einschlug und gleichgültig an Marktplätzen, Herrenhäusern, Gefängnissen, Kirchen, Reichtum, Armut, Gut und Bös vorbeiflutete, wie der nahe breite Strom, der, erwacht aus seinen Träumen von Binsen, Weiden und grünem Moos, trüb und unruhig unter dem Arbeiten und Sorgen der Menschen seine Wellen nach dem tiefen Meere hinwälzte.
Endlich tauchte die Gegend, in der der kleine Midshipman stand, vor ihren Blicken auf. Noch näher, und der kleine Midshipman zeigte sich auf seinem Posten, so angelegentlich wie nur je seinen Beobachtungen nachhängend. Noch näher, und die Tür stand offen, um sie zum Eintritt einzuladen. Florence, die am Ende ihrer Wanderung ihre Schritte beschleunigt hatte, eilte, von Diogenes begleitet, der in dem Lärm etwas verwirrt worden war, über die Straße hinüber in den Laden hinein und sank auf der Schwelle des wohlbekannten kleinen Besuchszimmers zusammen.
Der Kapitän stand in seinem Glanzhut vor dem Feuer und fertigte eben seinen Morgenkakao an; dabei lag jene elegante Kleinigkeit, seine Uhr, auf dem Kaminmantel, damit er sie im Laufe seiner Kocherei befragen konnte. Er hörte einen Fußtritt, das Rauschen eines Gewandes und wandte sich in herzklopfender Erinnerung an die schreckliche Mrs. Mac Stinger in dem Augenblick um, als Florence mit ihrer Hand ihm zuwinkte und taumelnd auf den Boden niederfiel.
Der Kapitän, so blaß wie Florence, blaß sogar in jedem Winkel seines Gesichtes, hob sie auf, als wäre sie ein kleines Kind und legte sie auf dasselbe Sofa, auf dem sie vordem geschlummert hatte.
»Es ist die Herzensfreude«, sagte der Kapitän, angelegentlich ihr Gesicht betrachtend. »Das holde Geschöpf ist zu einer Jungfrau herangewachsen!«
Kapitän Cuttle hatte so großen Respekt vor ihrem neuen Charakter, daß er sie während ihrer Bewußtlosigkeit nicht um tausend Pfund hätte in seinen Armen behalten mögen.
»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän, sich in einige Entfernung zurückziehend, während die größte Unruhe und Teilnahme sich in seinem Gesicht ausdrückte. »Wenn Ihr Ned Cuttle mit einem Finger anstoppen könnt, so tut es.«
Aber Florence rührte sich nicht.
»Meine Herzensfreude!« sagte der Kapitän zitternd. »Um Wal'rs willen, der in der schaurigen Tiefe ertrank, dreht bei und hißt irgend etwas auf, wenn Ihr könnt!«
Da sie auch gegen diese nachdrückliche Beschwörung unempfindlich blieb, so griff Kapitän Cuttle vom Frühstückstisch ein Becken mit kaltem Wasser auf und sprengte ihr einiges davon ins Gesicht. Der Dringlichkeit des Falles nachgebend, bediente er sich sodann seiner gewaltigen Hand mit außerordentlicher Zartheit, indem er ihr den Hut abnahm, Lippen und Stirne anfeuchtete, ihre Haare zurückstrich, ihre Füße mit seinem Rock, den er zu diesem Zweck ausgezogen hatte, bedeckte und ihre Hand streichelte, die sich in der seinigen so klein ausnahm, daß er sich bei Berührung derselben nicht genug wundern konnte.
Als er bemerkte, daß ihre Augenlider zuckten und ihre Lippen sich zu bewegen begannen, setzte er seine Belebungsversuche mit gesteigertem Mut fort.
»Hellauf!« sagte der Kapitän. »Hellauf! Halt bei, mein Herzchen, halt bei! So! Es ist Euch jetzt besser. Durchhalten ist die Losung, und so haben wir es jetzt. Bleibt nur dabei! Trinkt ein Tröpflein von diesem da«, fuhr der Kapitän fort, »So recht! Wie ist es Euch jetzt, mein Herz, wie ist es Euch jetzt?«
Als er mit ihrer Erholung so weit gekommen war, nahm Kapitän Cuttle, dem bei ärztlicher Behandlung eines Patienten unbestimmt eine Uhr vorschwebte, seine eigene vom Kaminsims herunter, hing sie an seinen Haken und ergriff Florences Hand, abwechselnd von der einen zur andern hinsehend, als erwarte er von dem Zeiger irgend eine heilkräftige Wirkung.
»Wie geht es, mein Schätzchen?« sagte der Kapitän. »Wie geht es jetzt? Ich glaube, du bist ihr einigermaßen zugute gekommen, mein Junge«, fügte er halblaut bei, indem er einen zufriedenen Blick auf seine Uhr warf. »Stellt man dich alle Morgen eine halbe Stunde und gegen Abend wieder eine Viertelstunde zurück, so bist du eine Uhr, die nicht leicht ihresgleichen findet und von keiner übertroffen wird. Wie geht es, mein kleines Fräulein?«
»Kapitän Cuttle, seid Ihr es?« rief Florence, sich ein wenig aufrichtend.
»Ja, ja, mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, dem diese Form der Anrede weit zierlicher und als die höflichste vorkam, die er sich erdenken konnte.
»Ist Walters Onkel hier?« fragte Florence.
»Hier, mein Herz?« entgegnete der Kapitän. »O, es ist lange her, seit er zum letzten Male hier war, und er ließ nichts mehr von sich hören, seit er ausriß, um dem armen Wal'r nachzuziehen. Aber«, fügte der Kapitän als Trostspruch bei, »wenn auch dem Blick entschwunden, ist er doch der Erinnerung, der Heimat und der Schönheit teuer.«
»Wohnt Ihr hier?« fragte Florence.
»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän.
»O, Kapitän Cuttle!« rief Florence außer sich, während sie die Hände zusammenschlug, »rettet mich! behaltet mich hier! Laßt es niemanden wissen, wo ich bin! Ich will Euch, wenn ich kann, gelegentlich sagen, was vorgefallen ist. Ich habe in der ganzen Welt niemanden, zu dem ich gehen könnte. Schickt mich nicht wieder fort!«
» Euch fortschicken, mein kleines Fräulein?« rief der Kapitän. » Euch, meine Herzensfreude? Einen Augenblick! Wir wollen die Blende da aufziehen und den Schlüssel doppelt umdrehen!«
Mit diesen Worten holte der Kapitän, der seine eine Hand und seinen Haken mit der größten Gewandtheit arbeiten ließ, den Türladen heraus, schob ihn vor, machte alles fest und verschloß die Tür.
Als er wieder zu Florence zurückkam, nahm sie seine Hand und küßte sie. Die Hilflosigkeit dieser Handlung, das vertrauensvolle Flehen, das darin lag, der unaussprechliche Kummer in ihrem Gesicht mit dem nur allzu deutlich darin ausgedrückten Seelenschmerze, seine Kunde von ihrer früheren Geschichte und ihr gegenwärtiges, verlassenes, schutzloses Aussehen – das alles ging in dem Kopf des Kapitäns so wirr durcheinander, daß vor Mitleid und zarter Teilnahme seine Augen feucht wurden.
»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, indem er mit dem Ärmel die Brücke seiner Nase polierte, bis sie sich wie blankes Kupfer ausnahm, »sprecht kein Wort mit Ed'ard Cuttle, bis Ihr einmal glatt und behaglich vor Anker liegt, und das kann weder heute noch morgen sein. Was dann das Aufgeben von Euch oder den Rapport darüber betrifft, wo Ihr seid, so ist hieran nicht zu denken, so wahr mir Gott helfe – seht nach im Kirchenkatechismus und biegt ein Ohr ein.«
Der Kapitän sprach das alles in einem Atem und mit großer Feierlichkeit; auch nahm er bei seinem »so wahr mir« den Hut ab und setzte ihn wieder auf, sobald er mit seinem Satz zu Schluß gekommen war.
Florence konnte außer ihrem Dank nur noch eines tun, um ihm zu zeigen, wie sehr sie ihm vertraute, und dies geschah. An den rauhen Seemann sich als an die letzte Zuflucht ihres blutenden Herzens anklammernd, legte sie ihr Köpfchen auf seine ehrliche Schulter, schlang den Arm um seinen Hals und wollte niederknien, um Gottes Segen über ihn zu erbitten; aber er ahnte ihre Absicht und hielt sie aufrecht, wie ein treuer Mann.
»Ruhig«, sagte der Kapitän. »Ruhig. Ihr seht, mein Herz, daß Ihr zu schwach seid, um stehen zu können, und müßt Euch deshalb wieder legen. So, so.«
Und es wäre mehr wert gewesen, als hundert Szenen, der vornehmen Welt entnommen, wenn man hätte mit ansehen können, wie der Kapitän sie auf das Sofa hob und mit seiner Jacke zudeckte.
»Jetzt müßt Ihr etwas frühstücken, kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort, »und der Hund soll auch nicht vergessen bleiben. Dann könnt Ihr nach dem Stübchen des alten Sol Gills hinaufgehen und dort schlafen wie ein Engel.«
Kapitän Cuttle streichelte Diogenes, als er diese Anspielung auf ihn machte, und Diogenes kam dem Erbieten in Gnaden auf dem halben Wege entgegen. Während der Anwendung der Belebungsmittel hatte er augenscheinlich nicht gewußt, ob er auf den Kapitän losfahren oder Freundschaft mit ihm schließen sollte, und diesen Kampf seiner Gefühle abwechselnd durch Wedeln mit dem Schwanze und Weisen seiner Zähne mit gelegentlichem Knurren angedeutet. Inzwischen hatten sich jedoch alle seine Bedenken gehoben, und es war klar, daß er den Kapitän als einen der liebenswürdigsten Menschen und als einen Mann betrachtete, dessen Bekanntschaft einem Hund zur Ehre gereichte.
Um diese Überzeugung zu bekunden, wartete Diogenes vor dem Kapitän auf und zeigte ein lebhaftes Interesse für die Haushaltung des Mannes, der eben ein kleines Frühstück anfertigte, obschon diese Bemühung sehr vergeblich war; denn Florence konnte vor Weinen und Weinen nichts genießen, wie sehr sie sich auch Mühe gab, der Bewirtung Ehre anzutun.
»Nun, nun«, sagte der teilnehmende Kapitän, »deckt Euch jetzt nur ein, meine Herzensfreude, und dann wird es schon vorwärts gehen. Ich will jetzt dir deine Ration zuteilen, mein Junge« – dies galt Diogenes – »und du sollst droben bei deiner Gebieterin Wache halten.«
Diogenes hatte das ihm zugedachte Frühstück mit wässernder Schnauze und glänzenden Augen betrachtet; statt aber, als es ihm vorgesetzt wurde, gierig darüber herzufallen, spitzte er die Ohren, stürzte nach der Ladentür hin und bellte wütend, während er zugleich mit dem Kopf an der unteren Leiste bohrte, als wolle er zum Durchgang eine Mine anlegen.
»Kann jemand kommen wollen?« fragte Florence beunruhigt.
»Nein, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän. »Wer würde so kommen, ohne Lärm zu machen? Seid guten Muts, mein Herz. Es sind nur Leute, die vorübergehen.«
Gleichwohl bellte und bellte, bohrte und bohrte Diogenes in hartnäckiger Wut fort, und so oft er inne hielt, um zu lauschen, schien er in seinem Innern eine neue Überzeugung zu gewinnen, denn er hub wohl ein dutzendmal stets wieder an, zu bellen und zu bohren. Sogar als man ihn durch Überredung bewog, zu seinem Frühstück zurückzukehren, entsprach er dem Locken nur mit zweifelhafter Miene und schoß in einem abermaligen Krampf wieder fort, noch ehe er einen Bissen berührt hatte.
»Wenn jemand draußen lauschte?« flüsterte Florence. »Jemand, der mich kommen sah und mir vielleicht nachgegangen ist?«
»Könnte es wohl die junge Person sein, kleines Fräulein?« fragte der Kapitän, dem plötzlich eine glänzende Idee auftauchte.
»Susanne?« entgegnete Florence mit Kopfschütteln. »Ach, nein! Susanne ist schon lange nicht mehr bei mir.«
»Hoffentlich doch nicht desertiert?« versetzte der Kapitän, »Ihr wollt doch nicht sagen, das junge Frauenzimmer sei davongelaufen, mein Herzchen?«
»O nein, nein!« rief Florence. »Sie ist eine der treuesten Seelen von der Welt.«
Der Kapitän fühlte sich bei dieser Antwort sehr erleichtert und drückte seine Zufriedenheit dadurch aus, daß er den harten Glanzhut abnahm und sich mit seinem zur Kugel zusammengeballten Taschentuch den ganzen Kopf rieb. Dabei bemerkte er zu wiederholten Malen mit ungemeiner Selbstgefälligkeit und strahlendem Gesicht, daß er das im voraus gewußt habe.
»Bist du jetzt ruhig, Kamerad?« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Gott behüte, es ist niemand dagewesen, mein kleines Fräulein.«
Diogenes war hiervon nicht überzeugt, denn die Tür zog ihn von Zeit zu Zeit noch immer an. Er schnüffelte daran herum und legte sich vor ihr hin, ohne den Gegenstand vergessen zu können. Dieser Umstand nebst der Bemerkung, daß Florence müde und erschöpft war, bewog den Kapitän, sogleich Sol Gills' Stübchen als Zufluchtsort für sie herzurichten. Er begab sich daher hastig nach dem Giebel des Hauses hinauf und traf die besten Vorbereitungen, die ihm seine Einbildungskraft und seine Mittel an die Hand gaben.
Es war bereits sehr rein, und der Kapitän, der die Ordnung liebte und gerne alles schiffsgerecht hielt, wandelte das Lager in ein Ruhebett um, indem er es ganz mit einem reinen, weißen Überwurf bedeckte. In ähnlicher Weise machte er den kleinen Ankleidetisch zu einer Art Altar, den er mit zwei silbernen Teelöffeln, einem Blumentopf, einem Fernrohr, seiner berühmten Uhr, einem Taschenkamm und einem Gesangbuch ausschmückte – eine kleine Raritätensammlung, die sich ganz schön ausnahm. Nachdem er noch die Fenster verdunkelt, den Bodenteppich glatt gelegt und seine Vorbereitungen eine Weile mit großer Behaglichkeit gemustert hatte, stieg er nach dem kleinen Hinterstübchen hinunter, um Florence nach ihrem neuen Wohnsitz zu holen.
Nichts konnte den Kapitän zu dem Glauben an die Möglichkeit bewegen, daß Florence die Treppe hinaufgehen könne, und selbst wenn ihm ein anderer Gedanke gekommen wäre, würde er es für einen schmählichen Bruch der Gastfreundschaft gehalten haben, ihr dies zu gestatten. Florence war zu schwach, um sich hierüber in einen Streit einzulassen, weshalb er sie unangefochten hinauftrug, auf das Ruhebett niederlegte und mit einem großen Wachtmantel bedeckte.
»Mein kleines Fräulein«, sagte der Kapitän, »Ihr seid hier so sicher, als befändet Ihr Euch bei weggeschaffter Leiter auf der Spitze der St.-Pauls-Kirche. Vor allen Dingen ist Euch jetzt Schlaf nötig, und wohl bekomme Euch dieser Balsam für die stille kleine Stimme eines verwundeten Herzens. Braucht Ihr irgend etwas, meine Herzensfreude, was Euch dieses geringe Haus oder die Stadt bieten kann, so erlaßt ein Signal an Ed'ard Cuttle, der von jener Tür aus- und einsteuern wird, und der Mann zittert vor Freude, es beizuschaffen.«
Zum Schlusse küßte der Kapitän Florences ihm hingebotene Hand mit der Galanterie eines alten fahrenden Ritters und schlich sich auf den Zehen aus dem Gemach.
Kapitän Cuttle stieg nach dem kleinen Stübchen hinunter und beschloß nach einem hastig mit sich selbst gehaltenen Kriegsrat, für einige Minuten die Ladentür zu öffnen und sich zu überzeugen, daß jedenfalls jetzt niemand draußen mehr herumlungere. Demgemäß schloß er auf, trat auf die Schwelle, hielt scharfen Auslug und bestrich die ganze Straße mit seiner Brille.
»Wie geht es Euch, Kapitän Gills?« fragte eine Stimme neben ihm.
Der Kapitän schaute nieder und fand, daß er, während er den Horizont untersuchte, von Mr. Toots aufgesucht worden war.
»Wie geht es Euch, mein Junge?« versetzte der Kapitän.
»Ziemlich gut, danke, Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots. »Ihr wißt ja, es ist mir nie ganz, wie ich es wünschen könnte; und ich erwarte auch nicht, daß es je soweit kommen wird.«
Mr. Toots näherte sich, wenn er sich mit Kapitän Cuttle unterhielt, infolge der stattgehabten Übereinkunft dem großen Gegenstand seines Lebens nie weiter, als etwa in solcher Weise.
»Kapitän Gills«, fuhr Mr. Toots fort, »wenn ich das Vergnügen haben könnte, ein Wort mit Euch zu sprechen. Es handelt sich um – um etwas Besonderes.«
»Nun ja, aber Ihr seht, mein Junge«, versetzte der Kapitän, der nach dem Hinterstübchen voranging, »ich bin heute morgen nicht ganz – wie soll ich sagen – nicht ganz frei, und wenn Ihr es deshalb ein bißchen kurz machen könnt, so wird mir dies sehr lieb sein.«
»Allerdings, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, der von des Kapitäns Meinung nur selten eine richtige Vorstellung hatte. »Das gerade wünsche ich ja auch. Natürlich.«
»Wenn dies der Fall ist, mein Junge«, erwiderte der Kapitän, »so tut es.«
Der Kapitän war von dem wichtigen Geheimnis, daß Miß Dombey in diesem Augenblick sich unter seinem Dach befand, während der unschuldige, nichts ahnende Toots ihm gegenüber saß, so sehr in Anspruch genommen, daß ihm der Schweiß auf der Stirn ausbrach und er, als er denselben, den Glanzhut in der Hand, abtrocknete, seine Augen nicht von dem Gesicht seines Gastes verwenden konnte. Mr. Toots, der gleichfalls einen geheimen Grund zur Aufgeregtheit zu haben schien, geriet unter dem starren Blick des Kapitäns in eine so unaussprechliche Verlegenheit, daß er, nachdem er ihn eine Weile ausdruckslos angeschaut hatte, unruhig auf seinem Stuhl hin und her rückte und dann begann:
»Ich bitte um Verzeihung, Kapitän Gills, aber seht Ihr denn nichts Besonderes an mir?«
»Nein, mein Junge«, versetzte der Kapitän. »Nein.« »Ja, schaut nur«, sagte Mr. Toots mit einem Kichern, »ich weiß, daß ich magerer werde. Ihr könnt Euch ohne Bedenken darüber aussprechen. Es – es ist mir sogar lieb. Ich bin so dünn geworden, daß Burgeß und Co. sogar mein Maß ändern mußten. Aber es freut mich. Ich – ich bin froh darüber. Ich – ich würde sogar lieber ganz und gar schwindsüchtig werden, wenn ich könnte. Ihr wißt, ich bin nur ein Tier, das auf der Oberfläche der Erde herumgrast, Mr. Gills.«
Je mehr Mr. Toots in dieser Weise fortfuhr, desto schwerer fühlte sich der Kapitän von dem Gewicht seines Geheimnisses bedrückt und mit desto größeren Augen musterte er ihn. Dieser Anlaß der Unruhe und sein Wunsch, Mr. Toots los zu werden, versetzte den guten alten Mann in einen so verschüchterten, seltsamen Zustand, daß sogar eine Unterhaltung mit einem Gespenst ihn kaum weniger außer Fassung hätte bringen können.
»Aber was ich sagen wollte, Kapitän«, fuhr Mr. Toots fort, »offen gestanden, als ich heute morgen zufällig dieses Weges kam, wollte ich ein Frühstück mit Euch einnehmen. Was den Schlaf betrifft, so wißt Ihr wohl, daß ich jetzt nie schlafen kann. Ich könnte für einen Nachtwächter gelten, mit der Ausnahme, daß ich keine Zahlung dafür bekäme und er nichts auf dem Herzen hätte.«
»Nur weiter, mein Junge«, sagte der Kapitän in ermunterndem Ton.
»Ja, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots. »Vollkommen richtig. Ich war heute morgen – etwa vor einer Stunde – zufällig in dieser Straße, und da ich die Türen verschlossen fand – –.«
»Wie, Ihr habt draußen gewartet, Bruder?« fragte der Kapitän.
»Durchaus nicht, Kapitän Gills«, antwortete Mr. Toots. »Ich hielt mich keinen Augenblick auf. Ich dachte, Ihr wäret ausgegangen. Aber die Person sagte – beiläufig, Ihr haltet doch keinen Hund, oder, Kapitän Gills?«
Der Kapitän schüttelte den Kopf.
»Natürlich«, sagte Mr. Toots. »Das nämliche, was ich auch sagte. Ich wußte es ja. Es ist ein Hund mit im Spiele, Kapitän Gills – aber entschuldigt mich. Dies ist ein verbotener Boden.«
Der Kapitän starrte Mr. Toots so lange an, bis ihm dieser wenigstens zweimal so groß vorkam, und abermals brach auf seiner Stirn der Schweiß aus, wenn er dachte, Diogenes könnte es sich in den Kopf setzen, herunterzukommen und im Hinterstübchen der Dritte im Bunde sein zu wollen.
»Die Person sagte«, fuhr Mr. Toots fort, »sie habe im Laden einen Hund bellen hören, und da ich wußte, dies sei unmöglich, so sagte ich es ihr. Aber sie beharrte so entschieden auf ihrer Angabe, als ob sie den Hund gesehen hätte.«
»Was für eine Person, mein Junge«, sagte der Kapitän.
»Ja seht, eben da liegt der Hase im Pfeffer, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, und man merkte ihm noch mehr an, wie angegriffen er war. »Es steht mir nicht zu, zu sagen, was stattgefunden haben mag, oder nicht. In der Tat, ich weiß es nicht. Es gehen so allerlei Dinge in mir um, daß ich sie nicht recht zusammenreimen kann, und ich denke, es ist etwas ein bißchen schwach in meinem – – kurz, in meinem Kopf.«
Der Kapitän nickte mit dem seinen zum Zeichen der Zustimmung.
»Aber als wir weitergingen«, fuhr Mr. Toots fort, »sagte die Person, daß Ihr wüßtet, was unter obwaltenden Umständen sich zutragen könne« – er betonte das ›könne‹ sehr nachdrücklich – »und wenn man Euch auffordere, Euch bereit zu halten, so werde man Euch ohne Zweifel auch bereit finden.«
»Die Person, mein Junge!« wiederholte der Kapitän.
»Ich weiß wahrhaftig nicht, wer sie ist, Kapitän Gills, und kann mir auch nicht die mindeste Vorstellung von ihr machen«, versetzte Mr. Toots. »Aber als ich an die Tür kam, fand ich sie hier wartend, und sie fragte mich, ob ich wieder komme, worauf ich ja sagte. Besagte Person ist aber ein Mann. Er fragte mich dann, ob ich Euch kenne, und ich antwortete dann, ja, ich hätte das Vergnügen Eurer Bekanntschaft – Ihr hättet mir nach einigem Zureden die Ehre Eurer Bekanntschaft geschenkt; und er sagte, ob ich, wenn das der Fall sei, Euch nicht sagen wolle, was ich Euch bereits mitgeteilt habe, von obwaltenden Umständen und Vorbereitetsein, und ob ich Euch, sobald ich Euch sehe, nicht ersuchen wolle, daß Ihr, wäre es auch nur für eine Minute, wegen einer sehr wichtigen Angelegenheit um die Ecke hinüber zu Mr. Brogley, dem Makler, kommen möchtet. Ich will Euch sagen, Kapitän Gills: um was es sich auch handeln mag – ich bin überzeugt, daß es sehr wichtig ist, und wenn Ihr jetzt rasch mal hinüberkommen möchtet, so will ich hier warten, bis Ihr zurückkommt.
Der Kampf zwischen der Furcht, durch sein Nichtgehen Florence in irgendeiner Weise bloßzustellen, und dem Schrecken, Mrs. Toots im Hause zu lassen, wo er hinter das Geheimnis kommen konnte, versetzte den Kapitän in eine solche geistige Not, daß sogar Mr. Toots nicht blind dagegen sein konnte. Der junge Gentleman aber, der darin nur die Vorbereitungen seines seemännischen Freundes auf die bevorstehende Zusammenkunft sah, ließ sich dadurch nicht anfechten und konnte auf sein eigenes kluges Benehmen nur mit Kichern zurückblicken.
Endlich entschied sich der Kapitän dafür, unter zweien Übeln das kleinere zu wählen und zu dem Makler Brogley hinüber zu gehen, zuvor aber die Tür, die die Verbindung mit dem oberen Teil des Hauses herstellte, abzusperren und die Schlüssel in die Tasche zu stecken.
»Ihr werdet mich entschuldigen, Bruder, wenn ich dies tue«, sagte der Kapitän zu Mr. Toots zögernd und nicht ohne tiefe Scham.
»Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots, »ich bin mit allem einverstanden, was Ihr tut.«
Der Kapitän dankte ihm herzlich, versprach, nach weniger als fünf Minuten wieder zurückzukehren, und entfernte sich, um die Person aufzusuchen, die den Mr. Toots mit einer so geheimnisvollen Botschaft beauftragt hatte. Der arme Mr. Toots, der jetzt sich selbst überlassen war, dachte, als er sich auf das Sofa ausstreckte, wenig daran, wer erst kürzlich darauf geruht hatte, und während er, in Träume an Miß Dombey sich vertiefend, nach dem Hochlichtfenster hinaufschaute, hatte er bald Zeit und Raum vergessen.
Das war gut für ihn; denn obgleich der Kapitän nicht lange ausblieb, zögerte er doch viel länger, als er versprochen hatte. Als er endlich zurückkehrte, war er sehr blaß und aufgeregt. Ja, er sah sogar aus, als habe er Tränen vergossen. Er schien das Sprachvermögen völlig verloren zu haben, bis er den Schrank geöffnet und aus der Korbflasche ein Schlücklein Rum geholt hatte. Dann atmete er tief auf, setzte sich auf einen Stuhl und legte die Hand vor sein Gesicht.
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots teilnehmend, »ich hoffe, es ist doch nichts Schlimmes vorgefallen.«
»Danke, mein Junge, nicht das Geringste«, versetzte der Kapitän. »Ganz im Gegenteil.«
»Ihr scheint aber sehr aufgeregt zu sein, Kapitän Gills«, bemerkte Mr. Toots.
»Ach, mein Junge, ich bin freilich ein bißchen an den Mast geworfen«, räumte der Kapitän ein. »Jawohl.«
»Und kann ich nichts dabei tun, Kapitän Gills?« fragte Mr. Toots. »Wenn irgend möglich, so gebietet über mich.«
Der Kapitän entspannte sein Gesicht, sah ihn mit einem merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit an, ergriff ihn bei der Hand und drückte sie kräftig.
»Nein, ich danke Euch«, sagte der Kapitän. »Nichts. Aber Ihr tut mir einen Gefallen, wenn Ihr mich vorderhand allein laßt. Ich glaube, Bruder« – mit einem abermaligen Händedruck, »daß Ihr nach Wal'r, nur in einer ganz andern Art, ein so guter Bursche seid, wie nur je einer ein Schiff bestieg.«
»Wahrhaftig, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots, indem er der Hand des Kapitäns einen vorläufigen Schlag gab, ehe er sie wieder drückte, »ich bin überglücklich, Eure gute Meinung zu besitzen. Danke Euch.« »Und laßt den Mut nicht sinken«, sagte der Kapitän, ihn auf den Rücken klopfend. »Der Tausend, es gibt mehr als ein süßes Geschöpf in der Welt.«
»Für mich nicht, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots ernst. »Ich versichere Euch, für mich nicht. Meine Gefühle für Miß Dombey sind so unsagbar, daß mir mein Herz wie eine verlassene Insel erscheint, in der sie allein wohnt. Ich zehre mich mit jedem Tag mehr ab, und ich bin stolz darauf. Wenn Ihr meine Beine sehen könntet und ich mir die Stiefel auszöge, so würdet Ihr Euch eine Vorstellung davon machen, was unerwiderte Liebe bedeutet. Man hat mir Chinarinde verordnet, aber ich nehme sie nicht, weil ich nicht wünsche, daß meine Konstitution in irgendeiner Weise wieder gekräftigt werde. Nein, ich will dies nicht. Aber ich berühre verbotenes Gebiet. Kapitän Gills, Gott befohlen!«
Kapitän Cuttle erwiderte die Wärme von Mr. Toots Lebewohl herzlich, schloß die Tür hinter ihm ab, schüttelte mit demselben merkwürdigen Ausdruck von Mitleid und Innigkeit, wie früher, den Kopf und begab sich nach dem oberen Teile des Hauses, um zu sehen, ob Florence nichts von ihm begehre.
In dem Gesichte des Kapitäns ging ein völliger Wechsel vor, als er die Treppe hinaufstieg. Er wischte sich die Augen mit dem Taschentuch und polierte, wie er bereits am Morgen getan hatte, die Brücke seiner Nase mit seinem Ärmel. Aber seine Züge hatten einen ganz andern Ausdruck. Das eine Mal hätte man ihn für überschwenglich glücklich, das andere Mal für traurig halten können. Aber der Ernst, der auf seinem Gesichte lag, war etwas so ganz Neues und übte eine so angenehme Wirkung, daß man wohl auf den Glauben kommen konnte, seine Züge hätten einen Verfeinerungsprozeß durchgemacht.
Er klopfte mit seinem Haken zwei- oder dreimal an Florences Tür, erhielt aber keine Antwort. Deshalb wagte er es, zunächst einmal hineinzuschauen und dann einzutreten. Zu letzterem Schritt ermutigte ihn vielleicht die vertrauliche Begrüßung des Hundes, der an der Seite ihres Lagers auf dem Boden ausgestreckt lag, mit dem Schwanz wedelte und dem Kapitän mit den Augen zublinzelte, ohne daß er sich die Mühe nahm, aufzustehen.
Sie lag in einem tiefen Schlaf, der nur hin und wieder durch ein Seufzen unterbrochen wurde. Kapitän Cuttle, den ihre Jugend, ihre Schönheit und ihr Kummer mit einer tiefen Ehrfurcht erfüllten, richtete ihren Kopf auf, legte den Mantel auf die Stellen, wo er heruntergefallen war, wieder zurecht, verhüllte das Zimmer etwas mehr, damit sie ungehindert weiterschlafen könne, schlich dann wieder hinaus und bezog seinen Wachtposten auf der Treppe. Alles das geschah mit einem Berühren und Auftreten, so leicht wie Florences eigener Gang.
Es mag in dieser gemischten Welt wohl lang ein nicht leicht zu entscheidender Punkt bleiben, was der schönere Beweis von der Güte des Allmächtigen ist – die zarten Finger, die, zu teilnehmender Berührung gebildet, die Eigenschaft besitzen, Schmerz und Pein zu mildern, oder die rauhe, harte Hand des Kapitäns Cuttle, der unter der Lehre und Leitung eines gefühlvollen Herzens in einem Nu so weich wird!
Florence schlief, ihre Heimatlosigkeit und Verwaisung vergessend, auf ihrem Lager fort, und Kapitän Cuttle wachte auf der Treppe. Ein ungewöhnlich lautes Schluchzen oder Stöhnen brachte ihn bisweilen nach der Tür. Aber allmählich wurde ihr Schlaf ruhiger, und der Kapitän setzte seine Wache ungestört fort.
Neunundvierzigstes Kapitel. DER MIDSHIPMAN MACHT EINE ENTDECKUNG.
Es dauerte lange, bis Florence erwachte. Der Tag erreichte seine Mittagshöhe und nahm wieder ab. Aber noch immer schlief sie unruhig fort, des fremden Bettes, des Lärms und Getümmels auf der Straße und des Lichtes vergessend, das außerhalb des verhüllten Fensters schien. Indessen konnte sogar der tiefe Schlummer der Erschöpfung die Erinnerung an das, was in der nicht mehr bestehenden Heimat vorgefallen war, nicht ganz verdrängen. Einige unbestimmte, schmerzliche Bilder davon, die unruhig schlummerten, aber nie wirklich schliefen, wühlten während der ganzen Zeit ihrer Rast fort. Ein dumpfes Weh, gleich einem halbbeschwichtigten Schmerzgefühl, war ihr immer gegenwärtig, und ihre blassen Wangen befeuchteten sich öfter mit Tränen, als dem ehrlichen Kapitän, der von Zeit zu Zeit seinen Kopf leise durch die angelehnte Tür hereinsteckte, zu sehen lieb war.
Die Sonne sank im Westen und durchdrang, aus einem roten Nebel hervorblickend, mit ihren Strahlen, als wären sie durchdringende goldene Pfeile, die Öffnungen und die durchbrochene Arbeit an den Türmen der Stadtkirchen. Weithin über den Fluß und seine flachen Ufer breitete sie einen Glanz, ähnlich einem Feuerpfad; auf dem Meere draußen brach sich ihr Licht an den Segeln der Schiffe, und von ruhigen Kirchhöfen oder den Hügelspitzen des Landes aus gesehen, übergoß sie die fernen Landschaften mit einer rötlichen Glut, in der Erde und Himmel herrlich zusammenzuschmelzen schienen. Jetzt erst öffnete Florence die schweren Augen, ohne jedoch anfangs die fremden Wände um sie her zu erkennen, blickte teilnahmslos auf ihre Umgebung und hörte mit ebensowenig Achtsamkeit den Lärm auf der Straße. Bald aber fuhr sie von ihrem Lager auf, und nach einem erstaunten Umherschauen kam ihr wieder alles ins Gedächtnis.
»Mein Herzchen«, sagte der Kapitän, an die Tür klopfend, »wie geht es?«
»Lieber Freund«, rief Florence, auf ihn zueilend, »seid Ihr da?«
Der Kapitän war so stolz auf diese Bezeichnung und fühlte sich so glücklich bei der frohen Glut, die sich bei seinem Anblick in ihrem Gesichte ausdrückte, daß er als Antwort in sprachloser Selbstzufriedenheit seinen Haken küßte.
»Wie geht es, mein funkelnder Diamant?« sagte der Kapitän.
»Ich habe gewiß sehr lange geschlafen«, entgegnete Florence. »Wann kam ich hierher? Gestern?«
»Nein, heute ist der gesegnete Tag, mein kleines Fräulein«, antwortete der Kapitän.
»Es ist also keine Nacht dazwischen – noch immer Tag?« fragte Florence.
»Es geht jetzt stark auf Abend, mein Herzchen«, sagte der Kapitän, den Fenstervorhang zurückziehend. »Seht!«
Florence, ihre Hand so schüchtern und bekümmert auf den Arm des Kapitäns gelegt, und der Kapitän, mit seinem rauhen Gesicht und seiner stämmigen Gestalt so ruhig als Schützer ihr zur Seite, standen in dem rosigen Lichte des schönen Abendhimmels da, ohne ein Wort zu sprechen. In was für eigentümliche Worte der Kapitän auch seine Gefühle gebracht haben würde, wenn er sie hätte laut werden lassen, so sagte ihm doch sein Inneres, wie es nur der beredteste Mensch tun konnte, es liege etwas in der Ruhe der Zeit und in ihrer sanften Schönheit, das Florences verwundetes Herz zum Überströmen bringen würde, und es sei besser, daß solche Tränen ihren Lauf nähmen. Er sprach daher kein Wort. Aber als er seinen Arm inniger umfaßt fühlte, das Köpfchen ihm näher kam und sich endlich an seinen groben, blauen Ärmel anschmiegte, drückte er es sanft mit seiner rauhen Hand; er verstand sie und wurde verstanden.
»Jetzt besser, mein Herzchen!« sagte der Kapitän. »Hellauf! hellauf! Ich will jetzt hinuntergehen und Essen bereit halten. Wollt Ihr dann selbst kommen, mein Herz, oder soll Ed'ard Cuttle kommen und Euch holen?«
Florence versicherte ihm, daß sie jetzt völlig imstande sei, die Treppe hinunterzugehen, und wenngleich der Kapitän im Zweifel zu sein schien, ob es sich mit seinen Pflichten als Wirt und Beschützer vertrage, dies zu gestatten, entfernte er sich doch, um sogleich über dem Feuer im kleinen Stübchen ein Huhn zu braten. Damit er seine Kochkunst mit größerer Geschicklichkeit entfalten konnte, zog er seinen Rock aus, schlug die Hemdärmel zurück und setzte seinen Glanzhut auf, ohne dessen Beistand er nie an ein verfängliches oder schwieriges Unternehmen ging.
Nachdem Florence den schmerzenden Kopf und das brennende Gesicht mit dem frischen Wasser gekühlt hatte, das während ihres Schlafes von dem sorgfältigen Kapitän in das Zimmer geschafft worden war, trat sie an den kleinen Spiegel, um ihr wirres Haar in Ordnung zu bringen. Da bemerkte sie nun allsogleich – denn sie bebte erschrocken davor zurück –, daß sich auf ihrer Brust das dunkle Malzeichen einer zürnenden Hand befand.
Bei diesem Anblick strömten ihre Tränen aufs neue. Scham und Schrecken erfüllten sie, obschon sie dabei keinem Unwillen gegen ihn Raum gab. Der Heimat und des Vaters beraubt, vergab sie ihm alles, oder dachte kaum daran, daß sie ihm etwas zu vergeben habe. Aber sie floh jetzt vor dem Bilde von ihm, das sie in ihrem Herzen getragen, wie sie vor der Wirklichkeit geflüchtet, und er war jetzt ganz dahin und verloren. Es gab kein solches Geschöpf mehr in der Welt.
Die arme unerfahrene Florence konnte sich noch nicht denken, was sie tun oder wo sie sich aufhalten sollte. Es schwebte ihr wie in einem unbestimmten Traum vor, sie könnte in weiter Entfernung von London ein Haus finden, wo es einige kleine Schwestern zu unterrichten gäbe, die freundlich gegen sie wären, und denen sie sich unter einem andern Namen anschließen könnte. Sie wuchsen dann auf in ihrer glücklichen Heimat, heirateten, blieben gütig gegen ihre alte Gouvernante und vertrauten ihr vielleicht mit der Zeit die Erziehung ihrer eigenen Töchter an. Und sie dachte, wie seltsam und bekümmernd es sein würde, in solcher Weise grau zu werden und ihr Geheimnis ins Grab mitzunehmen, nachdem Florence Dombey längst vergessen war. Alles erschien ihr jetzt trüb und umwölkt. Sie wußte nur, daß sie auf Erden keinen Vater hatte, und sagte sich das oft selbst, wenn sie in stiller Einsamkeit ihr betendes Haupt vor dem himmlischen Vater beugte.
Ihr kleiner Geldvorrat belief sich nur auf einige Guineen. Einen Teil davon mußte sie auf Anschaffung einiger Kleidungsstücke verwenden, da sie nichts hatte, als was sie auf dem Leibe trug. In ihrem Leid konnte sie nicht daran denken, wie bald ihr Geld aufgebraucht sein würde – ja, sie war auch in weltlichen Dingen noch zu sehr Kind, um sich deshalb sehr zu grämen, selbst wenn ihr anderer Kummer geringer gewesen wäre. Sie versuchte, ihre Gedanken zu beruhigen und ihren Tränen Einhalt zu tun – den Sturm in ihrem klopfenden Kopf zu beschwichtigen und sich zu dem Glauben zu zwingen, was vorgefallen war, habe sich nur vor wenigen Stunden, nicht aber vor Wochen und Monaten zugetragen, wie es ihr vorkam. Dann ging sie hinunter zu ihrem freundlichen Beschützer. Der Kapitän hatte mit großer Sorgfalt das Tischtuch ausgebreitet und war eben damit beschäftigt, in einem kleinen Pfännchen eine Eierbrühe anzufertigen. Auch bestrich er gelegentlich das vor dem Feuer sich bräunende Huhn mit großer Aufmerksamkeit. Das Sofa war um der größeren Behaglichkeit willen in eine warme Ecke gerückt und für Florence bequem aufgepolstert worden, so daß der Kapitän seine Küche ungehindert weiter ordnen konnte. Er tat dies mit außerordentlicher Fertigkeit, machte in einem zweiten Pfännchen Fleischbrühe heiß, kochte in einem dritten eine Handvoll Kartoffeln, vergaß aber nie die Eierbrühe in dem ersten und machte unparteiisch seine Runde bei allen, indem er mit dem brauchbarsten Löffel bald den Braten beträufelte, bald die Brühen umrührte. Außer diesen Obliegenheiten mußte der Kapitän ein weiteres Augenmerk der winzigen Bratkachel zuwenden, in der einige Würste in sehr musikalischer Weise zischten und prutzelten, und in dem Eifer seines Geschäfts nahm er sich so strahlend aus, daß man unmöglich sagen konnte, ob sein Gesicht oder sein Hut am meisten glänzte.
Endlich war das Mahl fertig, und Kapitän Cuttle trug es mit nicht geringerer Gewandtheit auf, als er es gekocht hatte. Dann kleidete er sich für das Diner an, indem er seinen Glanzhut abnahm und den Rock anlegte. Sobald dies geschehen war, rückte er den Tisch vor das Sofa, sprach ein Gebet, schraubte seinen Haken ab, ersetzte diesen durch seine Gabel und machte die Honneurs der Tafel.
»Mein Frauenzimmerchen«, sagte der Kapitän, »hellauf, und versucht ordentlich zu essen. Halt bei, mein Schätzchen. Hier ein Hühnerflügel. Sauce. Würste. Und Kartoffel!«
Alles das ordnete der Kapitän symmetrisch auf einem Teller, goß mit dem brauchbaren Löffel heiße Fleischbrühe über das Ganze und setzte es seinem geehrten Gast vor.
»Die ganze Fensterreihe im Vorderschiff ist zu, Frauenzimmerchen«, bemerkte der Kapitän ermutigend, »und alles sicher. Versucht ein bißchen zu picken, mein Schatz. Wenn Wal'r hier wäre –«
»Ach, daß ich ihn jetzt zum Bruder hätte!« rief Florence.
»Laßt es Euch nicht so angreifen, mein Schatz!« sagte der Kapitän; »tut mir den Gefallen! Er war Euch wie ein natürlich geborner Verwandter – war es nicht so, mein Herz?«
Florence hatte keine Worte zur Erwiderung und sagte nur:
»O lieber, lieber Paul, o Walter!«
»Sogar die Planken, auf denen sie ging«, murmelte der Kapitän, nach ihrem gesenkten Antlitz hinblickend, »hat Walter so hochgeschätzt, wie die Wasserbäche, nach denen er in Dombeys Bücher eingetragen wurde, und als er beim Diner von ihr sprach, glänzte sein Gesicht wie eine neu aufgeblühte Rose im Tau, obschon es nur in der größten Bescheidenheit geschah. Ja, ja, wenn unser armer Walter hier wäre, mein Fräuleinchen – oder wenn er hier sein könnte – denn er ist ertrunken, nicht wahr?«
Florence schüttelte den Kopf.
»Ja, ja, ertrunken«, fuhr der Kapitän beschwichtigend fort, »wie ich sagen wollte, wenn er hier sein könnte, mein Kleinod, so würde er bei Euch bitten und betteln, daß Ihr ein bißchen mehr zulanget und für Eure eigene süße Gesundheit sorgtet. Nehmt doch Bedacht darauf, mein Kindchen, als wäre es um Walters willen, und legt Euren hübschen Schnabel vor den Wind.«
Florence versuchte, dem Kapitän zu Gefallen einen Bissen zu essen. Dieser aber schien sein eigenes Diner ganz vergessen zu haben; denn er legte Messer und Gabel nieder und rückte seinen Stuhl an das Sofa.
»Wal'r war doch ein prächtiger Junge, meint Ihr nicht, mein Kleinod?« sagte der Kapitän, die Augen auf sie geheftet, nachdem er eine Weile stumm dagesessen und das Kinn gerieben hatte, »und ein braver Junge, und ein guter Junge.« Unter Tränen pflichtete Florence bei.
»Und er ist ertrunken, mein schönes Kind, ist er es nicht?« sagte der Kapitän in beschwichtigender Stimme.
Florence konnte abermals nichts anderes tun, als zustimmen.
»Er war älter als Ihr, mein kleines Fräulein«, fuhr der Kapitän fort; »aber Ihr wart von Anfang an wie zwei Kinder gegeneinander – nicht wahr, so war es?«
»Ja«, lautete Florences Antwort.
»Und Wal'r ist ertrunken«, sagte der Kapitän. »Nicht wahr?«
Die Wiederholung dieser Frage war eine eigentümliche Art Trost, schien aber jedenfalls für Kapitän Cuttle diese Eigenschaft zu besitzen, da er immer wieder auf sie zurückkam.
Florence, die gerne ihr Mahl unberührt beiseite geschoben und sich auf das Sofa zurückgelehnt hätte, gab ihm ihre Hand in dem Gefühl, daß sie seine Erwartungen getäuscht hätte, obschon sie nichts sehnlicher wünschte, als ihm nach aller seiner Mühe gefällig zu sein. Er behielt sie in der seinen, drückte sie und murmelte, des Diners und ihres Appetitmangels ganz vergessend, bisweilen im Tone brütender Teilnahme für sich hin: »Der arme Wal'r. Ja, ja! ertrunken. Ist es nicht so?« Dabei wartete er stets auf ihre Antwort, die augenscheinlich bei diesen seltsamen Betrachtungen ihm das wichtigste war.
Das Huhn und die Würste waren kalt, die Fleischbrühe und die Eiersauce aber fest geworden, ehe sich der Kapitän erinnerte, daß sie noch bei Tisch saßen. Dann aber fiel er unter dem Beistand von Diogenes über das Mahl her, und es gelang ihren vereinigten Kräften, rasch damit fertig zu werden. Das frohe Erstaunen des Kapitäns über die ruhige Emsigkeit, womit Florence ihm beim Abräumen des Tisches, beim Ordnen des Stübchens und beim Reinigen des Herds sich betätigte – man hätte nur den Eifer, womit er ihren Beistand ablehnen wollte, damit vergleichen können – steigerte sich allmählich so sehr, daß er zuletzt selbst nichts mehr tat und ihr bloß zusah, als wäre sie irgendeine Fee, die derlei Gefälligkeiten so zierlich für ihn verrichtete. Dabei begann in seiner unaussprechlichen Bewunderung der rote Streifen auf seiner Stirne wieder zu glühen.
Aber als Florence vom Kaminsims seine Pfeife herunterlangte und sie ihm mit der Bitte in die Hand gab, daß er jetzt rauchen möchte, wurde der Kapitän durch ihre Aufmerksamkeit so verwirrt, daß er das Rauchinstrument auf eine Art in der Hand hielt, als habe er sich sein ganzes Leben über nie mit dergleichen Dingen abgegeben. Und als nun Florence gar in den kleinen Schrank hineinsah, die Korbflasche herausnahm und unaufgefordert ein Glas trefflichen Grogs für ihn mischte, das sie vor ihm niedersetzte, da wurde seine rötliche Nase eigentlich blaß ob der Ehre, die ihm widerfuhr. Nachdem er in einer wahren Verzückung seine Pfeife gefüllt hatte, zündete Florence ihm diese an, ohne daß er imstande gewesen wäre, eine Einwendung dagegen zu erheben oder sie daran zu hindern. Dann nahm sie ihren Platz auf dem Sofa wieder ein und blickte mit einem so liebevollen und dankbaren Lächeln nach ihm hin, – einem Lächeln, das ihm zeigte, ihr kummervolles Herz sei ihm in gleicher Weise zugewendet, wie ihr Gesicht – daß sich der Rauch seiner Pfeife in seiner Kehle verfing und ihn zum Husten zwang, während er zugleich seine Augen so sehr belästigte, daß sie ihm überliefen.
Es war in der Tat ergötzlich anzusehen, wie der Kapitän sich glauben zu machen versuchte, der Grund dieser Wirkungen liege in der Pfeife selbst; denn er suchte in dem Kopf darnach, und als er ihn da nicht fand, tat er, als wolle er ihn zum Rohr hinausblasen. Die Pfeife geriet jedoch bald in ein besseres Stadium, und er kam in jenen Zustand von Ruhe, der es ihm möglich machte, ordentlich fortzurauchen. Gleichwohl verwandte er kein Auge von Florence, und mit einer strahlenden Selbstgefälligkeit, die sich nicht beschreiben läßt, hielt er hin und wieder inne, um von seinen Lippen langsam eine kleine Wolke zu entsenden, als wäre sie ein langer Streifen Papier mit der Inschrift: »Ja, ja, der arme Wal'r. Ertrunken, ist es nicht so?« Dann fuhr er mit unendlicher Zartheit wieder in seinem Rauchgeschäft fort.
So ungleich sie auch im Äußeren waren – es konnte kaum einen schrofferen Gegensatz geben, als den, der Florence in ihrer zarten Jugend und Schönheit dem knaufigen Gesicht, der breiten, verwitterten Gestalt und der rauhen Stimme des Kapitäns gegenüber darbot – standen sie sich doch, was einfache Unschuld und Arglosigkeit betraf, sehr nahe. Der Kapitän verstand sich auf gar nichts, als auf Wind und Wetter, und sein einfacher Charakter, seine Leichtgläubigkeit und Vertrauensfülle glichen denen eines Kindes. Sein ganzes Wesen war in die drei Haupttugenden, Glaube, Hoffnung und Liebe geteilt, so, daß für nichts anderes mehr Raum vorhanden war, als für eine gewisse romanhafte Weltanschauung, ohne denkbare wirkliche Grundlage, indem sie alle Rücksichten auf die zeitliche Klugheit oder die Wirklichkeit außer acht ließ. Während der Kapitän rauchend dasaß und Florence ansah, trug er sich mit weiß Gott wie viel unmöglichen Bildern, in denen sie ihm stets als Hauptgestalt vor die Seele trat. Ebenso haltlos und unsicher, obschon nicht so hoffnungsreich waren ihre eigenen Gedanken über das vor ihr liegende Leben, und wie ihre Tränen das Licht in prismatischen Farben sich brechen ließen, so sah sie auch in ihrem neuen schweren Gram bereits am fernen Horizont den matten Abglanz eines Regenbogens. Eine wandernde Prinzessin und ein treu gesinntes Ungeheuer, wie sie in den Märchenbüchern dargestellt werden, hätten ebenso neben dem Kamin sitzen und sprechen können, wie Kapitän Cuttle und die arme Florence dachten. Auch würde ein solcher Vergleich, was ihr Äußeres angeht, nicht ganz unpassend gewesen sein.
Der Kapitän ließ es sich nicht entfernt einfallen, er könnte sich eine Last oder Verantwortlichkeit aufbürden, wenn er Florence bei sich behalte, und er glaubte in dieser Beziehung alles getan zu haben, wenn er Läden und Türe schloß. Ja, hätte sie sich sogar unter dem besonderen Schutz des Lord-Kanzlers befunden, so würde er sich nicht im mindesten daran gekehrt haben, denn von allen Menschen auf Erden war er gewiß derjenige, der sich zuletzt durch derartige Rücksichten anfechten ließ.
So rauchte der Kapitän ganz behaglich seine Pfeife, während Florence ihren eigenen Gedanken nachhing. Nachdem die Pfeife ausgegangen war, genossen sie etwas Tee, und Florence bat ihn nun, er möchte sie nach einem benachbarten Laden begleiten, wo sie einige zunächst nötige Bedürfnisse einkaufen wollte. Es war schon ganz dunkel, und der Kapitän willigte ein, schaute aber sorgfältig vorher hinaus, wie er es in den Zeiten seines Verstecks vor Mrs. Mac Stinger getan hatte, und bewaffnete sich mit einem großen Stock, für den Fall, daß durch eine unerwartete Wendung der Gebrauch von Waffen nötig würde.
Mit ungemeinem Stolz reichte Kapitän Cuttle Florencen seinen Arm und geleitete sie einige hundert Schritte weit, durch seine große Wachsamkeit und die zahllosen Vorsichtsmaßregeln die Blicke aller Vorübergehenden auf sich ziehend. In dem Laden angelangt, glaubte der Kapitän, das Zartgefühl fordere von ihm, sich für die Dauer des Einkaufs, der aus Kleidungsartikeln bestehen sollte, zurückzuziehen. Zuvor aber stellte er seine Zinnbüchse auf den Tisch und erklärte dem Ladenmädchen, daß sie vierzehn Pfund zwei Schillinge enthalte. Wenn übrigens dieser Betrag nicht zureiche, um den Aufwand für die kleine Ausstattung seiner Nichte zu bestreiten – bei dem Wort »Nichte« warf er Florence einen sehr bedeutsamen Blick zu und begleitete denselben mit einer Gebärde, die Schlauheit und Geheimnisfülle ausdrückte – so solle sie nur die Güte haben, Signal zur Tür hinaus zu geben, da er dann den Mehrbetrag aus seiner Tasche entrichten wolle. Gelegentlich zog er auch seine große Uhr hervor, als ein schlaues Mittel, das Ladenpersonal durch den Anschein von großem Vermögen zu blenden, küßte sodann gegen die neue Nichte seinen Haken und ging zur Tür hinaus, nach der Außenseite des Fensters, wo man von Zeit zu Zeit unter den Seidenstoffen und Bändern sein großes Gesicht in augenscheinlichem Argwohn hereingucken sah, Florence könnte durch eine Hintertür geistartig verschwinden.
»Mein lieber Kapitän«, sagte Florence, als sie mit einem Päckchen herauskam, dessen Umfang die Erwartungen des Kapitäns sehr enttäuschte, da dieser geglaubt hatte, es werde ihr ein Lastträger mit einem Warenballen folgen, »ich brauche in der Tat dieses Geld nicht und habe auch nichts davon ausgegeben. Ich bin selbst mit Geld versehen.«
»Mein kleines Fräulein«, entgegnete der betroffene Kapitän und ließ seinen Blick die Straße hinuntergleiten, »wollt Ihr so gut sein, es für mich aufzuheben, bis ich es einmal fordere?«
»Darf ich es an den gewöhnlichen Platz zurückstellen und es dort aufbewahren?« fragte Florence.
Der Kapitän war mit diesem Vorschlag nicht ganz zufrieden, antwortete aber:
»Nun ja, mein Kindchen, stellt es hin, wohin Ihr wollt, wofern Ihr nur wißt, daß Ihr es wieder finden könnt. Für mich ist es unnütz«, fügte er hinzu, »und es wundert mich nur, daß ich es nicht schon längst beim Würfeln verspielt habe.«
Der Kapitän war für den Augenblick völlig entmutigt, lebte aber bei der ersten Berührung von Florences Arm wieder auf, und sie kehrten mit derselben Vorsicht wie auf dem Herweg nach Hause zurück. Der Kapitän öffnete die Tür zum Bord des kleinen Midshipman und huschte mit einer Schnelle hinein, wie nur viele Übung es ihn gelehrt haben konnte. Während Florences Morgenschlummer hatte er die Tochter einer älteren Frau gemietet, die gewöhnlich auf dem Leaden Hall-Markt unter einem blauen Sonnenschirm Geflügel verkaufte, daß sie ins Haus komme, Florences Zimmer in Ordnung bringe und ihr andere kleine Dienste leiste. Während ihrer Abwesenheit war diese Jungfer erschienen, und Florence fand jetzt alles um sich her so bequem und ordentlich, wenn auch nicht so schön, wie in dem schrecklichen Traum, den sie früher ihre Heimat nannte.
Sobald sie wieder allein waren, bestand der Kapitän darauf, daß sie eine Röstschnitte essen und ein Glas Würzgrog, den er vortrefflich anzufertigen wußte, trinken müsse. Nachdem er ihr außerdem mit freundlichen Worten und allen nur erdenklichen ungereimten Redewendungen zugesprochen hatte, führte er sie zu ihrem Schlafgemach hinauf. Aber auch er trug etwas auf seinem Herzen, und seinem ganzen Wesen war eine gewisse Unruhe anzumerken.
»Gute Nacht, mein liebes Herz«, sagte er zu ihr, als er sich an der Tür von ihr verabschiedete.
Florence erhob ihre Lippen zu seinem Gesicht und küßte ihn.
Zu jeder andern Zeit würde der Kapitän durch einen solchen Beweis von Zuneigung und Dankbarkeit ganz und gar das Gleichgewicht verloren haben. Aber obschon er auch jetzt nicht unempfindlich dafür war, blickte er ihr sogar mit größerer Unruhe, als er früher kundgegeben, ins Gesicht und schien nicht Lust zu haben, sie zu verlassen.
»Der arme Wal'r!« sagte der Kapitän.
»Der arme, arme Walter!« seufzte Florence.
»Ertrunken, nicht wahr?« sagte der Kapitän.
Florence schüttelte den Kopf und seufzte.
»Gute Nacht, mein kleines Fräulein!« sagte Kapitän Cuttle, seine Hand ausstreckend.
»Gott behüte Euch, mein lieber, wohlwollender Freund!«
Aber der Kapitän zögerte noch immer.
»Ist etwas vorgefallen, lieber Kapitän Cuttle?« fragte Florence, die in ihrem gegenwärtigen Gemütszustand leicht in Schrecken geriet. »Habt Ihr mir etwas zu sagen?«
»Euch etwas zu sagen, Frauenzimmerchen?« versetzte der Kapitän, sie in großer Verwirrung ansehend. »Nein, nein; was sollte ich Euch auch zu sagen haben, mein Herz? Ihr erwartet doch nicht, daß ich Euch etwas Gutes mitteilen könne?«
»Nein«, versetzte Florence kopfschüttelnd.
Der Kapitän blickte gedankenvoll nach ihr hin, wiederholte das »Nein« und zögerte noch immer in großer Verlegenheit.
»Armer Wal'r«, sagte er. » Mein Wal'r, wie ich dich zu nennen pflegte! Neffe des alten Sol Gills. Allen, die dich gekannt haben, so willkommen wie die Blumen im Mai! Wo bist du hingekommen, wackerer Junge – ertrunken, nicht wahr?«
Sein Selbstgespräch mit diesem plötzlichen Grübeln und dieser Wendung an Florencen schließend, wünschte er ihr gute Nacht und stieg die Treppe hinunter, während sie oben das Licht hinaushielt, um ihm zu leuchten. Er war schon in der Dunkelheit verschwunden und, wenn man aus dem Schall seiner sich entfernenden Tritte einen Schluß ziehen durfte, eben im Begriff, nach dem kleinen Stübchen sich zu wenden, als sein Kopf und seine Schultern unerwartet wieder aus der Tiefe auftauchten, augenscheinlich in keiner anderen Absicht, als um die Worte zu wiederholen: »Ertrunken, nicht wahr, meine Liebe?« Wenigstens verschwand er sogleich wieder, nachdem er diese Frage im Tone zarten Mitleids gestellt hatte.
Florence bedauerte sehr, daß sie durch ihre Flucht hierher – ohne es zu wissen, obschon ganz natürlich – im Innern ihres Beschützers solche Erinnerungen geweckt hatte. Sie setzte sich an den kleinen Tisch, den der Kapitän mit dem Fernrohr, dem Gesangbuch und andern Raritäten ausgestattet hatte, und dachte an Walter und alle die Dinge, die in der Vergangenheit mit ihm in Verbindung standen, bis sie zuletzt fast wünschte, sie möchte sich niederlegen und sterben können. Aber ihrer einsamen Sehnsucht nach dem Toten, den sie geliebt hatte, mengte sich kein Gedanke an die Heimat oder an die Möglichkeit der Rückkehr dahin – kein Bild von ihrem Vorhandensein bei. Sie hatte den Mord vollziehen sehen. Als der Vater, an dem sie so sehr gehangen, das letztemal vor ihr gestanden, war auch jede zögernde Spur von dem so zärtlich gehegten Bilde aus ihrem Heizen gerissen, verzerrt und erschlagen worden. Der Gedanke daran wirkte so erschütternd auf sie, daß sie die Augen bedeckte und nur mit Zittern auf die Tat oder die grausame Hand, die sie verübte, zurückblicken konnte. Wenn ihr inniges Herz imstande gewesen wäre, nach einem solchen Vorgang sein Bild noch länger zu bewahren, so hätte es brechen müssen. Aber es vermochte dies nicht, und an die Stelle der Leere trat eine wilde Furcht, die vor jedem zerstreuten Bruchstück dieses Bildes sich flüchtete – eine Furcht, die sich nur aus den Tiefen einer so innigen, einer so schwer verletzten Liebe erheben konnte.
Sie wagte es nicht, in den Spiegel zu sehen; denn bei dem Anblick des dunklen Males auf ihrer Brust erschrak sie vor sich selbst, als trage sie etwas Abscheuliches an sich herum. Sie bedeckte es im Dunkeln mit hastiger, unsteter Hand und legte weinend ihr müdes Haupt nieder.
Der Kapitän ging noch lange nicht zu Bett, sondern spazierte eine volle Stunde in dem Laden und in dem Hinterstübchen umher. Nachdem er durch diese Leibesübung wieder zu einiger Fassung gekommen war, setzte er sich mit ernstem gedankenvollen Gesicht nieder und las aus dem Gebetbuch die Gebetformeln für Seeleute. Das war nicht so leicht abgetan; denn der gute Kapitän war ein sehr langsamer, ungeschickter Leser und machte oft bei einem schweren Worte halt, um sich durch ein »na, mein Junge! nur lustig vorwärts!« oder »los, Ed'ard Cuttle, los!« zu ermuntern – Zusprüche, die ihm in der Regel aus jeder Not halfen. Dazu kam noch, daß sein Sehvermögen durch die Brille sehr beeinträchtigt wurde. Aber ungeachtet dieser Hindernisse lag der Kapitän, dem es sehr ernst damit war, mit großem Gefühl den Schiffsgottesdienst bis auf die letzte Zeile und verstaute sich dann in großer Zufriedenheit über das vollbrachte Werk mit heiterer Seele und mit von Wohlwollen strahlendem Gesicht unter dem Ladentisch, nachdem er zuvor noch die Treppe hinaufgegangen war und an Florences Tür gelauscht hatte.
Er stand auch im Laufe der Nacht mehrere Male auf, um sich zu überzeugen, daß sein Pflegling ruhig schlummere, bis er bei Tagesanbruch die Entdeckung machte, daß sie wache. Sie hörte nämlich Fußtritte in der Nähe der Tür und rief ihm zu, ob er es sei.
»Ja, mein kleines Fräulein«, versetzte der Kapitän in dumpfem Flüstern. »Steht alles recht bei Euch, mein Kleinod?«
Florence dankte ihm und sagte »Ja«.
Der Kapitän konnte eine so günstige Gelegenheit nicht versäumen und legte seinen Mund an das Schlüsselloch, durch das er wie eine heitere Brise rief:
»Der arme Wal'r! ertrunken – ist es nicht so?« Dann ging er wieder hinunter, verstaute sich abermals und schlief bis gegen sieben Uhr.
Im Laufe des ganzen Tages zeigte sich an ihm immer noch das unruhige, verlegene Wesen, obgleich sich Florence, die in dem kleinen Hinterstübchen ihre Nadel in Tätigkeit setzte, in weit gefaßterer Stimmung befand, als am vorhergehenden Tage. Indessen bemerkte sie fast immer, so oft sie die Augen von ihrer Arbeit aufschlug, daß der Kapitän nach ihr hinsah und sich gedankenvoll das Kinn strich. Auch rückte er seinen Armstuhl oft an ihre Seite, als ob er ihr eine vertrauliche Mitteilung machen wolle, schob ihn aber immer wieder zurück, da er über den Anfang nicht mit sich ins reine zu kommen schien, so daß er im Lauf des Tages mit dieser gebrechlichen Barke das ganze Stübchen nach allen Richtungen durchkreuzte und mehr als einmal in sehr trostloser Lage an dem Getäfel oder der Schranktür auf den Strand lief.
Endlich um die Zeit der Dämmerung warf Kapitän Cuttle neben Florence Anker und begann in einigem Zusammenhang zu reden. Als jedoch das Licht des Feuers die Wände und Decke des kleinen Stübchens, das Teebrett mit seinen Tassen auf dem Tisch und ihr ruhiges, der Flamme zugekehrtes Gesicht erhellte, während es zugleich sich in den Tränen spiegelte, die ihre Augen füllten, unterbrach der Kapitän ein langes Schweigen folgendermaßen:
»Ihr seid wohl noch nie zur See gewesen, meine Liebe?«
»Nein«, versetzte Florence.
»Hm«, sagte der Kapitän respektvoll; »es ist ein allmächtiges Element. Es gibt Wunder in der Tiefe, mein Schätzchen. Denkt Euch, wenn die Winde brausen und die Wellen sich auftürmen, denkt Euch eine Sturmnacht, so pechfinster«, fuhr der Kapitän fort, indem er feierlich seinen Haken in die Höhe hielt, »daß man nicht einmal die vorgehaltene Hand sehen kann, wenn nicht etwa ein Blitzstrahl sie erhellt, wo es dann fort, fort und fort geht durch Sturm und Dunkel, als gehe es schnabelvoran immer weiter in die Welt ohne Ende, Amen, und wenn Ihr es gefunden habt, so biegt ein Ohr ein. Das sind Zeiten, mein schönes Kind, wo einer wohl zu seinem Kameraden sagen kann: ›Ein steifer Nordwester, Bill; horch – hörst du ihn brausen? Gott helfe ihnen – wie dauert mich jetzt all das unglückliche Volk am Lande!‹«
Diese Rede, die in eigentümlicher Weise die Schrecken des Ozeans versinnlichte, brachte der Kapitän in sehr nachdrücklicher Weise hervor, und den Schluß bildete ein kräftiges: »Halt bei!«
»Habt Ihr schon einen schweren Sturm durchgemacht?« fragte Florence.
»Ei ja, Kindchen, ich habe meinen Teil schlecht Wetter gesehen«, sagte der Kapitän, mit bebender Hand seinen Kopf trocknend, »ich bin tüchtig umhergeworfen worden; aber – aber ich wollte nicht von mir selbst sprechen. Unser lieber Junge«, – er rückte ihr näher – »Wal'r, meine Liebe, der ertrunken ist.«
Der Kapitän sprach mit so unsicherer Stimme und blickte Florence mit einem so blassen aufgeregten Gesicht an, daß sie sich erschreckt an seinen Arm schmiegte.
»Euer Gesicht ist verändert«, sagte Florence. »Ihr seht mit einem Male so ganz anders aus. Was gibt es? Lieber Kapitän Cuttle, es überläuft mich eiskalt, wenn ich Euch so sehe.«
»Ach, Kindchen«, entgegnete der Kapitän, sie mit seiner Hand unterstützend, »Ihr müßt Euch nicht so an den Mast zurückwerfen lassen. Nein, nein, es steht alles recht, alles recht, meine Liebe. Was ich sagen wollte – Wal'r – er ist – er ist ertrunken. Ist es nicht so?«
Florence verwandte keinen Blick von ihm und legte, bald errötend, bald erblassend, ihre Hand auf die Brust.
»Es gibt Mühseligkeiten und Gefahren auf der Tiefe, meine Schönheit«, sagte der Kapitän, »und über manchem wackeren Schiff, über manchem und manchem kühnen Herzen hat sich das verschwiegene Wasser geschlossen, ohne etwas von seiner Geschichte zu erzählen. Aber man entkommt auch aus der Tiefe, und bisweilen wird ein einziger Mann von einem halb Hundert – ja, von einem Hundert vielleicht, mein Herzchen – durch die Gnade Gottes gerettet, so daß er wieder nach Hause kommt, nachdem man ihn für tot gehalten und alles ihn für verloren gegeben hat. Ich – ich kenne eine derartige Geschichte, Herzensfreude«, stotterte der Kapitän, »die mir einmal erzählt wurde, und da wir jetzt auf diesem Gang sind und wir beide, Ihr und ich, allein beim Feuer sitzen, so ist es Euch vielleicht nicht unangenehm, wenn ich sie Euch erzähle. Ist es Euch recht, meine Liebe?«
Zitternd vor Aufregung, die sie nicht beherrschen oder sich erklären konnte, folgte Florence unwillkürlich seinem Blick nach einer Stelle hinter ihr im Laden, wo eine Lampe brannte. Aber ebenso schnell, als sie den Kopf umwandte, sprang der Kapitän von seinem Stuhl auf und hielt sie mit der Hand zurück.
»Es ist nichts da, mein schönes Kind«, sagte er. »Ihr müßt nicht dorthin sehen.«
»Warum nicht?« fragte Florence.
Der Kapitän murmelte vor sich hin, es sei dort so finster, um das Feuer herum aber so behaglich. Dann lehnte er die Tür, die bis jetzt offen gestanden hatte, an und nahm seinen Sitz wieder ein. Florence folgte ihm mit den Augen und verwandte keinen Blick von seinem Gesicht.
»Die Geschichte betrifft ein Schiff, mein Herzenskind«, begann der Kapitän, »das mit günstigem Wind und Wetter aus dem Hafen von London aussegelte und nach – erschreckt nicht, mein Kindchen – es war nur nach auswärts bestimmt, mein Herz, nur nach auswärts.«
Der Ausdruck in Florences Gesicht beunruhigte den Kapitän, der selbst sehr erhitzt war und kaum weniger Aufregung zeigte als sie.
»Soll ich fortfahren, mein schönes Kind?« sagte der Kapitän.
»Ja, ja, bitte!« rief Florence.
Der Kapitän schluckte, als müsse etwas hinunter, was ihm in der Kehle stecken geblieben war, und fuhr mit unsicherer Stimme fort:
»Jenes unglückliche Schiff wurde in der See draußen von so schlechtem Wetter betroffen, wie man es in zwanzig Jahren kaum einmal trifft, meine Liebe. Es gibt Orkane am Land, die ganze Wälder und Städte niederreißen, und es gibt in jenen Breiten zur See Stürme, die das stärkste Schiff, das je vom Stapel gelassen wurde, nicht aushalten kann. Wie mir erzählt wurde, benahm sich jenes unglückliche Schiff Tag um Tag wacker und hat seine Schuldigkeit getan, meine Liebe. Aber mit einem einzigen Stoß waren fast alle seine Bollwerke eingestoßen, Masten und Steuer weggerissen und die besten Matrosen über Bord gefegt, so daß der Rumpf ganz der Gnade eines Sturmes preisgegeben war, der nicht gnädig verfuhr, sondern immer schwerer und schwerer blies, während die Wellen über ihn hinschlugen und ihn jedesmal mit ihrem donnernden Anprall wie eine Eierschale zerknickten. Jeder schwarze Punkt auf den Wasserbergen, die weiterrollten, war ein Stückchen von dem Leben des Schiffs oder ein lebender Mensch, und so ging es in Trümmer, mein liebes Mädchen, ohne daß je Gras wachsen wird über den Gräbern derer, die das Fahrzeug bemannt hatten.«
»Sie gingen nicht alle zugrunde!« rief Florence. »Einige wurden gerettet! – war es vielleicht nur ein Einziger?«
»An Bord jenes unglücklichen Schiffes«, sagte der Kapitän, indem er von seinem Stuhl aufstand und mit außerordentlichem Nachdruck jubelnd seine Hand ballte, »befand sich ein Junge, ein wackerer Junge – wie ich mir erzählen ließ – der als Knabe gerne von wackeren Handlungen bei Schiffbrüchen las und sprach – ich habe ihn gehört! ich habe ihn gehört! – und er erinnerte sich derselben in der Stunde seiner Not; denn während die mutigsten Herzen und die erfahrensten Matrosen niedergeholt wurden, blieb er fest und wohlgemut. Es war nicht der Mangel an Gegenständen der Liebe und Zuneigung auf dem Lande, was ihm solchen Mut gab, sondern es war sein natürlicher Sinn. Ich habe das in seinem Gesicht gelesen, als er noch ein bloßes Kind war – ja, oft und vielmal – obschon ich damals dachte, es sei nichts, als sein gutes Aussehen, Gott segne ihn!«
»Und er wurde gerettet!« rief Florence. »Wurde er gerettet?«
»Jener brave Junge«, sagte der Kapitän – »schaut mich an, mein Herzchen! Ihr müßt Euch nicht umsehen.«
Florence vermochte kaum zu wiederholen: »Warum nicht?«
»Weil nichts da ist, meine Liebe«, antwortete der Kapitän. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen, mein hübsches Kind! Tut es nicht um Wal'rs willen, der uns allen lieb war! Jener Junge«, fuhr er fort, »nachdem er mit den Besten um die Wette gearbeitet und den Mutlosesten beigestanden hatte, ohne sich je zu beklagen oder ein Zeichen von Furcht blicken zu lassen, so daß er allen Matrosen einen Mut einflößte, der ihm Ehre machte, als wäre er ein Admiral gewesen – jener Junge blieb mit dem zweiten Maat und einem einzigen Matrosen von all den klopfenden Herzen, die an Bord jenes Schiffes gingen, allein am Leben – sie hatten sich an ein Stück des Wracks festgebunden und schweiften weiter auf dem stürmischen Meere.«
»Wurden sie gerettet?« rief Florence.
»Tage und Nächte schweiften sie fort auf dem endlosen Wasser«, sagte der Kapitän, »bis endlich – nein. Ihr müßt nicht dorthin sehen, mein Herzchen – ein Segel auf sie zukam, und sie wurden mit Gottes Erbarmen an Bord genommen, zwei noch am Leben und einer tot.«
»Welcher von ihnen war tot?« rief Florence.
»Nicht der Junge, von dem ich spreche«, sagte der Kapitän.
»Gott sei Dank! o, Gott sei Dank!«
»Amen!« fiel der Kapitän ein. »Laßt Euch nicht an den Mast zurückwerfen! Nur noch eine Minute standhalten, mein kleines Fräulein. An Bord jenes Schiffes nun machten sie eine lange Reise geradenwegs über die Karte hin; denn sie hielten nirgends an, und während dieser Fahrt starb der Matrose, der mit ihm aufgelesen wurde. Aber er blieb verschont und –«
Ohne zu wissen, was er tat, hatte der Kapitän eine Scheibe Brot von dem Laib abgeschnitten, sie an seinen Haken, der seine gewöhnliche Röstgabel war, gesteckt und über das Feuer gehalten; er sah dabei mit großer Aufregung in seinem Gesicht nach einer Stelle hinter Florence hin und ließ das Brot zu Kohle zusammenbrennen. »Blieb verschont«, wiederholte Florence, »und – –?«
»Und machte in jenem Schiff die Heimreise«, sagte der Kapitän, noch immer in dieselbe Richtung schauend, »und – erschreckt nur nicht, mein Schätzchen – wurde ans Land gebracht. Da kam er nun eines Morgens vorsichtig nach seiner eigenen Türe, um eine Beobachtung anzustellen, weil er wußte, daß seine Freunde ihn für ertrunken hielten, fuhr aber wieder ab bei dem unerwarteten – –«
»Bei dem unerwarteten Bellen eines Hundes?« rief Florence rasch.
»Ja«, rief der Kapitän. »Ausgehalten, mein Schatz! Mut! Ihr müßt noch nicht umschauen. Seht, dort – an der Wand!«
An der Wand in ihrer Nähe war der Schatten eines Mannes sichtbar. Sie sprang auf, schaute um und stieß einen jähen Schrei aus, als sie Walter Gay hinter sich erblickte.
Sie sah in ihm nichts anderes als einen Bruder, einen Bruder, der aus dem Grab erstanden war, einen schiffbrüchigen Bruder, der sich gerettet hatte und jetzt an ihrer Seite stand. Im Augenblick lag sie in seinen Armen; denn er schien ihr jetzt ihr Trost, ihre Hoffnung, ihre Zuflucht und ihr natürlicher Beschützer zu sein. »Vergeßt Walter nicht; Walter ist mir lieb gewesen!« Das teure Andenken an die ersterbende Stimme, die so gesprochen, erfüllte ihre Seele wie nächtliche Musik. »O, willkommen in der Heimat, liebster Walter! Willkommen diesem schwer geprüften Herzen!« Sie fühlte die Worte, obschon sie diese nicht aussprechen konnte, und hielt ihn in reiner Umarmung umfangen.
In einem Anfall von Irrsinn versuchte der Kapitän Cuttle sich den Kopf mit der zu Kohle verbrannten Brotscheibe an seinem Haken zu wischen, und da er diese Substanz unpassend fand, so warf er sie in die Krone seines Glanzhutes, den er mit einiger Schwierigkeit auf seinem Kopf zurechtbrachte. Dann fing er einen Vers von der lieblichen Peg an, brach aber schon mit dem ersten Wort wieder ab und zog sich nach dem Laden zurück, von wo aus er schnell mit glutrotem, beschmiertem Gesicht und ganz schlaffem Hemdkragen wieder zurückkam, um die Worte zu sprechen:
»Wal'r, mein Junge, hier ist ein bißchen Eigentum, das ich euch beiden gemeinschaftlich ausfolgen möchte!«
Der Kapitän langte hastig die große Uhr, die Teelöffel, die Zuckerzange und die Zinnbüchse hervor, legte sie auf den Tisch und fegte sie mit seiner großen Hand in Walters Hut. Als er jedoch diesen wunderlichen Sparhafen Walter vermachte, fühlte er sich abermals so angegriffen, daß er aufs neue in den Laden flüchten mußte, um dieses Mal länger auszubleiben, als bei seinem ersten Rückzuge.
Walter ging ihm jedoch nach, um ihn zu holen, und nun drückte der Kapitän seine große Besorgnis aus, die Erschütterung könnte Florence nachteilig werden. Er fühlte dies so angelegentlich, daß er wieder ganz vernünftig wurde und Waltern für die nächsten paar Tage jede weitere Berührung seiner Abenteuer aufs entschiedenste untersagte. Er hatte jetzt hinreichend Fassung gewonnen, um sich der verkohlten Brotscheibe in seinem Hut zu entledigen und seinen Platz am Teetisch einzunehmen. Als er aber zu seiner Rechten auf der Schulter Walters Hand fühlte und zur Linken Florence ihre tränenvollen Glückwünsche flüstern hörte, stürzte er plötzlich wieder hinaus und ließ gute zehn Minuten nichts von sich sehen.
In seinem ganzen Leben nie hatte das Gesicht des Kapitäns so geglänzt und gestrahlt, wie um die Zeit, als er endlich am Teetisch festsaß und bald Walter, bald Florence ansah. Auch wurde diese Wirkung weder hervorgebracht noch erhöht durch das Reiben mit dem Rockärmel, das während der letzten halben Stunde fast unablässig stattfand. Der Glanz war ausschließlich der Abdruck seiner inneren Erregtheit. In dem Kapitän selbst herrschte eine Wonne und Herrlichkeit, die sich über sein ganzes Gesicht verbreitete und es wahrhaft illuminierte.
Einen Beitrag dazu lieferte wohl der Stolz, mit dem der Kapitän die gebräunten Wangen und das mutige Auge seines wiedergewonnenen Knaben betrachtete – der Stolz, mit dem er die edle Glut des Jünglings in aller ihrer Offenheit und Hoffnungsfülle wieder in dem frischen, festen Wesen und in dem glühenden Gesicht leuchten sah. Einen gleichen Eindruck übte die Bewunderung und Teilnahme, mit der er seine Blicke auf Florence wandte, deren Schönheit, Anmut und Unschuld keinen treueren und eifrigeren Kämpen hätte gewinnen können, als ihn selbst. Aber die Hauptglorie, die sich um ihn ergoß, konnte bloß durch die Betrachtung der beiden zugleich und durch die schönen Bilder hervorgerufen werden, die in Verbindung mit diesem Anblick in seinem Kopf funkelnd und strahlend umhertanzten.
Wie sie von dem armen Onkel Sol sprachen und bei jedem kleinen Umstand verweilten, der sich auf sein Verschwinden bezog; wie ihre Freude gedämpft wurde durch die Abwesenheit des alten Mannes und durch Florences Unglück; wie sie Diogenes in Freiheit setzten, den der Kapitän vor einiger Zeit die Treppe hinaufgelockt hatte, damit er nicht wieder belle; alles das begriff der Kapitän vollkommen, obschon er sich in einer dauernden Aufregung befand und noch oft wieder für ein Weilchen in den Laden hinausstürzte. Wenn aber Walters Augen so oft das liebende Gesicht suchten und selten dem offenen Blick schwesterlicher Liebe begegneten, ohne sich zur Erde zu senken, ließ er es sich ebensowenig träumen, daß sein Junge Florence so ferne stehen könne, wie er glaubte, daß die ihm zur Seite sitzende Gestalt Walters Geist sei. Er sah sie da, beisammen in ihrer Jugend und Schönheit, kannte die Geschichte ihrer jüngeren Tage und hatte unter seiner großen blauen Weste keinen Zoll Raum für etwas anderes, als für die Bewunderung gegen ein solches Paar und für den Dank, den er dem Allmächtigen spendete, der sie wieder vereinigt hatte.
Sie blieben beieinander sitzen, bis es spät geworden war. Der Kapitän hätte eine Woche so bleiben können. Aber Walter erhob sich, um für die Nacht Abschied zu nehmen.
»Ihr geht, Walter!« sagte Florence. »Wohin?«
»Er hat seine Hängematte vorderhand bei Brogley drüben aufgeschlungen, kleines Fräulein«, sagte Kapitän Cuttle. »Es ist in Rufweite, Herzensfreude.«
»Ich bin die Ursache, daß Ihr wieder fort müßt, Walter«, sagte Florence. »Eure Stelle hat eine heimatlose Schwester eingenommen.«
»Liebste Miß Dombey«, versetzte Walter stockend – »wenn es nicht zu dreist ist, Euch so zu nennen –«
»Walter!« lief sie erstaunt.
»Wenn mich irgend etwas glücklicher machen könnte, als die Erlaubnis, Euch zu sehen und zu sprechen, würde das nicht die Entdeckung sein, daß ich auch nur einigermaßen Euch nützlich geworden bin? Wohin wollte ich nicht gehen, was würde ich nicht tun um Euretwillen?«
Sie lächelte und nannte ihn Bruder.
»Ihr seid so verändert«, sagte Walter –
»Ich verändert?« unterbrach sie ihn.
»Gegen mich«, sagte Walter, als ob er nur laut vor sich hindenke. »Verändert gegen mich. Ich verließ Euch als ein Kind und finde Euch – o, so ganz anders –«
»Doch als Eure Schwester, Walter. Ihr habt nicht vergessen, was wir beim Abschied einander versprachen?«
»Vergessen!«
Nur dieses, nicht weiter.
»Und wenn Leiden und Gefahr es aus Euren Gedanken verdrängt haben sollten – ich glaube es übrigens nicht –, so würdet Ihr Euch dessen jetzt entsinnen, Walter, da Ihr mich arm und verlassen findet, mit keiner andern Heimat, als dieser hier, und keinen Freunden, als den beiden, die mich sprechen hören.«
»Jawohl! der Himmel weiß es!« sagte Walter.
»O Walter!« rief Florence unter Schluchzen und Tränen. »Teurer Bruder! zeigt mir einen Weg durch die Welt – einen bescheidenen Pfad, den ich allein gehen kann und auf dem mich meine Arbeit weiterbringt. Ich will dann an Euch denken als an den, der mich als Schwester schützen und für mich sorgen wird! O, steht mir bei, Walter, denn ich bin der Hilfe so sehr bedürftig!«
»Miß Dombey! Florence! Ich würde für Euch in den Tod gehen, wenn ich Euch damit dienen könnte. Aber Eure Verwandten sind stolz und reich – Euer Vater – –«
»Nein, nein, Walter!« rief sie laut hinaus und hielt in einer Haltung des Entsetzens, die ihn sofort innehalten ließ, ihre Hände an den Kopf. »Sprecht dieses Wort nicht.«
Er vergaß von Stunde an nie die Stimme und den Blick, womit sie ihm bei Nennung dieses Namens Einhalt getan hatte. Es war ihm, als könne er das nie vergessen, und wenn er Jahrhunderte lebte. Irgendwo – überall – nur nicht in der Heimat! Alles dahin, alles vergangen, verloren und zertrümmert. Die ganze Geschichte ihres stillen, verachteten Lebens lag in dem Ruf und in dem Blick; er fühlte, daß er sie nie vergessen konnte, und bewahrte beides in seinem Gedächtnis.
Sie legte ihr holdes Gesicht auf die Schulter des Kapitäns und erzählte, wie und warum sie geflohen war. Wenn jede schmerzliche Träne, die sie dabei vergoß, als Fluch auf das Haupt dessen gefallen wäre, den sie nie nannte oder tadelte, so würde das noch immerhin besser für ihn gewesen sein, dachte Walter erschüttert, als von einer solchen Kraft und Macht der Liebe aufgegeben zu werden.
»So, mein Kleinod!« sagte der Kapitän, als sie zum Schlusse gekommen war; er hatte ihren Worten die tiefste Aufmerksamkeit geschenkt und, den Glanzhut ganz schräg auf dem Kopf, mit weit aufgesperrtem Mund zugehört. »Gott behüte meine Augen! Wal'r, lieber Junge, segle jetzt für heut nacht ab und überlaß den Diamanten mir!«
Walter ergriff ihre Hand mit den seinen, drückte sie an die Lippen und küßte sie. Er wußte nun, daß sie ein heimatloser, unsteter Flüchtling war; in diesem Zustande aber ihm gegenüber reicher, als in dem ganzen Reichtum und Stolz der ihr gebührenden Stellung, so daß es ihm vorkam, sie stehe sogar auf einer viel höheren Stufe, als es die gewesen, nach der er in seinen knabenhaften Träumen schwindelnd hinaufgeblickt hatte.
Kapitän Cuttle, der sich nicht mit solchen Betrachtungen belästigte, geleitete Florence nach ihrem Gemach und hielt in Zwischenräumen auf dem gefeiten Grund vor ihrer Türe – denn das war er für ihn in Wirklichkeit – Wache, bis er sich im Geist hinreichend beruhigt fühlte, um sich unter dem Ladentisch verstauen zu können. Ehe er in dieser Absicht seinen Posten verließ, konnte er es sich in seinem Freudentaumel nicht versagen, noch einmal durch das Schlüsselloch zu rufen: »Ertrunken. Ist es nicht so, mein Schätzchen?« – und als er unten anlangte, machte er einen abermaligen Versuch mit jenem Vers von der lieblichen Peg. Aber es saß ihm etwas in der Kehle, und er konnte damit nicht fertig werden. Deshalb ging er zu Bett und träumte von dem alten Sol Gills, der mit Mrs. Mac Stinger verheiratet war und von dieser Dame bei schmaler Kost in einem verborgenen Stübchen gefangen gehalten wurde.
Fünfzigstes Kapitel. MR. TOOTS HERZELEID.
Im oberen Stock des hölzernen Midshipmans befand sich ein leeres Zimmer, das in früherer Zeit Walters Schlafgemach gewesen war. Walter, der am andern Morgen beizeiten den Kapitän weckte, machte den Vorschlag, sie wollten es mit den schönsten Möbeln des Hinterstübchens ausstatten, damit Florence bei ihrem Herunterkommen davon Besitz nehmen könne. Kapitän Cuttle, dem nichts lieber war, als wenn er sich für eine solche Sache in Hitze und außer Atem bringen konnte, legte, wie er selbst sagte, mit gutem Willen Hand an, und nach ein paar Stunden war das erwähnte Stübchen in eine Art Landkajüte umgewandelt, der die auserlesensten Möbel des Hinterzimmers zur Zierde dienten. Sogar die Tartaren-Fregatte war nicht vergessen worden, und der Kapitän hing sie selbst mit einem so ungemeinen Wohlbehagen über dem Kaminsimse auf, daß er eine halbe Stunde lang nichts anderes zu tun wußte, als bewundernd vor dieser zu stehen oder vor ihr hin und zurück zu gehen.
Keine Überredung von Walters Seite konnte den Kapitän dazu bewegen, die große Taschenuhr aufzuziehen, die Zinnbüchse zurückzunehmen oder die Zuckerzange und die Teelöffel anzurühren. »Nein, nein, mein Junge«, lautete unabänderlich die Antwort des Kapitäns auf jeden derartigen Zuspruch, »ich habe das kleine Eigentum Euch beiden gemeinschaftlich vermacht.« Diese Worte wiederholte er mit großer Würde und Salbung, augenscheinlich des Glaubens lebend, sie hätten die Kraft einer Parlamentsakte und in einer solchen Form der Übertragung wäre kein Makel zu finden, wofern er nicht sich selbst durch irgendeine neue Einräumung des Besitzrechtes eine Blöße gab.
Die neue Einrichtung bot außer der größeren Abgeschiedenheit Florences auch den Vorteil, daß der Midshipman an seinem gewöhnlichen Beobachtungsposten wieder aufgestellt und auch die Ladenblende abgenommen werden konnte. Diese Zeremonie, wie wenig Wichtigkeit ihr auch der nichtsahnende Kapitän beilegte, war nicht ganz überflüssig, denn der Umstand, daß tags zuvor der Laden verschlossen geblieben war, hatte in der Nachbarschaft große Aufregung verursacht. Man hatte dem Hause des Instrumentenmachers die Ehre einer ungewöhnlichen öffentlichen Teilnahme zugewiesen, indem vom Morgen bis zum Sonnenuntergang Gruppen hungriger Gaffer stehen blieben und von der andern Seite der Straße herüberglotzten. Die Müßiggänger und Landstreicher interessierten sich ganz besonders für das Schicksal des Kapitäns, indem sie sich in den Staub niederlegten, um durch das Kellergitter unter dem Ladenfenster hineinzuschauen und ihre Einbildungskraft durch die Vorstellung zu ergötzen, sie können einen Rockzipfel des in einer Ecke aufgehängten Mannes sehen. Freilich erhob sich gegen diese Annahme mannhafter Widerspruch von seiten einer andern Partei, die der Meinung war, er liege, mit einem Hammer ermordet, auf der Treppe. Es erregte daher einige Unzufriedenheit, als man am andern Morgen früh den Gegenstand dieser Gerüchte so gesund und wohl unter der Ladentür stehen sah, als ob gar nichts vorgefallen sei. Der Polizist des Stadtteils, ein Mann von ehrgeizigem Charakter, der auf die Auszeichnung gerechnet hatte, beim Erbrechen der Tür anwesend sein und in voller Uniform vor der Leichenschau Zeugnis ablegen zu dürfen, ging sogar so weit, daß er zu einem gegenüber wohnenden Nachbar sagte, der Kerl in dem Glanzhut töte besser, wenn er es nicht wieder probierte – ohne gerade das Was näher zu bezeichnen – und er, der Herr Polizist, wolle ein wachsames Auge auf ihn haben.
»Kapitän Cuttle«, sagte Walter nachsinnend, als sie, von ihrer Arbeit ausruhend, unter der Ladentür standen und die bekannte alte Straße hinabsahen – es war noch früh am Morgen. »Ihr habt also in dieser ganzen Zeit gar nichts von Onkel Sol erfahren?«
»Nicht das mindeste, mein Junge«, versetzte der Kapitän mit Kopfschütteln.
»Der liebe, gute alte Mann ist fortgegangen, um mich zu suchen«, sagte Walter, »und hat Euch nicht ein einziges Mal geschrieben! Aber warum nicht? Er sagt doch ausdrücklich in dem Paket, das Ihr mir gegeben habt«, er nahm aus seiner Tasche das Papier, das in Anwesenheit des erleuchteten Bunsby geöffnet worden war, »wenn Ihr vor Erbrechung desselben nichts von ihm hörtet, so könnt Ihr ihn für tot halten. Gott verhüte dies! Aber Ihr solltet von ihm gehört haben, auch wenn er tot ist, und wenn er nicht mehr schreiben konnte, hätte es sicherlich seinem Wunsche gemäß jemand anders getan, um Euch zu sagen, ›an diesem und jenem Tage starb in meinem Hause‹ oder ›unter meiner Pflege‹ und so weiter, ›Mr. Solomon Gills aus London, der Euch seinen letzten Gruß und diese letzte Botschaft zugehen läßt.‹«
Der Kapitän, der nie zuvor eine so klare Geisteshöhe der Wahrscheinlichkeit erklettert hatte, war sehr betroffen über die weite Aussicht, die sich vor ihm auftat, und entgegnete mit einem gedankenvollen Kopfschütteln:
»Wohl gesprochen, mein Junge; sehr wohl gesprochen!«
»Ich habe mir während einer ganzen schlaflosen Nacht Gedanken darüber gemacht«, sagte Walter und fügte errötend bei, »oder wenigstens an das eine und das andere gedacht und kann nicht anders glauben, Kapitän Cuttle, als daß mein Onkel Sol – Gottes Segen sei mit ihm! – noch am Leben sei und zurückkehren wird. Ich wundere mich nicht so fast über sein Fortgehen, denn abgesehen von der Vorliebe für das Abenteuerliche, die stets in seinem Charakter lag, und seiner großen Zuneigung zu mir, vor der jede andere Rücksicht seines Lebens zunichte wurde, wie niemand besser weiß, als ich, der ich in ihm den besten aller Väter hatte« – Walters Stimme wurde hierbei unbestimmt und heiser, während er zugleich den Blick abwandte und auf die Straße hinunterschaute – »ich sage, abgesehen hiervon, habe ich von Leuten gelesen und gehört, die nach dem vermeintlichen Schiffbruch eines nahen treuen Verwandten ihren Wohnort nach dem Teil der Küste hin verlegten, wo Nachrichten über das vermißte Schiff zuerst, wäre es auch nur eine Stunde oder zwei früher als anderswo, ankommen mußten, oder sogar nach dem Bestimmungsort des Fahrzeugs gereist sind, als ob sie in solcher Weise Auskunft erlangen könnten. Ich glaube, ich würde ebenso gut, wie ein anderer, oder vielleicht vor vielen andern so handeln. Jedenfalls kann ich mir nur noch nicht erklären, warum mein Onkel Euch nicht schrieb, da er das doch so augenscheinlich beabsichtigte, oder wie er auswärts gestorben sein sollte, ohne daß Ihr es durch eine andere Hand erführet.«
Kapitän Cuttle bemerkte kopfschüttelnd, sogar Jack Bunsby habe sich darin nicht zurechtfinden können, und dieser sei doch ein Mann von den gesundesten Ansichten.
»Wäre mein Onkel ein unbesonnener junger Mensch gewesen, der sich von einer lustigen Gesellschaft nach einem schlechten Wirtshaus verlocken lassen konnte, wo man ihn vielleicht wegen des Geldes, das er bei sich hatte, abfertigte«, sagte Walter, »oder wäre er ein leichtsinniger Matrose gewesen, der mit einem Sold von zwei oder drei Monaten in der Tasche ans Land ging, so könnte ich sein Verschwinden, ohne daß eine Spur von ihm zurückblieb, wohl begreifen. Denke ich aber daran, was er war – und was er hoffentlich noch ist – so kann ich es nicht glauben.«
»Wal'r, mein Junge«, fragte der Kapitän, seinen in Gedanken vertieften Gefährten aufmerksam betrachtend, »könnt Ihr nichts 'rauskriegen?«
»Ich weiß in der Tat nicht, was ich davon halten soll, Kapitän Cuttle«, erwiderte Walter. »Ihr seid der Ansicht, er habe nie geschrieben? Ist das auch über allen Zweifel erhaben?«
»Wenn Sol Gills geschrieben hat, mein Junge«, versetzte der Kapitän im Tone der Beweisführung, »wo ist seine Nachricht?«
»Nehmen wir an, sie sei einer Privatperson anvertraut worden«, bemerkte Walter, »die diese vergessen, sorglos beiseite geworfen oder verloren hat. Sogar das ist mir noch wahrscheinlicher, als der andere Fall. Kurz, ich kann und will nicht das Schlimmste für möglich halten, Kapitän Cuttle.«
»Ihr seht, Wal'r, Hoffnung«, sagte der Kapitän, mit weiser Miene. »Hoffnung. Sie ist es, die Euch belebt. Die Hoffnung ist eine Boje – seht darüber in der sentimentalen Abteilung des kleinen Warbler nach – aber, du mein Himmel, Junge, wie jede andere Boje schwimmt sie nur und kann nirgendwohin gesteuert werden. Auf der sinnbildlichen Darstellung der Hoffnung ist ein Anker«, fügte der Kapitän bei; »aber was nützt einen der Anker, wenn man keinen Grund finden kann, um ihn einbeißen zu lassen?«
Kapitän Cuttle trug das nicht so sehr aus seiner gewöhnlichen Natur heraus, sondern eher in der Eigenschaft des wohlweisen Bürgers und Hausmanns vor, der sich für verpflichtet hält, einen Brocken von seinem Wissensvorrat einem unerfahrenen Jüngling mitzuteilen. In der Tat ertappte ihn auch Walter darauf, daß während dieser Worte sein Gesicht eigentlich strahlend wurde von neuer Hoffnung, und der gute Mann schloß ganz sachgemäß damit, daß er seinen Gefährten auf den Rücken klopfte und mit Begeisterung ausrief:
»Hurra, mein Junge, was mich betrifft, so bin ich Eurer Meinung.«
Walter erwiderte den Gruß mit heiterem Lachen und sagte:
»Jetzt nur noch ein Wort über meinen Onkel, Kapitän Cuttle. Ich nehme an, es sei unmöglich, daß er auf dem gewöhnlichen Wege geschrieben – Ihr versteht mich, durch Segel- oder Dampfschiffe?«
»Ja, ja, mein Junge«, entgegnete der Kapitän beifällig.
»Und daß Euch der Brief irgendwie verfehlte?«
»Nun, Wal'r«, sagte der Kapitän, mit einem leichten Anflug von Strenge seine Augen ihm zuwendend, »bin ich nicht, seit dieser gelehrte Mann, der alte Sol Gills, Euer Onkel, verlorenging, Tag und Nacht auf dem Auslug gewesen, ob nicht Nachrichten von ihm einliefen? Ist seinet- und euretwegen nicht mein Herz immer schwer und unruhig gewesen? War ich nicht, schlafend und wachend, unablässig auf meinem Posten, und würde ich mich nicht vor der Sünde gefürchtet haben, ihn zu verlassen, so lang der Midshipman da zusammenhält?«
»Ich weiß das, Kapitän Cuttle«, entgegnete Walter, seine Hand ergreifend; »ich weiß und fühle vollkommen, wie wahr alles ist, was Ihr sagt. Ihr zweifelt selbst auch nicht daran, ich sei hiervon so vollkommen überzeugt, wie von der Tatsache, daß mein Fuß wieder auf dieser Schwelle steht, und daß ich wieder diese treue Hand in der meinigen halte. Oder?«
»Nein, nein. Wal´r«, erwiderte der Kapitän mit leuchtendem Gesicht.
»Ich will keine weiteren Vermutungen aufstellen«, sagte Walter, indem er mit Wärme die harte Hand drückte und der Kapitän den Druck nicht weniger kräftig erwiderte, »und nur noch beifügen: der Himmel verhüte, daß ich das Eigentum meines Onkels berühre, Kapitän Cuttle. Alles, was er hier zurückließ, soll unter der Obhut des wackersten Mannes und des treuesten Verwalters bleiben – und wenn dieser nicht Cuttle heißt, so hat er gar keinen Namen! Jetzt, mein wackerer Freund, von – von Miß Dombey!«
Bei diesen letzten drei Worten ging in Walters Wesen eine große Veränderung vor; denn alle seine heitere Zuversicht schien ihn mit einem Male verlassen zu haben.
»Ich war der Ansicht, ehe mir Miß Dombey ins Wort fiel, als ich gestern abend von ihrem Vater sprach«, sagte Walter – »Ihr erinnert Euch, wie das geschah?«
Der Kapitän erinnerte sich dessen vollkommen und schüttelte den Kopf.
»Ich war damals der Ansicht«, fuhr Walter fort, »wir hätten nur eine einzige schwere Pflicht zu erfüllen, nämlich die, sie zu veranlassen, daß sie sich mit ihren Freunden in Verbindung setze und nach Haus zurückkehre.«
Der Kapitän murmelte ein schwaches »Heiliges Donnerwetter!« oder ein »Halt bei!«, kurz irgendeine derartige sachgemäße Bemerkung. Man konnte nicht recht darüber ins klare kommen, denn der Schrecken, mit dem er diese Ankündigung aufnahm, hatte die Laute ganz und gar erstickt.
»Aber das ist jetzt unmöglich!« sagte Walter. »Man darf hieran nicht mehr denken. Lieber wollte ich mich wieder auf das Stück Wrack versetzen lassen, auf dem ich seit meiner Bergung so oft im Traume wieder geschwommen bin, um in den Wellen weiter zu treiben und zu sterben.«
»Hurra, mein Junge!« rief der Kapitän in einem Ausbruch unbezwingbarer Freude. »Hurra! Hurra! Hurra!«
»Der Gedanke, daß sie, so jung, so gut und schön«, sagte Walter, »so zart erzogen und zu einem ganz andern Schicksal geboren, mit der rauhen Welt ringen soll! – Aber wir haben die Kluft gesehen, die alles hinter ihr absperrt, obschon niemand außer ihr deren Tiefe zu ermessen vermag. Es gibt für sie keine Rückkehr.«
Ohne gerade zu verstehen, was der junge Mann sagen wollte, gab Kapitän Cuttle seinen großen Beifall zu erkennen und bemerkte im Tone nachdrücklicher Bekräftigung, daß der Wind recht von hinten komme.
»Man sollte sie nicht allein hier lassen; seid Ihr nicht auch der Ansicht, Kapitän Cuttle?« fragte Walter ängstlich.
»Na, mein Junge«, versetzte der Kapitän nach kurzer, weiser Erwägung, »ich weiß nicht. Ihr seht, Ihr seid da und könnt ihr Gesellschaft leisten, und ihr beide zusammen –«
»Mein lieber Kapitän Cuttle, wie könnt Ihr von mir reden?« verwies ihm Walter. »Miß Dombey betrachtet mich in ihrem arglosen, unschuldigen Herzen als ihren angenommenen Bruder. Aber wie schlimm und schuldig müßte mein Herz sein, wenn ich den Glauben heuchelte, daß ich in dieser Eigenschaft ein Recht habe, mich mit ihr vertraulich zu machen, während ich doch weiß, daß mir dies meine Ehre verbietet?«
»Wal'r, mein Junge«, deutete der Kapitän an, und der frühere Kleinmut wollte einigermaßen wieder aufleben, »gibt es denn keine andere Eigenschaft, als die –«
»O!« unterbrach ihn Walter, »wünscht Ihr, daß ich sterbe in ihrer Achtung – in einer Achtung, wie die ihrige – und daß ich für immer einen Schleier lege zwischen mich und ihr engelgleiches Antlitz, indem ich aus ihrer Schutzlosigkeit und dem Vertrauen, das sie hierher geführt hat, Vorteil ziehe und mich erdreiste, bei ihr den Liebhaber zu spielen? Was sage ich! Wenn ich dies könnte, so würde niemand in der ganzen Welt mir entschiedener in den Weg treten, als Ihr.«
»Wal'r, mein Junge«, sagte der Kapitän, der immer kleinlauter wurde, »vorausgesetzt, es sei ein gerechter Grund oder ein Hindernis vorhanden, warum zwei Menschen im Hause des Bundes nicht vereinigt werden sollten – lest es nach und biegt ein Ohr ein – so würde ich sicherlich meine Erklärung abgeben beim Aufgebot. Fällt Euch da nicht eine andere Eigenschaft ein – wie, mein Junge?«
Walter winkte hastig verneinend mit der Hand.
»Gut, mein Junge«, brummte der Kapitän langsam, »ich leugne nicht, daß ich da die Ohren hängen lassen muß und in einer sauberen Klemme stecke. Aber was das kleine Fräulein betrifft, Wal'r, paßt auf, die Achtung und das Pflichtgefühl gegen sie gilt auch als Achtung und Pflichtgefühl in meinen Artikeln, wie ganz anders ich es mir auch gedacht haben mag, und deshalb folge ich auch Eurem Kielwasser, mein Junge, und fühle, daß Ihr da ohne Zweifel nur sachgemäß handelt. Aber gibt es denn keine andere Eigenschaft, gar keine andere?« fügte der Kapitän hinzu, mit sehr zaghaftem Gesicht über den Trümmern seines eingestürzten Luftschlosses brütend.
»Ich bin der Ansicht, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, der mit heiterer Miene auf einen neuen Punkt überging, um auch den Kapitän heiterer zu stimmen – allerdings eine vergebliche Bemühung, da dieser viel zu bekümmert war – »daß wir uns Mühe geben sollten, für Miß Dombey eine passende und zuverlässige Gesellschafterin aufzufinden, welche für die Dauer ihres Hierseins um sie bleibt. Aus ihren bisherigen Bekanntschaften ist nichts herauszubringen, denn wir sehen deutlich, daß Miß Dombey fühlt, sie seien insgesamt ihrem Vater dienstbar. Was ist aus Susanna geworden?«
»Aus dem jungen Frauenzimmer?« entgegnete der Kapitän. »Ich glaube, sie wurde gegen den Willen der Herzensfreude fortgeschickt. Ich schickte, als der Diamant zum ersten Male hierherkam, ihretwegen ein Signal aus und erhielt die Meldung, sie sei schon lange fort, obschon ich bemerken konnte, daß sie noch hoch in Gnaden steht.«
»Dann fragt Miß Dombey«, sagte Walter, »wohin sie gegangen ist, und wir wollen dann sehen, ob wir sie nicht auffinden können. Der Morgen rückt weiter, und Miß Dombey wird bald aufstehen. Ihr seid ihr bester Freund. Wartet oben auf sie und laßt mich hier unten das Weitere besorgen.«
Der Kapitän wiederholte kleinlaut den Seufzer, mit dem Walter das sagte, und entsprach der an ihn ergangenen Aufforderung. Florence war entzückt über ihr neues Stübchen, drückte ihr Verlangen aus, Walter zu sehen, und war überfroh bei der Aussicht, ihrer alten Freundin Susanna einen Gruß zugehen lassen zu können. Sie wußte übrigens über ihren Aufenthalt nichts weiter anzugeben, als daß sie in Essex sei, und wenn nicht etwa Mr. Toots nähere Auskunft erteilen könne, so werde man wohl vergeblich Nachfrage halten.
Mit dieser Meldung kehrte der betrübte Kapitän zu Walter zurück und gab ihm zu verstehen, daß Mr. Toots der junge Gentleman sei, mit dem er auf der Türtreppe zusammengetroffen wäre. Der junge Mann gehöre zu seinen Freunden, habe Vermögen und sei ein hoffnungsloser Anbeter der Miß Dombey. Dabei berichtete er noch ferner, wie die Kunde von Walters vermeintlichem Schicksal ihn zuerst mit Mr. Toots bekannt gemacht habe, und wie sie einen feierlichen Vertrag miteinander geschlossen, daß Mr. Toots über den Gegenstand seiner Liebe keine Silbe verlauten lassen dürfe.
Es wurde dann die Frage aufgeworfen, ob Florence Mr. Toots trauen könne, und da sie lächelnd antwortete: »O ja, von ganzem Herzen!« so war ein weiterer wichtiger Punkt, das ausfindig zu machen, wo der junge Gentleman wohnte. Florence wußte das nicht, und der Kapitän hatte es vergessen. Aber kaum hatte er in dem kleinen Hinterstübchen Walter mitgeteilt, daß der betreffende junge Mann ohne Zweifel sich bald einstellen werde, als Mr. Toots selbst eintraf.
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, ohne Umstände ins Zimmer stürmend, »ich bin in einem Zustand, der an Irrsinn grenzt!« Mr. Toots hatte diese Worte wie aus einem Bombenwerfer abgeschossen, noch ehe er Walter bemerkte. Jetzt aber erkannte er ihn und begrüßte ihn mit einem wahrhaften Kichern des Elends.
»Ihr werdet mich entschuldigen, Sir«, sagte Mr. Toots, indem er die Hand an seine Stirne drückte, »aber ich bin gegenwärtig in einem Zustand, daß ich den Kopf verlieren könnte, wenn ich ihn nicht schon verloren habe, und jeder Höflichkeitsversuch in einer so eigentümlichen Lage würde nur eitler Hohn sein. Kapitän Gills, ich bitte Euch um die Freundlichkeit eines Gesprächs unter vier Augen.«
»Ei, Bruder«, versetzte der Kapitän, ihn bei der Hand nehmend, »Ihr seid gerade der Mann, nach dem wir auslugten.«
»O, Kapitän Gills«, erwiderte Mr. Toots«, »was muß dies für ein Auslugen sein, wenn ich der Gegenstand davon bin. Es geht in meinem Gehirn alles so durcheinander, daß ich mich nicht einmal getraut habe, mich zu rasieren. Meine Kleider sind nicht ausgebürstet, meine Haare nicht gekämmt, und ich sagte dem Preishahn, wenn er mir meine Stiefel putzen wolle, so würde ich ihn als Leichnam vor mir niederstrecken.«
Alle diese Anzeichen eines wirren Geistes bestätigten sich in dem Aussehen des jungen Menschen, das in der Tat wild und ungeordnet genug war.
»Schaut her, Bruder«, sagte der Kapitän. »Dies ist Wal'r, der Neffe des alten Sol Gills – derselbe, von dem wir glaubten, er sei auf dem Meer zugrunde gegangen.«
Mr. Toots nahm die Hand von seiner Stirne und sah Walter mit großen Augen an.
»Ach, du mein Himmel!« stammelte Mr. Toots. »Welch ein Zusammentreffen von Elend! Wie geht es Euch? Ich – ich fürchte, Ihr müßt sehr naß geworden sein. Kapitän Gills, wollt Ihr mir im Laden draußen ein Wort gestatten?«
Er nahm den Kapitän am Rock, zog ihn mit sich hinaus und flüsterte:
»Das also, Kapitän Gills, ist der Mensch, den Ihr meintet, als Ihr sagtet, er und Miß Dombey seien füreinander wie geschaffen?«
»Ach ja, mein Junge«, versetzte der trostlose Kapitän. »Ich war einmal dieser Ansicht.«
»Und zu solcher Zeit!« rief Mr. Toots, die Hand abermals an seine Stirne legend. »Auch dieses noch! – ein verhaßter Nebenbuhler. Nein, nein, nicht verhaßt!« fügte Mr. Toots nach kurzem Besinnen bei, indem er seine Hand wieder sinken ließ; »warum sollte ich ihn hassen? Ich kann jetzt den Beweis liefern, Kapitän Gills, daß meine Liebe wahrhaft uneigennützig ist!«
Mr. Toots schoß plötzlich wieder nach dem Stübchen zurück, ergriff Walters Hand und sagte:
»Wie geht es Euch? Ihr habt doch hoffentlich keinen Schnupfen dabei bekommen? Es – es wird mich sehr freuen, wenn Ihr mir das Vergnügen Eurer Bekanntschaft schenkt. Ich wünsche Euch Glück und langes Leben. Auf mein Ehrenwort«, fügte er hinzu, indem er wärmer wurde, je mehr er sich mit Walters Gesicht und Gestalt bekannt machte, »ich bin sehr erfreut, Euch zu sehen.«
»Herzlichen Dank«, versetzte Walter. »Ihr könnt mir kein edleres und wärmeres Willkomm wünschen.«
»Meint Ihr?« sagte Mr. Toots, ihm noch immer die Hand schüttelnd. »Es ist sehr gütig von Euch. Ich bin Euch sehr verbunden. Ich hoffe, Ihr habt doch alles wohl verlassen über dem – das heißt, auf dem – Ihr wißt, ich meine, wo Ihr Euch zuletzt aufgehalten habt.«
Auf alle diese guten und noch besser gemeinten Wünsche antwortete Walter besonnen.
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »ich möchte mich wohl streng wie ein Ehrenmann benehmen, hoffe aber, daß es mir gestattet sein wird, auf einen gewissen Gegenstand anzuspielen, der –«
»Jawohl, mein Junge«, versetzte der Kapitän, »ganz unverhohlen.«
»Dann, Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »und Leutnant Walter – seid Ihr schon unterrichtet von dem schrecklichen Vorfall, der sich in Mr. Dombeys Haus zugetragen hat – ich meine, daß Miß Dombey ihren Vater verließ, der meiner Ansicht nach«, Mr. Toots sprach dies in großer Aufregung, »ein Untier ist, und es wäre Schmeichelei, ihn ein – eine Marmorsäule oder einen Raubvogel zu nennen – und daß man sie nirgends finden kann, und daß niemand weiß, wohin sie gekommen ist?«
»Darf ich fragen, woher Ihr diese Kunde habt?« entgegnete Walter.
»Leutnant Walter«, sagte Mr. Toots, der zu dieser Benennung durch eine nur ihm eigentümliche Gedankenverbindung gekommen war, vielleicht weil er den Taufnamen der angeredeten Person mit ihrem Beruf zur See zusammenwarf und eine Beziehung zwischen ihr und dem Kapitän annahm, die sich natürlich auch auf ihre Titel ausdehnen mußte; »Leutnant Walter, ich nehme keinen Anstand, Euch unverhohlen zu antworten. Die Sache verhält sich nämlich so, daß ich an allem lebhaften Anteil nehme, was sich auf Miß Dombey bezieht – nicht aus selbstsüchtigen Gründen, Leutnant Walter; denn ich weiß wohl, daß ich für alle Beteiligten nichts Besseres tun könnte, als wenn ich meinem Dasein ein Ende machte, da es doch nur als eine Last betrachtet werden kann. Ich pflegte dem Lakaien, einem sehr achtbaren jungen Mann, namens Towlinson, der schon geraume Zeit im Hause gelebt hat, hin und wieder eine Kleinigkeit zu schenken, und dieser teilte mir nun gestern abend mit, wie die Sachen stehen. Seitdem, Kapitän Gills – und Leutnant Walter – bin ich völlig von Sinnen gekommen und habe die ganze Nacht nur auf dem Sofa gelegen, so daß ich jetzt die Ruine bin, die Ihr in mir seht.«
»Mr. Toots«, sagte Walter, »es freut mich, etwas zu Eurer Beruhigung beitragen zu können. Ich bitte, beruhigt Euch. Miß Dombey geht es gut, und sie ist in Sicherheit.«
»Sir!« rief Mr. Toots«, von seinem Stuhl auffahrend und ihm aufs neue die Hand schüttelnd, »die Erleichterung ist so übermäßig, so unaussprechlich, daß ich sogar lächeln könnte, wenn Ihr mir jetzt sagtet, daß Miß Dombey verheiratet sei. Ja, Kapitän Gills«, fügte er bei, sich an den Bezeichneten wendend, »bei meiner Seligkeit, ich glaube wirklich, daß ich lächeln könnte, was auch hinterdrein folgen könnte – so leicht ist es mir jetzt um das Herz.«
»Es wird Euch noch leichter werden, und ein edler Sinn wie der Eure wird in Entzücken geraten«, sagte Walter, der in Erwiderung der ihm zuteil gewordenen Begrüßung nicht flau war, »wenn Ihr erfahrt, daß Ihr Miß Dombey einen Dienst erweisen könnt. Kapitän Cuttle, wollt Ihr die Güte haben, Mr. Toots die Treppe hinaufzuführen?«
Der Kapitän winkte Mr. Toots, der ihm mit verwirrtem Gesicht folgte, führte ihn nach dem Hausgiebel hinauf und stellte ihn ohne ein Wort der Vorbereitung Florence vor.
Von ihrem Anblick wurde der arme Mr. Toots so freudig überrascht, daß er seinen Gefühlen nur in den größten Ungereimtheiten Luft machen konnte. Er lief auf sie zu, ergriff ihre Hand, küßte sie, ließ sie wieder sinken, faßte sie abermals, fiel auf ein Knie nieder, vergoß Tränen, kicherte und achtete nicht im mindesten auf die Gefahr, von Diogenes gepackt zu werden. Dieser war nämlich im Glauben, daß solche Demonstrationen eine feindliche Absicht gegen seine Gebieterin verrieten, und umstrich ihn mit einer Miene, als sei er noch nicht ganz schlüssig, welchen besonderen Körperteil er für seinen Angriff wählen solle, obschon in jedem seiner Blicke zu lesen war, daß er auf fürchterliches Unheil sann.
»O Di, du böser, undankbarer Hund! Lieber Mr. Toots, ich bin ungemein erfreut, Euch zu sehen.«
»Danke«, sagte Mr. Toots, »es ergeht mir ziemlich gut. Danke schönstens, Miß Dombey. Ich hoffe, der ganzen Familie ergeht es ebenso.«
Mr. Toots sprach das, ohne im mindesten zu wissen, was er sagte, und setzte sich auf einen Stuhl nieder, während er zugleich Florence mit einem Gesicht ansah, auf dem sich der Ausdruck von Wonne und Verzweiflung in der eigentümlichsten Weise mengte.
»Kapitän Gills und Leutnant Walter haben erwähnt, Miß Dombey«, keuchte Toots, »daß ich Euch einen Dienst erweisen könne. Wäre es mir durch irgendein Mittel möglich, die Erinnerung an jenen Tag zu Brighton auszulöschen, wo ich mich mehr wie ein Vatermörder, als wie ein Mensch von eigenem Vermögen benommen habe«, fügte er in strenger Selbstanschuldigung bei, »so würde ich mit Lust und Freude in das stille Grab sinken.«
»Ich bitte, Mr. Toots«, versetzte Florence, »wünscht nicht, irgend etwas in unserer Bekanntschaft zu vergessen. Glaubt mir, ich kann es nie. Ihr seid dafür stets zu gütig und freundlich gegen mich gewesen.«
»Miß Dombey«, erwiderte Mr. Toots. »Eure Rücksicht auf meine Gefühle ist ein Teil Eures engelgleichen Charakters. Danke Euch tausendmal. Es ist von durchaus keinem Belang.«
»Was nun unser Anliegen betrifft«, sagte Florence, »so möchten wir Euch fragen, ob Ihr Euch nicht erinnern könnt, wo Susanna, die Ihr nach dem Kutschen-Bureau zu begleiten so gütig wart, als sie mich verließ, aufzufinden ist?«
»Ich erinnere mich nicht genau mehr des Ortes, Miß Dombey«, versetzte Mr. Toots nach einigem Besinnen, »dessen Namen ich auf der Kutsche las, weiß aber noch wohl, daß sie zu mir sagte, sie bleibe nicht dort, sondern reise weiter. Wenn es Euch nun darum zu tun ist, Miß Dombey, sie aufzufinden und hier zu haben, so soll Eurem Wunsch mit all der Eile entsprochen werden, die durch meine Ergebenheit und die große Einsicht des Preishahn erzielt werden kann.«
Mr. Toots war bei der Aussicht, sich nützlich machen zu können, so erfreut und belebt; auch konnte die uneigennützige Aufrichtigkeit seines Erbietens so wenig in Zweifel gezogen werden, daß es Grausamkeit gewesen wäre, ihn zurückzuweisen. Mit instinktartigem Zartgefühl verzichtete also Florence darauf, auch nur die mindeste Einwendung dagegen zu erheben, ja, überhäufte ihn sogar mit Danksagungen, und Mr. Toots unterzog sich voll Stolz dem Auftrag, den er sogleich auszuführen beschloß.
»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, ihre ihm dargebotene Hand mit dem Schmerz hoffnungsloser Liebe ergreifend, der ihn sichtlich durchschoß und sich in seinem Gesichtsausdruck verriet, »lebt wohl! Gestattet mir die Bemerkung, daß Euer Unglück mich völlig elend macht, und daß Ihr nächst Kapitän Gills Euer volles Vertrauen in mich setzen könnt. Ich kenne meine Mängel wohl, Miß Dombey – sie sind nicht vom geringsten Belang, danke Euch – aber seid versichert, Miß Dombey, daß Ihr Euch völlig auf mich verlassen könnt.«
Mit diesen Worten verließ Mr. Toots das Zimmer, abermals von dem Kapitän begleitet, der den Hut unter dem Arm und sein wirres Haar mit dem Haken ordnend, in einiger Entfernung gestanden hatte und ein nicht teilnahmloser Zeuge der Szene gewesen war. Aber als sich die Tür hinter ihnen schloß, war das Licht von Mr. Toots' Leben wieder dunkel umwölkt.
»Kapitän Gills«, sagte der junge Gentleman, auf der unteren Treppe haltmachend und sich umwendend, »offen gestanden, ich bin für den Augenblick nicht in einer Gemütsverfassung, die es mir möglich machte, Leutnant Walter ganz das freundliche Gefühl zu zeigen, das ich in meinem Innern für ihn bergen möchte. Wir können nicht immer über unsere Empfindungen gebieten, Kapitän Gills, und Ihr würdet mir einen ganz besonderen Gefallen erweisen, wenn Ihr mich durch die Hintertür hinausließet.«
»Bruder«, entgegnete der Kapitän, »Ihr könnt da ganz Euren eigenen Kurs wählen. Welchen Ihr auch einschlagen wollt, ich bin überzeugt, daß er ehrlich und seemännisch ist.«
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »Ihr seid sehr gütig, und Eure gute Meinung gereicht mir zum Trost. Da fällt mir ein«, fügte er hinzu und blieb hinter der halb offenen Tür in dem Flur stehen, »und ich hoffe, Kapitän Gills, Ihr werdet darauf Bedacht nehmen – auch wäre es mir lieb, wenn Leutnant Walter davon unterrichtet würde – Ihr wißt, ich bin jetzt völlig in den Besitz meines Vermögens gekommen und weiß nicht, was ich damit anfangen soll. Wenn ich mich überhaupt im Punkt des Geldes nützlich machen könnte, so würde ich mit Ruhe und Freude in das stille Grab sinken.«
Mr. Toots sagte nicht mehr, sondern glitt leise hinaus, schloß die Tür selbst ab, und ersparte damit dem Kapitän eine Antwort.
Florence dachte an den guten Menschen noch lange nach seiner Entfernung mit den gemischten Empfindungen von Schmerz und Freude. Er war so ehrlich und warmherzig, daß sein Besuch und die Überzeugung, er sei ihr treu in ihrer Not, sie mit besonderem Trost erfüllte. Aber aus demselben Grunde fühlte sie sich ergriffen, wenn sie dachte, sie habe ihm auch nur einen einzigen unglücklichen Augenblick bereitet oder den harmlosen Strom seines Lebens durch einen Hauch getrübt. Ihr Auge füllte sich mit Tränen, und ihr Herz strömte über von Mitleid. Auch Kapitän Cuttle hielt in seiner Art viel auf Mr. Toots, ebenso Walter, und als sie abends in Florences neuem Stäbchen beisammen waren, konnte dieser des Lobes über ihn gar nicht satt werden. Er teilte Florence mit, mit welchem Anerbieten Mr. Toots das Haus verlassen hatte, und ließ dem wackeren Sinn des jungen Mannes alle jene anerkennende Gerechtigkeit widerfahren, deren ein ehrliches, teilnehmendes Herz fähig war.
Mr. Toots ließ sich in den nächsten Tagen nicht wieder blicken, und Florence lebte inzwischen ohne neue Beunruhigung gleich einem stillen Vögelchen in einem Käfig unter dem Giebel im Hause des alten Instrumentenmachers. Aber im Lauf der Zeit ließ sie mehr und mehr das Köpfchen hängen; und der Ausdruck, der in dem Gesicht des toten Kindes sichtbar geworden war, wandte sich oft von ihrem hohen Fenster aus dem Himmel zu, als suchten ihre Blicke einen Engel auf dem strahlenden Ufer, von dem er gesprochen, während er auf seinem kleinen Bette lag.
Florence war in letzter Zeit sehr zart und schwächlich geworden, und der Einfluß der Aufregung auf ihre Gesundheit ließ sich nicht verkennen, obschon sich vorderhand noch kein körperliches Leiden ausgebildet hatte. Aber ihr Geist litt, und die Ursache davon war Walter.
Es entging ihr nicht, daß er sie mied, und ungeachtet seiner Teilnahme und seiner Besorgnis für sie, ungeachtet seines freudigen Eifers, wenn es sich darum handelte, ihr einen Dienst zu leisten, und bei der ganzen Wärme und Begeisterung seines Charakters kam er doch im Laufe des Tages nur selten in ihr Zimmer. Wenn sie nach ihm fragte, erschien er und war dann für den Augenblick wieder so innig und erfreut, wie sie sich seiner aus der Zeit ihres Verirrens in dem Labyrinth der Londoner Straßen erinnerte. Aber bald wurde er gezwungen – ihrem schnell begreifenden Gefühl konnte dies nicht entgehen – und unruhig, so daß er nicht lange zu weilen vermochte. Unaufgefordert erschien er nie während der ganzen Zeit von Morgen bis zum Abend, und erst wenn dieser eingebrochen war, kam er – die glücklichste Zeit für sie; denn sie glaubte dann halb, der alte Walter ihrer Kindheit sei unverändert geblieben. Freilich konnte sie auch dann schon ein unbedeutendes Wort, ein Blick oder sonst etwas belehren, daß eine nicht bestimmbare Scheidewand zwischen ihnen stand, die nicht übersprungen werden durfte.
Sie mußte dabei bemerken, daß diese Merkmale einer großen Veränderung in Walter sich offenbarten, obschon er sich die größte Mühe gab, sie zu verbergen. Aus Rücksicht für sie, wie sie dachte, und in der Innigkeit seines Wunsches, sie mit jeder Wunde von seiner freundlichen Hand zu verschonen, nahm er zu zahlreichen kleinen Kunstgriffen und Bemäntelungen seine Zuflucht. Das ließ aber Florence den großen Wechsel in ihm nur desto mehr fühlen, und sie weinte desto öfter über das Fremdwerden ihres Bruders.
Der gute Kapitän – ihr unermüdlicher, warmer, stets eifriger Freund – sah es, wie Florence weinte, gleichfalls und grämte sich darüber. Er zeigte sich weniger heiter und hoffnungsvoll, als er anfangs gewesen war, und ließ oft mit traurigem Gesicht verstohlene Blicke zwischen ihr und Walter hin und her gleiten, wenn sie abends alle drei beisammen waren.
Florence beschloß endlich, mit Walter zu sprechen. Sie glaubte jetzt den Grund seiner Entfremdung zu kennen und dachte, ihr volles Herz werde eine Erleichterung darin finden, er selbst aber ruhiger werden, wenn sie ihm erkläre, sie habe die Ursache entdeckt, füge sich völlig darein und mache ihm keine Vorwürfe darüber.
Es war eines Sonntags nachmittags, als Florence diesen Entschluß faßte. Der treue Kapitän saß mit einem erstaunlichen Hemdkragen ihr gegenüber und las mit aufgesetzter Brille in einem Buche. Sie fragte ihn, wo Walter sei.
»Ich denke, er wird unten sein, mein Kindchen«, versetzte der Kapitän.
»Ich möchte ihn sprechen«, sagte Florence und erhob sich hastig, als ob sie die Treppe hinuntergehen wolle.
»Ich will ihn sofort hier oben haben, meine Schönheit«, entgegnete der Kapitän.
Der Kapitän schulterte nun mit großer Behendigkeit sein Buch – denn er hielt es für einen Punkt der Pflicht, an Sonntagen nur sehr große Bücher zu lesen, da das ein viel gesetzteres Aussehen verlieh. Darum hatte er vor Jahren an einem Trödelstand einen ungeheuren Band gekauft, dessen fünf erste Zeilen ihn jedesmal im höchsten Grad verwirrten, so daß er bis jetzt noch immer nicht mit sich ins reine gekommen war, von was das Werk eigentlich handelte – und entfernte sich. Walter erschien bald.
»Kapitän Cuttle sagt mir, Miß Dombey«, begann er hastig beim Hereinkommen, hielt aber inne, als er ihr Gesicht sah.
»Ihr seid heute nicht ganz wohl. Ihr seht leidend aus. Ihr habt geweint.«
Er sagte das so teilnahmsvoll und mit einem so innigen Beben in seiner Stimme, daß bei dem Ton seiner Worte ihr Tränen in den Augen quollen.
»Walter«, versetzte Floren« sanft, »ich bin nicht ganz wohl und habe geweint. Ich möchte mit Euch sprechen.«
Er setzte sich ihr gegenüber und blickte ihr in das schöne, unschuldige Antlitz. Sein eigenes aber wurde blaß und seine Lippen zitterten.
»Ihr sagtet an dem Abend, als ich Kunde erhielt von Eurer Rettung – und o! lieber Walter, was ich an jenem Abend fühlte und was ich hoffte! –«
Er legte seine bebende Hand auf den zwischen ihnen stehenden Tisch und blickte sie an.
»– daß ich verändert sei. Ich war erstaunt, dies von Euch zu hören, begreife aber jetzt, daß Ihr recht hattet. Seid mir nicht böse, Walter. Ich war damals zu erfreut, um daran zu denken.«
Sie schien ihm wieder ein Kind zu sein. Er sah und hörte in ihr das offene, vertrauensvolle, liebende Kind – nicht die Jungfrau, zu deren Füßen er bereitwillig alle Schätze der Erde niedergelegt haben würde.
»Ihr erinnert Euch doch noch unserer letzten Zusammenkunft vor Eurer Abreise, Walter?«
Er steckte seine Hand in die Brust und nahm eine kleine Börse heraus.
»Ich habe sie stets um meinen Hals getragen! Hätte die Tiefe mich verschlungen, so würde sie jetzt mit mir auf dem Grunde des Meeres ruhen!«
»Und Ihr tragt sie noch immer um meines früheren Ichs willen, Walter?«
»Bis ich sterbe!«
Sie legte so einfach und furchtlos ihre Hand auf die seine, als habe sie ihm das kleine Erinnerungszeichen erst heute gegeben.
»Das freut mich. Der Gedanke daran wird mir immer tröstlich sein, Walter. Erinnert Ihr Euch auch, daß an jenem Abend, als wir miteinander sprachen, eine Ahnung dieses Wechsels gleichzeitig uns zu befallen schien?«
»Nein«, antwortete er im Tone der Verwunderung.
»Ja, Walter. Ich bin schon damals die Ursache gewesen, Eure Hoffnungen und Aussichten zu beeinträchtigen, und obschon ich mich vor dem Gedanken fürchtete, so bin ich doch jetzt von der Wahrheit der Tatsache überzeugt. Wenn Ihr in Eurem edeln Sinne damals imstande waret, vor mir zu verbergen, daß Ihr es gleichfalls wußtet, so ist es Euch doch jetzt nicht mehr möglich, selbst wenn Euer Zartgefühl Euch veranlassen sollte, es zu versuchen. Ich sehe, Ihr versucht es wirklich, und ich danke Euch aus tiefster Seele dafür, Walter; aber es kann Euch nicht gelingen. Ihr habt in den Gefahren, die Euch und Eure teuersten Verwandten betroffen haben, zu viel gelitten, um die unschuldige Ursache von all diesem Leid zu übersehen, und weil Ihr diese Eigenschaft an mir nicht ganz zu vergessen vermögt, so können wir nicht länger Bruder und Schwester sein. Mein lieber Walter, glaubt nicht, daß ich mich deshalb über Euch beschwere. Ich hätte es wissen können – hätte es wissen sollen – dachte aber nicht daran in meiner Freude. Ich hoffe übrigens, dieses Gefühl wird Euch weniger drückend sein, wenn es nicht mehr ein geheimes ist, und ich bitte Euch nun, Walter, im Namen des armen Kindes, das einst Eure Schwester war, daß Ihr, nun ich alles weiß, nicht mehr um meinetwillen mit Euch selbst kämpft und Euch grämt.«
Walter hatte sie, während sie so sprach, mit einem Gesicht so voll Verwunderung und Erstaunen angesehen, daß für keinen anderen Ausdruck mehr Raum darin blieb. Er ergriff jetzt die Hand, die die seinige so bittend berührt hatte, und hielt sie fest.
»O, Miß Dombey«, sagte er, »ist es möglich, daß ich Euch das Leid bereitete, das mir Eure Worte enthüllen, während ich selbst in dem Erkennen dessen, was Euch gebührt und was Euch gezollt werden muß, einen so schweren Kampf kämpfte? Der Himmel ist mein Zeuge, ich habe Euch mir nie anders vergegenwärtigt, denn als die schönste, reinste und glücklichste Rückerinnerung meiner Jugend. Wie von Anfang an, werde ich bis auf den letzten Augenblick den Teil meines Lebens, der mich mit Euch verbindet, als etwas Heiliges betrachten, das nur ernsten Gedanken Raum gibt, nie hoch genug zu schätzen ist und nur im Tode vergessen werden kann. Euch wiederzusehen und sprechen zu hören, wie an jenem Abend unseres Abschieds, das ist ein Glück für mich, das ich nicht in Worten auszusprechen vermag, und die Liebe, das Vertrauen, das Ihr mir als einem Bruder bietet, ist die nächst große Gabe, die ich annehmen könnte und zu schätzen wüßte.«
»Walter«, sagte Florence, ihn fest anblickend, obschon der Ausdruck ihres Gesichts sich veränderte, »Ihr spracht von etwas, das mir unter Aufopferung von all diesem gebühre und mir gezollt werden müsse. Was meint Ihr damit?«
»Achtung«, versetzte Walter in gedämpftem Tone. »Ehrerbietung.«
Ihr Antlitz rötete sich wie der Morgenhimmel, und sie zog scheu und gedankenvoll ihre Hand zurück, obschon sie ihn noch immer mit ungeminderter Innigkeit ansah.
»Ich habe weder die Rechte noch die Ansprüche eines Bruders«, sagte Walter. »Ich verließ ein Kind und finde eine Jungfrau.«
Ein tiefes Rot breitete sich über ihr Gesicht. Sie machte eine Bewegung, als bitte sie ihn, nicht weiterzusprechen, und ließ dann das Haupt auf ihre Hände niedersinken.
Es herrschte eine Weile tiefes Schweigen, und Florence weinte.
»Ich bin es einem so reinen, guten und vertrauenden Herzen schuldig«, sagte Walter, »mich sogar von demselben loszureißen, und wenn das meine darüber bräche. Wie kann ich mich unterfangen zu sagen, es sei das meiner Schwester!«
Sie weinte stumm fort.
»Wäret Ihr glücklich und, wie es der Fall sein sollte, von liebenden und bewundernden Freunden, kurz von allem umgeben gewesen, was die Stellung, für die Ihr geboren wurdet, beneidenswert macht«, fuhr Walter fort; »und würdet Ihr dann in warmem Rückblick auf die Vergangenheit mich Bruder genannt haben, so hätte ich von meinem weiten Abstand aus auf diese Bezeichnung antworten können, ohne mir den Vorwurf machen zu müssen, daß ich Eurer reinen Seele zu nahe trete. Aber hier – und jetzt –«
»O, ich danke Euch, ich danke Euch, Walter! Verzeiht mir, daß ich Euch insoweit unrecht getan habe. Ich hatte niemanden, der mir raten konnte, und stehe so ganz allein.«
»Florence!« sagte Walter leidenschaftlich, »ich sehe mich jetzt gedrungen, meine Gedanken auszusprechen, obschon sie vor wenigen Augenblicken noch nichts meinen Lippen hätte entringen können. Wäre ich wohlhabend und im Besitz der Mittel oder auch nur der Hoffnung gewesen, Euch eines Tages eine Stellung, die der Eurigen nahe ist, zu sichern, so würde ich Euch gesagt haben, daß es einen Namen gäbe, den Ihr mir verleihen könnt – zugleich ein ausschließliches Recht, Euch zu schützen und zu pflegen, obschon ich dessen durch nichts würdig bin, als durch die achtungsvolle Liebe, die ich zu Euch im Innern trage, und durch den Umstand, daß mein ganzes Herz Euch gehört. Ich würde Euch gesagt haben, das sei der einzige Anspruch, den Ihr mir geben könnt, Euch zu verteidigen und zu beschützen – der einzige, den ich anzunehmen und zu behaupten wagen dürfe. Indessen, wenn ich im Besitz eines solchen Rechtes wäre, würde ich es als ein so teures und unschätzbares Gut betrachten, daß die ungeteilte Treue und Innigkeit meines ganzen Lebens nur eine dürftige Anerkennung zu bieten vermöchte.«
Das Köpfchen war noch immer gesenkt, die Tränen flossen fort, und ihre Brust schwellte sich unter Schluchzen.
»Liebe Florence! Liebste Florence! So pflegte ich Euch in meinen Gedanken zu nennen, ehe ich mir vorstellen konnte, welche wahnsinnige Anmaßung dies war. Nur dieses letzte Mal gestattet mir, Euch den mir so teuren Namen zuzurufen, und diese zarte Hand zu ergreifen, zum Zeichen, daß Ihr schwesterlich vergessen wollt, was ich gesagt habe.«
Sie erhob ihr Haupt und begann mit einer feierlichen Anmut in ihren Augen, mit einem ruhigen holden Lächeln, das durch ihre Tränen leuchtete und mit einem leisen Beben ihres Körpers und ihrer Stimme, so daß die innerste Saite seines Herzens ergriffen und alles trüb und nebelig vor seinen Blicken wurde.
»Nein, Walter, ich kann es nicht vergessen – möchte es um keine Welt vergessen. Seid Ihr – seid Ihr sehr arm?«
»Ich bin nur ein unsteter Wanderer«, sagte Walter, »der um seines Lebensunterhaltes willen Seereisen machen muß. Das ist fortan mein Beruf.«
»Wollt Ihr bald wieder fort, Walter?«
»Sehr bald.«
Sie sah ihn eine kurze Weile an und legte dann ihre zitternde Hand in die seine.
»Wenn Ihr mich zu Eurem Weibe nehmen wollt, Walter, so werde ich Euch zärtlich lieben. Laßt Ihr mich mit Euch ziehen, so will ich ohne Furcht mit Euch bis an das Ende der Welt gehen. Ich muß um Euretwillen nichts aufgeben, habe auf nichts zu verzichten und niemanden zu vergessen. Aber all mein Lieben und Leben soll Euch geweiht sein, und mit meinem letzten Hauch will ich gegen Gott noch Euren Namen atmen, wenn ich überhaupt noch Kraft und Besinnung dazu habe.«
Er drückte sie an seine Brust und legte seine Wange an die ihrige. Sie weinte jetzt, nicht mehr zurückgestoßen und nicht mehr verlassen, an dem Herzen ihres teuren Geliebten.
Gesegnete Sonntagsglocken, die so ruhig läuten zu ihrem Glück und ihrem Entzücken. Gesegneter Sonntagsfriede, der so im Einklang steht mit der Ruhe in ihren Seelen und ein heiliges Licht um sie her breitet! Gesegnete Dämmerung, die sich heranschleicht und beschwichtigend sie überschattet, während sie wie ein eingelulltes Kind an der Brust, wo sie Frieden sucht, einschlummert!
O welches Übermaß von Liebe und Vertrauen, das so leicht hier liegt! Ja, schau nieder auf die geschlossenen Augen mit einem stolzen Blick der Zärtlichkeit, Walter; denn auf der ganzen weiten Erde suchen sie jetzt nichts mehr außer dich.
Der Kapitän blieb in dem kleinen Hinterstübchen, bis es ganz dunkel war. Er setzte sich in den Stuhl, den Walter eingenommen hatte, und blickte nach dem Hochlichtfenster hinauf, bis der Tag allmählich dahinschwand und die Sterne niederschauten. Dann machte er Licht, zündete seine Pfeife an, rauchte sie aus und erging sich in Gedanken darüber, was in aller Welt doch droben vorgehen möge und warum man ihn nicht zum Tee rufe.
Während er sich noch auf diesem Gipfel seiner Verwunderung befand, trat Florence an seine Seite:
»Ach, so, kleines Fräuleinchen!« rief der Kapitän. »Der Tausend, Ihr und Wal'r habt ja mächtig lang miteinander geplaudert, mein schönes Kind.«
Florence umfaßte mit ihrer kleinen Hand einen von den großen Knöpfen seines Rocks und sagte, zu seinem Gesicht niederblickend:
»Lieber Kapitän, ich möchte Euch etwas mitteilen, wenn Ihr mich anhören wollt.«
Der Kapitän richtete den Kopf rasch auf, um zu hören, was es gebe. Um aber Florence genauer ansehen zu können, rückte er seinen Stuhl und sich so weit zurück, wie es gehen wollte.
»Wie, Herzensfreude!« rief der Kapitän mit strahlendem Gesicht. »Ist es das?«
»Ja!« sagte Florence schnell.
»Wal'r! ein Bräutigam, das?« brüllte der Kapitän seinen Glanzhut nach dem Hochlichtfenster hinaufwerfend.
»Ja!« rief Florence, zugleich lachend und weinend.
Der Kapitän umarmte sie, bückte sich dann nach seinem Glanzhut, setzte ihn auf, legte ihren Arm in den seinen und begleitete sie nach dem Dachstübchen, – im Gefühl, daß er jetzt den besten Witz seines Lebens anbringen könne. »Ei, Wal'r, mein Junge«, sagte er mit einem Gesicht zur Tür hineinschauend, das sich wie eine behagliche Wärmepfanne ausnahm, »so gibt es also keine andere Möglichkeit, he?«
Dieser Scherz mußte ihm wohl eigentlich erstickend auf der Brust liegen, denn er wiederholte ihn während des Tees wenigstens vierzigmal und polierte in den Zwischenräumen sein glänzendes Gesicht mit dem Rockärmel, oder fuhr mit seinem Taschentuch auf dem Kopf herum. Indes hatte er doch auch noch eine ernstere Quelle der Heiterkeit im Hinterhalt; denn man hörte ihn, während er in unaussprechlicher Wonne nach Walter und Florence hinsah, öfters in gedämpftem Ton sagen:
»Ed'ard Cuttle, mein Junge, der beste Kurs, den du in deinem ganzen Leben gehalten hast, war damals, als du das kleine Eigentum vereint als Mitgift sozusagen aussetztest.«
Einundfünfzigstes Kapitel. MR. DOMBEY UND DIE WELT.
Was treibt wohl der stolze Mann, während die Tage entschwinden? Denkt er je an seine Tochter, oder wundert er sich, wohin sie gegangen ist? Meint er vielleicht, sie sei nach Haus gekommen und führe ihr altes Leben in dem verödeten Gebäude? Niemand kann das beantworten; denn er hat ihren Namen seitdem nie wieder ausgesprochen. Sein Haushalt fürchtet ihn zu sehr, um eine Sache zur Sprache zu bringen, über die er ein so tiefes Schweigen beobachtet, und die einzige Person, die ihn zu fragen sich erdreistet, bringt er augenblicklich zum Verstummen.
»Mein lieber Paul!« murmelt seine Schwester, die am Tage von Florences Flucht ihn besucht, »deine Gattin – dieses hochfahrende Weib! Ist es möglich, daß in dem verwirrten Gerücht Wahrheit liegt, und dankt sie dir so die beispiellose Aufopferung für sie; denn du hast ja deine eigenen Verwandten ihren Launen und ihrem Stolze opfern müssen! Mein armer Bruder!«
Während dieser Anrede und in der Erinnerung an die Tatsache, daß sie am Tag der Ankunft des Ehepaars von Paris nicht zum Diner gebeten wurde, macht Mrs. Chick reichlichen Gebrauch von ihrem Taschentuch und fällt Mr. Dombey um den Hals. Mr. Dombey aber macht sich frostig von ihr los und bietet ihr einen Stuhl an.
»Ich danke dir für diesen Beweis deiner Liebe, Louisa«, sagte er, »muß dich aber bitten, für dein Gespräch ein anderes Thema zu wählen. Wenn ich einmal mein Schicksal beklage, oder mir Trost bei dir holen will, so wird es immer noch Zeit sein, ihn mir zu spenden. Habe daher die Güte, Louisa, von andern Dingen zu reden.«
»Mein lieber Paul«, versetzt seine Schwester, die das Schnupftuch vor ihr Gesicht hält und den Kopf schüttelt, »ich kenne deinen großen Geist und will daher nicht bei einem Thema beharren, das so peinlich und empörend ist«, Mrs. Chick legt auf die beiden Beiwörter einen besonders entrüsteten Nachdruck; »aber darf ich dich fragen, – freilich fürchte ich etwas Erschütterndes und Betrübendes hören zu müssen – ob jenes unglückliche Kind, Florence –«
»Louisa«, sagt ihr Bruder finster, »stille! kein Wort mehr davon!«
Mrs. Chick kann nur den Kopf schütteln, ihr Taschentuch brauchen und über entartete Dombeys seufzen, die keine Dombeys sind. Indes hat sie nicht die mindeste Vorstellung davon, ob Florence bei Ediths Flucht beteiligt war, oder gar ihr nachgefolgt ist, ob sie zu viel oder zu wenig, ob etwas oder nichts getan hat.
Unwandelbar verschließt er seine Gedanken und Gefühle in seinem Innern, ohne sie jemandem anzuvertrauen. Nachforschungen nach seiner Tochter werden nicht angestellt. Er wähnt vielleicht, sie sei bei seiner Schwester, oder weile unter seinem eigenen Dache. Ob er oft oder nie an sie denkt – aus den Anzeichen, die er davon gibt, läßt sich weder das eine noch das andere erkennen.
So viel aber ist gewiß, er denkt nicht, daß er sie verloren hat. Keine Ahnung der Wahrheit kommt ihm in den Sinn. Er hat zu lange in seiner Höhe abgeschlossen gelebt, um das geduldige sanfte Geschöpf auf dem Pfad unten zu bemerken, oder etwas Derartiges zu befürchten. Die ihm zugegangene Beschimpfung ist erschütternd gewesen, hat ihn aber nicht zur Erde gedemütigt. Die Wurzel greift in die Breite und Tiefe, und im Lauf der Jahre haben ihre Fasern sich ausgedehnt und aus der ganzen Umgebung Nährstoff gezogen. Der Baum ist getroffen, aber nicht gefällt.
Obgleich er die Welt in seinem Innern vor der Außenwelt verbirgt, – er hält es zunächst für seine einzige Aufgabe, sich auf allen seinen Schritten und Tritten sorgfältig zu bewachen – so kann er doch jene rebellischen Spuren davon nicht verdecken, die sich in den hohlen Augen und Wangen, in der hageren Stirn und in seinem düsteren, brütenden Wesen ausdrücken. Zwar noch immer so unnahbar wie ehedem, ist er trotzdem ein veränderter Mensch, und wenn sein Stolz sich auch nicht gebeugt hat, fühlt er sich doch gedemütigt; denn sonst könnten solche Abzeichen nicht vorhanden sein. Die Welt! Was die Welt von ihm denkt, um was sie ihn ansieht und was sie sagt – das ist der Dämon, der seinen Geist umspukt. Das Gespenst folgt ihm überall hin und, was noch schlimmer, befindet sich auch überall, wo er nicht ist. Es tritt hinaus mit ihm unter seine Dienerschaft und bleibt flüsternd daselbst zurück. Er sieht, wie es auf der Straße mit den Fingern ihm nachdeutet; es harrt seiner im Kontor, schielt über die Schultern der reichen Kaufleute, geht winkend und plappernd unter der Menge umher, kommt ihm an jedem Platze zuvor und ist – er weiß das – stets am geschäftigsten, wenn er sich wieder entfernt hat. Schließt er sich nachts in seinem Zimmer ein, so schleicht es durch das Haus, macht sich hörbar in den Fußtritten auf dem Straßenpflaster, starrt ihn in den Zeitungen auf dem Tisch an, dampft auf den Eisenbahnen und in den Schiffen hin und her und macht sich überall mit nichts anderem zu schaffen als mit ihm.
Es ist kein Phantom seiner Einbildungskraft, sondern in den Köpfen anderer Leute ebenso gut tätig, wie in dem seinen. Zeuge davon Vetter Feenix, der von Baden-Baden ausdrücklich in der Absicht herkommt, um mit ihm zu sprechen. Zeuge davon Major Bagstock, der Vetter Feenix bei seinem Besuche freundschaftlich begleitet.
Mr. Dombey empfängt sie mit seiner gewöhnlichen Würde und steht aufrecht in seiner alten Haltung vor dem Feuer. Er fühlt, daß aus ihren Augen die Welt ihn ansieht, daß sie aus den Gemälden herunterglotzt, daß Mr. Pitt auf dem Bücherschranke sie repräsentiert, und daß sogar in seinem eigenen, an der Wand hängenden Porträt die gleichen Augen sind.
»Ein ungewöhnlich kaltes Frühjahr«, sagt Mr. Dombey – um die Welt zu täuschen.
»Gott verdamm mich«, versetzt der Major in der Wärme der Freundschaft, »Joseph Bagstock ist nicht leicht anzuführen. Wenn Ihr Eure Freunde abzuhalten und ihnen kalt den Rücken zu kehren wünscht, Dombey, so ist J. B. nicht der Mann dafür. Joe ist rauh und zäh, Sir; derb, Sir, derb ist Joe. Seine königliche Hoheit, der verstorbene Herzog von York, erwies mir die Ehre, zu sagen – gleichviel, ob verdient oder unverdient – ,wenn es im Dienst einen Mann gibt, auf dessen Offenheit man sich verlassen kann, so ist dieser Mann Joe – Joe Bagstock.«
Mr. Dombey deutete seine Zustimmung an.
»Wohlan, Dombey«, sagt der Major, »ich bin ein Weltmann. Unser Freund Feenix – wenn ich mich erkühnen darf, ihn so –«
»Rechne es mir zu großer Ehre«, versetzt Vetter Feenix.
» – ist gleichfalls ein Weltmann«, fährt der Major mit einem Wackeln des Kopfes fort. »Und Ihr seid ein Weltmann, Dombey. Wenn nun drei Weltmänner zusammentreffen und Freunde sind – wie ich glaube –«, die letztere Bemerkung gilt abermals dem Vetter Feenix.
»Natürlich, die allerbesten«, sagt Vetter Feenix. »– und Freunde sind«, nimmt der Major wieder auf, »so ist der alte Joe der Ansicht (vielleicht hat J. unrecht), daß die Meinung der Welt über irgendeinen besonderen Gegenstand sich leicht erkunden läßt.«
»Ohne Zweifel«, sagt Vetter Feenix. »In der Tat, sie spricht vollkommen für sich selbst. Ich wünsche nichts sehnlicher, Major, als meinem Freund Dombey mein großes Erstaunen und Bedauern darüber auszudrücken, daß meine liebenswürdige und begabte Verwandte, die jede Eigenschaft besaß, um einen Mann glücklich zu machen, ihre Pflichten gegen – mit einem Wort, gegen die Welt so weit vergessen konnte, um sich in einer so außerordentlichen Weise bloßzustellen. Ich bin seitdem in einem verteufelt schwermütigen Zustand gewesen und habe in der Tat erst gestern abend zu dem langen Sarby gesagt, – Mann von sechs Fuß zehn Zoll Höhe, mit dem mein Freund Dombey wahrscheinlich bekannt ist – daß mir die Geschichte verdammt zusetze und mich ganz gallig mache. Eine solche verhängnisvolle Katastrophe bringt einen auf den Gedanken«, sagt Vetter Feenix, »daß die Ereignisse unter der Leitung einer Vorsehung stehen, denn wenn meine Tante noch am Leben wäre, so glaube ich, das hätte auf eine so verteufelt lebhafte Frau, wie sie war, wie ein Todesstreich gewirkt, und sie wäre wahrhaftig ein Opfer derselben geworden.«
»Wohlan, Dombey! –« nimmt der Major seine Rede mit großem Nachdruck wieder auf.
»Ich bitte um Verzeihung«, unterbricht ihn Vetter Feenix. »Erlaubt mir nur noch ein Wort, Mein Freund Dombey wird mir die Bemerkung gestatten, der höllische Zustand von Schmerz, in dem ich mich bei diesem Anlaß befinde, könne durch nichts mehr erhöht werden, als durch das natürliche Erstaunen der Welt über das Gerücht, daß meine liebenswürdige und begabte Verwandte (denn ich wage es noch immer, sie so zu nennen) sich mit einem Menschen – allerdings Mann mit weißen Zähnen – kompromittiert habe, der ihrem Gatten gegenüber eine so untergeordnete Stellung einnimmt. Aber während ich mit Entschiedenheit meinen Freund Dombey ersuchen muß, meine liebliche und begabte Verwandte nicht anzuklagen, bis ihre Schuld vollkommen erwiesen ist, erlaube ich mir zugleich, meinem Freund Dombey die Versicherung zu geben, daß die Familie, die ich repräsentiere und die jetzt fast erloschen ist (verteufelt trauriger Gedanke für einen Mann), ihm kein Hindernis in den Weg zu legen gedenkt und sich glücklich schätzen wird, jedem ehrenhaften Verfahren, das er im Hinblick auf die Zukunft einzuschlagen beabsichtigt, ihre Zustimmung zu geben. Ich hoffe, mein Freund Dombey wird mir zutrauen, daß ich in dieser sehr betrübenden Angelegenheit von der besten Absicht beseelt bin, und – ein – in der Tat, ich wüßte nicht, daß ich nötig hätte, meinen Freund Dombey mit weiteren Bemerkungen zu behelligen.«
Mr. Dombey verbeugt sich, ohne die Augen aufzurichten und bleibt stumm.
»Wohlan, Dombey«, sagt der Major, »nachdem unser Freund Feenix mit einem Aufwand von Beredsamkeit, wie ihn der alte Joe B, nie gehört hat – nein, beim Himmel, Sir, nie!« sagt der Major mit sehr blauem Gesicht, indem er seinen Stock in der Mitte anfaßt – »den Fall, soweit er die Dame betrifft, auseinandergesetzt hat, werde ich mir im Hinblick auf unsere Freundschaft, Dombey, erlauben, ihn von einem andern Gesichtspunkt aus zu beleuchten. Sir«, fügt der Major mit einem Pferdehusten bei, »die Welt hat in solchen Dingen Ansichten, denen Genüge geleistet werden muß.«
»Ich weiß es«, versetzt Mr. Dombey.
»Natürlich wißt Ihr es«, sagt der Major. »Gott verdamm mich, Sir, ich weiß, daß Ihr es wißt. Ein Mann von Eurem Format kann hierin nicht im unklaren sein.«
»Ich hoffe es«, entgegnete Mr. Dombey.
»Dombey!« sagt der Major, »Ihr werdet das übrige erraten. Ich spreche mich aus – voreilig vielleicht –, weil die Bagstock-Zucht immer offen gewesen ist. Sie hat es zwar damit nie weit gebracht, Sir; aber es liegt im Blut der Bagstocks. Dem Mann gehört eine Kugel. Ihr habt J.B. auf Eurer Seite. Er macht Anspruch auf den Namen eines Freundes. Gott stehe Euch bei.«
»Ich bin Euch verbunden, Major«, erwidert Mr. Dombey, »und werde mich in Eure Hände geben, wenn die Zeit reif ist. So weit ist es übrigens noch nicht, und ich habe deshalb unterlassen, mit Euch zu sprechen.«
»Wo ist der Mensch, Dombey?« fragt der Major, nachdem er ihn eine Weile angestarrt und angekeucht hat.
»Ich weiß es nicht.«
»Keine Kunde von ihm?« fragt der Major.
»Dombey, es freut mich, das zu hören«, sagt der Major. »Ich wünsche Euch Glück.«
»Ihr werdet entschuldigen, Major«, versetzt Mr. Dombey, »wenn ich vorderhand nicht einmal gegen Euch in weitere Einzelheiten eingehe. Die Nachricht ist eigentümlicher Art und mir in eigentümlicher Weise zugegangen. Möglich, daß sie wertlos, möglich aber auch, daß sie wahr ist. Ich kann zur Zeit nichts weiter sagen und muß deshalb hier abbrechen.«
Obschon das nur eine dürre Antwort auf den purpurnen Enthusiasmus des Majors ist, so nimmt er sie doch gnädig auf und fühlt sich entzückt in dem Gedanken, daß die Welt eine so schöne Aussicht hat, bald zu erhalten, was ihr gebührt. Vetter Feenix wird sodann von dem Gatten seiner liebenswürdigen und begabten Verwandten mit dankbaren Phrasen belohnt, worauf er und Major Bagstock sich entfernen, während der besagte Gatte wieder der Welt überlassen bleibt und Muße hat, über die Ansichten und die gerechten, vernünftigen Erwartungen derselben, wie sie ihm von den beiden dargestellt wurden, nachzudenken.
Aber wer sitzt Tränen vergießend und mit aufgehobenen Händen in dem Zimmer der Haushälterin und bespricht sich in leisem Ton mit Mrs. Pipchin? Es ist eine Dame, deren Gesicht ein sehr enger schwarzer Hut verhüllt, der nicht ihr zu gehören scheint. Es ist Miß Tox, die diese Verhüllung von ihrem Dienstmädchen geborgt hat und so im geheimen vom Prinzessinnenplatz hierher gekommen ist, um ihre alte Bekanntschaft mit Mrs. Pipchin wieder aufzunehmen und über Mr. Dombeys Zustand sichere Auskunft einzuholen.
»Und wie trägt er es, meine liebe Mistreß?« fragt Miß Tox.
»Er ist so ziemlich wie gewöhnlich«, antwortet Mrs. Pipchin in ihrer schnippischen Weise.
»Äußerlich«, deutet Miß Tox an, »Aber was er in seinem Innern fühlt!«
Mistreß Pipchins hartes graues Auge zeigt den Ausdruck des Zweifels, während sie in drei bestimmten Absätzen entgegnet: »Ach!. . Vielleicht ... Ich kann mir's vorstellen.«
»Um offen mit Euch zu sprechen, Lukretia«, fährt Mrs. Pipchin fort; sie nennt Miß Tox noch immer Lukretia, weil sie an dieser Dame, als diese noch ein unglückliches, schmächtiges, kleines Mädchen von zarten Jahren war, die ersten Versuche im Geschäft des Kinderquälens gemacht hat; »um mit Euch zu reden, Lukretia, so denke ich, daß wir von Glück sagen dürfen. Ich selbst mag keine so frechen Gesichter hier haben.«
»Jawohl, frech! Das ist ein vollkommen bezeichnender Ausdruck, Mrs. Pipchin«, erwidert Miß Tox. »Ihn zu verlassen! Eine so edle Männergestalt!«
Und Miß Tox gerät ganz außer sich.
»Von edel spüre ich gerade nicht viel«, bemerkt Mrs. Pipchin, empfindlich sich die Nase reibend. »So viel aber weiß ich – wenn den Leuten Prüfungen zugeschickt werden, so müssen sie diese tragen. Du lieber Himmel, ich habe meiner Zeit selbst auch genug zu tragen gehabt! Was macht man da viel Wesens! Sie ist fort, und man kann sich Glück wünschen, daß man sie vom Halse hat. Ich denke, niemand verlangt sie zurück.«
Diese Anspielung auf die peruvianischen Minen bewegt Miß Tox, sich zum Abschied anzuschicken, und Mrs. Pipchin läutet Towlinson, damit er ihr das Geleit gebe. Mr. Towlinson, der Miß Tox seit einem Menschenalter nicht gesehen hat, drückt grinsend die Hoffnung aus, daß es ihr gut gehe, und bemerkt, er habe sie anfangs in ihrem Hut nicht gekannt.
»Ziemlich gut, Towlinson, ich danke Euch«, sagt Miß Tox. »Wenn Ihr mich zufällig hier seht, so habt die Güte, nicht davon zu sprechen. Meine Besuche gelten bloß Mrs. Pipchin.«
»Sehr wohl, Miß«, sagt Towlinson.
»Es ereignen sich schreckliche Dinge, Towlinson«, meint Miß Tox.
»Jawohl, Miß«, entgegnet Towlinson.
»Ich hoffe, Towlinson«, sagt Miß Tox, die sich durch das Unterrichten der Toodle-Familie einen ermahnenden Ton angeeignet hat und nicht gern eine dafür passende Gelegenheit verabsäumt, »die Vorgänge hier werden Euch eine Warnung sein, Towlinson.«
»Danke bestens, Miß, jawohl«, versetzt Towlinson.
Er scheint mit sich zu Rate zu gehen, in welcher Weise diese Warnung auf seinen speziellen Fall anwendbar sei. Aber die essigsaure Mrs. Pipchin stört ihn plötzlich mit einem »was treibt Ihr da? warum geleitet Ihr die Dame nicht nach der Tür?« aus seinem Sinnen, und er führt Miß Tox ab. Wie diese an Mr. Dombeys Zimmer vorbeikommt, zieht sie sich in die innersten Tiefen des schwarzen Hutes zurück und geht auf den Zehenspitzen. Es gibt kein anderes Wesen in der Welt, das ihn so umspukt und so viel Leid und Sorge um ihn trägt, als das, welches Miß Tox unter dem schwarzen Hut in die Straße mit sich nimmt und, vor den neu angezündeten Lampen beschattet, nach Haus zu bringen versucht.
Aber Miß Tox ist kein Teil von Mr. Dombeys Welt. Sie kommt jeden Abend in der Dunkelheit, fügt bei Regenwetter dem Hut noch einen Schirm und Überschuhe bei und läßt bereitwillig Towlinsons Grinsen und Mrs. Pipchins mürrisches Wesen über sich ergehen, bloß um fragen zu können, was er treibt und wie er sein Unglück erträgt. Aber sie hat nichts mit Mr. Dombeys Welt zu schaffen. Bedrückend und quälend, wie immer, nimmt diese ohne Miß Tox ihren Gang, und diese selbst, keineswegs ein glänzender oder besonderer Stern, bewegt sich an dem Ende eines andern Systems in ihrem kleinen Kreise; sie weiß das recht wohl – kommt, weint, geht wieder fort und ist zufrieden. Wahrhaftig, Miß Tox ist leichter befriedigt, als die Welt, um die Mr. Dombey sich so viel Sorge macht.
Im Geschäft verhandeln die Gehilfen das große Unglück in allen seinen Licht- und Schattenseiten und sind namentlich neugierig darauf, wer Mr. Carkers Platz erhalten wird. Sie drücken allgemein die Ansicht aus, die Stelle dürfte wohl in ihrem Einkommen beschnitten und durch neue Beschränkungen unbequem gemacht werden. Diejenigen, die die allergeringste Aussicht haben, meinen, sie möchten sie nicht einmal annehmen, und beneiden den Mann nicht, dem sie vorbehalten ist. Seit dem Tod von Mr. Dombeys kleinem Sohn hat nichts im Kontor solches Aufsehen erregt. Aber die ganze Aufregung schlägt eine soziale, um nicht zu sagen joviale Richtung ein und führt zu Unterhaltung guter Kameradschaft. Bei dieser günstigen Gelegenheit findet sogar eine Versöhnung zwischen dem anerkannten Witzling des Kontors und einem aufstrebenden Nebenbuhler statt, die seit Monaten in tödlicher Fehde miteinander gelebt haben. Zur Feier dieser glücklich wiederhergestellten Freundschaft wird in einem benachbarten Wirtshaus ein Diner abgehalten, bei dem der Witzling den Vorsitz führt und der Nebenbuhler die Rolle des Vizepräsidenten übernimmt. Die Reden, die der Entfernung des Tafeltuchs folgen, werden durch den Vorsitzenden eingeleitet, der seinen Kollegen nicht verbergen kann, daß es jetzt keine Zeit zu Privatzwistigkeiten sei. Kürzliche Ereignisse, auf die er nicht näher einzugehen brauche, die aber in einigen Sonntags-Journalen und Tagblättern – er wolle sie nicht nennen – (jedes andere Mitglied der Gesellschaft führt übrigens mit hörbarem Murmeln die Namen auf) nicht unbeachtet geblieben seien, hätten ihn zum Nachdenken gebracht, und er fühle, daß in einem solchen Augenblicke jeder persönliche Zwist zwischen ihm und Robinson für immer die gute Gesinnung in der allgemeinen Sache beeinträchtigen würde, durch die sich, wie er Grund zu glauben habe und wie er hoffe, die Gentlemen in Dombeys Hause stets ausgezeichnet hätten.
Robinson antwortete hierauf wie ein Mann und Bruder, während ein Gentleman, der drei Jahre unter steter Entlassungsbedrohung wegen seiner mangelhaften Arithmetik in dem Bureau beschäftigt gewesen, in einem vollkommen neuen Lichte erscheint und plötzlich mit einer ergreifenden Rede hervorbricht, in der er sagt: Möge der geachtete Chef nie wieder die Verödung kennenlernen, die seinen Herd betroffen hat! Dann fährt er in unterschiedlichen Dingen fort, die stets mit einem »Möge er nie wieder« beginnen und donnernden Beifall ernten. Mit einem Wort, der Abend vergeht in der größten Herrlichkeit und wird nur durch einen Hader zwischen zwei jüngeren Kollegen gestört, die in einem Streit über die wahrscheinliche Höhe von Mr. Carkers letztem Jahreseinkommen sich mit Flaschen drohen und in großer Aufregung fortgeschafft werden. Am andern Tag ist im Bureau das Sodawasser sehr begehrt, und die meisten, die an der gestrigen Gesellschaft teilgenommen, halten die Wirtsrechnung für einen unverschämten Betrug.
Was Perch, den Boten, betrifft, so ist er auf dem schönsten Weg, für Lebenszeit zugrunde gerichtet zu werden. Man findet ihn unablässig in den Schenken, wo er traktiert wird und fürchterlich aufschneidet. Es stellt sich heraus, daß er überall mit den bei dem kürzlichen Vorfall beteiligten Personen zusammentraf und zu ihnen sagte, »Sir«, oder »Madame«, je nachdem der Fall war, »warum seht Ihr so blaß aus«, worauf die betreffende Person vom Kopf bis zu den Füßen schauderte, in die Worte ausbrach »o Perch«, und davonlief.
Entweder der Gedanke an diese Ungeheuerlichkeiten oder die Rückwirkung des genossenen Branntweins machen Mr. Perch gegen Abend um die Zeit, in der er gewöhnlich in der Gesellschaft der Mrs. Perch zu Balls Pond Trost sucht, sehr bedrückt. Dann ist Mrs. Perch ungemein reizbar; denn sie fürchtet, sein Vertrauen zu dem weiblichen Geschlecht sei jetzt erschüttert und er erwarte sozusagen, eines Abends beim Nachhausekommen, daß sie mit einem Grafen davongelaufen sei.
Mr. Dombeys Dienstboten wurden um die gleiche Zeit ganz ausgelassen und für jedes Geschäft untauglich. Sie haben jeden Abend ein warmes Nachtessen und unterhalten sich dabei, während dampfendes Getränk auf dem Tisch steht. Nach halb elf Uhr ist Mr. Towlinson regelmäßig bezecht und fragt, ob er nicht immer gesagt habe, daß bei dem Wohnen in einem Eckhause nie etwas Gutes herauskomme. Man flüstert über Florence und möchte wissen, wo sie sich aufhält. Aber man ist mit ihrem Schritt einverstanden; wenn auch Mr. Dombey nichts darüber wisse, so werde es doch Mrs. Dombey besser wissen. Dies bringt das Gespräch auf Edith, und die Köchin sagt von ihr: »Sie hatte doch eine recht vornehme Art an sich, etwa nicht? Aber sie trug sich zu hoch!« Alle andern stimmen bei, daß sie sich zu hoch trug, und Mr. Towlinsons alte Flamme, die Hausmagd (die sehr tugendhaft ist), bittet, man solle ihr nur nicht mehr mit Personen kommen, die ihre Köpfe so hoch halten, als ob der Erdboden nicht gut genug für sie sei.
Alles, was mit Ausnahme von Mr. Dombey in dieser Angelegenheit gesprochen und verhandelt wird, geschieht im Chor. Mr. Dombey und die Welt sind miteinander allein.
Zweiundfünfzigstes Kapitel. GEHEIME MITTEILUNG
Die gute Mrs. Brown und ihre Tochter Alice saßen an einem Abend des Spätlenzes stumm beieinander in ihrer Wohnung. Es waren schon einige Tage vergangen, seitdem Mr. Dombey mit Major Bagstock von einer bestimmten Nachricht gesprochen hatte: einer Nachricht eigentümlicher Art und die er auf eigentümlichem Wege erhalten hatte; die vielleicht wertlos war, vielleicht aber auch als richtig sich herausstellte. Die Welt aber sah sich noch immer nicht zufriedengestellt.
Mutter und Tochter saßen geraume Zeit fast regungslos da, ohne ein Wort miteinander zu reden. Das Gesicht der Alten zeigte den verschmitzten Ausdruck ängstlicher Erwartung; auch das ihrer Tochter war erwartungsvoll, obschon dieser Zug weniger scharf hervortrat, und umdüsterte sich zuweilen, als traue es nicht ganz der Erfüllung. Die Alte achtete nicht darauf, obschon ihre Augen sich oft ihrer Gefährtin zuwandten, und sie murmelte in zuversichtlichem Lauschen vor sich hin.
Ihre Wohnung war zwar arm und elend, aber doch nicht mehr ganz so schlecht, wie in den Tagen, als sie die gute Mrs. Brown allein beherbergte. Es zeigten sich einige Versuche von Reinlichkeit und Ordnung, zwar nur nachlässig und zigeunerartig ausgeführt, aber doch so, daß man schon beim ersten Blick die seitherige Tätigkeit Alices nicht verkennen konnte. Die Schatten des Abends wurden immer tiefer, ohne daß die beiden ihr Schweigen störten, bis endlich die dunkeln Wände fast in völlige Finsternis gehüllt waren.
Erst jetzt unterbrach Alice die lange Stille mit den Worten:
»Ihr dürft ihn aufgeben, Mutter. Er kommt nicht her.«
»Der Teufel gebe ihn auf!« entgegnete die Alte ungeduldig. »Er kommt.«
»Wir wollen sehen«, sagte Alice.
»Wir werden ihn sehen«, erwiderte ihre Mutter.
»Ja, beim jüngsten Gericht«, sagte die Tochter.
»Ich weiß, du meinst, ich sei kindisch geworden!« krächzte die Alte. »Solche Liebe und solchen Dank muß ich von meinem eigenen Mädel erleben. Aber ich bin klüger, als du wohl glaubst. Er wird kommen. Als ich letzthin in der Straße seinen Rock berührte, sah er sich nach mir um, wie wenn ich eine Kröte wäre. Aber mein Himmel, du hättest ihn sehen sollen, als ich ihm ihre Namen sagte und ihn fragte, ob er nicht ausfindig zu machen wünsche, wo sie seien.«
»War er zornig?« fragte die Tochter, deren Interesse im Nu geweckt war.
»Zornig? Frage, ob er nach Blut lechzte. Das ist das passendere Wort. Zornig? Ha, ha! dies nur zornig zu nennen!« sagte die Alte, nach dem Schranke humpelnd und ein Licht anzündend, das, während sie es nach dem Tische brachte, das Arbeiten ihres Mundes in seiner ganzen Häßlichkeit erkennen ließ. »Ich möchte ebensogut dein Gesicht nur zornig nennen, wenn du an sie denkst, oder von ihnen sprichst.«
Es war auch in der Tat ganz anders, als sie so dasaß, mit ihren blitzenden Augen einer sprungfertigen Tigerin ähnlich.
»Horch!« sagte die Alte triumphierend. »Ich höre einen Tritt. Es ist nicht der von jemandem, der in der Nachbarschaft wohnt oder oft hierher kommt. Wir gehen nicht so. Wir könnten stolz sein auf solche Nachbarn! Hörst du ihn?«
»Ich glaube, Ihr habt recht, Mutter«, versetzte Alice in gedämpfter Stimme. »Stille! Öffnet die Tür.«
Während sie ihr großes Halstuch um sich herzog, entsprach die Alte ihrer Aufforderung, guckte hinaus, winkte und ließ Mr. Dombey ein, der, sobald er seinen Fuß über die Schwelle gesetzt hatte, stehen blieb und sich mißtrauisch umsah.
»Es ist nur ein schlechter Platz für einen großen Herrn, wie Euer Gnaden«, bemerkte die Alte mit einem Knix. »Doch ich habe es Euch vorausgesagt, und es kann ja nichts schaden.«
»Wer ist dies?« fragte Mr. Dombey, nach Alicen hinsehend.
»Dies ist meine schöne Tochter«, antwortete die Alte. »Euer Gnaden braucht sich nicht an ihr zu stören. Sie weiß alles.«
Ein Schatten fiel über sein Gesicht, nicht weniger ausdrucksvoll, als wenn er laut gestöhnt hätte: »Wer weiß nicht alles!« Er sah jedoch fest nach ihr hin, und sie erwiderte seinen Blick ohne das mindeste Zeichen einer Begrüßung. Der Schatten auf seinem Gesicht wurde düsterer, als er die Augen von ihr abwandte, obschon er den Blick verstohlen wieder nach ihr zurückgleiten ließ, als ob ihre kühnen Blicke ihn gebannt hielten oder an etwas Bekanntes erinnerten.
»Weib«, sagte Mr. Dombey zu der alten Hexe, die kichernd und schielend an seiner Seite stand, während sie, als er sich umwandte, um sie anzureden, verstohlen nach ihrer Tochter hindeutete, die Hände rieb und wieder deutete. »Weib, ich glaube, daß mein Hierherkommen eine Schwäche ist, und daß ich dadurch meiner Stellung etwas vergebe. Aber Ihr wißt, warum ich hier bin und wozu Ihr Euch erboten habt, als Ihr mich letzthin auf der Straße anhieltet. Was habt Ihr mir über das, was ich zu wissen wünsche, zu sagen, und wie kommt es, daß ich in einem Loche, wie dieses hier«, er schaute verächtlich umher, »freiwillige Auskunft finden soll, während ich doch anderwärts alle meine Kräfte und Mittel vergeblich aufgeboten habe? Ich denke nicht«, fuhr er nach einer kurzen Pause fort, während der er sie finster betrachtet hatte, »daß Ihr so vermessen sein könnt, mit mir ein Spiel treiben oder mich betrügen zu wollen. Wäre das Eure Absicht, so tätet Ihr besser, gleich von Anfang an abzubrechen; denn ich bin nicht in der Stimmung, mich narren zu lassen, und würde es streng zu ahnden wissen.«
»O, ein stolzer, harter Herr!« kicherte die Alte, den Kopf schüttelnd und ihre runzligen Hände reibend, »O, hart, hart, hart! Aber Eure Gnaden sollen mit eigenen Augen sehen und mit eigenen Ohren hören; nicht mit den unsrigen – und wenn Euer Gnaden auf die rechte Spur gekommen ist, so wird Euch nichts daran liegen, etwas dafür zu bezahlen – nicht wahr, Euer Gnaden?«
»Ich weiß, Geld kann die unwahrscheinlichsten Dinge möglich machen«, entgegnete Mr. Dombey, augenscheinlich durch diese Frage erleichtert und beruhigt. »Es liefert mir vielleicht auch die unerwarteten und nicht sehr verheißungsvollen Mittel, die mir hier geboten werden. Ja. Für jede zuverlässige Mitteilung, die ich durch Euch erhalte, will ich zahlen. Aber ich muß sie zuerst hören, um ihren Wert beurteilen zu können.«
»Kennt Ihr nichts Mächtigeres als Geld?« fragte die Jüngere, ohne aufzustehen oder ihre Haltung zu verändern. »Hier nicht, sollte ich meinen«, sagte Mr. Dombey.
»Ich dächte, anderswo sollte Euch doch etwas Mächtigeres in den Weg getreten sein«, entgegnete sie. »Wißt Ihr nichts von dem Zorn eines Weibes?«
»Ihr habt eine vorlaute Zunge, Mädchen«, sagte Mr. Dombey.
»In der Regel nicht«, antwortete sie, ohne eine Spur von Aufregung zu zeigen. »Ich spreche jetzt mit Euch, damit Ihr uns besser verstehet und mehr auf uns baut. Der Zorn eines Weibes ist hier so ziemlich derselbe, wie in Eurem schönen Hause. Ich zürne – zürne seit vielen Jahren, und habe einen so guten Grund dafür, wie Ihr. Mein Zorn hat den nämlichen Mann zum Gegenstand.«
Er trat unwillkürlich zurück und blickte sie erstaunt an.
»Ja«, sagte sie mit einer Art Lachen. »So groß auch der Abstand zwischen uns scheinen mag, es ist dennoch so. Es liegt nichts daran, wie das kam; es ist ein Geheimnis, das ich für mich behalten will. Ich möchte Euch und ihn zusammenbringen, weil ich gegen ihn wüte. Meine Mutter ist geizig und arm; sie würde jede Nachricht, die sie auftreiben kann, kurz alles und jedes für Geld verkaufen. Es ist vielleicht nur billig, daß Ihr sie bezahlt, wenn sie Euch zu etwas verhilft, was Ihr zu wissen wünscht. Aber das ist nicht mein Beweggrund. Ich habe Euch diesen genannt, und er würde bei mir ebenso stark und mächtig fortwirken, wenn Ihr auch mit ihr um sechs Pence handeltet und feilschtet. Ich bin fertig. Meine vorlaute Zunge sagt nichts mehr, und wenn Ihr bis zum morgigen Sonnenuntergang hier wartetet.«
Die Alte, die während dieser Rede große Unruhe gezeigt hatte, weil sie davon eine Schmälerung ihres Gewinns fürchtete, zupfte Mr. Dombey sanft am Ärmel und flüsterte ihm zu, er solle nicht auf sie achten. Er schaute dann abwechselnd beide mit einem hohlen Blick an und sagte mit einer Stimme, die tiefer klang, als gewöhnlich:
»Fahrt fort – was wißt Ihr?«
»O, nicht so schnell, Euer Gnaden! Wir müssen zuvor noch jemand erwarten«, antwortete die Alte. »Die Kunde muß von einer dritten Person herausgeholt und ihr mit List entrungen werden.«
»Was meint Ihr damit?« fragte Mr. Dombey.
»Geduld«, krächzte sie, indem sie ihre Hand wie eine Klaue auf seinen Arm legte. »Geduld. Ich kriege es heraus. Ich weiß, es gelingt mir! Wollte er es mir vorenthalten«, sagte die gute Mrs. Brown, und die zehn Finger zuckten ihr, »so würde ich es ihm aus der Seele reißen!«
Mr. Dombey folgte ihr mit den Augen, während sie nach der Tür hinhumpelte und wieder hinausschaute. Dann suchte sein Blick die Tochter, die teilnahmslos, still und ohne seiner zu achten, dasaß.
»Ich muß Euch wohl so verstehen, Frau«, sagte er, als die gebeugte Gestalt der Mrs. Brown mit wackelndem Kopf und Kinn wieder zurückkehrte, »daß Ihr hier noch eine andere Person erwartet?«
»Ja!« sagte die Alte, zu seinem Gesicht aufschauend und nickend.
»Aus der Ihr die Kunde herausholen wollt, die mir nützlich sein soll?«
»Ja«, entgegnete die Alte mit einem abermaligen Nicken.
»Eine fremde Person?«
»Hoho!« sagte die Alte mit einem schrillen Lachen. »Was liegt daran? Doch nein, nicht fremd für Euer Gnaden. Aber er darf Euch nicht sehen. Er fürchtet sich vor Euch und würde nicht reden. Ihr müßt hinter jene Tür treten, damit Ihr Euch selbst ein Urteil bilden könnt. Wir verlangen nicht, daß Ihr eine Katze im Sack kauft. Wie – Euer Gnaden ist mißtrauisch gegen den Raum hinter der Tür? Ach, was für ein Argwohn von euch reichen vornehmen Leuten! So seht selbst nach.«
Ihr scharfes Auge hatte bei ihm eine unwillkürliche Äußerung dieses Gefühls entdeckt, das ihm unter den obwaltenden Umständen niemand verargen konnte. Um ihn übrigens zu beruhigen, nahm sie jetzt die Kerze nach der besprochenen Tür hin. Mr. Dombey schaute hinein und überzeugte sich, daß hier eine leere, elende Kammer war, und winkte dann der Alten, das Licht wieder auf den Tisch zu stellen.
»Wie lange kann es dauern, bis die von Euch erwartete Person kommt?« fragte er.
»Nicht lange«, lautete die Antwort. »Will Euer Gnaden nicht für ein paar Minuten Platz nehmen?«
Er erwiderte nichts, sondern begann in der Stube hin und her zu gehen, als sei er unschlüssig, ob er bleiben oder sich entfernen solle. Ja es schien sogar, als mache er sich im geheimen Vorwürfe, daß er überhaupt hier sei. Aber bald wurde sein Tritt langsamer und schwerer, sein Gesicht gedankenvoller, je mehr er sich den Zweck, weswegen er gekommen war, vergegenwärtigte.
Während er so mit zu Boden gesenkten Augen auf und ab schritt, setzte sich Mrs. Brown, die aufgestanden war, um ihn zu empfangen, wieder auf ihren Stuhl und lauschte abermals. Die Eintönigkeit seiner Tritte oder die Schwäche ihres Alters ließ sie einen Schritt von außen überhören, der dem scharfen Ohr ihrer Tochter nicht entgangen war, und diese schaute rasch auf, um ihre Mutter aufmerksam zu machen, obschon es einige Augenblicke dauerte, bis ihr das gelang. Dann aber sprang die Alte von ihrem Sitz auf, flüsterte ein »da ist er!«, drängte ihren Besuch nach seinem Beobachtungsposten und stellte mit größter Hast eine Flasche und ein Glas auf den Tisch, um Rob dem Schleifer schon auf der Schwelle um den Hals fallen zu können.
»Und da ist mein hübscher Junge«, rief Mrs. Brown. »Endlich! Oho, oho! Ihr seid mir wie mein eigener Sohn, Robby!«
»O! Misses Brown«, stellte der Schleifer vor, »laßt mich los! Könnt Ihr nicht einen jungen Bursch liebhaben, ohne ihm blaue Male zu drücken und ihn zu erdrosseln? Nehmt doch den Vogelkäfig in acht, den ich in meiner Hand habe – wollt Ihr so gut sein?«
»Er denkt vor mir an seinen Vogelkäfig!« rief die Alte, als rede sie die Decke an. »Vor mir, die mehr Liebe zu ihm hat, als eine Mutter!« »Gewiß, ich bin Euch ja recht dankbar dafür, Misses Brown«, sagte der unglückliche Jüngling mit einer Jammermiene; »aber was braucht Ihr so eifersüchtig zu sein? Ich habe Euch natürlich auch gern; aber folgt daraus, daß ich Euch würgen und ersticken muß?«
Er sprach das mit einem Gesicht, als hätte er gegen ein solches Verfahren nicht allzuviel einzuwenden, wenn sich eine günstige Gelegenheit dazu darböte.
»Und noch dazu von Vogelkäfigen reden!« wimmerte der Schleifer. »Als ob das ein Verbrechen sei. Nun, so schaut selbst her! Wißt Ihr, wem dieses gehört?«
»Eurem Herrn, mein Schatz?« versetzte die Alte mit einem Grinsen.
»Ja«, antwortete der Schleifer und machte einen großen, mit einem Tuch umwickelten Käfig auf dem Tisch frei, indem er die Knoten der Umhüllung mit Händen und Zähnen löste. »Es ist unser Papagei.«
»Mr. Carkers Papagei, Rob?«
»Wollt Ihr's Maul halten, Misses Brown?« entgegnete der gereizte Schleifer. »Was braucht Ihr hier Namen zu nennen? Hole mich der Kuckuck«, fügte er hinzu und raufte in der Aufregung seiner Gefühle mit beiden Händen sein Haar, »wenn sie nicht imstande ist, einen jungen Burschen toll zu machen.«
»Wie, Ihr wollt mir mit Schelten kommen, undankbarer Junge!« rief die Alte mit rasch bereiter Heftigkeit.
»Ach du mein Himmel, Misses Brown«, entgegnete der Schleifer mit Tränen in den Augen. »Hat's da je so ein – –! Wißt Ihr denn nicht, daß ich eigentlich in Euch vernarrt bin, Misses Brown!«
»Ist es wahr, mein lieber Rob? Ist es wahr, mein Schätzchen?«
Mit diesen Worten beglückte ihn Mrs. Brown abermals mit einer zärtlichen Umarmung und ließ ihn nicht los, bis er mehrere ungestüme, obschon vergebliche Anstrengungen mit seinen Beinen gemacht hatte und ihm alle Haare zu Berg standen.
»O!« entgegnete der Schleifer, »es ist was Schreckliches, wenn man so von der Liebe mißhandelt wird. Ich wollte, sie wäre – –. Nun, wie ist es Euch ergangen, Misses Brown?«
»Ach, schon volle acht Tage nicht hier gewesen!« sagte die Alte, ihn mit vorwurfsvollen Blicken musternd.
»Du mein Himmel, Misses Brown«, versetzte der Schleifer, »habe ich nicht das letztemal gesagt, ich wollte in acht Tagen wiederkommen? Und da bin ich. Wie könnt Ihr nur so reden? Nehmt doch ein bißchen Vernunft an, Misses Brown. Ich bin ganz heiser, weil ich so viel zu meiner Verteidigung sagen muß, und das Gesicht brennt mir von Eurer Umarmung.«
Er rieb sich die Backen mit dem Ärmel, als wolle er das Übermaß des fraglichen zarten Feuers ersticken.
»Erquickt Euch mit einem Tröpflein, mein Robin«, sagte die Alte, füllte aus der Flasche das Glas und schob es ihm hin.
»Danke, Misses Brown«, erwiderte der Schleifer. »Eure Gesundheit. Und möget Ihr lang – et cetera!« dem Ausdruck seines Gesichtes nach zu schließen, enthielt dies eben nicht den besten Glückwunsch. »Und auch ihre Gesundheit«, fügte der Schleifer mit einem Blick auf Alice hinzu, die, wie es ihm vorkam, ihre Augen auf die Wand hinter ihm heftete, obschon in Wirklichkeit die Richtung derselben dem Gesicht des hinter der Tür stehenden Mr. Dombey galt. »Ich wünsche ihr das gleiche und noch viel dazu!«
Mit diesen beiden Trinksprüchen leerte er das Glas und setzte es wieder nieder.
»Also, Misses Brown«, fuhr er fort, »um jetzt auf etwas Vernünftiges zu kommen. Ihr seid eine Vogelkennerin, wie ich auf eigne Kosten erfahren habe.«
»Kosten?« wiederholte Mrs. Brown.
»Zu meiner Freude, wollte ich sagen«, versetzte der Schleifer. »Wie Ihr doch gleich einem jungen Burschen jedes Wort auf die Wage legt. Misses Brown. Ihr habt mir alles wieder aus dem Kopf gejagt.«
»Eine Vogelkennerin, Robby?« bemerkte die Alte.
»Ja«, sagte der Schleifer. »Da soll ich nun für diesen Papagei sorgen. Gewisse Dinge kommen zum Verkauf, ein gewisses Hauswesen wird aufgelöst, und da ich vorderhand nicht wünsche, daß man von mir Notiz nehme, so wäre es mir lieb, wenn Ihr den Vogel für eine Woche oder so in Kost und Pflege nähmet. Wenn ich doch einmal ab- und zulaufen muß«, sprach der Schleifer mit niedergeschlagenem Gesicht vor sich hin, »so kann ich ebensogut etwas hier lassen, wegen dessen ich komme.«
»Wegen dessen Ihr kommt?« fragte schrill die Alte.
»Außer Euch, meine ich, Misses Brown«, erwiderte der verschüchterte Rob. »Natürlich nicht, daß ich außer Euch noch eines andern Anlasses bedürfte, Misses Brown. Um Gottes willen, fangt nur nicht wieder so an!«
»Er kümmert sich nicht um mich! Er macht sich nichts aus mir, obschon ich stets um ihn so sehr bekümmert bin!« rief Mrs. Brown, ihre häutigen Hände erhebend. »Aber ich will für seinen Vogel Sorge tragen.«
»Ja, sorgt nur recht gut für ihn, Mrs. Brown«, sagte Rob, den Kopf schüttelnd. »Ich glaube, man würde dahinter kommen, wenn Ihr ihm nur ein einziges Mal die Federn in falscher Richtung strichet.«
»Ah, so scharf also, Rob?« fragte Mrs. Brown hastig.
»Jawohl scharf, Misses Brown!« wiederholte Rob. »Aber nur mäuschenstill darüber.«
Er brach plötzlich ab und füllte, nicht ohne einen furchtsamen Blick durch das Zimmer gleiten zu lassen, das Glas von neuem, trank es langsam aus, schüttelte den Kopf und begann mit den Fingern langsam über die Drähte des Papageikäfigs hin und her zu fahren, um von dem gefährlichen Gegenstand, den er eben in Anregung gebracht hatte, abzulenken.
Die Alte faßte ihn schlau ins Auge, rückte ihren Stuhl näher an den seinen heran, lockte den Papagei herunter und sagte:
»Ohne Stelle jetzt, Robby?«
»Was kümmert das Euch, Misses Brown?« entgegnete der Schleifer kurz abgebrochen.
»Kostgeld vielleicht, Rob?« fragte Mrs. Brown.
»Hübsche Polly!« sagte der Schleifer.
Die Alte warf ihm einen Blick zu, der ihm hätte sagen können, daß seine Ohren in Gefahr seien. Aber jetzt war die Reihe an ihm, den Papagei zu locken, und wie ausdrucksvoll sich auch seine Einbildungskraft ihr Zürnen vergegenwärtigen mochte, blieb es doch seinen Augen verborgen.
»Es wundert mich, daß Euch Euer Herr nicht mitgenommen hat«, sagte die Alte mit einschmeichelnder Stimme, obschon sich in ihrem Gesicht erhöhte Bosheit ausdrückte.
Rob war in Betrachtung des Papageis und in sein Zupfen an den Drähten so vertieft, daß er keine Antwort gab.
Die Alte hatte ihre Kralle fast in seinem Haarschopf, hielt aber wieder inne und sagte im Tone erkünstelten Schmeichelns: »Robby, mein Kind.«
»Was wollt Ihr, Misses Brown?« versetzte der Schleifer.
»Ich sage, es wundert mich, warum Euch Euer Herr nicht mitgenommen hat, mein Schatz.«
»Geht Euch nichts an, Misses Brown«, erwiderte der Schleifer.
Im Augenblick hatte sich ihre rechte Hand in seinem Haar eingekrallt, während ihre linke an seiner Kehle saß; sie hielt den Gegenstand ihrer zärtlichen Liebe mit so außerordentlicher Wut fest, daß sein Gesicht sofort dunkel anlief.
»Misses Brown!« rief der Schleifer, »so laßt mich nur gehen! Was fällt Euch denn ein? Hilfe, Fräulein! Misses Brow – Brow –«
Das Fräulein jedoch, das sich weder durch Robs unmittelbaren Hilferuf, der ihr galt, noch durch den erstickten Ton seiner Stimme rühren ließ, blieb völlig neutral, bis endlich Rob nach einem langen Kampf in der Ecke sich von seiner Angreiferin losmachte. So stand er, von seinen vorgeschobenen Ellbogen geschützt, keuchend da, während die Alte gleichfalls keuchend und vor Wut mit den Füßen stampfend, ihre Kräfte zu einem abermaligen Sturm zu sammeln schien. In dieser Krisis ließ Alice ihre Stimme ertönen und sprach, freilich nicht zugunsten des Schleifers, die Worte:
»Recht so, Mutter. Reißt ihn in Stücke.«
»Wie, mein Fräulein«, heulte Rob, »seid auch Ihr gegen mich? Was habe ich denn getan und weswegen soll ich in Stücke zerrissen werden? Das möchte ich doch wissen. Warum packt und würgt Ihr einen jungen Burschen, der keinem von euch beiden je etwas zuleide getan hat? Und ihr wollt Damen sein!« fügte der erschrockene und bedrängte Schleifer bei, während er mit dem Rockärmel seine Augen bearbeitete. »Ich wundere mich über euch! Wo ist euer frauliches Zartgefühl?«
»Du undankbarer Hund!« keuchte Mrs. Brown. »Du unverschämter, höhnischer Schlingel!«
»Was hab' ich denn getan und wodurch habe ich Euch beleidigt, Misses Brown?« entgegnete Rob unter Tränen. »Vor einer Minute habe ich ja noch ganz in Eurer Gunst gestanden.«
»Mich so mit kurzen Antworten und trotzigen Reden abzufertigen!« sagte die Alte. »Ein solches Spiel mit mir zu treiben, weil ich ein bißchen über den Herrn und die Lady mit ihm plaudern möchte! Aber ich will nichts mehr von dir, Bursche. Geh' jetzt!«
»Gewiß, Misses Brown«, entgegnete der kriechende Schleifer, »ich habe in keiner Weise angedeutet, daß ich zu gehen wünsche. Redet doch bitte nicht so, Misses Brown!«
»Ich will gar nichts mehr mit ihm reden«, sagte Mrs. Brown, mit ihren gekrümmten Fingern in einer Weise ausholend, daß er sich in der Ecke auf die Hälfte seines natürlichen Umfangs zusammendrückte. »Kein Wort mit ihm soll mir je wieder über die Lippen kommen. Er ist ein undankbarer Hund, und ich sage mich los von ihm. Er kann jetzt gehen! Und ich will diejenigen nachschicken, die nur zu viel reden werden, die sich nicht abschütteln lassen, die wie Blutegel an ihm hängen und wie Füchse hinter ihm dreinjagen. Ja, er weiß wohl, wen ich meine. Er kennt seine alten Kameradenschaften und seine alten Spitzbübereien. Wenn er sie vergessen hat, werden sie ihn schon daran erinnern. Er soll jetzt nur fortgehen und sehen, ob er, wenn ihm eine solche Gesellschaft auf und nieder folgt, das Geschäft seines Herrn besorgen und seine Geheimnisse bewahren kann. Ha, ha, ha, er wird einen ganz andern Schlag in ihnen finden als in dir und mir, Ally, gegen die er so verschlossen ist. Fort jetzt – fort.«
Die Alte umlief den Schleifer zu dessen unaussprechlichem Entsetzen in einem Ring von ungefähr vier Fuß im Durchmesser, wiederholte unaufhörlich diese Worte, wackelte dabei mit dem Kinn und schüttelte ihre Faust über seinem Kopf.
»Misses Brown«, flehte Rob, der ein wenig aus seiner Ecke hervorkam, »besinnt Euch doch; gewiß, Ihr könnt einem armen Burschen nicht mit kaltem Blute etwas zuleide tun.«
»Nichts da«, sagte Mrs. Brown, zornig ihre Kreise fortsetzend, »Fort jetzt – fort mit ihm!«
»Misses Brown«, drängte der unglückliche Schleifer, »ich hatte ja nicht die Absicht, zu – o, was ist es nicht Schreckliches, wenn ein junger Bursche in eine solche Klemme kommt! – Ich habe mich nur deshalb vor dem Reden gehütet, Misses Brown, weil ich es stets tue, da er gleich hinter alles kommt; bei Euch aber hätte ich wissen können, daß es sich nicht weiter verbreitet. Gewiß, es macht mir Freude« – sein klägliches Gesicht drückte das Gegenteil aus – »ein bißchen mit Euch plaudern zu können, Misses Brown. Nur seid so gut, es nicht in dieser Art weiterzutreiben. Wollt Ihr nicht die Barmherzigkeit haben, für einen armen jungen Burschen ein gutes Wort einzulegen?« fügte der Schleifer in verzweifelndem Ton, zur Tochter gewandt, hinzu.
»Hört Ihr, was er sagt, Mutter?« legte sich Alice mit strenger Stimme und einer ungeduldigen Kopfbewegung ins Mittel. »Versucht es noch einmal mit ihm, und kommt er Euch wieder so, so mögt Ihr ihn meinetwegen zugrunde richten, damit man ihn für immer vom Halse hat.«
Mrs. Brown, die durch diese sehr zärtliche Ermahnung gerührt zu sein schien, begann sogleich zu heulen, wurde aber allmählich milder und schlang den sich rechtfertigenden Schleifer in ihre Arme. Letzterer erwiderte die Liebkosung mit einer Jammermiene und nahm als leibhaftiges Opfer den früheren Sitz an der Seite seiner ehrwürdigen Freundin wieder ein. Er gestattete ihr, nicht ohne viel erzwungene Süßigkeit, womit ganz andere sehr ausdrucksvolle Gesichtszüge in seinem Antlitz kämpften, seinen Arm in den ihren zu legen und ihn so festzuhalten.
»Und was macht Euer Herr, mein Schatz?« fragte Mrs. Brown, die nach der Aussöhnung in der erwähnten freundschaftlichen Haltung neben ihm saß.
»Pst! seid doch so gut, ein bißchen leiser zu reden, Misses Brown«, flehte Rob. »Danke Euch, ich glaube, es geht ihm ziemlich gut.«
»Ihr seid also nicht ohne Stelle?« fragte Mrs. Brown in einschmeichelndem Tone.
»Ei, nicht gerade ohne Stelle, obschon ich auch nicht sagen kann, daß ich eine habe«, stotterte Rob. »Ich – ich werde noch immer bezahlt, Misses Brown.«
»Und nichts zu tun, Rob?«
»Vorderhand nichts Besonderes, Misses Brown, als etwa mei – meine Augen offenzuhalten«, versetzte der Schleifer, der die erwähnten Organe verzweifelt umherrollen ließ.
»Der Herr ist verreist, Rob?«
»O, um des Himmels willen, Misses Brown, könnt Ihr nicht mit einem jungen Burschen über etwas anderes plaudern?« rief der Schleifer verzweifelt.
Da jetzt die ungestüme Mrs. Brown aufstehen wollte, hielt sie der gefolterte Rob stammelnd zurück.
»J – ja, Misses Brown«, sagte er. »Ich glaube, er ist verreist. Nach was schaut sie so hin?« sagte er mit Bezug auf die Tochter, deren Augen auf dem Gesicht hafteten, das jetzt hinter seinem Rücken wieder hereinschaute.
»Kehrt Euch nicht an sie, Junge«, entgegnete die Alte, die ihn festhielt, damit er sich nicht umwenden konnte, »Es ist so ihre Art – ihre Art. Erzählt mir, Rob. Habt Ihr nie die Lady gesehen, mein Schätzchen?«
»O, Misses Brown, welche Lady?« rief der Schleifer im Ton der de- und wehmütigsten Bitte.
»Welche Lady?« erwiderte sie. »Die Lady – Mrs. Dombey.«
»Ja, ich glaube, ich habe sie einmal gesehen«, versetzte Rob.
»In der Nacht ihrer Abreise, he, Robby?« rief ihm die Alte ins Ohr, während sie zugleich jede Veränderung in seinem Gesicht aufmerksam beobachtete. »Aha! ich sehe, es war in jener Nacht.«
»Wenn Ihr es schon wißt, Misses Brown«, entgegnete Rob, »wozu nützt es dann, einem armen Burschen die Daumschrauben anzulegen, bis er es sagt?«
»Wohin gingen sie in jener Nacht, Rob? Gerad heraus? Wie reisten sie? Wo habt Ihr sie gesehen? Lachte oder weinte sie? Erzählt mir alles«, rief die alte Hexe, indem sie ihn noch fester hielt, die Hand, die sie in seinen Arm gelegt hatte, mit der andern streichelte und mit ihren Triefaugen jeden Zug seines Gesichts forschend prüfte. »Na, fangt an! Ich möchte die ganze Geschichte hören. Ei, Rob, mein Junge – Ihr und ich, wir beide können doch wohl ein Geheimnis bewahren? Es ist ja nicht das erstemal. Wohin gingen sie, Rob?«
Der unglückliche Schleifer keuchte und blieb stumm.
»Seid Ihr taub?« fragte die Alte zornig.
»Gott behüte, Misses Brown! Aber verlangt Ihr denn, ein junger Bursche solle ein Blitzstrahl sein? Ich wollte, ich wäre selbst Elektrizität«, murmelte der verwirrte Schleifer. »Wie wollt' ich auf gewisse Personen losfahren und ihnen das Handwerk legen.«
»Was sagt Ihr?« fragte die Alte mit einem Grinsen.
»Ich wünsche Euch alles Gute, Misses Brown«, entgegnete der falsche Rob, sich aus dem Glase Trost holend. »Wo sie zuerst hingingen, fragt Ihr? Ihr meint doch ihn und sie?«
»Ja, sie beide«, sagte die Alte hastig.
»Nun, sie gingen nirgends hin – d.h. miteinander«, antwortete Rob.
Die Alte sah ihn an, als habe sie gute Lust, mit ihren Krallen ihm abermals in die Haare und an die Kehle zu fahren, hielt aber inne, da sie ein gewisses störrisches Heimlichtun in seinem Gesicht merkte.
»Das war eben der Kniff dabei«, sagte der widerstrebende Schleifer, »daß sie niemand gehen sah, folglich auch niemand sagen kann, wie sie fortkamen. Sie schlugen verschiedene Wege ein, Misses Brown.«
»Ach so, um an einem zum voraus bezeichneten Ort zusammenzutreffen«, kicherte die Alte nach einem kurzen Schweigen und einer scharfen Musterung seines Gesichtes.
»Nun, wenn sie nicht irgendwo zusammentreffen wollten, so denke ich, hätten sie ebensogut zu Hause bleiben können – meint Ihr nicht. Misses Brown?« entgegnete der Schleifer ungeduldig.
»Was weiter, Rob? was weiter?« sagte die Alte, seinen Arm noch dichter an sich ziehend, als fürchte sie in ihrer Begier, er könnte ihr entschlüpfen.
»Haben wir denn noch nicht genug geschwatzt, Misses Brown?« entgegnete der Schleifer, der im Gefühl der erlittenen Kränkung, der Folter, auf der er lag, und unter dem Einflüsse des Branntweins so tränenreich geworden war, daß er bei fast jeder Antwort mit dem Rockärmel entweder das eine oder das andere seiner Augen auswischte, während zugleich ein vergebliches Winseln als Gegenbitte dienen mußte. »Ob sie in jener Nacht gelacht habe, wolltet Ihr wissen? Habt Ihr nicht gefragt, ob sie lachte, Misses Brown?«
»Oder weinte«, setzte die Alte mit bejahendem Kopfnicken hinzu.
»Keines von beiden«, sagte der Schleifer. »Sie benahm sich so ruhig, als sie und ich – o, ich sehe, Ihr habt's darauf abgesehen, alles aus mir herauszukriegen, Misses Brown! Aber Ihr müßt mir zuvor einen feierlichen Eid schwören, daß Ihr es niemandem mitteilen wollt.«
Mrs. Brown ging sehr bereitwillig darauf ein, natürlich mit einem jesuitischen Vorbehalt; denn sie hatte in der ganzen Sache keine andere Absicht, als daß der verborgene Gast selbst Zeuge sei.
»Gut also, sie verhielt sich so ruhig wie eine Bildsäule, als sie und ich nach Southampton hinuntergingen. Am Morgen war es genau so wieder das gleiche, Misses Brown, und ebenso zeigte sie sich, als sie vor Tagesanbruch ohne Begleitung in dem Dampfschiff abreiste. Ich mußte ihren Diener vorstellen und sie sicher an Bord begleiten. Jetzt könntet Ihr doch zufrieden sein, Mrs. Brown?«
»Nein, Rob, noch nicht«, antwortete Mrs. Brown entschieden.
»O, was Ihr doch für eine Frau seid!« rief der unglückliche Rob in einem schwachen Ausbruch von Wehklagen über seine eigene Hilflosigkeit. »Und was wünscht Ihr weiter zu wissen, Misses Brown?«
»Was aus dem Herrn geworden ist – wo er hinging«, entgegnete sie, ihn noch immer festhaltend und das spähende Auge nicht von seinem Gesicht abwendend.
»Bei meiner Seele, ich weiß es nicht, Misses Brown«, antwortete Rob. »Bei meiner Seele, ich weiß nicht, was er tat oder wohin er ging – überhaupt nichts von ihm. Aber noch immer klingt mir in den Ohren, was er mir beim Abschied als Warnung sagte, und ich will Euch als Freund mitteilen, Mrs. Brown, ehe Ihr eine Silbe von dem, was hier gesprochen wurde, über die Lippen gleiten lasset, würdet Ihr besser tun, Euch zu erschießen oder Euch in diesem Haus einzusperren und es anzuzünden. Es gibt nämlich nichts, was er nicht tun würde, um sich an Euch zu rächen. Ihr kennt ihn nicht halb so gut wie ich, Misses Brown, und seid keinen Augenblick vor ihm sicher, kann ich Euch sagen.«
»Habe ich nicht einen Eid geschworen«, erwiderte die Alte, »und werde ich ihn nicht halten?«
»Ich will das freilich von Euch hoffen, Misses Brown«, versetzte Rob etwas zweifelnd und nicht ohne eine geheime Drohung in seinem Benehmen, »um Euretwillen selbst so gut, als um meinetwillen.«
Er sah sie bei dieser freundlichen Warnung an und gab seinen Worten durch ein Nicken mit dem Kopf noch mehr Nachdruck. Da es ihm aber unbehaglich wurde, dem gelben Gesicht mit dem wackelnden Kinn und den ihm so nahen Triefaugen mit ihrem scharfen winterlichen Blick zu begegnen, so schaute er unruhig auf den Boden und rückte mit dem Stuhl hin und her, als versuche er, sich zu der Erklärung zu ermutigen, daß er keine weiteren Fragen mehr beantworten könne. Die Alte, die ihn noch immer festhielt, benützte diese Gelegenheit, um den Zeigefinger ihrer rechten Hand zu erheben, – ein geheimes Zeichen für den versteckten Zeugen, daß er dem, was jetzt folgen werde, besondere Aufmerksamkeit zuwenden solle.
»Rob«, sagte sie in ihrem einschmeichelndsten Tone.
»Ach, lieber Himmel, Misses Brown, was soll es denn jetzt wieder?« erwiderte der aufgebrachte Schleifer.
»Rob, wohin haben sich die Lady und dein Herr bestellt?«
Rob rückte noch mehr hin und her, sah aufwärts und abwärts, nagte an seinem Daumen, zupfte an seiner Weste und sagte endlich, während er einen schielenden Blick nach seinem Quälgeist hinschießen ließ: »Wie sollte ich das wissen, Misses Brown?«
Die Alte erhob wieder wie zuvor ihren Finger und versetzte:
»Unsinn, Junge, wozu auch mich so weit führen und dann plötzlich stille stehen? Ich will es wissen.«
Sie wartete auf Antwort, bis endlich Rob nach einer Pause der Trostlosigkeit plötzlich losbrach:
»Wie kann ich die Namen fremder Orte aussprechen, Misses Brown! Was Ihr doch für eine unvernünftige Frau seid!«
»Aber Ihr habt ihn nennen hören, Robby«, entgegnete sie beharrlich, »und wißt also, wie er klang. Nur heraus damit!«
»Ich habe ihn nicht nennen hören, Misses Brown«, versetzte der Schleifer.
»Dann habt Ihr ihn geschrieben gelesen und könnt ihn buchstabieren«, erwiderte die Alte hastig.
Mit einem ärgerlichen Ausruf, der zwischen Lachen und Weinen mitten innen schwebte – denn Mrs. Browns Schlauheit erfüllte ihn einigermaßen mit Bewunderung, obschon ihn ihre Zudringlichkeit im höchsten Grade reizte – brachte er nach einigem verdrießlichen Suchen in seiner Westentasche ein kleines Stück Kreide zum Vorschein. Die Augen der Alten funkelten, als sie dieses Schreibmaterial zwischen seinem Daumen und Zeigefinger sah, und während sie hastig den tannenen Tisch abräumte, damit er das Wort hinzeichnen könne, gab sie abermals mit ihrer zitternden Hand ein Zeichen.
»Ich will Euch jetzt zum voraus sagen, wie es ist, Misses Brown«, erwiderte Rob. »Es nützt nichts, weitere Fragen an mich zu stellen. Ich werde auf keine mehr antworten, da ich es nicht kann. Wie lang es dauern sollte, bis sie zusammentrafen, oder von wem der Plan der getrennten Reise ausging, weiß ich ebensowenig als Ihr. Ja, ich weiß nichts davon. Wenn ich Euch sagte, wie ich jenes Wort aufgefunden, so würdet Ihr mir das aber schon glauben. Soll ich es Euch sagen, Misses Brown?«
»Ja, Rob.«
»Nun schön, Misses Brown. Die Art – aber wohl gemerkt, Ihr dürft mich jetzt nichts mehr fragen«, sagte Rob, seine Augen, die jetzt schläfrig und dumm wurden, ihr zuwendend.
»Kein Wort weiter«, versetzte Mrs. Brown.
»Also denn, die Art war folgende. Als ein gewisser Jemand die Lady mir überantwortete, drückte er dieser ein Stück Papier mit einer Adresse in die Hand für den Fall, daß sie dieselbe vergessen sollte. Die Lady schien das nicht für nötig zu halten; denn sie zerriß, sobald er fort war, das Blättchen in Fetzen, und als ich den Wagentritt aufschlug, fiel einer der Fetzen herunter; die übrigen streute sie vermutlich zum Fenster hinaus. Es lag nämlich nachher keiner mehr da, obschon ich mich danach umsah. Es stand nur ein einziges Wort darauf, und es war so geschrieben – wenn Ihr es doch einmal wissen wollt und müßt. Aber wohl gemerkt, Ihr habt einen Eid geschworen, Misses Brown!«
Das wisse sie, entgegnete Mrs. Brown, und Rob, der nun nichts mehr zu sagen hatte, begann langsam und mit Mühe Buchstaben auf den Tisch zu zeichnen.
»› D‹«, las die Alte laut, sobald Rob mit dem ersten fertig war.
»Wollt Ihr das Maul halten, Misses Brown?« rief der Schleifer, das Geschriebene mit der Hand zudeckend und sich ungeduldig gegen sie umwendend, »Ich will nicht haben, daß es laut gelesen wird. Seid stille!«
»So schreibt groß, Rob«, versetzte sie, indem sie ihr geheimes Signal wiederholte, »denn meine Augen sind nicht gut, sogar bei dem Gedruckten.« Vor sich hinmurmelnd und ärgerlich sein Geschäft wieder aufnehmend, fuhr Rob in dem Schreiben des Wortes fort. Während sein Kopf niedergebeugt war, trat der Herr, für dessen Belehrung er, ohne daß er es wußte, arbeitete, durch die Tür heraus bis auf einen kurzen Schritt an seine Schulter heran und blickte hastig auf die Linien, die seine Hand langsam auf den Tisch hinmalte. Zu gleicher Zeit gab Alice von dem gegenüberstehenden Stuhle aus sorgfältig acht, wie er die Buchstaben bildete, und wiederholte jeden, sobald er dastand, mit den Lippen, ohne ihn übrigens laut auszusprechen. Nach jedem Buchstaben begegneten ihre Augen denen von Mr. Dombey, als suchten sie eine wechselseitige Bestätigung, und so buchstabierten beide D.I.J.O.N.
»So!« sagte der Schleifer, hastig seine Handfläche anfeuchtend, um das Wort wieder auszulöschen. Und nicht zufrieden mit dem Zusammenschmieren, zerrieb und vertilgte er jede Spur mit seinem Rockärmel, bis sogar alles Weiß der Kreide vom Tisch verschwunden war. »Ich hoffe, Ihr seid jetzt zufriedengestellt, Misses Brown!«
Zum Zeichen der Bejahung ließ die Alte jetzt seinen Arm los und klopfte ihm auf den Nacken. Der Schleifer aber, von dem Ärger, dem Verhör und dem Branntwein ganz überwältigt, kreuzte auf dem Tisch seine Arme, legte den Kopf darauf und schlief ein.
Erst nachdem er eine Weile laut geschnarcht hatte, wandte sich die Alte nach der Tür, hinter der Mr. Dombey verborgen stand, und winkte ihm, daß er jetzt herauskommen und gehen könne. Doch selbst dann noch beugte sie sich über Rob nieder, als wolle sie ihm die Augen zuhalten oder den Kopf niederstoßen, falls er diesen erhob, während der leise Tritt sich nach der Tür hinbewegte. Aber obgleich sie den Schläfer scharf bewachte, verwandte sie keinen Blick von dem Wachenden, und als er ihre Hand mit der seinen berührte, bei welcher Gelegenheit trotz aller Vorsicht ein Klimpern wie von Gold hörbar wurde, funkelten ihre Augen so gierig, wie die eines Raben.
Der dunkle Blick der Tochter folgte ihm nach der Tür, und es entging ihr nicht, wie blaß er aussah, und wie sein hastiger Schritt darauf deutete, daß das mindeste Zögern ihm ein unerträglicher Zwang sei, und daß er vor Verlangen brenne, rasch zu handeln. Nachdem er die Klinke hinter sich zugedrückt hatte, sah sie sich nach ihrer Mutter um. Die Alte kam auf sie zu, öffnete ihre Hand, um zu zeigen, was darin sei, schloß sie aber sogleich wieder in geiziger Eifersucht und flüsterte:
»Was wird er anfangen, Ally?«
»Unheil«, sagte die Tochter.
»Mord?« fragte die Alte.
»Er ist in seinem verwundeten Stolz ein Wahnsinniger, und wer weiß, es kann wohl so weit kommen.«
Ihr Blick war noch funkelnder als der ihrer Mutter, und das Feuer ihrer Augen leuchtete lebhafter. Aber ihr Gesicht zeigte eine Leichenblässe, die sich selbst über die Lippen breitete.
Sie sprach nicht weiter, sondern blieb beiseite sitzen. Die Mutter machte sich mit ihrem Geld zu schaffen, die Tochter aber gab sich ihren Gedanken hin, und beider Blicke leuchteten in dem Düster der schwach erhellten Stube. Rob schlief und schnarchte weiter. Nur der unbeachtete Papagei war in Tätigkeit. Er zupfte und zerrte mit seinem krummen Schnabel an den Drähten des Käfigs, kletterte nach der Wölbung hinauf und an dem Dache hin wie eine Fliege, warf sich wieder köpflings herunter und rüttelte, biß und rasselte an jedem dünnen Stabe, als kenne er die Gefahr, die seinem Herrn drohte, als wolle er sich mit Gewalt befreien, um fortzufliegen und ihn zu warnen.
Dreiundfünfzigstes Kapitel. WEITERE NACHRICHT
Von dem Blut des Verräters gab es zwei Personen, der verstoßene Bruder und seine Schwester, auf denen damals das Gewicht seiner Schuld fast noch schwerer lastete, als auf dem Mann, den er so tief gekränkt hatte. Die luchsäugige, anspruchsvolle Welt leistete Mr. Dombey den Dienst, daß sie ihn zu Beharrlichkeit in seiner Rache spornte. Sie weckte seine Leidenschaftlichkeit, stachelte seinen Zorn, brachte die einzige Idee seines Lebens in eine neue Form und machte die Befriedigung seines Zornes zu einem Gegenstand, in dem sein ganzes geistiges Dasein aufging. Der abstoßende Scharfsinn seines Wesens, seine unnahbare Härte, sein mürrisches Düster, das übertriebene Gefühl von persönlicher Wichtigkeit und die eifersüchtige Geneigtheit, auch den mindesten Mangel in der unterwürfigen Anerkennung seines hohen Ichs zu strafen – alles das trat gleich vielen Strömen in einen zusammen und riß ihn auf seiner Flut mit fort. Die ungestümste Leidenschaftlichkeit des menschlichen Geschlechts war nur ein milder Feind in Vergleich mit dem finstern Mr. Dombey, in dem so viele Kräfte zusammenwirkten. Eine wilde Bestie hätte sich leichter beschwichtigen lassen, als der ernste Gentleman ohne eine Falte in seiner gestärkten Halsbinde.
Doch schon die Glut des Entschlusses wurde fast ein Ersatz für die Tätigkeit. Solange er den Schlupfwinkel des Verräters nicht kannte, diente diese dazu, seinen Geist von dem eigenen Unglück abzulenken und ihn mit einer andern Aussicht zu unterhalten. Dem Bruder und der Schwester des treulosen Günstlings stand keine solche Stütze zu Gebot; denn ihre ganze vergangene und gegenwärtige Geschichte verlieh dem Verbrechen eine nur um so betrübendere Bedeutung für sie.
Die Schwester machte sich vielleicht hin und wieder wehmütige Gedanken, daß er nicht so tief gefallen sein würde, wenn sie als Freundin und Gefährtin bei ihm geblieben wäre. Gleichwohl bereute sie ihren Schritt nicht, da sie die Überzeugung hegte, ihre Pflicht getan zu haben, und diese erschien ihr nicht einmal in dem Licht eines Opfers. So oft aber diese Möglichkeit sich ihrem verirrten, reuigen Bruder vergegenwärtigte, schnitt es ihm so scharf und vorwurfsvoll ins Herz, daß er es kaum zu ertragen vermochte. Er dachte nicht entfernt daran, seinen grausamen Bruder anschuldigen zu wollen, sondern klagte in seinem Innern nur aufs neue über seine eigene Wertlosigkeit und überhäufte sich mit Vorwürfen über das durch eigene Schuld herbeigeführte Verderben, obschon es ihm zu einigem Trost gereichte, daß er dann nicht allein dastand.
An demselben Tag, mit dessen Ende unser letztes Kapitel geschlossen hat, als Mr. Dombeys Welt mit der Entführung seiner Frau sich so viel zu schaffen machte, wurde das Fenster des Zimmers, in dem der Bruder und die Schwester bei ihrem Frühstück saßen, durch den unerwarteten Schatten eines Mannes verdunkelt, der auf die kleine Laube zukam. Der Mann war Perch, der Bote.
»Ich bin früh von Balls Pond aufgebrochen«, sagte Mr. Perch, der vertraulich zur Zimmertür hereinsah und auf der Matte haltmachte, um von allen Seiten seine Schuhe zu säubern, obschon sie nicht schmutzig waren, »um einem Auftrag von gestern abend nachzukommen. Ich soll Euch, Mr. Carker, ein Billett überbringen, ehe Ihr ausgeht. Das wäre schon vor anderthalb Stunden geschehen«, fügte er unterwürfig hinzu, »wenn mich nicht der Gesundheitszustand meiner Frau abgehalten hätte; denn ich kann Euch versichern, daß ich letzte Nacht fünfmal meinte, ich werde sie verlieren.«
»Ist Eure Frau so schwer krank?« fragte Harriet.
»Ja, seht Ihr«, antwortete Mr. Perch, nachdem er sich umgewandt hatte, um die Tür zu schließen, »sie nimmt sich die Vorgänge in unserm Haus so gar zu Herzen, Miß. Sie greifen ihre zarten Nerven an und spannen sie völlig ab. Freilich, auch die stärksten Nerven können durch solche Dinge erschüttert werden, und ohne Zweifel fühlt Ihr das selbst auch.«
Harriet unterdrückte einen Seufzer und blickte nach ihrem Bruder hin.
»Ich bin nur ein geringer Mann«, fuhr Mr. Perch mit einem Kopfschütteln fort, »aber doch fühle ich mich in einer Art angegriffen, wie ich es kaum für möglich gehalten hätte. Es übt fast die Wirkung des Trinkens auf mich aus; denn jeden Morgen ist es mir buchstäblich, als ob ich abends zuvor mehr zu mir genommen hätte, als mir gut ist.«
Diese Angabe wurde durch Mr. Perchs Aussehen bestätigt; denn es zeigte sich an ihm eine Art fieberischer Erschlaffung, wie man sie nach zu vielem Branntweingenuß bemerkt. Die Mattigkeit hatte auch ohne Zweifel ihren Grund in dem Umstand, daß er sich so oft in den Schenkstuben der Wirtshäuser sehen ließ, wo er Tag für Tag traktiert und ausgefragt wurde.
»Ich kann mir daher wohl eine Vorstellung machen«, fuhr Mr. Perch, der abermals den Kopf schüttelte, in eintönigem Gemurmel fort, »von den Gefühlen jemandes, der durch diese höchst peinliche Enthüllung in eine so eigentümliche Lage versetzt wurde.«
Mr. Perch wartete, ob man sich ihm nicht anvertraute, und da dies nicht geschah, so hustete er hinter seiner Hand. Das führte zu nichts, weshalb er das Experiment hinter seinem Hut wiederholte, und da auch das nicht half, so setzte er den Hut auf den Boden und suchte in seiner Brusttasche nach dem Brief.
»Wenn ich mich recht erinnere, so bedarf es keiner Antwort«, sagte Perch mit freundlichem Lächeln; »aber vielleicht seid Ihr so gut, einen Blick hineinzuwerfen, Sir.«
John Carker erbrach das Siegel, das das des Mr. Dombey war, nahm von dem Inhalt Einsicht und erwiderte dann kurz abgebrochen:
»Nein. Es ist keine Antwort nötig.«
»Dann will ich Euch guten Morgen wünschen, Miß«, sagte Perch, einen Schritt nach der Tür hin machend, »und hoffe natürlich, daß Ihr Euch durch die letzte schmerzliche Enthüllung im Geist nicht mehr angreifen lasset, als Ihr es eben vermögt. Die Zeitungen«, fügte er hinzu, indem er wieder zwei Schritte zurücktrat und in einem geheimnisvollen Flüstern sowohl Bruder als Schwester anredete, »sind auf Neuigkeiten darüber begieriger, als Ihr für möglich halten würdet. Einer von den Zeitungsreportern in blauem Mantel und weißem Hut, der mich schon früher bestechen wollte – ich brauche Euch wohl nicht zu sagen, mit welchem Erfolg – trieb sich noch gestern abend zwanzig Minuten nach acht Uhr in unserm Hof herum. Ich habe selbst gesehen, wie er zum Schlüsselloch des Kontors hineinguckte, obschon er da nicht viel erholte, weil es ein Patentschloß ist und man daher nicht durchsehen kann. Ein anderer in militärischem Frack«, sagte Mr, Perch, »ist den ganzen lieben Tag in der Gaststube des ›königlichen Wappens‹. Ich ließ dort letzte Woche zufälligerweise eine kleine Bemerkung fallen und am nächsten Morgen, der ein Sonntag war, mußte ich sie zu meinem größten Erstaunen gedruckt lesen.«
Mr. Perch griff wieder an seine Brusttasche, als wolle er den Artikel hervorholen, zog aber, da er keine Ermunterung dazu erhielt, seine Biberhandschuhe heraus, langte nach seinem Hut und verabschiedete sich. Aber noch vor Mittag hatte er vor verschiedenen auserlesenen Zuhörern im ›Königswappen‹ und anderswo getreulich berichtet, wie Miß Carker in Tränen ausbrach, seine beiden Hände gefaßt und gesagt habe: »O, mein lieber, lieber Perch, Euer Anblick ist der einzige Trost, der mir geblieben ist!« wahrend von Mr. John Carker mit feierlicher Stimme hinzugefügt worden sei: »Perch, ich sage mich los von ihm! Laßt mich nie wieder aus Eurem Munde hören, daß ich einen Bruder habe!«
»Lieber John«, sagte Harriet, als sie allein waren, nach einem kurzen Schweigen, »das Schreiben enthält wohl eine schlimme Nachricht?«
»Ja. Aber keine unerwartete«, versetzte er. »Ich habe den Schreiber gestern gesehen.«
»Den Schreiber?«
»Mr. Dombey. Er kam zweimal durch das Kontor, während ich dort war. Es gelang mir früher, ihm auszuweichen, aber ich konnte natürlich nicht hoffen, daß mir dieses auf die Dauer möglich sein werde. Es ist auch natürlich, daß meine Anwesenheit einen unangenehmen Eindruck auf ihn macht, und ich sagte mir das selbst.«
»Hat er sich so gegen dich ausgesprochen?«
»Nein; er sagte nichts. Aber ich bemerkte, daß sein Blick einen Augenblick auf mir ruhte, und machte mich auf das gefaßt, was kommen würde und was jetzt wirklich eingetroffen ist. Ich bin entlassen.«
Sie suchte ihre Erschütterung zu verbergen und eine möglichst hoffnungsvolle Miene anzunehmen. Aber die Neuigkeit war aus vielen Gründen sehr betrübend.
»›Ich brauche Euch nicht zu sagen‹«, las John Carker vor, »›warum Euer Name, in wie ferner Beziehung er auch zu dem meinen stünde, hinfort einen unnatürlichen Klang haben müßte, oder warum der tägliche Anblick eines Mannes, der ihn führt, mir unerträglich sein muß. Ich bedeute Euch deshalb, daß von heute an jedes Geschäftsverhältnis ein Ende hat, und verlange, daß von Eurer Seite keine Erneuerung irgendeines Verkehrs mit mir oder meinen Leuten versucht werde.‹ – Der Einschluß enthält eine Entschädigung für eine anständige Kündigungsfrist, und das ist meine Entlassung. Der Himmel weiß, Harriet, wenn wir alles bedenken, so hat er sich anständig und rücksichtsvoll benommen.«
»Wenn es anständig und rücksichtsvoll ist, John, dich wegen der Untat eines andern zu bestrafen, so muß ich beistimmen«, versetzte sie sanft.
»Wir sind ein unglückbringendes Geschlecht für ihn gewesen«, sagte John Carker. »Er hat Grund, schon vor dem Ton unseres Namens zu erschrecken und zu denken, daß Fluch und Sünde in unserm Blut liegen. Ich würde es fast selbst auch glauben, Harriet, wenn du nicht wärest.«
»Sprich nicht so, Bruder. Wenn du, wie du sagst und glaubst, – obschon ich dir widersprechen muß, – einen besonderen Grund hast, mich zu lieben, so erspare mir das Anhören so wilder, wahnsinniger Worte!«
Er bedeckte sein Gesicht mit beiden Händen, ließ es sich aber gefallen, als seine Schwester, ihm näher kommend, eine derselben mit der ihrigen ergriff.
»Ich weiß, es ist traurig, nach so vielen Jahren in solcher Weise verabschiedet zu werden«, sagte Harriet, »und die Veranlassung dazu ist für uns beide schrecklich. Auch müssen wir leben und uns deshalb nach den erforderlichen Mitteln umsehen. Nun ja; wir können das ungescheut tun. Wir können stolz darauf sein und es nicht als Unglück betrachten, John, wenn wir gemeinschaftlich ringen und streben.«
Mit einem Lächeln, das auf ihren Lippen spielte, küßte sie seine Wange und bat ihn, getrost zu sein.
»O, meine liebe Schwester, daß du dich freiwillig an einen zugrunde gerichteten Mann anschließen mußtest, dessen Ruf dahin ist, der keinen Freund besitzt und all die Deinen verscheucht hat!«
»John!« Sie legte hastig ihre Hand auf seine Lippen, »um meinetwillen! Denke an unser langes Zusammenleben!« Er schwieg. »Ich muß dir etwas sagen, mein Lieber«, und sie setzte sich ruhig an seiner Seite nieder. »Wie du, habe auch ich dies erwartet, und während ich mir ängstlich Gedanken darüber machte und mich so gut wie möglich auf das Schlimmste gefaßt hielt, nahm ich mir vor, dir, im Falle es so weit käme, zu eröffnen, daß ich lange ein Geheimnis vor dir bewahrte, und daß wir wirklich einen Freund haben.«
»Und der Name unseres Freundes, Harriet?« antwortete er mit sorgenvollem Lächeln.
»Ich kenne ihn nicht, aber er versicherte mich einmal auf das angelegentlichste seiner Freundschaft und erklärte sich bereit, uns zu nützen. Ich setze vollen Glauben in ihn!«
»Harriet!« rief ihr Bruder verwundert, »wo wohnt dieser Freund?«
»Auch das ist mir unbekannt«, entgegnete sie. »Aber er kennt uns beide und unsere Geschichte – unsere ganz kleine Geschichte, John. Das ist der Grund, warum ich seiner eigenen Andeutung gemäß sein Hierherkommen vor dir verbarg, damit dieses sein Mitwissen dir nicht schmerzlich werde.«
»Sein Hierherkommen, Harriet? Er ist also hier gewesen?«
»Ja, in diesem Zimmer. Einmal.«
»Was ist es für ein Mann?«
»Nicht jung, ›grauköpfig‹, wie er sagt, ›und immer grauer werdend‹. Aber gewiß von Charakter edel, offen und gut.«
»Und du hast ihn nur ein einziges Mal gesehen, Harriet?«
»In diesem Zimmer nur einmal«, sagte seine Schwester, und eine leichte Glut überflog ihre Wangen; »aber als er hier war, bat er mich, ihm zu gestatten, daß er mich einmal in der Woche im Vorbeigehen sehen dürfe, zum Zeichen unseres Wohlbefindens und zum Zeichen, daß wir seine Hilfe nicht nötig hätten. Denn ich sagte ihm, als er uns jeden ihm möglichen Dienst anbot – das war der Zweck seines Besuchs – daß wir nicht in Not seien.«
»Und einmal wöchentlich – –«
»Seitdem ist er einmal in der Woche, stets an dem gleichen Tag und um dieselbe Stunde vorübergekommen. Er kam immer zu Fuß, schlug jedesmal dieselbe Richtung ein, nach London nämlich, und hielt sich nie länger auf, als um mir eine Verbeugung zu machen und mir heiter zuzuwinken, wie es etwa ein freundlicher Vormund tun würde. Er versprach dieses, als er das seltsame Wiedersehen vorschlug, und hat so treulich Wort gehalten, daß ich, wenn ich je anfangs ein wenig unruhig darüber war – ich glaube es aber kaum, John, denn sein Benehmen war so gar einfach und redlich – mich bald zufrieden geben konnte. Ja, ich freute mich sogar auf diesen Tag. Letzten Montag – der erste nach jenem schrecklichen Ereignis – kam er nicht vorbei, und ich möchte wohl wissen, ob sein Ausbleiben in irgendeiner Weise mit dem Vorgefallenen in Verbindung stehen kann.«
»In welcher Weise?« fragte ihr Bruder.
»Ich weiß nicht, habe mir aber Gedanken über das Zusammentreffen gemacht und es zu erklären versucht. Ich fühle mich überzeugt, daß er wieder kommen wird. Geschieht das, lieber John, so will ich ihm sagen, daß ich endlich mit dir gesprochen habe, und du erlaubst mir sodann, dich mit ihm zusammenzubringen. Er wird uns gewiß zu einem neuen Lebensunterhalt verhelfen. Er bat, es möchte ihm gestattet werden, etwas beizutragen, um mir und dir das Leben zu erleichtern, und ich versprach ihm, wenn wir je eines Freundes bedürfen, so wolle ich seiner eingedenk sein. Dann brauche er auch seinen Namen nicht mehr zu verheimlichen.«
»Harriet«, sagte ihr Bruder, der mit größter Aufmerksamkeit zugehört hatte – »beschreibe mir diesen Herrn. Ich möchte doch den kennenlernen, der mich so gut kennt.«
Seine Schwester schilderte so lebhaft, wie sie konnte, das Gesicht, die Gestalt und den Anzug des Besuchs. Aber John Carker vermochte das ihm vorgeführte Porträt nicht zu erkennen, sei es, weil das Original ihm fremd, weil die Schilderung mangelhaft oder weil er, während er in Gedanken vertieft auf und ab ging, zu zerstreut war.
Sie machten aber unter sich aus, daß er beim nächsten Besuch das Original sehen solle; und dann ging die Schwester mit weniger bedrücktem Herzen an ihre Haushaltungsgeschäfte, während der grauhaarige Mann, kürzlich noch der Junior in Dombeys Hause, den ersten Tag seiner ungewohnten Freiheit der Besorgung des Gartens widmete.
Es war schon spät abends, und der Bruder las seiner Schwester, die ihre Nadel in Tätigkeit setzte, laut vor, als sie plötzlich durch ein Klopfen an der Tür unterbrochen wurden. In der Atmosphäre einer unbestimmten Angst und Furcht, die im Hinblick auf den flüchtigen Bruder sie umschwebte, jagte dieser so ungewöhnliche Schall ihnen fast Schrecken ein. John ging nach der Tür, und Harriet blieb in furchtsamem Lauschen sitzen. Es sprach jemand mit ihm; John antwortete und schien überrascht zu sein. Noch einige Worte und dann kamen die beiden näher.
»Harriet«, sagte ihr Bruder, der dem späten Gast hereinleuchtete, mit gedämpfter Stimme, »Mr. Morfin, der Herr, der so lange in Dombeys Hause ist wie James.«
Harriet fuhr betroffen zurück, als sei ein Geist eingetreten; denn auf der Schwelle stand der unbekannte Freund mit dem graumelierten, dunkeln Haar, dem rötlichen Gesicht, der breiten, freien Stirne und den braunen Augen, dessen Geheimnis sie so lang bewahrt hatte.
»John!« sagte sie halb atemlos. »Das ist der Herr, von dem ich heute mit dir gesprochen habe!«
»Der Herr, Miß Harriet«, entgegnete der Gast, der jetzt hereinkam, denn er hatte einen Augenblick auf der Schwelle haltgemacht, »fühlt sich sehr beglückt, Euch so sprechen zu hören. Denn er hat auf dem ganzen Herweg auf Mittel und Wege gesonnen, sich zu erklären, ohne daß er sich darin zurecht finden konnte. Mr. John, ich bin hier nicht ganz fremd, Ihr wart erstaunt, als Ihr mich vorhin an Eurer Tür sahet, und ich merke, daß Ihr es jetzt nur um so mehr seid. Nun, unter den obwaltenden Umständen ist das auch leicht erklärlich. Wären wir nicht die Gewohnheitsgeschöpfe, die wir wirklich sind, so würden wir wohl nicht halb so oft Anlaß zum Erstaunen finden.« Mittlerweile hatte er Harriet mit jener angenehmen Mischung von Herzlichkeit und Achtung, deren sie sich so wohl erinnerte, begrüßt und in ihrer Nähe Platz genommen, Zugleich zog er seine Handschuhe ab und warf sie in seinen auf dem Tisch stehenden Hut.
»Es ist doch nichts so Außerordentliches, Mr. John«, sagte er, »daß in mir der Wunsch rege wurde, Eure Schwester zu sehen, und daß ich diesen in meiner eigenen Art erfüllte. In der Regelmäßigkeit meiner seitherigen Besuche – Ihr werdet hierüber auch unterrichtet sein – liegt wenigstens nichts Ungewöhnliches; sie wurde mir bald zur Gewohnheit, und wir sind Gewohnheitsgeschöpfe – Gewohnheitsgeschöpfe!«
Er steckte die Hände in seine Taschen, lehnte sich in dem Stuhl zurück, blickte nach dem Bruder und der Schwester hin, als habe es Interesse für ihn, sie beisammen zu sehen, und fuhr in einer Art gedankenvoller Ärgerlichkeit fort: »Es ist die nämliche Gewohnheit, die einige, welche besserer Dinge fähig wären, in dem Stolz und Starrsinn eines Teufels befestigt – die andere in der Schurkerei und wieder andere in der Gleichgültigkeit beharren läßt – die uns von Tag zu Tag je nach der Beschaffenheit unseres Erdenleibs zu Steinbildern verhärtet und uns für neue Eindrücke und Überzeugungen völlig unempfindlich macht. Ihr könnt Euch an mir ein Urteil über ihren Einfluß bilden, John. Eine längere Reihe von Jahren, als ich zu nennen brauche, besorgte ich meinen kleinen und bestimmt abgemessenen Anteil an Dombeys Geschäften und sah, wie Euer Bruder, der währenddem zum Schurken geworden ist – Eure Schwester wird mir verzeihen, daß ich ihn so nennen muß – seinen Einfluß mehr und mehr ausdehnte, bis das Geschäft und dessen Eigentümer für ihn bloß zum Fußball geworden waren. Ich sah jeden Tag, wie Ihr Euch an Eurem dunkeln Pult abmühtet, und war ganz zufrieden, wenn ich außerhalb des Streifens meiner Dienstpflicht mich mit so wenig wie möglich zu behelligen brauchte. So ließ ich Tag für Tag um mich her gehen wie eine große Maschine, die auch ihrer Gewohnheit folgt, ohne eine Frage zu stellen. Alles galt mir für ausgemacht, und ich meinte, es müsse so sein. Der Donnerstagabend kam regelmäßig an die Reihe, unsere Quartettpartien nahmen ihren regelmäßigen Verlauf, mein Violoncello stimmte gut, und so kam nichts Unrechtes in meine Welt herein. Wenn es auch etwas gab, so war es nicht von Bedeutung – oder mochte es viel, mochte es wenig sein, so ging die Sache mich nichts an.«
»Ich kann Euch versichern, daß Ihr während dieser Zeit geachteter und beliebter wart als irgend jemand im Hause«, sagte John Carker.
»Ach, ich war vielleicht gutmütig und verträglich«, versetzte der andere: »aber eine solche Gemütsart trägt man gewohnheitshalber wie ein Kleid. Sie paßte für den Geschäftsführer, paßte für den Mann, den er gängelte, und paßte am besten für mich. Ich tat, was mir zugewiesen wurde, machte weder dem einen noch dem andern den Hof und war erfreut, in einer Stellung zu stehen, die mir nichts Derartiges auferlegte. So wäre es wohl bis jetzt fortgegangen, wenn nicht mein Zimmer eine dünne Wand hätte. Ihr könnt Eurer Schwester sagen, daß es von dem des Geschäftsführers nur durch ein hölzernes Getäfel geschieden ist.«
»Es sind aneinanderstoßende Zimmer, die vielleicht ursprünglich ein einziges bildeten und, wie Mr. Morfin sagt, durch eine Holzabfachung getrennt wurden«, entgegnete John Carker und sah dann seinen Gast an, als ersuche er ihn zur Wiederaufnahme seiner Erzählung.
»Ich habe gepfiffen, Lieder gesummt, ja eine ganze Beethovensche Sonate durchgesummt, um ihn wissen zu lassen, daß ich in Hörweite sei«, sagte Mr. Morfin; »aber er achtete nie auf mich. Allerdings kam es selten genug vor, daß etwas verhandelt wurde, was sich nicht auf Geschäfte bezogen hätte, und wenn es je geschah, so pflegte ich, wenn ich nicht in anderer Weise mein Mitanhören verhindern konnte, einen Ausgang zu machen. So hielt ich es auch bei Gelegenheit eines Gesprächs zwischen zwei Brüdern, bei dem anfangs der junge Walter Gay zugegen war, obschon ich noch einiges vernahm, ehe ich das Zimmer verließ. Ihr erinnert Euch vielleicht dessen noch und könnt Eurer Schwester darüber Auskunft geben, John?«
»Es bezog sich auf die Vergangenheit, Harriet«, versetzte ihr Bruder mit erstickter Stimme, »und auf unsere diesbezüglichen Stellungen im Haus.«
»Der Gegenstand war mir nicht neu, stellte sich mir aber wohl von einem neuen Gesichtspunkte dar. Er rüttelte mich aus meiner Gewohnheit auf – aus der Gewohnheit von neun Zehnteln der Welt – zu glauben, daß alles um mich her in Ordnung sei, weil ich daran gewöhnt war«, sagte der Gast, »und das bewog mich, über die Geschichte der beiden Brüder nachzudenken. Ich glaube, es war fast das erstemal in meinem Leben, daß ich zu einem ernstlichen Nachdenken kam – wie würden wohl viele Dinge, die täglich um uns vorgehen und uns deshalb als ganz recht und gut erscheinen, aussehen, wenn wir sie von dem neuen und ferneren Standpunkte aus betrachten, den wir alle eines Tages einnehmen müssen. Ich war nach jenem Morgen, wie man es nennt, weniger liebenswürdig, weniger ruhig und ganz und gar nicht umgänglich.«
Er schwieg eine Weile, während er mit der einen Hand auf den Tisch trommelte, und fuhr dann in einer Hast fort, als sei es ihm angelegentlich darum zu tun, sich von seinem Bekenntnis zu befreien.
»Ehe ich wußte, was oder ob ich überhaupt etwas tun könne, fand ein zweites Gespräch zwischen denselben Brüdern statt, in dem ihre Schwester erwähnt wurde. Ich machte mir kein Bedenken daraus, die herrenlose Ware jener Unterhaltung so frei nach mir herunterschwimmen zu lassen, wie sie wollte, und war der Ansicht, daß sie von Rechts wegen mir gehöre, Dann kam ich hierher, um die Schwester selbst zu sehen. Das erstemal blieb ich an dem Gartentor und tat, als erkundige ich mich nach dem Charakter eines armen Nachbars, kam aber bald von dieser Fährte ab, und ich glaube, daß mir Miß Harriet nicht recht traute. Das zweitemalt bat ich um die Erlaubnis, hereinkommen zu dürfen, trat ins Zimmer und sagte sodann, was ich auf dem Herzen hatte. Die Schwester bewies mir mit Gründen, die ich nicht anzufechten wagte, daß sie keinen Beistand von mir annehmen könne. Aber ich stellte ein Verkehrsmittel zwischen uns her, das bis auf die allerletzte Zeit ununterbrochen blieb; denn vor einigen Tagen wurde ich durch die wichtigen Geschäfte, die kürzlich auf mich übergingen, zum ersten Male abgehalten, meiner Zusage zu entsprechen.«
»Wie wenig ahnte ich das«, sagte John Carker, »obschon ich Euch jeden Tag sah, Sir! Wenn Harriet Euren Namen hätte erraten können –«
»Um die Wahrheit zu gestehen, John«, fiel ihm der Gast ins Wort, »ich behielt ihn aus zwei Gründen für mich. Ich weiß es nicht, ob nicht der erste allein schon ausgereicht hätte; denn mit guter Absicht ist noch nicht viel ausgerichtet, und ich hatte mir jedenfalls vorgenommen, mich nicht zu erkennen zu geben, bis ich imstande sein würde, Euch den einen oder andern wirklichen Dienst zu leisten. Mein zweiter Grund lag in der Hoffnung, es dürfte noch möglich sein, daß Euer Bruder eine mildere Gesinnung gegen euch beide annehme. Wenn ein Mann von so argwöhnischem, lauerndem Charakter die Entdeckung machte, Ihr seiet im geheimen mit mir befreundet, so konnte dies zu einer neuen verhängnisvollen Trennung Anlaß geben. Allerdings nahm ich mir auch vor, auf die Gefahr hin, sein Mißfallen auf mich zu ziehen, aus dem ich mir nicht viel gemacht haben würde, eine Gelegenheit zu erspähen, ob ich Euch nicht bei dem Haupte des Hauses dienen könne. Aber Todesfälle, Brautwerbung, Hochzeit und häusliches Unglück haben uns lange, lange Zeit kein anderes Haupt gelassen, als eben Euren Bruder, und da war es am besten für uns«, fügte der Gast mit gedämpfter Stimme bei, »wenn man sich wie ein lebloser Körper verhielt.«
Er schien sich klar darüber zu werden, daß die letzten Worte ihm gegen seinen Willen entschlüpft waren, und fuhr dann, die eine Hand dem Bruder, die andere der Schwester hinhaltend, folgendermaßen fort:
»Alles, was ich zu sagen wünschen konnte – ja sogar noch mehr habe ich mir vom Herzen geredet. Was ich damit meine, läßt sich nicht in Worte fassen, und ich hoffe, Ihr versteht mich und schenkt mir Glauben. Die Zeit ist gekommen, John, – freilich eine höchst unglückliche Zeit – die mich in die Lage setzt, Euch zu helfen, ohne mich in den vermittelnden Kampf einzumischen, der so viele Jahre gewährt hat, da Ihr heute Eure Entlassung erhieltet, ohne sie verschuldet zu haben. Es ist spät; ich brauche heute nichts weiter zu sagen. Ihr werdet den Schatz, den Ihr hier habt, hüten, ohne daß es dazu von meiner Seite eines Rats oder einer Erinnerung bedürfte.«
Mit diesen Worten erhob er sich, um zu gehen.
»Geht mit dem Lichte voran, John«, sagte er scherzend, »und spart, was Ihr mir auch zu sagen wünscht.« John Carkers Herz war voll, und er würde sich durch Worte Erleichterung verschafft haben, wenn es ihm möglich gewesen wäre. »Ich möchte noch ein Wörtchen mit Eurer Schwester sprechen. Wir haben schon früher uns in diesem Zimmer allein unterhalten, obschon es natürlicher aussieht, wenn Ihr dabei seid.«
Er folgte ihm mit seinen Blicken, wandte sich dann freundlich Harriet zu und sagte zu ihr mit gedämpfter Stimme und mit völlig verändertem ernsterem Wesen:
»Ihr wünscht mich über den Mann zu fragen, dessen Schwester zu sein Ihr das Unglück habt.«
»Ich fürchte mich, es zu tun«, versetzte Harriet.
»Ihr habt mich mehr als einmal so ernst angesehen«, entgegnete der Gast, »daß ich denke, ich habe Eure Frage erraten. Hat er Geld mitgenommen? Nicht wahr, das ist es?«
»Ja«
»Nein.«
»Dem Himmel sei Dank!« rief Harriet. »Um Johns willen.«
»Daß er das in ihn gesetzte Vertrauen vielfältig mißbrauchte«, sagte Mr. Morfin, – »daß er öfter mehr für seinen eigenen Vorteil, als für den des Hauses, das er repräsentierte, Geschäfte und Spekulationen machte, – daß er das Haus zu ungeheuren Wagnissen verleitete, die oft schwere Verluste nach sich zogen – daß er stets mit der Eitelkeit und dem Ehrgeiz des Chefs ein Spiel trieb, während es seine Pflicht gewesen wäre, sie im Zaum zu halten und ihn, da dies in seiner Macht lag, darauf aufmerksam zu machen, wohin sie schließlich führen mußten – alles das wird Euch vielleicht jetzt nicht überraschen. Es sind Unternehmungen gemacht worden, um das Haus in den Ruf unerschöpflicher Hilfsquellen zu bringen und einen großartigen Gegensatz gegen andere kaufmännische Geschäfte herzustellen. Unternehmungen aber, bei denen ein ruhiger Kopf wohl an die möglichen – einige unglückliche Wechsel können sie sogar wahrscheinlich machen – zugrunde richtenden Folgen denken darf. Bei dem vielfachen Verkehr des Hauses mit den meisten Teilen der Erde – einem Labyrinth, zu dem er den leitenden Faden hatte – war ihm die Gelegenheit an die Hand gegeben, und er scheint sie benützt zu haben, die verschiedenen Ergebnisse in der Schwebe zu erhalten und bei der Untersuchung statt Tatsachen Gutachten und allgemeine Überblicke zu geben. In letzter Zeit aber – Ihr folgt mir doch, Miß Harriet?«
»Jawohl«, antwortete sie, ohne ihr geängstigtes Gesicht von dem seinen zu wenden. »Ich bitte, sagt mir sogleich das Schlimmste.«
»In letzter Zeit scheint er sich alle Mühe gegeben zu haben, diese Resultate so klar und einfach hinzustellen, daß jeder, der die Privatbücher vergleicht, sie trotz ihrer Menge und ihrer Abwechslung sozusagen mit Händen greifen kann. Es sieht aus, als habe es in seiner Absicht gelegen, seinem Chef in einem einzigen großen Überblick zu zeigen, wohin ihn die in ihm übermächtige Leidenschaft geführt habe! Daß er dieser Leidenschaft stets in schnöder Weise Vorschub leistete und ihr schmeichelte, unterliegt keinem Zweifel, und hierin besteht hauptsächlich sein Verbrechen, soweit die Angelegenheiten des Hauses in Rechnung kommen.«
»Nur noch ein Wort, eh' Ihr mich verlaßt, teurer Sir«, sagte Harriet. »Ist in alledem keine Gefahr?«
»Wieso, Gefahr?« entgegnete er mit einigem Stocken.
»Für den Kredit des Hauses?«
»Ich kann nicht umhin, Euch offen zu antworten, und setze in Euch volles Vertrauen«, entgegnete Mr. Morfin, nachdem er ihr Gesicht eine kurze Weile prüfend betrachtet hatte.
»Ihr könnt das in der Tat.«
»Ich bin davon überzeugt. Gefahr für den Kredit des Hauses? Nein, das nicht. Schwierigkeiten mag es geben, größere oder geringere Schwierigkeiten, aber keine Gefahr, es wäre denn – es wäre denn, daß der Chef des Hauses sich nicht entschließen könnte, seine Unternehmungen zu beschränken. Treibt er es so fort und überspannt er seine Kräfte, weil er glaubt, sein Haus dürfe keine andere Stellung einnehmen, als diejenige, in der es stets sich präsentierte, so wird es wanken.«
»Aber das ist doch nicht zu besorgen?« sagte Harriet.
»Ich will Euch nicht bloß halbes Vertrauen schenken«, versetzte er, ihr die Hand drückend. »Mr. Dombey ist unnahbar für jedermann und noch dazu eben jetzt in einer besonders hochfahrenden, überlegungslosen und unlenkbaren Gemütsverfassung. Freilich ist das eine Folge der übermäßigen Aufregung und geht vielleicht vorüber. Ihr wißt jetzt alles, das Schlimmste wie das Beste. Nichts mehr für heute. Gute Nacht!«
Mit diesen Worten küßte er ihre Hand und ging zur Tür hinaus, wo John Carker seiner wartete. Dieser versuchte zu sprechen. Mr. Morfin aber schob ihn heiter beiseite und erklärte ihm, sie würden sich bald und oft wieder sehen. Er könne daher, wenn es ihm darum zu tun sei, ein andermal reden, denn jetzt hätten sie keine Zeit dafür. Sodann eilte er rasch fort, um sich jedes Wort des Dankes zu ersparen.
Der Bruder und die Schwester blieben neben dem Kamin im Gespräch sitzen, bis es fast Tag war. Der Blick in die neue Welt, die sich vor ihnen auftat, hatte sie schlaflos gemacht. Es war ihnen zumute wie zwei Menschen, die vor langer Zeit an eine einsame Küste geworfen wurden und endlich ein rettendes Schiff kommen sehen, nachdem sie sich längst ergeben und auf jeden Gedanken an eine andere Heimat verzichtet haben. Aber auch eine andere Unruhe verschiedener Art trug dazu bei, sie wach zu halten. Die Dunkelheit, aus der ihnen dieses Licht aufgegangen war, sammelte sich wieder, und der Schatten ihres verbrecherischen Bruders durchspukte das Haus, das sein Fuß nie betreten hatte.
Auch wich oder verblich er nicht vor der wiederkehrenden Sonne; er war da am andern Morgen, mittags und nachts – am schwärzesten und deutlichsten aber in der Nacht, von der wir jetzt sprechen müssen.
John Carker war, einer brieflichen Bestellung seitens ihres Freundes Folge gebend, ausgegangen, und Harriet befand sich schon mehrere Stunden allein zu Hause. Der düstere, trübe Abend trug nicht dazu bei, ihre schwermütigen Gefühle zu bannen. Der Gedanke an den Bruder, der ihr so lange entfremdet gewesen, umspukte sie in schrecklichen Gestalten. Er war tot, sterbend, rief sie an oder furchte die Stirne gegen sie. Diese Bilder wurden so bedrückend für sie, daß sie in der entschwindenden Dämmerung sich sogar fürchtete, den Kopf aufzurichten und nach den dunkeln Ecken des Zimmers hinzusehen, damit nicht etwa sein Gespenst, die Ausgeburt ihrer Einbildungskraft, erschreckend daraus hervortrete. Einmal bemächtigte sich ihrer die Vorstellung, er sei im nächsten Raum versteckt – obschon sie wohl wußte, daß es nur eine Einbildung war, der sie selbst keinen Glauben schenkte – und dieser Gedanke wurde so übermächtig in ihr, daß sie sich gedrungen fühlte, in dasselbe hineinzugehen, um sich zu überzeugen. Aber vergeblich. Das Zimmer nahm seine schattenhaften Schreckbilder wieder an, sobald sie es verlassen hatte, und sie vermochte sich der unbestimmten Eindrücke ihrer Furcht so wenig zu entziehen, als wären sie steinerne Riesenbilder, fest eingemauert in der Erde.
Es war fast dunkel, und sie saß, den Kopf auf die Hand gestützt und die Blicke zu Boden gesenkt, in der Nähe des Fensters, als mit einem Male das Zimmer durch einen Schatten von außen noch mehr verfinstert wurde. Sie erhob ihre Augen und stieß einen unwillkürlichen Schrei aus. Dicht vor den Scheiben schaute ein blasses, scheues Gesicht herein – anfangs unstet, als suche es einen Gegenstand; dann aber blieben die Blicke auf ihr haften.
»Laßt mich ein! laßt mich ein! Ich muß mit Euch sprechen.« Und die Hand klirrte an der Scheibe.
Harriet erkannte augenblicklich die Frauensperson mit dem langen dunkeln Haar, der sie an einem regnerischen Abend Nahrung und Obdach gegeben hatte. Da sie sich ihres heftigen Benehmens erinnerte, so fürchtete sie sich natürlich, wich ein wenig vom Fenster zurück und blieb unschlüssig und erschrocken stehen.
»Laßt mich ein! laßt mich mit Euch sprechen! Ich bin dankbar – ruhig – demütig – alles was Ihr wollt. Aber laßt mich mit Euch sprechen.«
Die Leidenschaft dieser Bitte, der ernste Ausdruck des Gesichtes, das Zittern der flehentlich erhobenen Hände und ein gewisses Entsetzen, das sich in der Stimme zeigte und auf eine Verwandtschaft mit ihren eigenen Gefühlen hindeutete, wurde für Harriet maßgebend. Sie eilte nach der Tür und öffnete.
»Darf ich hineinkommen oder soll ich hier sprechen?« sagte das Weib, ihre Hand fassend.
»Was wollt Ihr? Was habt Ihr mir zu sagen?«
»Nicht viel; aber gestattet mir, mein Herz zu erleichtern, oder es wird nie wieder geschehen. Schon jetzt fühle ich mich verlockt, wieder fortzugehen. Es ist mir, als ob mich Hände von der Tür zurückrissen. Laßt mich eintreten, wenn Ihr mir dieses einzige Mal noch trauen könnt.«
Die Aufgeregtheit, in der sie sprach, trug wieder den Sieg davon, und sie näherten sich dem Kamin der kleinen Küche, vor dem die Fremde früher schon gesessen, ein kleines Mahl eingenommen und ihre Kleider getrocknet hatte.
»Nehmt hier Platz«, sagte Alice, die an Harriets Seite niederkniete, »und seht mich an. Ihr erinnert Euch meiner?«
»Ja.«
»Ihr entsinnt Euch, wie ich Euch sagte, was ich gewesen, und woher ich kam, als ich mich hinkend und zerlumpt durch Wind und Unwetter schlug?«
»Ja.«
»Ihr wißt, wie ich in jener Nacht zurückkam. Euer Geld in den Schmutz trat und Euch und Euer Geschlecht verfluchte. Seht mich jetzt hier auf meinen Knien. Ist es mir wohl weniger ernst, als es mir damals war?«
»Wenn Ihr um Vergebung bitten wollt«, versetzte Harriet sanft –
»Nein, nicht das!« entgegnete die andere mit wildem, stolzem Blick. »Ich bitte nur, mir Glauben zu schenken. Ihr mögt nach dem, was ich war und was ich bin, beurteilen, ob ich Glauben verdiene.«
Noch immer kniend und die Augen auf das Feuer gerichtet, das die Trümmer ihrer Schönheit und ihr wirres, schwarzes Haar erhellte, zog sie eine lange Flechte über ihre Schulter nieder, schlang sie um ihre Hand und biß und zerrte daran, während sie fortfuhr: »Als ich noch jung und hübsch war, und dieses Haar hier«, sie riß verächtlich daran, »nur zart behandelt wurde und nicht genug bewundert werden konnte, machte meine Mutter, die gegen das Kind gleichgültig gewesen war, die Entdeckung, daß ich für sie ein Schatz sei. Sie hätschelte mich und war stolz auf mich. Da sie arm und habgierig war, so hoffte sie, durch mich etwas erwerben zu können. Gewiß denken vornehme Frauen nicht an etwas Derartiges bei ihren Töchtern, oder handeln so, wie sie es tat – wir alle wissen, daß das nie geschieht –, und man sieht daraus, daß die einzigen Beispiele von Müttern, die ihre Töchter auf falsche Wege leiten und ins Unglück bringen, nur unter unserem elenden Volke vorkommen.«
Sie schaute ins Feuer, als habe sie für den Augenblick vergessen, daß eine Zuhörerin zugegen war, und sprach in träumerischer Betrachtung weiter, während sie die Haarflechte wieder und wieder um ihre Hand wickelte.
»Was dabei herauskam, brauche ich nicht zu sagen. Bei Leuten, wie wir, führt es nicht zu unglücklichen Hochzeiten, sondern nur zu Elend und Verderben. Ja, Elend und Verderben war mein Los.«
Sie wandte den Blick rasch von dem Feuer ab nach Harriets Gesicht und fuhr fort:
»Ich vergeude die kostbare Zeit; aber wenn ich nicht alles wohl erwogen hätte, würde ich nicht hier sein. Elend und Verderben war mein Los, sage ich. Ich wurde für eine kurze Weile ein Spielzeug und dann wie ein Spielzeug grausam und unbekümmert beiseite geworfen. Von wessen Hand glaubt Ihr wohl?«
»Warum fragt Ihr mich das?« versetzte Harriet.
»Warum zittert Ihr?« entgegnete Alice aufschauend. »Seine Mißhandlung hat aus mir einen Teufel gemacht. Ich sank immer tiefer und tiefer ins Verderben. Ich wurde in einen Diebstahl verstrickt, bei dem ich alles leisten mußte, ohne daß ich an dem Gewinn teilhatte. Die Sache kam heraus, und man stellte mich vor Gericht, ohne daß ich einen Beistand hatte oder überhaupt nur einen Pfennig besaß. Obgleich ich ein junges Mädchen war, würde ich doch lieber in den Tod gegangen sein, als daß ich ihn um ein Fürwort gebeten hätte, selbst wenn dieses imstande gewesen wäre, mich zu retten. Ja, ich würde lieber den peinlichsten Tod erlitten haben. Aber meine Mutter, die stets so habsüchtig war, wie sie es noch jetzt ist, schickte in meinem Namen zu ihm, ließ ihm getreu die Geschichte meines Unfalls mitteilen und bat und bettelte um eine kleine letzte Gabe – um nicht so viele Pfunde, als ich Finger an dieser Hand habe. Aber in meinem Elend schnippte er die Finger nach mir, von der er glaubte, sie liege zu seinen Füßen, und versagte mir sogar dieses ärmliche Zeichen der Erinnerung, wohl zufrieden damit, daß ich in die Verbannung geschickt werde, weil er wußte, daß ich ihn dann nicht weiter behelligen konnte, gleichviel ob ich dort auch starb und verfaulte. Könnt Ihr Euch denken, wer dieser Mann war?«
»Warum fragt Ihr mich?« wiederholte Harriet.
»Warum zittert Ihr«, sagte Alice, die Hand auf ihren Arm legend und zu ihrem Gesicht aufblickend, »wenn nicht die Antwort auf Euren Lippen liegt? Es war Euer Bruder James.«
Harriet zitterte immer stärker, verwandte aber ihre Augen nicht von dem wilden Blicke, der auf ihrem Antlitz ruhte.
»Als ich erfuhr, Ihr seid seine Schwester – es war an jenem Abend – kam ich müde und gelähmt zurück, um voll Verachtung Euch Eure Gabe vor die Füße zu werfen. Es war mir damals, als könnte ich trotz meiner tiefen Ermattung die ganze Welt durchreisen, um ihm an dem ersten besten abgelegenen Platz, wo ich ihn fände, einen Dolch in die Brust zu stoßen. Glaubt Ihr, daß es mir damit ernst war?«
»Leider! Aber, gütiger Gott, warum seid Ihr wieder hergekommen?«
»Ich habe ihn seitdem gesehen«, sagte Alice, wieder wie früher ihren Arm umfassend und zu ihrem Gesicht aufblickend. »Ich folgte ihm mit meinen Augen am hellen Tag, und wenn je ein Funke von Rachsucht in meinem Innern schlummerte, so schlug er in helle Lohe auf, als mein Blick auf ihm ruhte. Ihr wißt, er hat einen stolzen Mann gekränkt und ihn zu seinem Todfeind gemacht. Wie, wenn ich ihn an diesen Mann verraten hätte?«
»Verraten!« wiederholte Harriet.
»Wenn ich jemanden aufgefunden hätte, der das Geheimnis Eures Bruders, die Art seiner Flucht und den Ort kannte, wohin er sich mit seiner Begleiterin zurückgezogen? Wenn ich die Veranlassung gewesen wäre, daß dieser Jemand das, was er wußte, Wort für Wort in der Hörweite des verborgenen Feindes enthüllte? Wenn ich damals dabei gesessen und dem Feind ins Gesicht gesehen hätte, das sich in einer Weise veränderte, daß es kaum mehr menschlich war? Wenn ich Zeuge davon gewesen wäre, wie er wahnsinnig forteilte, um ihm nachzusetzen? Wenn ich jetzt wüßte, daß er, mehr Teufel als Mensch, auf dem Weg ist und in so und so vielen Stunden mit ihm zusammentreffen muß?«
»Laßt mich los!« sagte Harriet zurückbebend. »Entfernt Euch! Eure Berührung ist mir fürchterlich!«
»Ich habe dieses getan«, fuhr die andere fort, ohne auf die Unterbrechung zu achten, während ihr Blick stets der gleiche blieb. »Spreche ich und sehe ich so aus, als ob es wahr sei? Glaubt Ihr, was ich sage?«
»Ich fürchte, ich muß es glauben. Laßt meinen Arm los!«
»Noch nicht. Nur noch einen Augenblick. Ihr könnt Euch denken, wie glühend mein Rachedurst gewesen sein muß, da er so lange anhielt und mich hierzu drängte.«
»Schrecklich!« sagte Harriet.
»Wenn Ihr mich also jetzt wieder hier seht«, entgegnete Alice mit erstickter Stimme, »ruhig am Boden kniend, meinen Arm auf dem Euren und meine Augen auf Euer Gesicht gerichtet, so mögt Ihr glauben, daß in meinen Worten kein gewöhnlicher Ernst liegt und daß in meiner Brust kein gewöhnlicher Kampf gekämpft ward.
Ich schäme mich, so zu sprechen, aber ich bin darin unterlegen. Ich verachte mich selbst. Ich habe den ganzen Tag und die ganze letzte Nacht mit mir gerungen, bin aber gegen ihn milder geworden, ohne einen Grund dafür zu haben, und wünsche womöglich das Geschehene wieder gutzumachen. Ich möchte nicht, daß sie miteinander zusammentreffen, so lang sein Verfolger noch so blind und ungestüm ist. Hättet Ihr ihn gesehen, wie er gestern abend hinausstürzte, so würdet Ihr die Gefahr besser zu ermessen imstande sein.«
»Aber wie soll sie verhindert werden! Was kann ich tun?« rief Harriet.
»Die ganze Nacht durch«, fuhr die andere hastig fort, »träumte ich von ihm wie er in seinem Blut vor mir lag, und dennoch habe ich nicht geschlafen. Den ganzen Tag über war er in meiner Nähe.«
»Was kann ich tun?« sagte Harriet, bei diesen Worten schaudernd.
»Wenn jemand da ist, der ihm schreiben oder zu ihm gehen will, so soll er keine Zeit verlieren. Er befindet sich in Dijon. Kennt Ihr den Namen und wißt Ihr, wo es liegt?«
»Ja.«
»Teilt ihm mit, der Mann, den er sich zum Feinde gemacht, sei in Wut, und er kenne ihn nicht, wenn er dessen Nähe leicht nehme. Meldet ihm, daß er auf dem Wege sei – ich weiß, daß dies der Fall ist – und keine Zeit versäume. Drängt ihn, daß er sich entferne, so lang es noch Zeit sei – wofern überhaupt noch Zeit ist – und nicht jetzt mit ihm zusammentreffe. Einige Wochen werden die Wirkung von Jahren üben. Sie sollen nicht durch mich zusammengeraten. Überall, nur dort nicht! Zu jeder Zeit, nur nicht jetzt! Sein Feind mag ihm nachsetzen und ihn für sich selbst entdecken. Aber durch mich soll es nicht geschehen. Es lastet ohnehin schon genug auf meinem Haupt.«
Das Feuer hörte auf, in ihrem pechschwarzen Haar, in ihrem aufgerichteten Antlitz und ihrem unruhigen Äuge sich zu spiegeln; ihre Hand ruhte nicht mehr auf Harriets Arm, und der Platz, wo sie gekniet hatte, war leer.
Vierundfünfzigstes Kapitel. DIE FLÜCHTLINGE.
Die Zeit, eine Stunde vor Mitternacht. Der Ort eine französische Wohnung, ein halb Dutzend Gemächer umfassend – nämlich einen düsteren kalten Flur, ein Speisezimmer, ein Besuchzimmer, ein Schlafgemach und ein inneres Besuchzimmer oder Boudoir, das kleiner und abgeschiedener ist, als die übrigen. Alle diese Räume konnten durch eine große Flügeltür an der Haupttreppe abgesperrt werden. Aber jedes Zimmer hatte wieder zwei oder drei eigene Flügeltüren, die die Vermittlung mit den übrigen Teilen der Wohnung oder mit gewissen kleinen Gängen in der Mauer herstellten, die, wie es in solchen Häusern nicht ungewöhnlich ist, nach einer Hintertreppe mit einem bedeckten Ausgang unten führten. Das Ganze lag in dem ersten Stock eines so großen Hotels, daß es nicht einmal eine ganze Fensterreihe auf der einen Seite des viereckigen Mittelhofes einnahm, den die vier Seiten des Hauses einschlossen.
In den Gemächern herrschte ein Firnis von Pracht, hinreichend verblichen, um sich melancholisch auszunehmen, aber auch noch blendend genug, um das Leben im einzelnen mit einer Vorstellung von Vornehmheit zu belästigen. Die Wände waren schön bemalt und vergoldet, die Zimmerboden gebohnt und poliert, Fenster, Türen und Spiegel mit Scharlach-Draperien behangen. An den Wänden sah man Kandelaber eingelassen, deren Arme sich wie Baumzweige oder Hirschgeweihe verschlangen. Bei Tag aber, wann die jetzt geschlossenen Jalousien offen standen und das Licht hereinfiel, zeigten sich unter diesem Prunk Spuren von Abnützung und Staub, die Einwirkung von Sonne, Feuchtigkeit und Rauch, auf die langen Pausen des Nichtbewohntseins hindeutend, in der dieser glänzende Tand des Lebens, gleich dem Leben empfindlich, wie ein im Gefängnis eingesperrter Mensch zu verbleichen schien. Sogar bei Nacht konnte die Menge brennender Kerzen diese Abzeichen nicht ganz vertilgen, obschon sie durch das allgemeine Geflitter in den Schatten gedrängt wurden.
Das Flimmern der hellen Kerzen und ihr Widerschein in den Spiegeln, in den Streifen Vergoldung und in den bunten Farben beschränkte sich an jenem Abend nur auf ein einziges Zimmer, das kleinste von den vorhin aufgezählten. Von der Halle aus gesehen, wo eine matte Lampe brannte, nahm es sich durch die dunkle Perspektive der offenen Türen wie ein funkelnder, kostbarer Edelstein aus, und in der Mitte seines Glanzes saß eine schöne Frau – Edith.
Sie war allein. Noch immer dieselbe trotzige, hochmütige Frau. Die Wangen ein wenig bleich, die Augen dem Anschein nach etwas größer und blitzender, aber ganz die frühere stolze Haltung. Keine Scham auf ihrer Stirn und ihr Nacken so aufrecht, daß die beugende Gewalt der Reue nicht daran zu bemerken war. Herrisch und vornehm, zugleich aber ohne Rücksicht auf sich selbst und alles übrige, saß sie da, die dunkeln Augen zu Boden gesenkt, als ob sie jemanden erwarte.
Sie hatte kein Buch, keine Arbeit, keine Beschäftigung irgendeiner Art, als ihre Gedanken, um sich die träg hinschleichende Zeit zu kürzen, obschon ein Entschluß, kräftig genug, um jede Pause auszufüllen, sich an ihr bemerklich machte. Ihre Lippen waren zusammengepreßt und bebten, wenn für einen Augenblick die Spannung auf dem Gesicht wich, ihre Nasenlöcher erweiterten sich, ihre Brust wogte unter der Gewalt ihrer Gedanken, und ihre Hände schlangen sich krampfhaft ineinander. So saß sie da und wartete.
Bei dem Ton eines Schlüssels in der äußeren Tür und eines Fußtritts in der Halle fuhr sie auf und rief: »Wer da?« Die Antwort wurde in französischer Sprache gegeben, und zwei Männer kamen mit klappernden Servierbrettern herein, um Vorbereitungen für das Nachtessen zu treffen.
»Wer hat Euch dazu beauftragt?« fragte sie.
»Monsieur hat so befohlen, als es ihm beliebte, die Wohnung zu nehmen. Wie sich Monsieur eine Stunde en route hier aufhielt«, sagte er – »ach, er hat einen Brief für Madame zurückgelassen; Madame hat ihn doch erhalten?«
»Ja.«
»Bitte tausendmal um Verzeihung!« Die plötzliche Besorgnis, der Brief könnte vergessen worden sein, hatte ihn, einen kahlköpfigen, langbärtigen Mann aus dem Hause eines benachbarten Restaurants, seiner Versicherung nach mit Verzweiflung erfüllt. Monsieurs Befehlen zufolge sollte das Souper zu dieser Stunde bereit sein, und Monsieur habe in seinem Schreiben Madame von seinen Weisungen Mitteilung gemacht. Monsieur habe dem goldenen Kopf die Ehre erzeigt, zu befehlen, daß das Souper auserlesen und fein sein müsse. Er werde finden, daß sein Vertrauen zu dem goldenen Kopf nicht unrecht angebracht sei.
Edith sprach nichts weiter, sondern schaute gedankenvoll zu, während die beiden für zwei Personen den Tisch deckten und Wein aufstellten. Noch ehe sie zu Ende waren, stand sie auf, ergriff eine Lampe und begab sich nach dem Schlafgemach und dem Besuchzimmer, wo sie hastig, aber doch zugleich sorgfältig, alle Türen untersuchte, namentlich eine in dem Schlafzimmer, die nach dem Gang in der Wand hinausging. Aus dieser nahm sie den Schlüssel und setzte ihn an der Außenseite ein. Dann kam sie wieder zurück.
Die Männer, von denen der zweite ein sauber rasierter, ockerfarbiger Mensch in einer Jacke und mit kurz geschnittenem Haar war, hatten ihre Tafelvorbereitungen beendigt und standen nun zusehend da. Derjenige, der früher gesprochen hatte, stellte die Frage, ob Madame wohl glaube, daß Monsieur bald eintreffen werde.
Sie konnte dieses nicht sagen. Es war ihr gleichgültig.
Pardon, aber hier sei das Souper, das schnell gespeist werden müsse. Monsieur, der französisch rede wie ein Engel – oder wie ein Franzose – was gleichbedeutend sei – habe mit großem Nachdruck von seiner Pünktlichkeit gesprochen. Die englische Nation zeichne sich stets durch Pünktlichkeit aus. Ach, welch ein Lärm! Gütiger Himmel, hier sei Monsieur. Sehe man ihn!
Und in der Tat wurde jetzt Monsieur durch den andern Kellner eingelassen. Seine Zähne glänzten durch die dunkeln Zimmer wie ein Hochofen, und als er in dem Heiligtum des Lichts und der Farbe anlangte, umarmte er Madame und redete sie in französischer Sprache als seine bezaubernde Gattin an.
»Mein Gott, Madame wird ohnmächtig. Madame ist hingerissen von Freude!« rief der kahle Mann mit dem Bart.
Madame war nur schaudernd zurückgewichen, und noch ehe die vorerwähnten Worte ausgesprochen worden, stand sie in vollkommen aufrechter Haltung mit unbeweglichem Gesicht da, die Hand auf die Samtlehne eines großen Sessels gelegt.
François ist nach dem goldenen Kopf hinübergeflogen, um das Nachtessen zu holen. Er fliegt bei solchen Gelegenheiten wie ein Engel oder wie ein Vogel. Das Gepäck von Monsieur ist auf seinem Zimmer. Alles befindet sich in Ordnung. Das Souper wird im Augenblick da sein – diese Tatsachen meldete der kahle Mann unter lächelnden Verbeugungen, und unmittelbar darauf wurde das Nachtessen hereingetragen.
Die warmen Speisen befanden sich in einem erhitzten Einsatz, die kalten waren bereits aufgetragen, und auf einem Seitentisch lag das Service zum Wechseln. Monsieur war mit dieser Anordnung zufrieden. Es gefiel ihm wohl, daß der Soupertisch klein war. Sie sollten den Einsatz auf den Boden stellen und gehen. Er könne die einzelnen Gerichte selbst holen.
»Pardon!« versetzte der kahle Mann höflich, da er dies für unmöglich hielt.
Monsieur war anderer Ansicht. Er brauchte für den Abend keine weitere Bedienung.
Aber Madame – – deutete der kahle Mann an.
Madame habe ihr eigenes Mädchen, entgegnete Monsieur. Das sei genug.
Tausendmal Pardon, nein; Madame habe kein Mädchen.
»Ich bin allein hierhergekommen«, sagte Edith. »Es war mir lieber so. Ich bin ans Reisen gewöhnt und brauche keine Bedienung. Es ist nicht nötig, daß mir jemand gesendet wird.«
Monsieur beharrte demnach auf seiner zuerst beantragten Unmöglichkeit und folgte den beiden Dienern nach der äußeren Tür, um sie abzuschließen. Der kahle Mann, der sich vor dem Abgang noch einmal umwandte, um eine Verbeugung zu machen, bemerkte, daß Madame noch immer ihre Hand auf der Samtlehne des großen Sessels ruhen hatte und daß sie nicht im mindesten auf ihn achtete, sondern geradeaus vor sich hinsah.
Während der Ton des Türschließens durch die dazwischen liegenden Zimmer hallte, bis er gedämpft und erstickt in dem letzten anlangte, verkündete die Glocke der Kathedrale die Stunde zwölf. Edith hörte, wie Carker dabei innehielt, als lausche er auf die Glockenschläge. Dann kam er zu ihr zurück, mit einer langen Kette von Fußtritten das Schweigen unterbrechend und alle Türen hinter sich absperrend. Ediths Hand verließ einen Augenblick den Samtstuhl, um auf dem Tisch ein Messer in ihren Bereich zu bringen; dann nahm sie wieder die frühere Haltung ein.
»Wie seltsam, daß Ihr allein hierhergekommen seid, meine Liebe?« sagte er beim Eintreten.
»Wie?« entgegnete sie.
Der Ton war so hart, das rasche Wenden ihres Kopfes so ungestüm, ihre Haltung so abstoßend und ihre Stirne so düster, daß er mit der Lampe in der Hand stehen blieb und sie ansah, als habe ihn ein Blitzstrahl regungslos gemacht.
»Ich sagte«, wiederholte er endlich, indem er mit dem höflichsten Lächeln die Lampe niederstellte, »es sei mir befremdlich, daß Ihr allein hierherkommt. Das war gewiß eine unnötige Vorsicht. Ihr hättet in Havre oder Rouen eine Dienerin nehmen sollen, da es Euch nicht an Zeit dazu fehlte; aber Ihr seid, wie die schönste, so auch die launenhafteste und eigensinnigste von allen Frauen.«
Ihre Hand ruhte noch immer auf der Sessellehne. Ohne ein Wort zu sprechen, sandte sie ihm nur einen eigentümlichen Blick zu.
»Ich habe Euch nie so schön gesehen«, nahm Carker wieder auf, »wie Ihr es heute nacht seid. Sogar das Bild, das ich während dieser grausamen Prüfungszeit im Geiste mit mir herumgetragen und Tag und Nacht betrachtet habe, wird durch die Wirklichkeit übertroffen.«
Kein Wort. Kein Blick. Ihre Augen bargen sich vollständig unter den gesenkten Wimpern, aber ihr Kopf war aufrecht.
»Es waren harte, herbe Bedingungen!« sagte Carker mit einem Lächeln; »aber nun sie erfüllt und vorüber sind, machen sie die Gegenwart nur um so köstlicher und sicherer. Sizilien soll unsere Zuflucht sein. In dem müßigsten und gemächlichsten Teil der Welt wollen wir beide Ersatz suchen für alte Sklaverei.«
Er wollte heiter auf sie zutreten, prallte aber wieder einen Schritt zurück, als er sah, daß sie hastig nach dem Messer auf dem Tische griff.
»Bleibt stehen, oder ich ermorde Euch!« sagte sie.
Der plötzliche Wechsel in ihr, die drohende Wut und der tiefe Abscheu, der in ihren Augen funkelte und auf ihrer Stirne blitzte, geboten ihm Halt, als ob ein Feuermeer vor ihm läge.
»Bleibt stehen!« wiederholte sie. »Kommt mir nicht näher, so lieb Euch Euer Leben ist!«
Beide sahen einander an. Wut und Erstaunen malten sich in seinem Gesicht. Aber er unterdrückte diese Bewegungen und sagte leichthin:
»Laßt das! Ruhig! Wir sind allein. Niemand sieht oder hört uns. Glaubt Ihr, Ihr könnt mich mit solchen Tugendpossen einschüchtern?«
»Glaubt Ihr, Ihr könnt mich einschüchtern?« antwortete sie mit Heftigkeit, »und mich von einem fest gefaßten Entschlüsse abbringen, indem Ihr mich an die Einsamkeit dieses Platzes und an die Tatsache erinnert, daß keine Hilfe in der Nähe sei – mich, die ich absichtlich hier allein bin? Würde ich Euch nicht vermieden haben, wenn ich Euch fürchtete? Wäre dies der Fall, würde ich hier sein, mitten in totenstiller Nacht, um Euch ins Gesicht zu sagen, was ich jetzt sprechen will?«
»Und das wäre, meine schöne Spröde?« versetzte er. »Schöner so, als jedes andere Weib in ihrer besten Stimmung.«
»Ich sage Euch nichts«, erwiderte sie, »bis Ihr nach jenem Stuhl zurückgegangen seid – nur dieses noch einmal – kommt mir nicht nahe! Keinen Schritt näher. Wagt Ihr es, so schwöre ich bei dem Himmel, der uns sieht, daß ich Euch ermorden werde!«
»Ihr haltet mich wohl für Euren Gatten?« versetzte er mit einem Grinsen.
Ohne ihn einer Antwort zu würdigen, streckte sie ihren Arm aus und deutete auf den Stuhl. Er biß sich auf die Lippe, furchte die Stirne, lachte und setzte sich mit ärgerlicher, ungeduldiger Miene, die er nicht zu verbergen vermochte, nieder. Dabei nagte er an seinen Nägeln und blickte in dem bitteren Gefühl seiner Niederlage seitwärts nach ihr hin, obschon er sich stellte, als ergötze ihn ihre Launenhaftigkeit.
Sie legte das Messer wieder auf den Tisch, fuhr mit der Hand nach ihrer Brust und sagte:
»Ich habe hier etwas liegen, das kein Liebesandenken ist, und ehe ich wieder Eure Berührung dulde, werde ich gegen Euch davon Gebrauch machen. Ihr wißt, was ich meine, und ich nehme dabei ebensowenig Anstand als irgendeinem andern kriechenden Geschöpf gegenüber.«
Er erkünstelte ein scherzhaftes Lachen und bat sie, ihre Rolle rasch zu Ende zu bringen, da das Nachtessen sonst kalt werde. Doch wurde der verstohlene Blick, mit dem er sie betrachtete, düsterer und lauernder. Auch murmelte er einen Fluch vor sich hin und stieß mit dem Fuß auf den Boden.
»Wie oft«, fuhr Edith fort, indem sie das düster überschattete Auge auf ihm haften ließ, »wie oft hat Eure kühne Schurkerei mir mit Schimpf und Kränkung zugesetzt! Wievielmal habt Ihr in Eurer glatten Weise und mit Euren spottenden Reden und Blicken mir meinen Brautstand und meine Ehe vorgerückt! Wie oft legtet Ihr die Wunde meiner Liebe für jenes holde, gekränkte Mädchen bloß und zerfleischtet sie! Wie oft habt Ihr das Feuer angefacht, das mich im Lauf der zwei Jahre sengte, und mich zu verzweifelten Racheschritten verlockt, wenn mir die Folter am schmerzlichsten wurde!«
»Ich zweifle nicht, Ma'am«, versetzte er, »daß Ihr gut Rechnung geführt habt und daß sie ziemlich genau ist. Doch laßt dies, Edith. Bei Eurem Gatten, dem armen Tropf, ging es wohl an –«
»Ich erkläre Euch«, sagte sie, ihn mit so hochmütigem Abscheu betrachtend, daß er darunter erbebte, wie sehr er auch seinen Mut zusammennahm, »wenn alle meine andern Gründe, ihn zu verachten, wie Federn hätten hinweggeblasen werden können, so würde der Umstand, daß er Euch zum Ratgeber und Günstling hatte, fast allein ausgereicht haben, ihnen Dauer zu verleihen.«
»Das ist also der Grund, warum Ihr mit mir entlaufen seid?« fragte er höhnend.
»Ja, und eben deshalb sehen wir uns auch heute zum letztenmal Angesicht in Angesicht. Elender, wir sind in dieser Nacht zusammengetroffen, um uns für immer zu trennen. Nachdem ich zu sprechen aufgehört habe, werde ich keinen Augenblick mehr hier bleiben.«
Er warf ihr einen seiner häßlichsten Blicke zu und ergriff den Tisch mit der Hand, ohne übrigens aufzustehen, ihr zu drohen oder anderweitig Antwort zu geben.
»Ich bin ein Weib«, fuhr sie fort, indem sie mit Festigkeit ihm gegenüber stehen blieb, »das von Kindheit auf an die Schmach gewöhnt und gegen sie gestählt wurde. Man hat mich feilgeboten und zurückgewiesen, zur Schau gestellt und bekrittelt, bis ich hätte vergehen mögen vor Scham. Ich besaß keine Gabe, keinen Vorzug, die mir als Hilfsquellen hätten dienen können, ohne daß sie zum Verkauf ausgelegt worden wären, um meinen Wert zu erhöhen, geradeso gut, als hätte sie der gewöhnliche Ausrufer durch die Straßen geschrien. Meine stolzen, armen Verwandten haben beifällig zugesehen, und jedes Band zwischen uns wurde in meinem Innern zerrissen. Unter ihrer ganzen Schar befindet sich kein einziger Mensch, um den ich mich mehr kümmerte als um einen Schoßhund. Ich stehe allein in der Welt, stets eingedenk, wie hohl sie gegen mich gewesen ist und welche elende Rolle ich selbst auf ihr gespielt habe. Das ist Euch bekannt; auch wißt Ihr, daß der dadurch errungene Ruf mir völlig wertlos ist.«
»Ja, ich dachte mir das«, entgegnete er.
»Und Ihr rechnetet darauf«, fuhr sie fort, »und setztet mir zu. Zu gleichgültig geworden, dem täglichen Wirken der Hände, die mich hierzu umgebildet hatten, einen andern Widerstand entgegenzusetzen als eben Gleichgültigkeit, und in dem Bewußtsein, daß meine Heirat wenigstens einem weiteren Verhökern landauf und landab vorbauen würde, ließ ich mich so schmählich verkaufen, wie nur je auf irgendeinem Marktplatz ein Weib mit einem Strick um den Hals verkauft wurde. Ihr wißt das.«
»Ja«, sagte er, alle seine Zähne zeigend. »Ich weiß das.«
»Und Ihr rechnetet darauf«, entgegnete sie noch einmal, »und setztet mir zu. Von dem Tage meiner Verheiratung an sah ich mich einer neuen Schmach preisgegeben – der Zudringlichkeit und Verfolgung eines gemeinen Elenden, so klar ausgedrückt, als würde sie mir in der gröbsten Schrift und auf allen meinen Wegen und Stegen in die Hände geschoben, so daß mir alle meine früheren Demütigungen wie gar nichts vorkamen. Diese Schande wurde mir von meinem Gatten aufgebürdet, der mich selbst damit umgab und eigenhändig hundert und hundert Male mich darin verhärtete. Durch diese beiden nun von jedem Ruhepunkt, den ich hatte, verdrängt – von ihnen gezwungen, die letzte Spur von Liebe und Zartheit in mir zum Opfer zu bringen oder neues Unglück auf den unschuldigen Gegenstand derselben zu häufen – von einem zum andern gehetzt und von dem einen verfolgt, wenn ich dem andern entrann, steigerte sich diesen beiden gegenüber mein Zorn fast zum Wahnsinn. Ich weiß nicht, nach welcher Seite hin höher – gegen den Herrn oder gegen den Knecht!«
Er verwandte keinen Blick von ihr, während sie so in dem eigentlichen Triumph ihrer entrüsteten Schönheit vor ihm stand. Er sah, sie war entschlossen, ließ sich nicht einschüchtern und fürchtete sich vor ihm ebensowenig wie vor einem Wurm.
»Wie könnte ich von Ehre oder Züchtigkeit gegen Euch reden!« fuhr sie fort. »Welchen Sinn würden solche Worte für Euch, welchen Sinn würden sie in meinem Munde haben. Wenn ich Euch aber sage, daß die leiseste Berührung Eurer Hand mich mit schauderndem Widerwillen erfüllt – daß ich von der Stunde an, als ich Euch zum erstenmal sah, bis auf den gegenwärtigen Augenblick Euch haßte – daß meine instinktartige Abneigung gegen Euch mit jeder Minute der näheren Bekanntschaft sich steigerte, bis Ihr für mich ein so ekelhaftes Geschöpf wurdet, dergleichen es nicht mehr auf Erden gibt – wie dann?«
Er antwortete mit einem erstickten Lachen:
»Ja, wie dann, meine Königin?«
»Was ging an jenem Abend vor«, sagte sie, »als Ihr, kühn gemacht durch den Auftritt, zu dem Ihr mir halfet, Euch erdreistetet, nach meinem Zimmer zu kommen und mit mir zu sprechen?«
Er zuckte die Achseln und lachte abermals.
»Was ging vor?« wiederholte sie.
»Euer Gedächtnis ist so treu«, versetzte er, »daß Ihr es ohne Zweifel selbst wißt.«
»So hört!« sagte sie. »Ihr brachtet damals diese Flucht in Vorschlag – nicht diese Flucht, sondern eine Flucht, wie Ihr sie Euch dachtet. Ihr erklärtet mir, ich sei verloren, weil ich Euch jene Zusammenkunft gestattet habe, in der Ihr Euch betreten lassen wolltet, wenn es Euch gut dünkte – weil ich Euch so oft früher allein bei mir duldete – weil ich, wie Ihr sagtet, Euch selbst die Gelegenheit dazu an die Hand gab und weil ich offen und ohne Rücksicht auf mich gegen Euch erklärte, daß ich gegen meinen Gatten kein anderes Gefühl kenne als Abneigung. Ich habe es in Eure Macht gegeben, meinen Namen an den Pranger zu stellen, und behaupte meinen tugendhaften Ruf nur so lange, als Euer Atem mir denselben gönne.«
»Die Kriegslist der Liebe«, unterbrach er sie lächelnd. »Das alte Sprichwort –«
»An jenem Abend«, fuhr Edith fort, »und erst an jenem Abend endete der Kampf, den ich lange mit etwas Unbestimmtem gerungen hatte – ich weiß, es war nicht die Achtung für meinen guten Ruf, vielleicht aber das letzte Anklammern an diese Achtung vor ihrem Verscheiden. An jenem Abend wichen alle meine andern Gefühle der Leidenschaft und Rachsucht. Ich führte einen Streich, der Euern stolzen Gebieter in den Staub warf, und setzte Euch dorthin, von wo aus Ihr mich jetzt anseht, aufgeklärt über das, was ich meine.«
Er sprang mit einem wilden Fluch von seinem Stuhle auf. Sie steckte die Hand in ihre Brust, ohne daß ein Finger zitterte oder ein Haar auf ihrem Haupte sich bewegte. Er blieb stehen – sie gleichfalls. Der Tisch und der Stuhl trennten sie.
»Wenn ich vergesse, daß an jenem Abend dieser Mann seine Lippen an die meinen brachte, wie er heute wieder getan hat«, sagte Edith, nach ihm hindeutend; »wenn ich das Brandmal seines Kusses auf meiner Wange vergesse – der Wange, an die Florence wieder ihr schuldloses Gesicht legen wollte – wenn ich meine Zusammenkunft mit ihr vergesse, als jenes Zeichen des Schimpfs noch auf mir glühte – wenn ich vergesse, welche Flut von Erinnerungen in mir auftauchten, als ich sie sah und dabei denken mußte, um sie der Verfolgung zu entziehen, die meine Liebe über sie verhängte, habe ich durch meinen Namen Schande und Herabwürdigung auf den ihrigen gebracht. Ich müßte für alle künftigen Zeiten in ihren Augen als das einzige Geschöpf dastehen, vor dem zum ersten Male ihre reine Seele als vor einer schuldbeladenen Verbrecherin zurückbebte – wenn ich alles dies vergesse, o Gatte, von dem ich fortan geschieden bin, so will ich auch diese letzten zwei Jahre vergessen, das Geschehene wieder gutmachen und dich nicht mehr täuschen.«
Ihre blitzenden Augen, die für einen Moment sich gehoben hatten, fielen nun wieder auf Carker, dem sie in ihrer Linken nun einige Briefe hinhielt.
»Seht her!« sagte sie verächtlich. »Ihr habt sie unter der falschen Adresse, unter der Ihr geht, an mich adressiert; der eine traf mich hier, der andere unterwegs. Die Siegel sind unerbrochen. Nehmt sie zurück!«
Sie zerdrückte sie in ihrer Hand und warf sie ihm vor die Füße. Dann sah sie ihn aufs neue an, und ein Lächeln lag auf ihrem Gesicht.
»Wir sind in dieser Nacht zusammengetroffen, um uns für immer zu trennen«, fuhr sie fort. »Ihr ließt Euch zu bald von sizilianischen Tagen und sinnlicher Ruhe träumen. Ihr hättet in Eurer Verräterrolle noch eine Weile fortschmeicheln und wedeln sollen, um reicher zu werden. Euer genußsüchtiges Zurückziehen ist teuer erkauft.«
»Edith!« rief er, ihr mit der Hand drohend. »Setzt Euch nieder und macht dieser Geschichte ein Ende! Von welchem Teufel seid Ihr besessen?«
»Ihr Name ist Legion«, versetzte sie, ihre stolze Gestalt aufrichtend, als hätte sie ihn unter ihre Füße treten mögen. »Ihr beiden, Ihr und Euer Gebieter, habt sie in einem gedeihlichen Hause herangezogen, und sie werden Euch zerreißen. Ein Lügner gegen ihn, ein Lügner an seinem unschuldigen Kind, falsch überall und in jeder Weise, mögt Ihr hingehen und mit mir großtun, während Ihr Euch zähneknirschend sagen müßt, daß Ihr ein Lügner seid.«
Flüche murmelnd und drohend stand er vor ihr und sah sich nach etwas um, das ihm behilflich sein könnte, sie zu überwältigen; aber sie leistete mit demselben nicht zu erschütternden Geiste ihm Widerstand.
»In jeder von Euren Prahlereien liegt ein Triumph für mich«, sagte sie. »Ich wähle in Euch geradezu den gemeinsten Menschen, den ich kenne, den Schmarotzer und das Werkzeug des stolzen Tyrannen, damit die Wunde für ihn noch tiefer und schmerzlicher sei. Rühmt Euch immerhin und rächt mich an ihm! Ihr wißt, wie Ihr heute hierher kamt. Ihr wißt, wie geduckt Ihr dort steht. Ihr seht Euch in ganz so verächtlichen, wenn auch nicht in den verhaßten Farben, in denen Ihr mir erscheint. Rühmt Euch nur und rächt mich an Euch selbst.«
Seine Lippen schäumten, und der Schweiß stand auf seiner Stirne. Hätte sie einmal, wenn auch nur für einen halben Moment, gezaudert, so würde er sie ergriffen haben. Aber sie blieb so fest wie ein Fels, und ihre forschenden Augen hafteten unverwandt auf ihm.
»Wir kommen nicht so auseinander«, sagte er. »Glaubt Ihr, ich sei ein solcher Narr, um Euch in Eurer wahnsinnigen Stimmung gehen zu lassen?«
»Glaubt Ihr, daß man mich zurückhalten könne?« antwortete sie.
»Ich will's versuchen, mein Schatz«, versetzte er mit einer wilden Bewegung seines Kopfes.
»Gott sei Euch gnädig, wenn Ihr es versucht, mir nahe zu kommen!« entgegnete sie.
»Und wie, wenn nun meinerseits die von Euch erwarteten Großtuereien und Prahlereien nicht stattfänden?« sagte er. »Wie, wenn auch ich umwendete? Ihr seht!« und seine Zähne kamen wieder ein wenig zum Vorschein, »wir müssen hierüber einen Vertrag abschließen, da sonst ich eine unerwartete Richtung einschlagen könnte. Setzt Euch nieder – setzt Euch nieder!«
»Zu spät!« rief sie mit Augen, die Feuer zu sprühen schienen. »Ich habe meinen Ruf und meinen guten Namen in die Winde geworfen! Ich habe beschlossen, die Schande zu tragen, die sich an mich heften wird – habe beschlossen, sie zu tragen, obschon wir beide wissen, daß sie mich nicht mit Recht trifft, nur damit er den wahren Sachverhalt nicht erfahre, was nicht der Fall sein wird oder kann. Und wenn ich sterben sollte, so würde ich durch kein Zeichen das Gegenteil verraten. Deshalb bin ich hier mit Euch allein mitten in der Nacht. Deshalb bin ich unter einem falschen Namen als Eure Frau hier mit Euch zusammengekommen. Deshalb blieb ich zurück, nachdem ich hier von jenen Männern gesehen wurde. Nichts kann Euch mehr retten.«
Er hätte seine Seele darum gegeben, wenn er imstande gewesen wäre, sie in ihrer Schönheit zu Boden zu reißen und ihren Hals zu umstricken, bis ihr die Arme an den Seiten niedersanken und sie seiner Gnade preisgegeben gewesen wäre. Aber er konnte nicht nach ihr hinsehen, ohne von Scheu erfüllt zu werden. Er bemerkte eine Kraft in ihr, gegen die kein Widerstand etwas fruchtete – sah, daß sie verzweifelt war und daß ihr unvertilgbarer Haß gegen ihn vor nichts zurückbeben würde. Seine Augen folgten der Hand, die mit so wilder, trotziger Entschlossenheit in den weißen Busen griff, und er glaubte, wenn sie nach ihm einen Fehlstoß täte, dürfte sie wohl ebenso bald das eigene Herz zu treffen wissen.
Er wagte es daher nicht, ihr näher zu kommen. Aber die Tür, durch die er eingetreten war, befand sich hinter ihm, und er ging zurück, um sie zu schließen.
»Hört noch zum Schluß meine Warnung – seht Euch vor!« sagte sie mit einem abermaligen Lächeln. »Gleich allen Verrätern seid auch Ihr verraten worden. Man hat erfahren, daß Ihr hier seid, hier sein werdet oder hier gewesen seid. So wahr ich lebe, ich sah heute abend meinen Gatten in der Straße fahren!«
»Elende, es ist nicht wahr!« rief Carker.
In diesem Augenblick erscholl laut die Klingel der Halle. Er erblaßte, da sie ihre Hand gleich einer Zauberin erhob, auf deren Ruf der Schall ertönt war.
»Horcht! Hört Ihr es?«
Er lehnte den Rücken gegen die Tür; denn er bemerkte eine Veränderung an ihr und bildete sich ein, sie wolle an ihm vorbeigehen. Im Augenblick jedoch war sie durch die andere Tür, die nach dem Schlafgemach führte, entwischt und hatte diese hinter sich zugedrückt.
Nachdem sie sich umgewandt hatte und in ihrem trotzigen, gebieterischen Blick einmal ein Wechsel vorgegangen war, fühlte er, daß er mit ihr ringen könne. In dem Glauben, ein plötzlicher Schrecken, durch den nächtlichen Lärm veranlaßt, habe sie zu Paaren getrieben und bei ihrer großen Überreiztheit eine um so tiefere Abspannung hervorgerufen, riß er die Tür auf und folgte ihr fast augenblicklich.
Aber das Zimmer war dunkel, und da sie auf seinen Ruf nicht antwortete, so mußte er wieder zurück, um die Lampe zu holen. Er hielt sie in die Höhe und sah sich überall um, ob er sie nicht in eine Ecke geduckt finde. Doch das Gemach war leer. Er durchspähte daher mit den unsicheren Tritten eines Mannes, der sich an einem fremden Ort aufhält, der Reihe nach das Speise- und Besuchzimmer, schaute furchtsam umher und suchte hinter den Schirmen und Sofas; aber sie war nicht da. Auch in der Halle befand sie sich nicht; denn diese war so leer, daß er sich mit einem einzigen Blick von dieser Tatsache überzeugen konnte.
Er nahm die Lampe wieder auf und kam rasch durch sämtliche Gemächer wieder zurück, wobei er jedesmal mit über dem Kopf erhobenen Licht eine kurze Weile haltmachte, um sich nach ihr umzusehen. So stand er auch in dem Schlafgemach, als ihm die Tür auffiel, die nach dem kleinen Gang in der Mauer führte. Er ging auf sie zu und fand sie von außen verschlossen; aber die Flüchtige hatte beim Durchgehen ihren Schleier fallen lassen, der in den Falz eingeklemmt war.
Diese ganze Zeit über wurde auf der Treppe draußen an der Klingel gerissen und mit Händen und Füßen geklopft. Er war nicht feig – aber diese Töne, das Vorgegangene, die Fremdheit des Platzes, die ihn sogar auf der Rückkehr von der Halle verwirrt hatte, die Vereitelung seiner Entwürfe (denn er würde viel kühner gewesen sein, wenn sie gelungen wären), die unpassende Zeit, das Bewußtsein, daß er niemanden in der Nähe hatte, vor allem aber das plötzliche Gefühl, unter dem ihm sein Herz bleischwer klopfte, daß der Mann, dessen Vertrauen er verletzt und den er so tückisch hintergangen hatte, zugegen sei, um ihm die Maske vom Gesicht zu reißen und ihn zu fordern; alles das jagte ihm einen panischen Schrecken ein. Er versuchte sich an der Tür, in die der Schleier eingeklemmt war, konnte sie aber nicht aufbringen. Dann öffnete er eines der Fenster und sah durch die Zwischenräume der Jalousien in den Hof hinunter; doch es war ein hoher Sprung, und die Steine kannten kein Erbarmen.
Das Klingeln und Klopfen hielt an – ebenso sein Schrecken. Er begab sich nach der Schlafzimmertür zurück, und durch eine erhöhte Kraftanstrengung gelang es ihm, sie aufzureißen. Er bemerkte die nahe kleine Treppe und fühlte die Nachtluft heraufkommen, weshalb er sich zurückschlich, um Hut und Überrock zu holen. Nachdem er die Türe so gut wie möglich hinter sich abgesperrt hatte, stieg er leisen Schritts hinunter, löschte, sobald er der Straße ansichtig wurde, die Lampe, stellte sie in eine Ecke und ging hinaus ins Licht der Sterne.
Fünfundfünfzigstes Kapitel. ROB, DER SCHLEIFER, VERLIERT SEINE STELLE.
Der Pförtner an der eisernen Gittertür, der den Hof von der Straße absperrte, hatte das kleine Pförtchen seines Hauses offen gelassen und war fortgegangen, ohne Zweifel, um bei dem fernen Lärm an der Tür des Treppenhauses mitzuwirken. Mr. Carker drückte leise auf die Klinke, schlich hinaus, machte das klirrende Pförtchen so geräuschlos wie möglich wieder zu und eilte hinweg.
In dem Fieber seines Verdrusses und einer nutzlosen Wut hatte der Schrecken, der sich seiner bemächtigt, ihn ganz und gar überwältigt und sich zu einer Höhe gesteigert, daß er lieber blindlings fast jede andere Gefahr als die eines Zusammentreffens mit dem Manne bestanden hätte, der ihm vor zwei Stunden noch so gleichgültig gewesen war. Die so unerwartete Ankunft desselben, der Ton seiner Stimme und eine Nähe, die sie fast Angesicht vor Angesicht zusammengeführt hatte, – alledem würde er nach der ersten Erschütterung kühn entgegengetreten sein; denn es fehlte ihm nicht an der kecken Stirn eines Schurken. Aber das Zurückspringen seiner Mine auf ihn selbst schien alle seine Dreistigkeit und Zuversicht zerrissen zu haben. Gleich einem Wurm verachtet, in die Schlinge gelockt und verhöhnt, von dem stolzen Weib niedergetreten, dessen Geist er langsam vergiftet hatte, bis es seiner Ansicht nach zu einem bloßen Werkzeug seiner Lust heruntergesunken war, erwacht aus seiner Täuschung und des Fuchspelzes entkleidet, schlich er scheu, beschämt und herabgewürdigt von dannen.
Ein anderer Schrecken, der mit seinem Verfolgtwerden nichts zu schaffen hatte, erschütterte ihn plötzlich wie ein elektrischer Schlag, als er in den Straßen weiterging – ein träumerischer Schrecken, unverständlich und unerklärbar, aber im Zusammenhang stehend mit einem Zittern des Bodens – mit dem Rauschen und Fegen von etwas durch die Luft, als trüge es den Tod auf seinem Fittich. Er wich zurück, als wolle er das Ding vorüberlassen. Es war nicht fort, war nie dagewesen und wirkte doch wie ein nachhaltiges Entsetzen.
Er erhob das schnöde, unruhvolle Gesicht zu dem Nachthimmel, wo die Sterne so friedlich auf ihn niederschienen wie in dem Augenblick, als er ins Freie hinausgetreten war, und blieb stehen, um über seine nächsten Schritte nachzudenken. Die Furcht, an einem fremden, fernen Orte verfolgt zu werden, wo die Gesetze ihn vielleicht nicht schützten – die Neuheit des Gefühls, daß es wirklich ein fremder, ferner Ort sei, an dem er plötzlich so allein stehe mitten in den Trümmern seiner Pläne – die noch größere Furcht, jetzt eine Zuflucht in Italien oder Sizilien zu suchen, wo, wie er meinte, an jeder dunkeln Straßenecke Meuchelmörder gegen ihn gedungen werden konnten – die Verkehrtheit des Schuldbewußtseins – vielleicht auch der Wunsch, wie seinen Plänen, so auch dem Schauplatze, auf dem sie zur Ausführung kommen sollten, den Rücken zu kehren – alles dies bestimmte ihn, den Heimweg nach England anzutreten.
»Jedenfalls bin ich dort sicherer«, dachte er. »Wenn ich diesem Narren nicht gerade absichtlich entgegentreten will, wird er mich in England weit weniger ausspüren als jetzt hier. Und sollte ich, nachdem dieser verwünschte Anfall vorüber ist, ihm begegnen, so stehe ich wenigstens nicht allein und ohne irgendeine Seele, die mir raten oder Beistand leihen kann. Ich werde dann nicht niedergerannt und gewürgt wie eine Ratte.«
Er murmelte Ediths Namen und ballte seine Hand. Während er im Schatten der hohen Gebäude weiterschlich, knirschte er mit den Zähnen, rief fürchterliche Verwünschungen über ihr Haupt herunter und sah sich überall um, als ob er sie suche. So gelangte er an die Tür eines Gasthauses. Die Leute lagen in ihren Betten: aber sein Klingeln rief bald einen Mann mit einer Laterne herbei, mit dem er sich sogleich nach einem dunkeln Kutschenschuppen begab, um einen alten Reisewagen nach Paris zu mieten.
Der Handel war bald im reinen, und es wurde nach den Pferden geschickt. Er hinterließ die Weisung, daß der Wagen, sobald er eingespannt sei, ihm nachfolgen solle, und schlich wieder weiter zur Stadt hinaus, an den alten Wällen vorbei und in die offene Straße, die die dunkle Ebene entlang hinzugleiten schien gleich einem Strom.
Wohin floß er? Wo hörte er auf? Als er auf eine solche Mahnung in seinem Innern hin stehen blieb und über die düstere Fläche schaute, wo die schmächtigen Bäume den Weg bezeichneten, kam abermals jener Flug des Todes herangerauscht und entschwand wieder ungestüm und widerstandslos, in seiner Seele nichts als ein Entsetzen zurücklassend, das ebenso dunkel wie die Landschaft und so unbestimmt wie ihr fernster Horizont war.
Es war windstill. Kein Laut regte sich, und im Dunkel der Nacht ließ sich nirgends ein flüchtiger Schatten bemerken. Die Stadt lag hinter ihm. Hier und da blinkte ein Licht, und Welten von Sternen bargen sich hinter dem Gemäuer des Kirchturms und des Daches, die sich kaum gegen den Himmel abzugrenzen schienen. Überall um ihn her Düsternis und Einsamkeit. Die Glocken schlugen in matten Tönen zwei.
Er ging, wie er meinte, lang und weit und machte hin und wieder halt, um zu lauschen. Endlich schlug das Klingeln von Pferdeglocken an sein ängstlich harrendes Ohr. Bald leiser, bald wieder lauter, das eine Mal unhörbar, das andere Mal langsam über schlechten Grund hinläutend, dann aber rasch und heiter herankommend, bis unter lautem Geschrei und Peitschenknallen ein schattenhafter, bis an die Augen eingehüllter Postknecht die vier schnaubenden Rosse neben ihm haltmachen ließ.
»Wer geht da? Monsieur?«
»Ja.«
»Monsieur hat einen weiten Weg gemacht in der dunkeln Nacht.«
»Was macht das aus? Jeder nach seinem Geschmack. Wurden in dem Posthaus noch andere Pferde bestellt?«
»Tausend Teufel! – Ah, Pardon! Andere Pferde? Zu solcher Stunde? Nein.«
»Hört mich an, mein Freund. Ich habe Eile. Wir wollen sehen, wie schnell wir reisen können. Je schneller, desto besser das Trinkgeld. Fort also – rasch!«
»Hi! Wupp! Halloh! Hi!«
Und dahin ging es über die nachtumhüllte Landschaft, während der Staub und Kot umhersprühten.
Das Gerassel und die Erscheinung bildeten ein Echo zu dem wirren Jagen der Gedanken des Flüchtlings. Außen nichts klar und in seinem Innern nichts klar. Gegenstände zuckten vorbei, ineinander übergehend und nur matt unterscheidbar, um sich schnell dem Blicke wieder zu entziehen! Jenseits der wechselnden Streifen von Zaun und Bauernhäusern, die unmittelbar an der Straße lagen, dehnte sich eine schwarze Wüste aus. Jenseits der schnell sich folgenden Bilder, die in seinem Geist aufstiegen und fast ebenso schnell wieder verschwanden, lag nur eine schwarze Öde von Furcht, Zorn und enthüllter Schurkerei. Gelegentlich kam ein seufzender Luftzug von dem fernen Jura her und verschwebte auf der Ebene. Bisweilen bemächtigte sich seiner Einbildungskraft jenes wild schreckliche Getöse, rauschte an ihr vorbei und ließ sein Blut fast zu Eis erstarren.
Die Lampen, die nach dem Gewirr von Pferdeköpfen hinblinkten und ihr Licht an dem schattenhaften Kutscher und seinem eigenen flatternden Mantel brachen, ließen tausend unbestimmte Gestalten auftauchen, die seinen Gedanken entsprachen. Schatten von bekannten Personen, die in der gewohnten Haltung sich über ihre Pulte und Bücher niederbeugten, – die gespenstischen Umrisse des Manns, vor dem er floh, oder Ediths – in dem Läuten der Glocken und in dem Rollen der Räder wiederholte Worte, die ehedem gesprochen worden waren – Verwechslungen von Ort und Zeit, die ihm die letzte Nacht um einen Monat früher erscheinen ließen, und die Zeit vor einem Monat auf die letzte Nacht verlegten – Verwirrung, Zwiespalt, hastiges Jagen und trostlose Dunkelheit in seiner Seele sowohl als rings um ihn her. – Halloh! Hi! fort im Galopp über die nachtumhüllte Landschaft: Staub und Kot wie Sprüh auffliegend, die dampfenden Pferde schnaubend und ausschlagend, als würden sie von Dämonen geritten, fort in wahnsinnigem Triumph auf dem dunkeln Weg – wohin?
Wieder bemächtigte sich seiner das namenlose Entsetzen, und als es vorüber war, läuteten ihm die Glocken in die Ohren: »Wohin?« Die Räder rasselten ihm zu: »Wohin?« Das ganze Getöse des Fahrens wandelte sich in die gleiche Frage um. Die Lichter und Schatten tanzen auf den Köpfen der Pferde wie Kobolde. Nur jetzt nicht halt! Nur jetzt nicht langsamer! Vorwärts, vorwärts! Wild fort mit ihm auf dem dunkeln Wege!
Er konnte nicht im Zusammenhang denken, konnte nicht einen einzigen Gegenstand, den er sah, hinreichend von dem andern trennen, um ihn nur für eine Minute gesondert festzuhalten. Die Vereitelung seines Plans, sich für früheren Zwang durch üppiges Wohlleben zu entschädigen, und der schlimme Ausgang seines Verrats gegen einen Mann, der treu und großmütig gegen ihn gewesen war, aber dessen stolze Worte und Blicke er seit Jahren mit Interesse zusammengespart hatte – denn falsche, schlaue Menschen verachten stets im geheimen den Gegenstand, dem sie schmeicheln, und blicken mit Ingrimm auf die gezollten Huldigungen, obschon sie wissen, daß sie nur wertlos sind –, das waren die Vorstellungen, die in seinem Geiste die Oberhand gewannen. Eine lauernde Wut gegen die Frau, die ihn so verlockt und sich an ihm gerächt hatte, wich nicht aus seiner Seele. Rohe, verzerrte Entwürfe der Vergeltung fluteten in seinem Hirn, aber nichts gewann Bestimmtheit. In allen seinen Gedanken herrschte, sich überstürzend, Hast und Widerspruch. Sogar während er sich ohne Unterlaß mit diesen fieberhaften, erfolglosen Betrachtungen trug, siegte stets die eine Idee, er wolle ein wirksames Nachdenken auf eine unbestimmte Zeit verschieben.
Dann erinnerte er sich der früheren Tage vor der zweiten Hochzeit. Er dachte an seine Eifersucht gegen den Knaben, an seine Eifersucht gegen das Mädchen und an die Arglist, mit der er alle Aufdringlinge ferngehalten und um den Betörten einen Zauberkreis gezogen hatte, den niemand als er überschreiten sollte. Und nun die Vorstellung, daß er all das getan hatte, um jetzt wie ein verschüchterter Dieb vor dem verachteten Geschöpfe zu fliehen, das in seinen Augen dieser arme Betörte war!
Er hätte um dieser Feigheit willen selbst Hand an sich legen mögen. Aber sie war der Schatten seiner Niederlage und konnte nicht von ihr getrennt werden. Die Tatsache, daß das Vertrauen zu seiner eigenen Schurkerei mit einem einzigen Schlag so zerschmettert worden, und daß er, wie er sich sagen mußte, bei der Rache des Weibes eine so erbärmliche Rolle gespielt hatte, wirkte lähmend auf ihn. Mit ohnmächtiger Wut tobte er gegen Edith; er haßte Mr. Dombey, haßte sich selbst, aber floh immer weiter, ohne etwas anderes tun zu können.
Wieder und wieder lauschte er auf den Ton von Rädern hinter sich. Wieder und wieder glaubte er ihn immer lauter herankommen zu hören. Endlich war er so überzeugt davon, daß er ein »Halt!« ausrief, weil er sogar den Verlust eines Vorsprungs einer solchen Ungewißheit vorzog.
Der Ruf brachte Wagen, Pferde und Kutscher in einen Haufen zusammen auf der Straße.
»Zum Teufel!« rief der Postillon, über seine Schultern zurückschauend. »Was gibt es?«
»Hört! was ist dies?«
»Was?«
»Das Geräusch.«
»So sei doch ruhig, verwünschter Lümmel!« Das galt einem Pferd, das seine Glocken schüttelte. »Welches Geräusch?«
»Hinter uns. Ist es nicht ein anderer Wagen im Galopp? Hört Ihr es? Was war dies?«
»Du Halunke mit deinem Schweinskopf, so steh doch stille!« Anrede an ein anderes Pferd, das seinen Nachbar biß und die beiden hinteren so einschüchterte, daß sie ausschlugen und rückwärts schoben. »Es ist weit und breit nichts.«
»Nichts?«
»Nein, nichts als der Tag dort.«
»Ich glaube, Ihr habt recht. Ich höre jetzt auch nichts mehr. Fahrt weiter.«
Die verstrickte Equipage, die in der von den Pferden ausströmenden Dampfwolke halb verborgen ist, geht anfangs nur langsam vorwärts, denn der Kutscher, der unnötigerweise aufgehalten worden, nimmt verdrießlich ein Taschenmesser heraus und knüpft eine neue Schnur in seine Peitsche. Dann »halloh, hupp! hallo, hi!« und nun wieder wildes Jagen.
Die Sterne verblichen, und der Tag dämmerte herauf. Er erhob sich in dem Wagen, und als er zurückschaute, konnte er über die ganze weite Fläche hin, die er zurückgelegt hatte, keine Spur von einem weiteren Reisenden unterscheiden. Es wurde heller und heller.
Die Sonne begann über die Kornfelder und Weinberge hinzuleuchten. Hier und da zeigten sich einzelne Arbeiter, die sich aus den Steinhaufen an der Straße jeweilige Nachtherbergen gemacht hatten und jetzt zur Ausbesserung des Weges ihrem Geschäft nachgingen oder ihr Frühstück verzehrten. Gelegentlich ließen sich auch Bauern erblicken, die ihre Tagesarbeit aufsuchten, nach dem Markt gingen oder von den Türen ihrer ärmlichen Hütten aus den Vorüberfahrenden nachschauten. Endlich zeigte sich ein knöcheltief im Schmutz liegender Posthof mit dampfenden Dunghaufen und großen, halb verfallenen Außengebäuden; neben diesem appetitlichen Anblick ein großes, altes, schattenloses, aus Stein gebautes Schloß, dessen Fenster halb geblendet waren, während grüne Schlinggewächse von der Terrassen-Balustrade an bis zu den schmalen Spitzen der lichtlöscherartigen Türmchen hinauf träge über das Gemäuer hinkrochen.
Er drückte sich düster in eine Ecke des Wagens, nur auf ein schnelles Fortkommen bedacht, obschon er zuweilen, wenn die Gegend freier wurde, während langer Strecken aufstand und rückwärts schaute. So setzte er seine Reise fort, noch immer von den gleichen irren Gedanken gequält und einen endgültigen Entschluß auf unbestimmte Zeit verschiebend.
Scham, getäuschte Erwartung und das Bewußtsein seiner Niederlage fraß ihm am Herzen, während die Furcht, eingeholt zu werden oder jemandem zu begegnen, – denn er scheute sich sogar vor den Reisenden, die von der Richtung herkamen, in der er fuhr, – ihn keinen Augenblick verließ. Dasselbe unerträgliche Entsetzen, das ihn während der Nacht angewandelt hatte, kehrte auch bei Tag mit ungeschwächter Kraft wieder. Das eintönige Klingeln der Glocken und das Stampfen der Pferde, die Eintönigkeit in seiner Angst und nutzlosen Wut, der eintönige Kreislauf von Furcht, Verdruß und Leidenschaftlichkeit – all das lastete ertötend auf ihm und machte ihm die Reise zu einem Traumgesicht, in dem nichts wirklich war als die Qual seines Innern.
Sie war ein Gesicht von langen Straßen, an einem Horizont sich hinerstreckend, der immer zurückwich und sich nie erreichen ließ – von schlecht gepflasterten, hügeligen Städten, in denen Gesichter an die dunkeln Türen und schlecht verglasten Fenster kamen, wo Reihen von mit Kot bespritzten Kühen und Ochsen in den langen, schmalen Straßen zum Verkauf angebunden waren, während dem blökenden und um sich stoßenden Vieh von derben Knütteln die dicken Köpfe fast eingeschlagen wurden – von Brücken, Kreuzen, Kirchen, Posthöfen, frischen Pferden, die gegen ihren Willen eingespannt wurden, und Pferden der letzten Station, die dampfend und keuchend an den Stalltüren kläglich die Köpfe sinken ließen – von kleinen Kirchhöfen mit schräg in die Gräber eingesetzten schwarzen Kreuzen, die mit welken Kränzen behangen waren – und wieder von langen, langen Straßen, die bergauf und bergab sich hinzogen nach dem tückischen Horizont.
Von Morgen, Mittag und Sonnenuntergang – von Nacht und dem Aufgehen der Mondsichel – von zurückgelegten langen Straßen und einem erreichten rauhen Pflaster – von dem Hinklappern über dieses und dem Aufblicken nach einem großen Kirchturm hinter den Dachgiebeln – von Aussteigen, hastigem Einnehmen eines Mahles und Weinflaschen, die keinen erheiternden Einfluß zu üben vermochten – vom Gehen durch einen Bettlerhaufen, von blinden Männern mit zuckenden Augenlidern, denen die sie führenden alten Weiber Lichter vors Gesicht hielten, blödsinnigen Mädchen, Lahmen und Fallsüchtigen – von Wiedereinsteigen und Niederschauen auf die aufwärts gekehrten Gesichter und die ausgestreckten Hände, mit der hastigen Furcht, darunter einen vorwärts drängenden Verfolger zu erkennen – von Weitergaloppieren auf dem langen, langen Weg, betäubt und in die Ecke geduckt oder wieder aufstehend, um zu sehen, wo der Mond meilenweit eine Strecke desselben endlosen Pfades erhellte, oder zurückschauend, ob niemand nachkomme.
Von fliehendem Schlaf und nur zeitweiligem Nicken mit ungeschlossenen Augen – von plötzlichem Auffahren und einer lauten Antwort auf eine eingebildete Stimme. Von Selbstverwünschungen, weil er da war, weil er geflüchtet, weil er sie hatte gehen lassen, weil er nicht stolz und trotzig ihm entgegengetreten. Von einem tödlichen Streit mit der ganzen Welt, aber hauptsächlich mit sich selbst. Von einem Fluch, den seine düstere Stimmung über die ganze Natur brachte, während er rasch dahingetragen wurde.
Es war ein fiebriges Gesicht von Dingen der Vergangenheit und Gegenwart, alles bunt durcheinandergemischt, sein Leben und seine Reise ineinander verflossen. Von einem tollen Jagen nach irgendeinem Ort, wohin er gelangen mußte, von alten Schauplätzen unter den neuen auftauchend, durch die er hinflog. Von Grübeln über etwas Vergangenes und Fernes mit einer scheinbaren Unachtsamkeit auf die Umgebung, obschon er sich in erschöpfender Weise bewußt wurde, daß sie seine Gedanken verwirrte und mit ihren Bildern noch sein glühendes Gehirn erfüllte, nachdem sie längst entschwunden war.
Ein Gesicht von Wechsel auf Wechsel, und noch immer dasselbe eintönige Geklingel, dasselbe Rasseln von Rädern und Stampfen von Hufen, ohne sich Ruhe zu gönnen. Von Stadt und Land, Posthöfen, Pferden, Kutschen, Berg und Tal, Licht und Finsternis, Straße und Pflaster, Höhen und Tiefen, nassem und trockenem Wetter, und noch immer das einförmige Getön von Glocken, Rädern und Roßhufen, das ohne Unterlaß fortfuhr. Ein Gesicht, das endlich die sich nahende, noch ferne Hauptstadt gewahren ließ. Auf belebteren Wegen – ein Gesicht – von Vorbeifahren an alten Kirchen, von Rasseln durch kleine Städte und Dörfer, die weniger spärlich als früher die Straße säumten, und vom Sitzen in der Ecke, den Mantel über das Gesicht gezogen, während die Vorübergehenden nach ihm hinschauten.
Von Weiter- und weiterrollen, stets das Nachdenken aufschiebend, und stets von Gedanken gequält – von einer Unfähigkeit, die auf der Reise zurückgelegten Stunden zu berechnen oder die Zeit- und Wegabschnitte zu begreifen. Von einer am Gaumen klebenden Zunge, von unwillkürlichem Vorwärtsdrängen, als ob er nicht halten könne, und von der Ankunft in Paris, wo der trübe Fluß ungestört rasch dahineilte zwischen den lärmenden Strömen des Lebens und der Geschäftigkeit.
Dann ein verwirrtes Gesicht von Brücken, Kais und Straßen, die kein Ende nehmen wollten – von Weinhäusern, Wasserträgern, großen Volksmassen, Soldaten, Kutschen, kriegerischen Trommeln und Arkaden. Von der Eintönigkeit der Glocken, der Räder und Roßhufe, die sich endlich in dem allgemeinen Lärm und im Getümmel verloren. Von allmählichem Aufhören dieses Getöses, als er in einem andern Wagen bei der entgegengesetzten Sperre die Stadt wieder verließ. Dann, als er wieder der Seeküste zueilte, von Wiederkehr der eintönigen Glocken, Räder und Roßhufe ohne Unterlaß. Von Morgenrot, Tagesanbruch und aufgehender Sonne, von langsamem Berganfahren und oben von dem Gefühl der frischen Seebrise, von dem Anblick des Morgenlichtes auf den Kämmen der fernen Wellen. Vom Anlangen in einem Hafen, wo die Flut ihre Höhe erreicht hatte, von schwimmenden Fischerbooten und von frohen Weibern und Kindern, die die zurückkehrenden Männer erwarteten. Von Netzen und Matrosenanzügen, die am Ufer zum Trocknen ausgebreitet waren – von rührigen Matrosen, deren Stimmen hoch aus dem Takelwerk niedertönten – von der Klarheit des bewegten Wassers und dem allgemeinen Gefunkel.
Vom Zurückweichen der Küste – vom Hinschauen danach, als sie sich, vom Deck aus betrachtet, nur wie ein Nebel auf dem Wasser ausnahm, während hie und da ein heller Sonnenblick einen Strich deutlichen Landes unterscheiden ließ. Von dem Wogen, Blitzen und Murmeln der ruhigen See. Von einer andern grauen Linie auf dem Meere, in der Fahrstraße des Schiffes liegend und schnell klarer und höher werdend. Von Klippen und Häusern – von einer Windmühle und einer Kirche, die näher und naher kamen. Endlich vom Einfahren in glattes Wasser und vom Anlegen an einem Kai, von wo aus Menschengruppen niederschauten und an Bord die Bekannten grüßten. Von Ausschiffen und hurtigem Weitergehen in dem Gedränge, wo er jedem Menschen auswich – von einem Bewußtsein, daß er endlich wieder in England sei.
Er hatte in seinem Traum gedacht, er wolle sich nach einem fernen, ihm bekannten Landstädtchen begeben und dort ruhig bleiben, um im geheimen Erkundigungen einzuziehen und darnach handeln zu können. Noch immer in derselben betäubten Stimmung erinnerte er sich einer gewissen Eisenbahnstation, von wo aus er nach dem gedachten Städtchen abbiegen mußte, und wo sich ein wenig besuchtes Wirtshaus befand. Dort wollte er verweilen und ausruhen.
In dieser Absicht huschte er so schnell, wie er konnte, in einen Eisenbahnwagen, hüllte sich in seinen Mantel, als ob er schlafe, und wurde im Flug von dem Meere fort und tief in das Grün des inneren Landes geführt. An der Station angelangt, sah er sich sorgfältig um. Der frühere Eindruck hatte ihn nicht getäuscht. Es war ein abgeschiedener Ort an dem Saum eines kleinen Waldes, nur aus einem einzigen neu gebauten oder für seinen gegenwärtigen Zweck veränderten Hause bestehend, an das sich ein hübscher Garten anschloß. Das nächste Städtchen lag etwa eine halbe Stunde ab. Hier stieg er aus, ging, von niemandem bemerkt, hastig in das Wirtshaus hinein und mietete sich oben ein paar miteinander in Verbindung stehende, hinreichend abgeschiedene Zimmer.
Seine Absicht war, hier zu ruhen, bis er seine Fassung wieder gewonnen hätte; denn immer tobte die ohnmächtige Wut so sehr in ihm, daß er, während er in dem Gemach umherging, mit den Zähnen knirschte. Seine Gedanken, die sich nicht halten oder lenken ließen, schleppten ihn noch immer nach Belieben mit sich fort. Er war betäubt und todmüde.
Es war jedoch, als laste der Fluch auf ihm, daß er nicht wieder zur Ruhe kommen sollte; denn seine schläfrigen Sinne wollten ihr Bewußtsein nicht verlieren. Er hatte in dieser Beziehung ebensowenig Einfluß auf sie, wie wenn sie die eines andern Mannes gewesen wären. Nicht, daß sie ihn gezwungen hätten, auf Töne und Gegenstände seiner Umgebung zu achten, sondern sie ließen sich nicht ablenken von dem wirren Gesicht seiner Reise. Es stand beharrlich in seiner Ganzheit vor ihm. Sie war da mit ihren dunkeln, gegen ihn Verachtung blitzenden Augen, während er dahinjagte durch Stadt und Land, Licht und Dunkelheit, nasses und trockenes Wetter, über Straßen und Pflaster, bergauf und bergab, gehetzt und verschüchtert durch die Eintönigkeit der Glocken, der Räder und der Roßhufe ohne Unterlaß.
»Welchen Tag haben wir heute?« fragte er den Kellner, der die Vorbereitungen zu seinem Diner traf.
»Welchen Tag, Sir?«
»Ist es Mittwoch?«
»Mittwoch, Sir? Nein, Sir. Donnerstag, Sir.«
»Ich vergaß es. Wie spät haben wir es eigentlich? Meine Uhr ist nicht aufgezogen.«
»Noch einige Minuten bis fünf Uhr, Sir. Vielleicht lange gereist, Sir?«
»Ja.«
»Mit Eisenbahn, Sir?«
»Ja.«
»Bringt einen sehr ln Verwirrung, Sir. Pflege zwar selbst nicht viel auf der Eisenbahn zu reisen, Sir, aber die Fremden sagen das oft.«
»Kommen viele Fremde hierher?«
»Im allgemeinen genügend, Sir. Zur Zeit ist niemand da. Etwas flau eben jetzt, Sir. Alles geht flau, Sir.«
Er gab keine Antwort, hatte aber auf dem Sofa, wo er gelegen, eine sitzende Haltung eingenommen und starrte, vorwärts gebeugt, mit auf die Knie gelegten Armen den Boden an. Er vermochte sich nicht für eine einzige Minute zu sammeln. Seine Gedanken stürzten hin, wohin sie wollten, ohne auch nur einen Augenblick sich in Schlaf zu verlieren.
Er trank nach dem Diner viel Wein. Vergeblich. Keines solcher künstlichen Mittel waren imstande, seinen Augen Schlaf zu bringen. Noch unzusammenhängendere Gedanken rissen ihn unbarmherzig mit fort, als wären sie wilde Pferde, die einen zu solcher Sühne verurteilten Elenden hinter ihren Hufen nachschleppten. Kein Vergessen, keine Ruhe!
Wie lang er dasaß, trank, grübelte und von seiner Einbildungskraft dahin und dorthin gezerrt werde, hätte niemand weniger genau anzugeben vermocht, als er. So viel wußte er übrigens, daß er schon geraume Zeit beim Kerzenlicht gesessen, als er in plötzlichem Schrecken auffuhr und lauschte.
Nein, jetzt war es in der Tat keine Einbildung. Der Grund zitterte, die Fenster klirrten, und das wilde ungestüme Rauschen fegte durch die Luft! Er fühlte, daß es herankam und vorbeischoß; und selbst als er nach dem Fenster eilte und sah, was es war, bebte er entsetzt zurück, als ob es nicht geheuer sei, nachzusehen.
Ein Fluch über den feurigen Teufel, der so glatt dahin donnerte, im fernen Tal an dem grellen Licht und dem trüben Rauch sich erkennen ließ und plötzlich wieder verschwunden war! Es kam ihm vor, als sei er aus dessen Pfad gerissen worden, ehe er ihn zu Brei zermalmte. Selbst jetzt noch schauderte er, obschon das Getöse verhallt war und die Schienen der Eisenbahn, so weit er sie im Mondlicht verfolgen konnte, nur in eine leere, stumme Einöde hineinführten.
Unfähig, zu ruhen, und – wie er meinte – unwiderstehlich nach diesem Schienenwege hingezogen, ging er hinaus und neben diesem hin, die Spur des Eisenbahnzugs in der noch rauchenden Asche verfolgend. Nachdem er etwa eine halbe Stunde in der Richtung gegangen war, die der Zug eingeschlagen hatte, wandte er sich um und kehrte auf der andern Seite der Bahn zurück. An dem Wirtshausgarten vorbei setzte er seinen Spaziergang noch lange fort, betrachtete neugierig die Brücken, die Signalposten und Lampen und machte sich Gedanken, wann wohl wieder ein Teufel vorbeikommen würde.
Ein Zittern des Bodens und ein ferner, schriller Schrei, der in seinen Ohren dröhnte – ein trübes Licht, das bei seinem Näherkommen sich schnell in zwei rote Augen umwandelte, und ein wildes Feuer, das glühende Kohlen auswarf – das unwiderstehliche Vorwärtsdringen einer sausenden, langgestreckten Masse – ein hoher Wind und ein Gerassel – im Augenblick da und ebenso schnell wieder fort. Der einsame Mann hielt sich dabei an ein Pförtchen, als wolle er sich vor dem Ungeheuer retten!
Er wartete auf ein weiteres und wieder ein weiteres. Zwischen den beiden Endpunkten seiner ersten Wanderung hin und her gehend und das bedrückende Gesicht seiner Reise stets mit sich herumtragend, sah er nach den herankommenden Teufeln aus. Bei dem Stationshaus zögerte er, erwartend, daß einer derselben haltmachen werde. Als das zum Zweck des Wassereinnehmens geschah, blieb er daneben stehen und betrachtete die schweren Räder samt der ehernen Vorderseite, sich Gedanken über die fürchterliche Gewalt der Maschine machend. Hu! wie die großen Räder sich langsam zu drehen anfingen – und dazu die Vorstellung, von ihnen überrannt und zerdrückt zu werden!
Verstört von Wein und dem Mangel an Ruhe – ein Mangel, dem trotz seiner Müdigkeit nichts abhelfen konnte –, schienen diese Vorstellungen und Gegenstände in seinen Gedanken eine krampfhafte Bedeutsamkeit zu gewinnen und umspukten ihn noch, als er gegen Mitternacht auf sein Zimmer zurückging und daselbst horchend sitzen blieb, ob nicht wieder ein Zug komme.
Er begab sich zu Bett, ohne jedoch auf einen Schlaf hoffen zu dürfen. Stets lag er lauschend da, und wenn er das Zittern und Dröhnen fühlte, so stand er auf und ging nach dem Fenster, um zu sehen, wie das trübe Licht sich in die zwei roten Augen umwandelte, wie das wilde Feuer glühende Kohlen auswarf, wie der Riese in seiner hastigen Flucht vorbeijagte und wie ein langer Streifen von Funken und Rauch sich das Tal entlangzog. Er schaute dann in die Richtung, in der er mit Sonnenaufgang weiterzureisen gedachte, da hier doch keine Ruhe für ihn zu finden war, und legte sich wieder nieder, um aufs neue durch das Gesicht seiner Reise und die alte Eintönigkeit der Glocken, der Räder und Hufschläge geängstigt zu werden, bis wieder ein Zug kam. So ging es die ganze Nacht hindurch, ohne daß er seine Fassung wiedergewinnen konnte, da er sie im Gegenteil mehr und mehr zu verlieren schien. Mit dem Anbruch der Dämmerung quälten ihn noch immer seine Gedanken, obschon er das Nachdenken fortwährend verschieben wollte, bis er sich in einer besseren Stimmung befände. Die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft – alles verschwand wirr vor ihm, und er hatte alle Macht verloren, irgend etwas davon gesondert aufzufassen.
»Um welche Zeit muß ich aufbrechen?« fragte er den Mann, der ihn abends zuvor bedient hatte und jetzt mit einem Licht eintrat.
»Um viertel nach vier, Sir. Um vier Uhr kommt ein Schnellzug durch, Sir, der nicht anhält.«
Er fuhr mit der Hand über die klopfende Stirn und sah auf seine Uhr. Nahezu halb vier Uhr.
»Wahrscheinlich geht niemand mit Euch, Sir«, bemerkte der Mann. »Es sind zwei Herren hier, Sir, aber sie warten auf den Londoner Zug.«
»Ich meinte, Ihr hättet gesagt, das Haus habe keine Gäste«, sagte Carker, sich mit einem Schatten jenes alten Lächelns an ihn wendend, wann er ärgerlich oder argwöhnisch war.
»Damals nicht, Sir. Zwei Herren langten heute nacht an mit dem kurzen Zug, der hier haltmachte. Warm Wasser, Sir?«
»Nein. Und nehmt das Licht mit. Es ist schon hell genug für mich.«
Da er sich nur halb ausgekleidet auf das Bett geworfen hatte, so trat er, als der Mann das Zimmer verließ, an das Fenster. Der Nacht war das kalte Licht des Morgens gefolgt, und am Himmel zeigte sich bereits das Rot der kommenden Sonne. Er wusch sich Kopf und Gesicht mit Wasser, ohne daß es ihn kühlte, legte hastig seine Kleider an, zahlte die Wirtsrechnung und ging hinaus.
Im Freien war es kalt und unbehaglich. Es lag ein schwerer Tau, und er fröstelte ungeachtet der Glut seines Innern. Nach einem Blick über die Strecke hin, die er gestern abend gegangen, und nach den Signallichtern, die matt im Morgen brannten und ihre Bedeutung verloren hatten, wandte er sich der aufgehenden Sonne zu, die mit all ihrer Herrlichkeit am Himmel sich erhob.
So ehrfurchtgebietend, so überschwenglich in ihrer Schönheit, so göttlich erhaben! Wer kann sagen, ob eine matte Vorstellung von Tugend auf Erden und ihrem Lohn im Himmel nicht auch ihm sich vergegenwärtigte, als seine trüben Augen das ruhige Gestirn auftauchen sahen, auf das alles Unrecht und alle Bosheit, die es seit dem Beginn der Welt beleuchten mußte, keine Einwirkung zu üben vermochte? Wenn er je seines Bruders oder seiner Schwester sich mit einem Anflug von Liebe und Treue erinnerte, wer kann sagen, ob dies nicht damals der Fall war?
Und er bedurfte wohl einer solchen Rührung. Der Tod stand ihm zur Seite. Er trug das Zeichen des Abschieds von der lebenden Welt an seiner Stirn, und es ging mit ihm dem Grabe zu.
Er zahlte seine Fahrt nach dem Landstädtchen, nach dem er reisen wollte, und ging allein hin und her, die langen Schienenreihen durch das Tal hin in der einen und nach der nahen dunkeln Brücke in der andern Richtung betrachtend. Als er sich aber einmal am Ende des hölzernen Gerüstes, das für die Einsteigenden bestimmt war, umwandte, sah er plötzlich den Mann, vor dem er geflohen, in der Tür auftauchen, durch die er selbst eingetreten war. Ihre Augen begegneten sich.
In der hastigen Unsicherheit der Überraschung wankte er und glitt in den Weg hinunter. Er raffte sich jedoch schnell wieder auf, trat ein paar Schritte zurück, um einen größeren Raum zwischen sich und seinen Feind zu bringen, und faßte mit beengten Atemzügen den Verfolger ins Auge.
Er hörte einen Schrei – noch einen – sah das Gesicht, in dem rachsüchtige Leidenschaft sich ausdrückte, wie im Schrecken erblassen – fühlte die Erde zittern – wußte im Augenblick, daß das Rauschen herankam, stieß einen Schrei aus – blickte umher – sah die roten Augen, die im Licht des Tages sich trüb und blind ausnahmen, dicht in der Nähe – wurde niedergeschlagen, aufgefangen und auf die Flügel eines sausenden Rades geworfen, das ihn im Kreise drehte, ihm Glied für Glied zerschlug, den Strom seines Lebens mit seiner wilden Glut aufleckte und die verstümmelten Trümmer in die Luft schleuderte.
Nachdem der Reisende, der von ihm erkannt worden war, sich von einer Ohnmacht erholt hatte, sah er, daß man aus der Entfernung etwas Bedecktes herbrachte, das schwer und still zwischen vier Männern auf einem Brette lag. Andere jagten einige Hunde zurück, die auf dem Wege schnupperten, und streuten Asche auf das Blut.
Sechsundfünfzigstes Kapitel. MEHRERE PERSONEN ENTZÜCKT UND DER PREISHAHN ENTRÜSTET.
Der Midshipman war voll Leben. Mr. Toots und Susanna hatten sich endlich eingestellt. Susanna war sogleich wie eine Verrückte die Treppe hinaufgeeilt, während Mr. Toots und der Preishahn in dem Hinterstübchen zurückblieben.
»O meine herzige, liebe, süße Miß Floy!« rief die Nipper, in Florences Zimmer stürzend, »zu denken, daß es so weit kommen sollte und ich Euch hier finden muß, mein Herz, ohne daß Ihr jemanden habt, Euch zu bedienen, und keine Heimat, die Ihr die Eure nennen könnt. Aber nie will ich wieder fortgehen, Miß Floy; denn wenn ich auch vielleicht kein Moos ansetze, bin ich doch kein rollender Stein, und auch mein Herz ist nicht von Stein, sonst würde e« nicht brechen, wie es mir jetzt bricht, ach, ach!«
Diese Worte sprudelten ohne Pause unaufhörlich heraus, während Miß Nipper neben ihrer Gebieterin auf den Knien lag und sie mit ihren Armen umschlungen hielt.
»O meine Liebe!« rief Susanna, »ich weiß alles, was vorgegangen ist, ich weiß alles, mein Herz, und es hat mich aufs tiefste erschüttert.«
»Susanna, meine liebe, gute Susanna!« sagte Florence.
»O Gott behüte sie! Ich bin ihre junge Wärterin gewesen, als sie ein ganz kleines Kind war, und nun will sie wirklich und wahrhaftig heiraten!« rief Susanna in einem Ausbruch von Schmerz und Freude, von Stolz und Kummer, und der Himmel weiß, von wie vielen andern widerstreitenden Gefühlen.
»Wer hat dir das gesagt?« fragte Florence.
»O du lieber Himmel, jenes unschuldigste von allen Geschöpfen, der Toots«, entgegnete Susanna schluchzend. »Ich habe sogleich gewußt, daß er recht haben müsse, meine Liebe, weil er es sich so zu Herzen nahm; er ist das aufopferndste und unschuldigste Kind! Und es ist wirklich und wahrhaftig so, mein Herz«, fuhr Susanna mit einer abermaligen Umarmung und einem neuen Tränenguß fort, »daß Ihr heiraten wollt?«
Die Mischung von Teilnahme, Freude, Zärtlichkeit, Hineinreden und Bedauern, womit die Nipper stets wieder auf diesen Gegenstand zurückkam und dabei jedesmal ihren Kopf erhob, um ihre junge Gebieterin anzusehen und zu küssen, dann aber ihn unter schluchzenden Liebkosungen wieder auf ihre Schulter sinken ließ – war so weiblich und in seiner Art so innig, wie man nur je etwas Ähnliches auf der Welt sehen kann.
»So, so«, sagte darauf Florence mit beschwichtigender Stimme. »Jetzt bist du wieder ganz die Alte, meine liebe Susanna.«
Miß Nipper, die sich zu den Füßen ihrer Gebieterin auf den Boden gesetzt hatte, lachte, schluchzte, hielt mit der einen Hand ihr Tuch vor die Augen, während sie mit der andern Diogenes streichelte, der ihr Gesicht leckte, erklärte, daß sie gefaßter sei, und lieferte den Beweis dafür, indem sie noch ein bißchen mehr lachte und weinte.
»Ich – ich – ich habe nie einen solchen Menschen gesehen wie diesen Toots«, sagte Susanna, »nie in allen meinen Lebenstagen.«
»Er ist so freundlich«, bemerkte Florence.
»Und so unterhaltsam«, schluchzte Susanna. »Die Art, wie er im Wagen mit mir fortschwatzte, während dieser respektswidrige Preishahn auf dem Bock saß.«
»Wovon, Susanna?« fragte Florence schüchtern.
»O, von Leutnant Walter und Kapitän Gills und von Euch, liebe Miß Floy, und dem stillen Grab«, sagte Susanna.
»Vom stillen Grab!« wiederholte Florence.
»Er sagt« – Susanna brach jetzt in ungestümes hysterisches Lachen aus – »er wolle jetzt gleich und ganz gemächlich hineinsteigen. Aber Gott behüte Euer Herz, meine liebe Miß Floy, er läßt es wohl bleiben: denn er ist viel zu glücklich, andere Leute glücklich zu sehen; er ist zwar vielleicht kein Salomo«, fuhr die Nipper mit ihrer gewöhnlichen Zungengeläufigkeit fort, »und ich will ihm dieses auch nicht nachsagen; aber so viel behaupte ich von ihm, daß ich nie ein weniger selbstsüchtiges menschliches Wesen kennengelernt habe.«
Miß Nipper lachte nach dieser kräftigen Erklärung über die Maßen und teilte Florence dann mit, besagter junger Mann warte unten, um sie zu sehen. Das werde ihm ein reicher Lohn für die Mühe sein, die er bei dem letzten Ausflug gehabt habe.
Florence trug Susanna auf, Mr. Toots zu bitten, er möchte ihr das Vergnügen gönnen, ihm für sein Wohlwollen danken zu dürfen. Einige Augenblicke später führte Susanna den jungen Menschen herein, der noch immer sehr zerzaust war und mehr als je stotterte.
»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, »daß es mir wieder gestattet ist, Euch – Euch – zu sehen – nein, nicht zu sehen, sondern – ich weiß wahrhaftig nicht, was ich sagen wollte, aber es ist von keinem Belang.«
»Ich muß Euch so oft danken«, entgegnete Florence, ihm ihre beiden Hände reichend, während ihr Gesicht von dem Gefühl der Anerkennung leuchtete, »daß ich keine Worte dafür finde und nicht weiß, wie ich es tun soll.«
»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots mit schauerlicher Stimme, »wenn es möglich wäre, wenn es sich mit Eurem engelgleichen Wesen vertrüge, daß Ihr mich verwünschtet, so würdet Ihr mich unendlich weniger – wenn ich mich so ausdrücken darf – bedrücken, als durch diese unverdienten Freundlichkeitsäußerungen. Ihre Wirkung auf mich – ist – aber«, setzte Mr. Toots abgebrochen bei, »ich schweife ab, und es ist von durchaus keinem Belang.«
Da hierauf nicht wohl etwas zu entgegnen war, so dankte ihm Florence wieder und wieder.
»Wenn es mir erlaubt wäre, Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, »so möchte ich wohl diese Gelegenheit ergreifen, um ein Wort der Erklärung anzubringen. Es wäre mir wohl lieb gewesen, wenn ich hätte das Vergnügen haben können, mit – mit Susanna früher zurückzukehren. Aber erstens kannten wir den Namen des Verwandten nicht, nach dessen Haus sie sich begeben hatte, und da sie zweitens sich nicht mehr bei diesem Verwandten aufhielt, sondern zu einem andern in größerer Entfernung gezogen war, so glaube ich, daß kaum etwas anderes, als der Scharfsinn des Preishahn sie in dieser Zeit aufzufinden vermocht haben würde.«
Florence war davon überzeugt.
»Das ist es jedoch nicht, was ich meine«, sagte Mr. Toots. »Ich versichere Euch, Miß Dombey, in meinem Gemütszustand ist mir die Gesellschaft Susannas ein Trost und eine Beruhigung gewesen, die sich leichter denken als beschreiben lassen. Die Reise trug ihren Lohn in sich. Doch dies ist es auch nicht, was ich sagen wollte. Miß Dombey, ich habe schon früher bemerkt, daß ich wisse, ich sei durchaus nicht, was man einen schnell fassenden Menschen zu nennen pflegt. Ich weiß dies vollkommen. Ich glaube nicht, daß jemand besser – wenn es nicht etwa ein allzu starker Ausdruck ist – die Dicke seines Kopfes kennt als ich. Gleichwohl aber, Miß Dombey, begreife ich den Stand – der Dinge – mit Leutnant Walter. Wie peinlich mir dieser Stand der Dinge auch sein mag (es ist natürlich von durchaus keinem Belang), so halte ich es doch für meine Pflicht zu sagen, daß Leutnant Walter ein Mensch ist, der würdig zu sein scheint des Segens, der auf sein – seine Stirne heruntergefallen ist. Möge er sich lang seines Glückes erfreuen und es so schätzen, wie ein ganz anderes – ein sehr unwürdiges Individuum, dessen Name von keinem Belang ist, es geschätzt haben würde! Aber das ist übrigens noch immer nicht, was ich meine. Miß Dombey, Kapitän Gills ist mein Freund, und während der Zeit, die nun abläuft, würde es, glaube ich, Kapitän Gills Freude machen, wenn ich hin und wieder hier vorkomme. Auch mich würde es freuen, zu erscheinen. Aber ich kann nicht vergessen, daß ich mir einmal an der Ecke des Squares zu Brighton eine schändliche Blöße gegeben habe, und wenn meine Gegenwart Euch nur im mindesten unangenehm sein sollte, so möchte ich Euch bitten, dies mir jetzt einfach zu sagen. Ich versichere Euch, daß ich Euch vollkommen verstehen und es durchaus nicht für Unfreundlichkeit ansehen werde; denn ich finde stets nur ein Glück und eine Freude darin, wenn ich mit Eurem Vertrauen beehrt werde.«
»Mr. Toots«, entgegnete Florence, »wenn Ihr, der Ihr ein so alter und treuer Freund seid, jetzt von diesem Hause wegbleiben wolltet, so würdet Ihr mich sehr unglücklich machen. Es kann mir stets nur ein frohes Gefühl bereiten, wenn ich Euch sehe.«
»Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, sein Taschentuch herausziehend, »wenn ich eine Träne vergieße, so ist es eine Träne der Freude. Es ist übrigens von keinem Belang, und ich bin Euch sehr verbunden. Nach Eurer so freundlichen Versicherung möge mir die Bemerkung erlaubt sein, daß es nicht in meiner Absicht liegt, meine Person länger zu vernachlässigen.«
Florence nahm diese Andeutung mit einem allerliebsten Ausdruck von Verwirrung auf.
»Ich meine damit«, fuhr Mr. Toots fort, »daß ich es als Nebenmensch im allgemeinen für meine Pflicht halten werde, das Beste aus mir zu machen, bis mich das stille Grab abruft, und daß – daß ich meine Stiefel so schön gewichst tragen will, wie – wie es die Umstände gestatten. Dies ist das letztemal, Miß Dombey, daß ich mich mit irgendeiner Privat- und persönlichen Bemerkung aufdränge. Ich danke Euch in der Tat recht sehr. Wenn ich im allgemeinen nicht so gescheit bin, wie meine Freunde mich wünschen könnten oder wie ich auch mich selbst wünschen möchte, so kann ich Euch doch bei meinem Ehrenwort die Versicherung geben, daß ich recht wohl weiß, was die Rücksicht und die Nächstenliebe fordert. Es ist mir«, fügte er in leidenschaftlichem Ton hinzu, »als könnte ich gerade im gegenwärtigen Augenblick in höchst merkwürdiger Weise meine Gefühle ausdrücken, wenn – wenn – ich nur imstande wäre, einen Anfang zu finden.«
Damit wollte es nun freilich nicht gehen, und nachdem Mr. Toots einige Minuten gewartet hatte, ob es nicht doch noch kommen wolle, verabschiedete er sich rasch und begab sich die Treppe hinunter, um den Kapitän aufzusuchen, den er in dem Laden fand.
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »was jetzt zwischen uns stattfinden wird, soll unter dem heiligen Siegel des Vertrauens geschehen. Es ist eine Folge von dem, Kapitän Gills, was eben droben zwischen mir und Miß Dombey vorgegangen ist.«
»Unten und oben, he, mein Junge?« murmelte der Kapitän.
»Jawohl, Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, dessen Bejahungseifer sehr durch den Umstand erhöht wurde, weil er des Kapitäns Meinung nicht verstand. »Ich glaube, Kapitän Gills, Miß Dombey wird in Bälde mit Leutnant Walter vereinigt werden?«
»Nun ja, mein Junge. Wir sind alle hier Schiffskameraden. Wal'r und das Schätzchen werden sich im Hause des Bundes zusammentun, sobald das Aufgebot vorüber ist«, flüsterte ihm Kapitän Cuttle ins Ohr.
»Das Aufgebot, Kapitän Gills?« wiederholte Mr. Toots. »In der Kirche da unten«, sagte der Kapitän, mit dem Daumen über die Schulter deutend.
»O! ja!« entgegnete Mr. Toots.
»Und dann«, fuhr der Kapitän in heiserem Flüstern fort, während er Mr. Toots mit dem Rücken seiner Hand auf die Brust klopfte und dann mit einem Blicke ungemeiner Bewunderung zurücktrat, »was folgt darauf? Daß das hübsche Geschöpf, das so zart aufgezogen wurde, wie ein ausländischer Vogel, auf die brausende See geht, um mit Wal'r eine Reise nach China zu machen.«
»O Gott, Kapitän Gills!« rief Mr. Toots.
»Ja!« nickte der Kapitän. »Das Schiff, das ihn aufnahm, als er in dem Orkan verunglückte und so weit von seinem Kurs abgetrieben wurde, war ein Chinafahrer, und Wal'r machte die Reise mit. Da er ein so schmucker und guter Junge ist, wie nur je einer an Bord gesetzt wurde, so kam er bald am Land sowohl als bei seinen Kameraden in Gunst, und als der Oberaufseher zu Kanton starb, trat er, nachdem er zuvor den Dienst des Schreibers versehen hatte, in dessen Stelle ein. Jetzt ist er Oberaufseher am Bord eines andern Schiffes, das den nämlichen Reedern gehört. Und so, seht Ihr«, wiederholte der Kapitän gedankenvoll, »geht jetzt das hübsche Geschöpf mit Wal'r auf die wogende See, um eine Reise nach China zu machen.«
Mr. Toots und Kapitän Cuttle stießen im Einklang einen tiefen Seufzer aus.
»Nun, was liegt daran?« sagte der Kapitän. »Sie liebt ihn treu und er sie gleichfalls. Diejenigen, die sie hätten lieben und für sie sorgen sollen, behandelten sie wie Tiere und gaben sie dem Untergang preis. Als sie, von der Heimat verstoßen, zu mir herkam und auf diese Planken trat, wollte ihr das verwundete Herz brechen. Ich weiß es! Ich, Ed'ard Cuttle, habe es gesehen. Nichts als treue, innige, beständige Liebe konnte es wiederherstellen. Wenn ich dies nicht wüßte, und wenn ich nicht wüßte, daß Wal'r sie aus tiefster Seele liebt, Bruder, und sie ihn in gleicher Weise, so würde ich mir lieber diese blauen Arme und Beine da abhacken lassen, ehe ich sie ziehen ließe. Aber ich weiß es, und was weiter? Je nun, ich sage eben, der Himmel sei mit ihnen beiden, und so wird es auch der Fall sein, Amen!«
»Kapitän Gills«, versetzte Mr. Toots, »erlaubt mir das Vergnügen, Euch die Hand zu drücken. Ihr habt eine Art an Euch, Dinge zu sagen, so daß mir eine angenehme Wärme über den ganzen Rücken hinaufkriecht. Auch ich sage Amen. Es ist Euch bekannt, Kapitän Gills, daß ich gleichfalls Miß Dombey angebetet habe.«
»Hellauf!« entgegnete der Kapitän, Mr. Toots seine Hand auf die Schulter legend. »Halt bei. Junge!«
»Es ist meine Absicht, Kapitän Gills«, erwiderte der begeisterte Mr. Toots, »beizuhalten, so gut es mir möglich ist. Wenn das stille Grab seinen Mund auftut, Kapitän Gills, so werde ich bereit sein für die Beerdigung: früher nicht. Da ich aber im Augenblick meiner Macht über mich selbst nicht ganz sicher bin, so besteht das, was ich Euch zu sagen wünsche und was Ihr vielleicht gegen Leutnant Walter zu erwähnen die Güte haben werdet, in folgendem –«
»In folgendem«, echote der Kapitän. »Losgelegt!«
»Miß Dombey war so unaussprechlich freundlich«, fuhr Mr. Toots mit tränenfeuchten Augen fort, »mich zu versichern, daß ihr meine Gegenwart nichts weniger als unangenehm sei. Da Ihr nun wie jedermann hier nicht weniger nachsichtig und duldsam gegen einen Menschen seid, –der freilich«, fügte er mit augenblicklicher Niedergeschlagenheit bei, »wie es den Anschein hat, durch einen Irrtum auf die Welt gekommen ist, so will ich während der kurzen Zeit, in der wir noch beisammen sein können, abends zu Besuch kommen. Meine Bitte besteht aber darin: wenn ich je vorübergehend finde, daß ich das Glück des Leutnants Walter nicht mehr mit ansehen kann und deshalb hinausstürze, so hoffe ich, Kapitän Gills, daß Ihr und er, ihr beide, nicht eine Schuld von meiner Seite oder einen Mangel an innerem Kampf, sondern nur mein Unglück darin sehen werdet. Sicherlich seid Ihr überzeugt, daß ich gegen kein lebendes Wesen einen Groll trage – am allerwenigsten aber gegen Leutnant Walter –, und Ihr könntet ja dann gelegentlich bemerken, ich sei hinausgegangen, um einen Spaziergang zu machen, oder sehe wahrscheinlich nach, wieviel Uhr es auf der königlichen Börse sei. Kapitän Gills, wenn Ihr Euch auf diese Übereinkunft einlassen und auch für Leutnant Walter Gewähr leisten könntet, so wäre das eine Erleichterung für meine Gefühle, die ich mit Aufopferung eines beträchtlichen Teils meines Eigentums für wohlfeil erkauft halten würde.«
»Mein Junge, sprecht nicht mehr davon«, erwiderte der Kapitän. »Jede Farbe, die Ihr aufziehen werdet, soll von Wal'r und mir Anerkennung und Beantwortung finden.«
»Kapitän Gills«, sagte Mr. Toots, »das Herz ist mir sehr erleichtert. Ich möchte mir die gute Meinung von allen hier bewahren. Ich – ich – meine es gut, auf Ehre, wie ungeschickt ich es auch herausbringen mag. Ihr wißt«, fügte er hinzu, »es ist geradeso wie wenn Burgeß und Co. einen Kunden mit einem ganz außerordentlichen Paar Beinkleidern zu erfreuen wünschten und nicht imstande wären, einen Zuschnitt zu machen, wie sie ihn im Sinne haben.«
Mit dieser sehr passenden Beleuchtung, auf die er ein wenig stolz zu sein schien, sagte er Kapitän Cuttle gute Nacht und entfernte sich.
Der ehrliche Kapitän war jetzt ein von Glück strahlender Mann, da er für die Herzensfreude in Susanna die geeignete Bedienung gefunden hatte. Während nun die Zeit entschwand, wurde sein Gesicht immer leuchtender und glücklicher. Nach einigen Besprechungen mit Susanna, vor deren Weisheit er eine tiefe Achtung hegte und deren tapferes Benehmen gegen Mrs. Mac Stinger er nie hatte vergessen können, machte er Florence den Vorschlag, daß die Tochter der älteren Dame, die gewöhnlich unter dem blauen Schirm auf dem Leadenhall Markt stand, aus Rücksichten der Klugheit und des Unentdecktbleibens ihrer jeweiligen häuslichen Verrichtungen durch eine Person enthoben werden solle, die ihnen nicht unbekannt wäre und der sie ohne Gefahr sich vertrauen könnten. Susanna, die dabei zugegen war, schlug auf einen Wink hin, den sie überdies zum voraus dem Kapitän zugeworfen, Mrs. Richards vor. Florences Antlitz heiterte sich auf bei Nennung dieses Namens, und Susanna, die noch am selben Nachmittag nach der Behausung der Toodle-Familie aufbrach, um Mrs. Richards zu holen, kehrte abends triumphierend mit derselben rosenwangigen, apfelgesichtigen Polly zurück, deren Freudenausbrüche, als sie Florence vorgeführt wurde, kaum weniger innig waren, als die der Susanne Nipper selbst.
Nachdem dieser Feldherrnzug ausgeführt war, von dem der Kapitän, wie überhaupt aus allem, was geschah, eine ungemeine Selbstbefriedigung ableitete, lag es Florence ob, Susanna auf die bevorstehende Trennung vorzubereiten. Dieses erschien eine viel schwierigere Aufgabe, da Miß Nipper ein entschlossener Charakter war und nicht anders glaubte, als sie sei zurückgekommen, um sich nie mehr von ihrer Gebieterin zu trennen.
»Was den Lohn betrifft, liebe Miß Florence, sagte sie, »so tut mir nur nicht weh damit, daß Ihr darauf hindeutet! denn ich habe Geld übrig und möchte in einer Zeit wie diese meine Liebe und meine Dienste nicht verkaufen, selbst wenn die Sparbank und ich nichts miteinander zu schaffen hätten und die Kasse heute noch bankerott würde. Ihr seid ja nie ohne mich gewesen, mein Herz, von der Zeit an, als Eure arme, liebe Mama abgerufen wurde, und obgleich ich mich mit nichts rühmen kann, so seid Ihr doch an mich gewöhnt und meine liebe Gebieterin durch so viele Jahre, Deshalb denkt ja nicht daran, irgendwohin zu gehen ohne mich. Denn das darf und kann nicht sein.«
»Liebe Susanna, ich habe eine lange, lange Reise vor.«
»Nun, Miß Floy, und was dann? Desto mehr werdet Ihr mich brauchen. Gott sei Dank, gegen lange Reisen habe ich durchaus nichts einzuwenden!« versetzte die hartnäckige Susanna Nipper.
»Aber, Susanna, ich gehe mit Walter – und würde mit ihm überall hingehen – überall hin! Walter ist arm, und ich bin sehr arm. Ich muß daher jetzt lernen, mir selbst und ihm zu helfen.«
»Teure Miß Floy!« rief Susanna, aufs neue losbrechend und heftig ihren Kopf schüttelnd, »es ist Euch nichts Neues, Euch zu helfen und andern dazu und dabei doch das geduldigste und treueste von allen edlen Herzen zu sein. Aber laßt mich mit Mr. Walter Gay reden und die Sache mit ihm ins reine bringen. Ich will und kann nämlich nicht zugeben, daß Ihr allein in der Welt herumfahrt.«
»Allein, Susanna?« erwiderte Floren«. »Allein, wenn Walter mich mitnimmt!« Ach, und was für ein strahlendes, entzücktes Lächeln lag nicht auf ihrem Antlitz! – wenn er es nur hätte sehen können! »Ich bin überzeugt, du wirst Walter nicht damit behelligen, wenn ich dich darum bitte«, fügte sie mit Innigkeit bei. »Nicht wahr, meine Liebe?«
Susanna schluchzte ein »Warum nicht, Miß Floy?«
»Weil ich im Begriff bin«, sagte Floren«, »seine Gattin zu werden, ihm mein ganzes Herz zu widmen und mit ihm zu leben und zu sterben. Wenn du ihm sagst, was du eben zu mir sagtest, so könnte er glauben, ich fürchte mich vor dem, was mir bevorsteht, oder du habest irgendeine Ursache, um mich besorgt zu sein. Susanne, ich liebe ihn.«
Miß Nipper war von der ruhigen Wärme dieser Worte, wie auch von dem einfachen, tiefgefühlten Ernst, der das Antlitz der Sprecherin schöner und reiner als je erscheinen ließ, so ergriffen, daß sie sich nur aufs neue an sie anklammern und rufen konnte, ob denn wirklich und wahrhaftig ihre kleine Gebieterin heiraten wolle. Dabei liebkoste sie diese mit mitleidiger, schutzversprechender Miene, wie sie es schon früher getan hatte.
Aber die Nipper war, obgleich weiblichen Schwächen zugänglich, fast ebenso fähig, sich selbst Zwang aufzulegen, wie die furchtbare Mrs. Mac Stinger anzugreifen. Von Stunde an kam sie nie wieder auf den angeregten Gegenstand zurück, sondern benahm sich immer heiter, behend, geschäftig und hoffnungsvoll. In der Tat aber teilte sie Mr. Toots insgeheim mit, daß sie sich nur vorderhand so »aufrecht« halte, denn wenn alles vorüber und Miß Dombey fort sei, so werde sie wahrscheinlich einen erbärmlichen Anblick bieten. Mr. Toots erwiderte darauf, bei ihm sei es der gleiche Fall, und sie wollten dann ihre Tränen gemeinschaftlich strömen lassen. Indessen hing sie ihren geheimen Gefühlen nie in Florences Anwesenheit oder überhaupt unter dem Banne des Midshipman nach.
So einfach und beschränkt auch Florences Garderobe war – welch ein Gegensatz zu den Vorbereitungen für die letzte Hochzeit, an der sie teilgenommen hatte! – gab es doch allerlei zu tun, um sie in gehörigen Stand zu setzen. Susanna arbeitete an ihrer Seite den ganzen Tag darauf los, als ob der Eifer von fünfzig Näherinnen sich in ihr vereinigt hätte. Die Aufzählung der wundervollen Beiträge, die Kapitän Cuttle zu diesem Zweig der Ausstattung geliefert haben würde, wenn man es ihm gestattet hätte, – z.B. der rosenroten Sonnenschirme, der farbigen Seidenstrümpfe, der blauen Schuhe und anderer ebensowenig an Bord nötiger Artikel – könnte schon einen ziemlichen Raum einnehmen. Er ließ sich jedoch durch unterschiedliche betrügerische Vorstellungen bewegen, seine Lieferungen auf ein Arbeitskästchen und ein Toiletten-Etui zu beschränken, die er in so großem Maßstabe, wie sie für Geld zu haben waren, beschaffte. Beinahe zwei Wochen lang saß er während des größeren Teils des Tages vor diesen Geschenken und betrachtete sie mit einer Mischung von Bewunderung und der kleinmütigen Besorgnis, sie möchten nicht prächtig genug sein. Auch huschte er häufig in die Straßen hinaus, um irgendeinen ungereimten Gegenstand, der ihm zu ihrer Vervollständigung nötig schien, anzukaufen. Der Meisterzug aber bestand darin, daß er beide Kästchen eines Morgens plötzlich forttrug, um auf jedem Deckel ein Messingherz anbringen und die zwei Worte »FLORENCE GAY« eingravieren zu lassen. Nachdem dieses geschehen, rauchte er in dem kleinen Stübchen vier Pfeifen hintereinander, und man traf ihn nach Ablauf ebenso vieler Stunden, wie er noch immer vor sich hinkicherte.
Walter war den ganzen Tag über fort und beschäftigt, kam aber jeden Morgen, um nach Florence zu sehen, und brachte stets die Abende in ihrer Gesellschaft zu. Florence verließ ihr Dachstübchen nur, wenn seine Zeit kam. Dann ging sie herab, ihn unten zu erwarten oder ihn, von seinem umschlingenden Arm geschirmt, wieder nach der Tür zu begleiten und bisweilen in die Straße hinauszusehen, Um die Zeit des Zwielichts waren sie stets beisammen. O gesegnete Zeit! O irres Herz, da« jetzt Ruhe gefunden! O tiefer, unerschöpflicher, mächtiger Born der Liebe, in dem so viel versenkt lag!
Das grausame Mal war noch immer auf ihrer Brust sichtbar. Es legte Zeugnis ab gegen ihren Vater mit jedem Atemzug und lag zwischen ihr und ihrem Geliebten, wenn er sie an sein Herz drückte. Doch sie hatte es vergessen, dachte nicht mehr daran. In dem Klopfen seines Herzens für sie und in dem Klopfen ihres eigenen für ihn blieben alle rauheren Töne ungehört, alle finsteren, lieblosen Herzen vergessen. Ungeachtet ihrer zarten Gestalt wohnte eine Macht der Liebe in ihr, die aus einem einzigen Bild eine Welt zu schaffen vermochte und auch wirklich schuf – eine Welt, nach der sie flüchten und darin Ruhe finden konnte.
Wie oft traten zur Zeit der Dämmerung, wann sein Arm sie so stolz und so zärtlich umschlang und sie bei der Erinnerung sich dichter an ihn anschmiegte, das große Haus und die alten Tage vor ihre Seele! Wie oft, wann sie des Abends gedachte, als sie nach jenem Zimmer hinunterging und dem unvergeßlichen Blick begegnete, richtete sie nicht ihre Augen zu denen auf, die mit so liebevoller Innigkeit für sie gewacht hatten: und sie weinte dann in dem glücklichen Bewußtsein, einen solchen Zufluchtsort gefunden zu haben. Unter diese Bilder mischte sich auch stets das des lieben toten Kindes. Wenn sie aber ihres Vaters gedachte, so kam sie nie über die Stunde hinaus, in der sie ihn schlafend gesehen und sein Gesicht geküßt hatte.
»Lieber Walter«, sagte Florence eines Tages, als es fast dunkel war, »weißt du auch, an was ich heute gedacht habe?«
»Wohl an den schnellen Flug der Zeit und wie bald wir auf der See sein werden, meine süße Florence?«
»Das meine ich nicht, Walter, obschon ich oft daran denke. Ich machte mir Gedanken, wie teuer ich für dich werde.«
»O, wie überschwenglich teuer, mein Herz! Auch ich denke bisweilen daran.«
»Du spottest, Walter. Ich weiß, daß du öfter daran denkst, als ich: aber ich meine die Kosten.«
»Die Kosten, meine Liebe?«
»In Geld. Alle die Vorbereitungen, die Susanna und mir so viel zu tun machen – ich habe nur sehr wenig selbst anschaffen können. Du warst zuvor schon arm – um wie viel ärmer mußt du nicht durch mich werden, Walter!«
»Und um wie viel reicher, Florence!«
Florence lachte und schüttelte den Kopf.
»Außerdem«, fuhr Walter fort, »wurde mir vor langer Zeit, – ehe ich auf die See ging – eine Börse zum Geschenk gemacht, meine Liebe, in der sich Geld befand.«
»Ach!« entgegnete Floren« mit einem wehmütigen Lächeln, »nur wenig – sehr wenig, Walter! Aber du mußt nicht glauben«, und sie legte ihre leichte Hand auf seine Schulter, während sie ihm ins Gesicht sah, »daß es mir leid tut, für dich eine solche Last zu sein. Nein, Liebster, ich freue mich darüber und bin glücklich. Ich wünsche nicht um eine ganze Welt, daß es anders wäre.«
»Und wahrlich auch ich nicht, Florence.«
»Ich glaube dir, Walter, aber du kannst es nie so fühlen, wie ich. Ich bin so stolz auf dich! Das Herz schwillt mir vor Entzücken bei dem Bewußtsein, daß die, die von dir sprechen, sagen müssen, du heiratest ein armes, verstoßenes Mädchen, das hier Schutz suchte, das keine andere Heimat, keine andern Freunde – mit einem Worte nichts, gar nichts hatte! O Walter, wäre ich in der Lage gewesen, die Millionen mitzubringen, so hätte ich um deinetwillen nicht so glücklich sein können, wie ich es bin!«
»Und du, teure Florence – bist du nichts?« entgegnete er.
»Nein, nichts, Walter. Nichts als dein Weib.« Die leichte Hand stahl sich um seinen Nacken und die Stimme kam näher – näher. »In mir ist gar nichts mehr, was nicht dein wäre. Ich habe keine Erdenhoffnung, die nicht dir gehörte – nichts Teures mehr, als dich.«
O, wohl hatte Mr. Toots an jenem Abend Ursache, die kleine Gesellschaft zu verlassen, zweimal hinauszugehen, um seine Uhr nach der auf der königlichen Börse zu richten, einmal sich plötzlich der Bestellung eines Bankiers zu erinnern, und einmal einen kleinen Spaziergang nach dem Aldgate-Brunnen und zurück zu machen.
Aber ehe er diese Ausflüge antrat, ja, sogar noch ehe er kam und bevor die Lichter hereingebracht wurden, sagte Walter:
»Liebe Florence, unser Schiff ist nahezu geladen und wird wahrscheinlich an dem Tage unserer Hochzeit den Strom hinabfahren. Wollen wir nicht an jenem Morgen nach Kent gehen und dort bleiben, bis wir uns im Laufe der Woche zu Gravesend an Bord begeben können?«
»Wie du willst, Walter. Ich werde mich überall glücklich fühlen, aber – –«
»Ja, mein Leben.«
»Du weißt«, sagte Florence, »wir werden keine Hochzeitsgesellschaft haben, und an unserem Anzug wird uns niemand von andern Leuten unterscheiden können. Da wir am nämlichen Tag aufbrechen, willst du nicht – willst du nicht mich an jenem Morgen irgendwohin bringen, Walter – ich meine früh, ehe wir zur Kirche gehen?«
Walter schien sie zu verstehen, wie dieses von einem so innig geliebten treuen Liebhaber zu erwarten war, und bekräftigte seine Zusage mit einem Kuß – mit mehr als einem vielleicht, ja sogar mit mehr als zweien, dreien, fünfen oder sechsen; und an jenem ernsten, ruhigen, friedlichen Abend fühlte sich Florence sehr glücklich.
Dann brachte Susanna Nipper die Lichter herein. Bald nachdem kam der Tee, der Kapitän und der unstete Mr. Toots, der, wie bereits erwähnt wurde, sehr häufig auf dem Zuge war und einen recht unruhigen Abend verbrachte. Das war jedoch nicht immer so; denn in der Regel lief es ganz gut ab, indem er unter Miß Nippers Beihilfe mit dem Kapitän ein Spiel zu machen pflegte und sich den Kopf mit Berechnung der Möglichkeiten dieses Spiels zerbrach – wie er fand, ein sehr wirksames Mittel, um sich gänzlich zu verwirren.
Bei solchen Gelegenheiten gab das Gesicht des Kapitäns ein Pröbchen des schönsten Ausdrucks von Berechnung und Erfolg, den man nur sehen konnte. Sein instinktartiges Zartgefühl und seine Galanterie gegen Florence belehrte ihn, daß es nicht Zeit sei für eine geräuschvolle Heiterkeit oder eine ungestüme Kundgebung von Freude. Gewisse flüchtige Erinnerungen an die liebliche Peg rangen andererseits beharrlich nach Luft und drängten den Kapitän, sich durch irgendeine nicht wieder gutzumachende Demonstration bloßzustellen. Ja, er wurde von dem Anblick Florences und Walters – wie lieblich nahmen sie sich nicht aus, wenn sie in der vollen Anmut ihrer Jugend, Schönheit und Liebe beiseite saßen – oft so hingerissen, daß er seine Karten niederlegte, ihnen leuchtende Blicke zuwarf und dabei seinen ganzen Kopf mit dem Taschentuch betupfte, bis ihn vielleicht ein plötzliches Fortstürzen des Mr. Toots daran erinnerte, daß er unbewußt ein Werkzeug geworden sei, um diesen jungen Mann elend zu machen. Diese Betrachtung versetzte ihn dann in eine melancholische Stimmung, bis der Flüchtling wieder zurückkehrte, worauf der Kapitän mit vielen Seitwärtswinken und höflichen Schwenkungen des Hakens gegen Miß Nipper, als wolle er ihr andeuten, daß er sich in Zukunft in acht nehmen werde, abermals nach den Karten griff. Der Zustand, der auf solche Vorgänge folgte, war vielleicht sein bester; denn er konnte dann, wenn er sich Mühe gab, sein Gesicht allen Ausdrucks zu entladen, in den Raum starren und alle seine Gefühle, die unter sich um den Vorrang kämpften, in einen einzigen Zug zusammendrängen. Stets aber behielt entzückte Bewunderung bei dem Anblick Florences und Walters die Oberhand und zeigte sich siegreich ohne Maske, wenn nicht etwa Mr. Toots abermals ins Freie hinausstürmte. Dann pflegte der Kapitän wie ein von seinem Gewissen geschlagener Schuldiger dazusitzen, bis der Verscheuchte wieder zurückkam. Dabei ermunterte er sich gelegentlich mit gedämpfter, vorwurfsvoller Stimme zum »Beihalten« oder brummte dem »Ed'ard Cuttle, mein Junge« einen Verweis über den Mangel an Vorsicht zu, der sich in seinem Betragen bemerkbar mache.
Eine der schwersten Prüfungen des Mr. Toots wurde übrigens von ihm selbst herbeigeführt. Beim Herannahen des Sonntags, an dem das letzte Aufgebot in der Kirche stattfinden sollte, drückte er gegen Susanna Nipper seine Gefühle folgendermaßen aus.
»Susanna«, sagte Mr. Tool«, »ich werde mit Gewalt nach dem Gebäude hingezogen, Ihr wißt, die Worte, die mich für immer von Miß Dombey trennen, werden in meinem Ohr wie Grabgeläute tönen, aber auf Ehre, ich fühle, daß ich sie hören muß. Wollt Ihr mich deshalb morgen nach dem heiligen Haus begleiten?«
Miß Nipper drückte ihre Bereitwilligkeit aus, wenn Mr. Toots einen Trost darin finde, redete ihm aber zu, er solle den Gedanken daran aufgeben.
»Susanna«, entgegnete Mr. Toots mit großer Feierlichkeit, »noch ehe mein Backenbart von irgend jemandem außer mir bemerkt wurde, betete ich Miß Dombey an. Ich betete sie an, als ich noch ein Opfer der Blimberschen Knechtschaft war. Ich betete sie an, als mir, vom gesetzlichen Standpunkt aus betrachtet, mein Eigentum nicht länger vorenthalten werden konnte und ich demgemäß in den Besitz desselben kam. Das Aufgebot, das sie dem Leutnant Walter und mich der – der ewigen Finsternis überantwortet«, sagte Mr. Toots nach einigem Stocken, bis er einen gehörig kräftigen Ausdruck gefunden hatte, »mag wohl schrecklich – ja, wird sogar schrecklich sein; aber ich fühle, daß ich es mit anhören muß. Mein Inneres drängt mich zu dem Wunsch, die feste Überzeugung einzuholen, daß der Grund unabänderlich unter mir gesprengt ist und daß mir keine Hoffnung, keine Stütze mehr bleibt, an der ich mich halten kann.«
Susanna Nipper konnte nur die unglückliche Lage des armen jungen Menschen bedauern und sagte ihm zu, daß sie unter solchen Umständen ihn auf seinem Kirchgang begleiten wolle, was auch am andern Morgen geschah.
Das Gotteshaus, das Walter für diesen Zweck gewählt hatte, war eine moderige, von einem Begräbnisplatz umgebene alte Kirche, die inmitten eines Labyrinths von Hintergassen und Höfen selbst in einer Art Gewölbe, von den benachbarten Häusern gebildet und mit hallenden Steinen gepflastert, begraben zu sein schien – eine große, düstere, ärmlich aussehende Gebäudemasse mit hohen, alten Eichenstühlen, unter denen sich jeden Sonntag ein paar Dutzend Menschen verloren, während die Stimme des Geistlichen schläfrig durch die Leere schallte und die Orgel rumpelte und rollte, als ob die Kirche bei dem Anblick einer so kleinen Gemeinde die Kolik gekriegt habe. Aber dafür war diese Stadtkirche so weit entfernt, die Gesellschaft anderer Kirchen zu vermissen, daß sich vielmehr Türmchen darum her gruppierten, wie die Masten einer Anzahl von Schiffen auf dem Flusse. Es waren ihrer so viele, daß man sie von der Spitze des Hauptturms aus kaum zu zählen vermochte. Fast in jedem Hof, in jeder nahe gelegenen Sackgasse befand sich eine Kirche, weshalb denn auch, als Susanna und Mr. Toots am Sonntagmorgen ihren Gang antraten, die Glocken einen geradezu betäubenden Lärm machten. Wohl zwanzig dicht beieinander stehende Kirchen forderten das Volk auf, hereinzukommen.
Die zwei in Frage stehenden verirrten Schäflein wurden von einem Kirchendiener in einen bequemen Stuhl eingepfercht. Da es noch früh war, so blieben sie eine Weile sitzen, zählten die Gemeinde ab, hörten auf die getäuschten Glocken hoch oben im Turm oder blickten nach einem schäbigen alten Männlein hin, das seitwärts vom Portale hinter einem Schirm, den Fuß in einem Bügel, das Seil in Tätigkeit setzte. Nachdem Mr. Toots die großen Bücher auf dem Lesepult gemustert hatte, flüsterte er Miß Nipper zu, er sei doch neugierig, wo das Aufgebot gehalten werde. Aber die junge Dame schüttelte bloß mit Stirnrunzeln den Kopf und wollte sich vorderhand aller zeitlichen Gedanken entschlagen.
Mr. Toots dagegen konnte die seinen nicht von dem Aufgebot abwenden und hatte augenscheinlich wahrend des ganzen einleitenden Teils des Gottesdienstes für nichts anderes einen Sinn. Als die Zeit der Verlesung herankam, begann der arme junge Mann zu zittern, und die Beängstigung seine« Herzens ward nicht gemindert durch das unerwartete Erscheinen des Kapitäns in der Vorderreihe der Emporkirche. Der Küster übergab dem Geistlichen eine Liste. Mr. Toots, der Platz genommen hatte, vermochte sich nicht von seinem Sitze zu erheben. Als aber die Namen Walter Gay und Florence Dombey zum dritten und letzten Male verkündigt wurden, fühlte er sich so angegriffen, daß er ohne Hut aus der Kirche stürzte, hintendrein der Kirchendiener, die Stuhlöffnerin und zwei Herren ärztlichen Standes, die zufälligerweise anwesend waren. Der Kirchendiener kam bald wieder zurück, um das im Stich gelassene Eigentum zu holen, und machte Miß Nipper flüsternd die Mitteilung, sie brauche sich wegen des Gentleman nicht zu beunruhigen, da derselbe gesagt habe, sein Übelbefinden sei von keinem Belang.
Miß Nipper, die fühlte, daß die Augen jenes wesentlichen Bestandteils von Europa, der sich wöchentlich unter den hohen Kirchenstühlen verlor, auf ihr hafteten, würde schon durch diesen Vorfall, obwohl er bereits sein Ende erreicht hatte, hinreichend in Verlegenheit gesetzt worden sein. Das war aber um so mehr der Fall, als der Kapitän in der vorderen Reihe der Emporkirche so deutlich sein Schuldbewußtsein an den Tag legte, daß die Gemeinde notwendig irgendeinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Ganzen argwöhnen mußte. Jedoch die außerordentliche Unruhe des Mr. Toots erhöhte und verlängerte noch das Verfängliche ihrer Lage. Dieser junge Herr nämlich, der bei seiner Gemütsverfassung nicht imstande war, als Raub seiner trostlosen Betrachtungen allein auf dem Kirchhof zu bleiben und ohne Zweifel auch seine Achtung vor dem Gottesdienst, den er einigermaßen unterbrochen hatte, kundgeben wollte, kehrte plötzlich wieder zurück, trat aber nicht wieder in den Kirchenstuhl ein, sondern nahm seinen Posten auf einem Freisitz des Ganges zwischen zwei älteren Frauen ein. Diese pflegten eine wöchentliche Brotration, die auf einem Sims des Portals ausgestellt war, in Empfang zu nehmen. In dieser Nachbarschaft verblieb Mr. Toots zur großen Störung der Gemeinde, die kein Auge von ihm ver- Zeile/n fehlen im Buch. Re werden konnte, bis seine Gefühle aufs neue übermächtig wurden und ihn zwangen, still und plötzlich wieder zu verschwinden. Da er sich jetzt nicht mehr in die Kirche hineinwagte, obschon er einigen geselligen Anteil an dem, was darin vorging, zu nehmen wünschte, so sah man ihn von Zeit zu Zeit mit betrübter Miene durch eines der Fenster hereinschauen. Von außen waren mehrere Fenster für ihn zugänglich, und bei der großen Unruhe des jungen Herrn wurde es nicht nur schwer, sich eine Vorstellung zu machen, wo er nun zunächst erscheinen würde, sondern die ganze Gemeinde sah sich in gleicher Weise genötigt, während der verhältnismäßigen Muße, die ihr durch die Predigt geboten wurde, über die Wahrscheinlichkeiten der verschiedenen Fenster Spekulationen anzustellen. Mr. Toots' Bewegungen in dem Kirchhof waren so exzentrisch, daß er in der Regel aller Berechnung Trotz zu bieten schien und wie die Gestalt des Beschwörers meist da auftauchte, wo man ihn am wenigsten erwartete. Die Wirkung dieser geheimnisvollen Erscheinungen war noch schlagender, weil er nicht gut ins Kirchenschiff hinunter-, jedermann aber recht gut ihn draußen sehen konnte. Dies hatte zur Folge, daß er jedesmal viel länger, als man wohl vermuten mochte, seine Nase dicht ans Fenster drückte, bis er, wenn er endlich die vielen auf ihm haftenden Augen bemerkte, mit einem Male verschwand.
Dieses Treiben des Mr. Toots und die sich so sichtlich kundgebenden Gewissensbisse des Kapitäns machten Miß Nippers Lage sehr peinlich, so daß sie erst beim Schlusse des Gottesdienstes wieder freier aufatmete. Auch war sie auf dem Rückwege gegen Mr. Toots kaum so freundlich wie sonst, als dieser ihr und dem Kapitän mitteilte, er wisse jetzt, daß er keine Hoffnung mehr habe, und fühle sich getrösteter – oder wenn auch nicht gerade getrösteter, so doch ruhiger in dem Übermaß seines Elends.
Die Zeit entschwand schnell, und der Abend vor dem Tag der Trauung kam heran. Alle waren im oberen Stübchen des Midshipman versammelt, ohne eine Störung zu besorgen; denn es gab für den Augenblick keine Mietleute im Hause, und der Midshipman konnte also allein wirtschaften. Der Hinblick auf den morgigen Tag stimmte sie ernst und ruhig, obschon auch die Heiterkeit ihrem Kreise nicht ferne blieb. Florence, an deren Seite sich Walter befand, vollendete eine kleine Arbeit, die sie dem Kapitän als Abschiedsgabe zurückzulassen gedachte. Der Kapitän machte mit Mr. Toots ein Spiel, und dieser ließ sich von Susanna beraten, die mit gebührender Umsicht bei dem Spiel mithalf. Diogenes hörte zu und brach gelegentlich in ein halb ersticktes Knurren aus, dessen er sich nachher halb zu schämen schien, als zweifle er, ob er irgendeinen Grund dafür gehabt habe.
»Ruhig, ruhig!« sagte der Kapitän zu Diogenes. »Was siehst du für Mäuse? Es scheint, als sei es diesen Abend nicht ganz richtig in deinem Kopf, Bürschlein.«
Diogenes wedelte mit dem Schwanze, spitzte aber unmittelbar darauf seine Ohren und stieß wieder ein kurzes Knurren aus, wofür er sich bei dem Kapitän mit einem abermaligen Wedeln entschuldigte.
»Ich bin der Meinung, Di«, sagte der Kapitän, während er gedankenvoll seine Karten ansah und mit dem Haken sich das Kinn streichelte – »es kommt mir vor, Di, als setzest du Mißtrauen in Mrs. Richards. Aber wenn du das Tier bist, für das ich dich halte, so wirst du dich eines Besseren besinnen, denn ihr Gesicht ist ihr Empfehlungsbrief. Na, Bruder«, fügte er gegen Mr. Toots bei, »wenn Ihr fertig seid, so schiebt los.«
Der Kapitän sprach mit aller Fassung und voller Aufmerksamkeit auf sein Spiel. Aber plötzlich entsanken seiner Hand die Karten, sein Mund und seine Augen taten sich weit auf, die Beine spreizten sich in die Luft, und in größtem Erstaunen starrte er nach der Tür hin. Dann sah er sich nach der Gesellschaft um, und als er wahrnahm, daß niemand auf ihn oder die Ursache seiner Überraschung achtete, so keuchte er tief auf, schlug mit Macht seinen Haken auf den Tisch, rief er mit Stentorstimme: »Sol Gills, ahoi!« und purzelte in die Ärmel eines vom Wetter schwer mitgenommenen Lotsenrockes, der mit Polly ins Zimmer gekommen war.
Im nächsten Augenblick war auch Walter von den Ärmeln des verwitterten Rocks umschlungen, und unmittelbar darauf ging ein Gleiches mit Florence vor. Kapitän Cuttle umarmte Mrs. Richards und Miß Nipper, drückte Mr. Toots ungestüm die Hand, schwenkte seinen Haken über dem Kopf und rief: »Hurra, mein Junge, hurra!« worauf Mr. Toots, der sich dieses Benehmen durchaus nicht zu erklären vermochte, mit größter Höflichkeit erwiderte: »Jawohl, Kapitän Gills, wenn Ihr es für passend haltet.«
Der verwitterte Lotsenrock und eine nicht weniger verwitterte Mütze samt dem dazu gehörigen Schal wandte sich von dem Kapitän und Florence wieder Walter zu. Aus dem Rock aber, der Mütze und dem Schal drangen Töne hervor, als ob ein alter Mann darunter schluchzte, während die rauhhaarigen Ärmel Walter dicht umfaßt hielten. Während dieser Pause herrschte ein tiefes Schweigen, und der Kapitän polierte mit großem Eifer seine Nase. Aber als der Lotsenrock, die Mütze und der Schal sich wieder erhoben, ging Florence auf sie zu, faßte sie unter Walters Beihilfe an und schälte so den alten Instrumentenmacher heraus, der jetzt ein wenig schmächtiger und sorgenschwerer aussah, als ehemals, aber immer noch die alte welsche Perücke und den alten kaffeefarbigen Rock mit den übersponnenen Knöpfen trug, wahrend die untrügliche Uhr laut in seiner Tasche tickte.
»Randvoll von Wissenschaft«, sagte der strahlende Kapitän, »wie er immer war! Sol Gills, Sol Gills, wo seid Ihr die lange, lange Zeit gewesen, alter Knabe?«
»Ich bin halb blind, Ned«, versetzte der alte Mann, »und fast taub und stumm vor Freude.«
»Auch seine Stimme«, sagte der Kapitän, mit einem Jubel umherschauend, dem sogar sein Gesicht kaum Gerechtigkeit widerfahren lassen konnte – »seine leibhaftige Stimme so randvoll von Wissenschaft, wie sie nur je war! Sol Gills, legt bei, mein Junge, auf Euren alten Rebstöcken und Feigenbäumen, Ihr zäher alter Patriarch, und überholt Eure Abenteuer mit Eurer väterlichen Stimme. Ja, es ist wahrhaftig die Stimme« – fügte der Kapitän nachdrücklich bei, indem er mit seinem Haken andeutete, daß ein Zitat folge– »des Siebenschläfers. Ich hörte ihn klagen: »Ihr habt mich zu bald geweckt, ich muß wieder schlummern.« Zerstreut seine Feinde und schlagt sie zurück!«
Der Kapitän setzte sich mit der Miene eines Mannes nieder, der glücklich die Gefühle jedes Anwesenden ausgedrückt hat, und erhob sich sogleich wieder, um Mr. Toots vorzustellen, der augenscheinlich sehr verwirrt über die Ankunft eines Mannes war, der den Namen Gills für sich in Anspruch nahm.
»Obgleich ich«, stammelte Mr. Toots, »nicht die Ehre Eurer Bekanntschaft habe, Sir, ehe Ihr – ehe Ihr –«
»Dem Gesicht entschwandet, aber doch der Erinnerung teuer«, ergänzte der Kapitän mit gedämpfter Stimme.
»Ganz richtig, Kapitän Gills!« pflichtete Mr. Toots bei. »Obschon ich nicht das Vergnügen Eurer Bekanntschaft hatte, Mr. – Mr. Sols«, sagte Toots, der in der Begeisterung einer glücklichen Idee auf diesen Namen traf, »ehe sich das alles zutrug, macht es mir doch die größte Freude, Euch kennenzulernen. Ich hoffe. Ihr seid so wohlauf, wie man es erwarten kann.«
Mit diesen höflichen Worten setzte sich Mr. Toots errötend nieder und kicherte.
Der alte Instrumentenmacher, der in einer Ecke zwischen Walter und Florence Platz gefunden hatte, nickte der vor Entzücken lächelnden Polly zu und antwortete dem Kapitän folgendermaßen:
»Ned Cuttle, mein lieber Junge, obgleich ich etwas über die Veränderungen hier von meiner angenehmen Freundin da erfahren habe, – es ist wahrhaftig ein so liebes Gesicht, wie nur je eines einen Wanderer willkommen heißen kann!« sagte der alte Mann plötzlich abbrechend und die Hände in seiner alten träumerischen Weise reibend.
»Hört ihr!« rief der Kapitän ernst, »Es ist das Weib, welches das ganze menschliche Geschlecht verführt. Überholt deshalb«, bemerkte er beiseite gegen Mr. Toots, »Eueren Adam und Eva, Bruder.«
»Ich werde es nicht versäumen, Kapitän Gills«, entgegnete Mr. Toots.
»Obgleich ich von ihr etwas über die Wechsel hier erfahren habe«, wiederholte der Instrumentenmacher, indem er seine Brille aus der Tasche langte und sie in der alten Weise auf die Stirne setzte, – »sie sind so groß und unerwartet, und ich bin so überwältigt von dem Anblick meines lieben Jungen und von dem –« da er Florences niedergeschlagene Augen erblickte, so versuchte er es nicht, den Satz zu beendigen – »daß ich heute nicht mehr viel sagen kann. Aber mein lieber Ned Cuttle, warum habt Ihr nicht geschrieben?«
Das Erstaunen, das sich in des Kapitäns Gesicht abmalte, erschreckte Mr. Toots dermaßen, daß er seine Blicke nicht mehr davon verwenden konnte.
»Geschrieben!« wiederholte der Kapitän. »Geschrieben, Sol Gills?«
»Ja«, sagte der alte Mann. »Entweder nach Barbados oder nach Jamaica oder nach Demerara. Dies war es, um was ich Euch bat.«
»Um was Ihr mich batet, Sol Gills?« entgegnete der Kapitän.
»Ja.«, versetzte der alte Mann. »Wißt Ihr es nicht, Ned? Sicherlich habt Ihr's doch nicht vergessen? Ich schrieb Euch das jedesmal.«
Der Kapitän nahm seinen Glanzhut ab, hängte ihn an seinen Haken und strich sich von hinten mit der Hand das Haar zurecht. Dabei starrte er die Gruppe um ihn her wie ein vollkommenes Bild ergebungsvollen Staunens an.
»Ihr scheint mich nicht zu verstehen, Ned!« bemerkte der alte Sol.
»Sol Gills«, erwiderte der Kapitän, nachdem er den alten Mann und die übrigen eine Weile lautlos gemustert hatte, »ich glaube, ich bin völlig triftig gekappt. Laßt ein paar Worte in betreff jener Abenteuer hören, wollt Ihr so gut sein? Kann ich denn nirgends aufkommen? Nirgends?« fügte der Kapitän grübelnd hinzu, während seine großen Augen noch immer umherrollten.
»Ihr wißt, Ned, warum ich von hier wegging«, sagte Sol Gills. »Habt Ihr mein Paket geöffnet?«
»Aber ja, ja«, antwortete der Kapitän. »Natürlich öffnete ich da« Paket.«
»Und habt es gelesen?« fragte der alte Mann.
»Ja, auch gelesen«, versetzte der Kapitän, ihn aufmerksam betrachtend und aus dem Gedächtnis zitierend: »›Mein lieber Ned Cuttle. Als ich London verließ, um nach Westindien zu reisen und Kunde über meinen lieben Jungen einzuholen‹ – da sitzt er! hier ist Walter!« rief der Kapitän, als fühle er sich erleichtert, daß er doch an etwas Wirkliches und Unbestreitbares Hand legen konnte.
»Gut, Ned. Hört mich jetzt einen Augenblick an«, sagte der alte Mann. »Als ich Euch das erstemal schrieb – es war von Barbados – sagte ich, obschon Ihr den Brief lange vor Ablauf des Jahres erhalten würdet, sei es mir doch lieb, wenn Ihr das Paket öffnetet, weil es Euch den Grund meiner Entfernung erkläre. Sehr gut, Ned. In meinem zweiten, dritten und vierten Schreiben – sie liefen von Jamaica aus – teilte ich Euch mit, ich sei noch immer in dem nämlichen Zustand, könne keine Ruhe finden und wolle diesen Teil der Welt nicht verlassen, ehe ich die Überzeugung gewonnen habe, daß mein Junge verloren oder gerettet sei. Als ich das nächste Mal schrieb – ich glaube, e« war von Demerara aus – ist es nicht so?«
»Er glaubt, er sei von Demerara aus gewesen!« entgegnete der Kapitän, mit trostloser Miene umherschauend.
»– sagte ich«, fuhr der alte Sol fort, »daß ich noch immer ohne bestimmte Auskunft sei. Ich habe in diesem Teil der Welt viele Kapitäne und andere Personen getroffen, die mir, weil sie mich von früher her kannten, hier und da mit einer Fahrt aushalfen, während ich mit Gegendiensten, wie sie mir mein Handwerk möglich machte, mich dankbar dafür erweisen konnte. Jedermann hat mich bedauert und einigermaßen an meinen Wanderungen Anteil genommen. Auch glaube ich, es werde wohl mein Schicksal sein, nach meinem Jungen in der Welt umherzukreuzen, bis ich sterbe.«
»Glaubt, es sei sein Schicksal, als wäre er ein wissenschaftlicher fliegender Holländer!« sprach der Kapitän mit der früheren Miene und großem Ernst.
»Aber als eines Tags die Kunde einlief, Ned – das war zu Barbados, wohin ich wieder zurückgekehrt war – daß ein heimwärts ziehender Chinafahrer angesprochen worden sei, der meinen Jungen an Nord hatte, Ned, so machte ich im nächsten Schiff eine Überfahrt und bin nun, Gott sei Dank, heute abend hier angekommen, um zu finden, daß die Nachricht keine Lüge war.«
Nachdem der Kapitän mit großer Ehrerbietung sein Haupt verbeugt hatte, starrte er alle Anwesenden, mit Mr. Toots anfangend und dem Instrumentenmacher endigend, der Reihe nach an und sagte dann ernst:
»Sol Gills, die Bemerkung, die ich zu machen im Begriff bin, ist darauf berechnet, jeden Stich Segel, den Ihr führen könnt, rein aus den Bolztauen zu blasen und Euch mit einem einzigen Stoß auf die Balkenenden zu bringen. Nicht ein einziger von Euren Briefen wurde Ed'ard Cuttle überliefert. Nicht ein einziger von Euren Briefen«, wiederholte der Kapitän, um seine Erklärung noch feierlicher und eindrucksvoller zu machen, »gelangte je an Ed'ard Cuttle, englischen Seemann, der da ruhig zu Hause lebt und nur bei schönem Wetter auszugehen pflegt.«
»Und doch habe ich sie selbst auf die Post besorgt und eigenhändig nach Brig-PIace Nummer g überschrieben!« rief der alte Sol.
Aus dem Gesicht des Kapitäns wich alle Farbe, um im nächsten Augenblick in voller Glut wieder zurückzukehren.
»Sol Gill«, mein Freund, was meint Ihr mit Brig-Place Nummer g?« fragte der Kapitän.
»Was ich damit meine? Eure Wohnung, Ned«, antwortete der alte Mann. »Mistreß, wie heißt sie doch – ich werde bald meinen eigenen Namen vergessen. Aber ich bin hinter meiner Zeit zurück – Ihr wißt, ich war es stets – und es ist so wirr in meinem Kopf. Mistreß –«
»Sol Gills!« sagte der Kapitän, als lege er den unwahrscheinlichsten Fall von der Welt vor, »der Name, auf den Ihr Euch besinnt, ist doch nicht Mac Stinger?«
»Natürlich!« rief der Instrumentenmacher. »Welcher sonst? Mistreß Mac Stinger!«
Kapitän Cuttle, dessen Augen nun so weit wie möglich offen standen und dessen Gesichtsausbuchtungen eigentlich glühten, stieß ein schrilles, melancholisches Pfeifen aus und betrachtete seine Umgebung in sprachlosem Erstaunen.
»Wiederholt das noch einmal, Sol Gills, wollt Ihr so gut sein?« sagte er endlich.
»Alle diese Briefe«, entgegnete Onkel Sol, indem der Zeigefinger seiner rechten Hand auf der Fläche der linken mit einer Stetigkeit und Bestimmtheit den Takt schlug, die sogar der untrüglichen Uhr in seiner Tasche Ehre gemacht haben würden, »trug ich selbst auf die Post und überschrieb sie eigenhändig an Kapitän Cuttle bei Mistreß Mac Stinger. Brig-Place, Nummer g.«
Der Kapitän nahm den Glanzhut von seinem Haken, guckte hinein, setzte ihn auf und ließ sich auf einen Stuhl nieder.
»Ach, meine Freunde«, sagte der Kapitän, im Zustand größter Niedergeschlagenheit umherstarrend, »ich bin von dort ausgerissen und davongelaufen.«
»Und niemand wußte, wohin Ihr gegangen waret, Kapitän Cuttle?« rief Walter hastig.
»Gott segne Euer Herz, Wal'r«, sagte der Kapitän, den Kopf schüttelnd, »sie würde mir nie gestattet haben, hierher zu kommen und dieses Eigentum da in meine Obhut zu nehmen. Es blieb mir keine andere Wahl, als auszureißen und davonzulaufen. Ja, Wal'r«, fügte er bei, »Ihr habt sie nur in ihrer Ruhe gesehen; aber betrachtet sie einmal, wenn ihre zornigen Leidenschaften sich erheben – und biegt ein Ohr ein!«
» Ich wollte ihr's geben!« bemerkte die Nipper gelassen.
»Glaubt Ihr, daß Ihr es könntet, meine Liebe?« entgegnete der Kapitän mit einem Anflug von Bewunderung. »Na, das macht Euch Ehre, mein Schatz. Aber was mich betrifft, so wollte ich mich lieber mit dem wildesten Tier einlassen. Es gelang mir nur durch Vermittlung eines Freundes, der nicht seinesgleichen hat, meine Truhe hierher zu bekommen. Ein schlimmer Einfall, Briefe dorthin zu senden: denn unter den obwaltenden Umständen hat sie gewiß keinen angenommen. Ihr habt es da in einer Weise gehalten, daß es nicht der Mühe wert war, ein Briefträger zu sein.«
»Es ist also klar, Kapitän Cuttle«, sagte Walter, »daß wir alle, namentlich aber Ihr und Onkel Sol, dieser Mistreß Mac Stinger viele Sorge zu danken haben.«
Das Gefühl einer derartigen Verpflichtung gegen die entschiedene Hinterbliebene des seligen Mac Stinger drückte sich so allgemein aus, daß der Kapitän keinen Widerspruch dagegen einzulegen geneigt war. Obschon übrigens niemand bei dem Gegenstand verweilte und namentlich Walter, der sich des Gesprächs darüber noch erinnerte, ihn absichtlich umging, so blieb doch der Kapitän beinahe fünf Minuten – für ihn eine außerordentliche Zeit – unter einer Wolke. Dann aber brach die Sonne wieder auf seinem Gesicht hervor und leuchtete allen Anwesenden mit außerordentlichem Glänze zu. Auch geriet er jetzt in eine eigentliche Wut, männiglich wieder und wieder die Hand zu schütteln.
In einer frühen Stunde, aber nicht ehe Onkel Sol und Walter sich gegenseitig über die Dauer und die Gefahren ihrer Reise ausgefragt hatten, räumten, mit Ausnahme Walters, alle Florences Zimmer und gingen nach dem Hinterstübchen hinunter. Dort schloß sich auch bald nachher Walter ihnen an, weil, wie er sagte, Florence sich ein wenig schwermütig fühle und zu Bette gegangen sei. Obschon sie die Ruhende von unten aus mit ihren Stimmen nicht stören konnten, sprachen sie jetzt doch insgesamt in Flüstertönen und drückten in so zarter Weise ihre Gefühle gegen Walters schöne junge Braut aus. Es folgte nun zur Belehrung des Onkel Sol ein ausführlicher Bericht über ihre Geschichte, und Mr. Toots hatte alle Ursache, die Zartheit anzuerkennen, mit der Walter seinem Namen und der Wichtigkeit seiner Dienstleistungen, desgleichen der Notwendigkeit, daß dieser junge Gentleman ihren Beratungen beiwohnte, Gerechtigkeit widerfahren ließ.
»Mr. Toots«, sagte Walter, als er sich von ihm an der Haustür verabschiedete, »wir werden doch morgen früh einander sehen?«
»Leutnant Walter«, versetzte Mr. Toots, seine Hand mit Wärme ergreifend, »ich werde bestimmt da sein.«
»Das ist für lange Zeit der letzte Abend, an dem wir beisammen saßen – vielleicht der letzte für immer«, sagte Walter. »Ein so edles Herz, wie das Eure, muß es wohl fühlen, wenn ihm ein anderes entgegenschlägt. Ich hoffe, Ihr wißt, daß ich Euch aus tiefster Seele dankbar bin?«
»Walter«, versetzte Mr. Toots gerührt, »es würde mich freuen, wenn ich glauben dürfte, ich habe Euch Anlaß dazu gegeben.«
»Florence«, fuhr Walter fort, »nahm mir an diesem letzten Abend, an dem sie ihren eigenen Namen trägt, das Versprechen ab – es geschah erst vor kurzem, als ihr uns gemeinschaftlich verließet – ich solle Euch herzlich von ihr grüßen –«
Mr. Toots legte seine Hand auf den Türpfosten und sein Gesicht auf die Hand.
»– Euch herzlich von ihr grüßen«, fuhr Walter fort, »und Euch sagen, daß sie nie einen Freund haben könne, den sie mehr schätzen werde als Euch. Die Erinnerung an Euer rücksichtsvolles Benehmen gegen sie werde nie aus ihrer Seele weichen. Sie wolle Eurer eingedenk sein in ihren heutigen Gebeten und hoffe, daß Ihr sie nicht vergessen werdet, wenn sie in der Ferne weilt. Kann ich ihr etwas von Euch mitteilen?«
»Sagt ihr, Walter«, versetzte Mr. Toots in ersticktem Tone, »ich werde jeden Tag an sie denken, aber nie ohne die beglückende Überzeugung, daß sie mit dem Mann verbunden sei, den sie liebt und der sie zu schätzen weiß. Habt die Güte, ihr zu sagen, ich sei überzeugt, ihr Gatte verdiene sie – sogar sie – und ich freue mich über ihre Wahl.«
Diese letzten Worte sprach er mit größerer Bestimmtheit, indem er zugleich die Augen von dem Türpfosten aufrichtete. Er drückte dann abermals Walter mit Wärme die Hand – eine Begrüßung, die dieser in gleicher Weise erwiderte – und trat den Heimweg an.
Mr. Toots war von dem Preishahn begleitet, den er in letzter Zeit jeden Abend mitgebracht und in dem Laden gelassen hatte, weil er dachte, es könnten von außen her unvorhergesehene Umstände eintreten, in denen die Tapferkeit dieses ausgezeichneten Mannes dem Midshipman von Nutzen sein dürfte. Der Preishahn schien übrigens an jenem Abend nicht in der besten Stimmung zu sein. Wenn die Gaslampen nicht sehr trügerisch waren, so blinzelte und verdrehte er in gar häßlicher Weise die Nase, als Mr. Toots über die Straße hinüberging und noch einmal nach dem Fenster hinaufsah, wo Florence schlief. Auf dem Heimweg zeigte er gegen die andern Vorübergehenden eine größere Angriffslust, als sich mit seinem Beruf, die friedliche Kunst der Selbstverteidigung zu lehren, vertrug, und nachdem er Mr. Toots nach seiner Wohnung begleitet hatte, entfernte er sich nicht wie gewöhnlich, sondern blieb, mit beiden Händen seinen weißen Hut am Rand haltend, stehen, während er zu gleicher Zeit Kopf und Nase, die ihm oftmal zerschlagen und nur schlecht wieder geheilt worden waren, in der respektwidrigsten Weise aufwarf.
Sein Beschützer, der mit andern Gedanken beschäftigt war, achtete lange nicht darauf, bis der Preishahn, der nicht übersehen werden wollte, mit Zunge und Zähnen verschiedene schnalzende Töne hervorbrachte, um die Aufmerksamkeit des jungen Gentleman auf sich zu ziehen.
»Na, Master«, sagte der Preishahn trotzig, als endlich Mr. Toots' Auge auf ihm haften blieb, »ich möchte einmal wissen, ob die Komödie damit endigen soll oder ob Ihr darauf loszugehen und zu gewinnen gedenkt?«
»Preishahn«, versetzte Mr. Toots, »erklärt Euch.«
»Ei ja, es ist alles beieinander, Master«, sagte der Preishahn. »Ich bin nicht der Mann, der seine Worte wegwirft. Nur soviel – soll einer von ihnen geknickt werden?«
Bei dieser Frage ließ der Preishahn seinen Hut fallen, machte mit seiner linken Hand eine Finte und versetzte mit der rechten einem vermeintlichen Feind einen tüchtigen Schlag. Dann schüttelte er den Kopf und nahm seine frühere Stellung wieder ein.
»Na, Master«, sagte der Preishahn, »soll's Lappalie oder Ernst sein, was von beiden?«
»Preishahn«, entgegnete Mr. Toots, »Eure Ausdrucksweise ist roh und der Sinn Eurer Worte dunkel.«
»Wohlan, so will ich Euch was sagen, Master«, erwiderte der Preishahn. »Rundweg – es ist gemein.«
»Was ist gemein, Preishahn?« fragte Mr. Toots.
» Dies«, versetzte der Preishahn mit einem schrecklichen Runzeln seiner zerbrochenen Nase. »Wie, jetzt, während Ihr hingehen und den Handel abschließen könnt mit dem Steifen«, mit dieser anrüchigen Benennung pflegte der Preishahn Mr. Dombey zu bezeichnen, »und während es Euch frei steht, den Gewinner und seine ganze Sippschaft tot aus Wind und Zeit zu schlagen, wollt Ihr nachgeben? Nachgeben!« fügte er mit verächtlichem Nachdruck bei. »Ja, es ist gemein.«
»Preishahn«, sagte Mr. Toots strenge, »Ihr seid ein wahrhaftiger Geier und habt eine abscheuliche Sinnesart.«
»Meine Sinnesart ist kampf- und regelrecht, Master«, entgegnete der Preishahn. »Ja, so ist meine Sinnesart. Ich kann keine Gemeinheit ertragen. Ich stehe vor dem Publikum, ich führe das Wort in der Schenkstube des kleinen Elefanten, und keiner meiner Prinzipale darf mir durch gemeines Benehmen Schande machen. Ja, 's ist gemein«, fügte er mit erhöhtem Nachdruck bei. »Ich nehme kein Wort davon zurück. Es ist gemein.«
»Preishahn«, sagte Mr. Toots, »jetzt habe ich genug von Euch.«
»Master«, entgegnete der Preishahn, seinen Hut aufsetzend, »wir sind unserer zwei. So hört! Ihr habt ein paarmal mit mir von einem Wirtsgeschäft gesprochen. Gleichviel! Gebt mir morgen eine Fünfzigpfundnote und laßt mich gehen.«
»Preishahn«, erwiderte Mr. Tools, »bei der abscheulichen Gesinnungsweise, die ich an Euch kennenlernen mußte, ist es mir lieb, unter solchen Bedingungen Euch loszuwerden.«
»Top!« rief der Preishahn. »Es gilt. Ein Benehmen, wie das Eure, paßt nicht zu meinem Buch, Master. Es ist gemein«, fügte er hinzu, da er augenscheinlich nicht über diesen Punkt wegkommen konnte. »Ja, dies ist es – gemein!«
So kamen Mr. Toots und der Preishahn miteinander überein, ihre Verbindung auf die Grundlage der Unverträglichkeit ihrer gegenseitigen moralischen Auffassungsweise hin abzubrechen. Mr. Toots legte sich schlafen und träumte glücklich von Florence, die am letzten Abend ihres jungfräulichen Lebens seiner als ihres Freundes gedacht und ihm herzliche Grüße gesagt hatte.
Siebenundfünfzigstes Kapitel. WIEDER EIN HOCHZEIT.
Mr. Sownds, der Kirchendiener, und Mrs. Miff, die Kirchenstuhlöffnerin, sind in der Kirche, wo Mr. Dombey getraut wurde, früh auf ihrem Posten. Ein gelbgesichtiger alter Gentleman aus Indien will sich heute morgen mit einem jungen Weibe verbinden, und es werden sechs Wagen voll Gesellschaft erwartet: auch weiß Mrs. Miff, daß der gelbgesichtige alte Gentleman den Weg nach der Kirche mit Diamanten pflastern lassen könnte, ohne es zu spüren. Die Feierlichkeit soll sehr vornehm gehalten werden, da ein sehr ehrwürdiger Dekan für die Einsegnung bestellt ist und die Dame als ein außerordentliches Geschenk von jemand vergeben wird, der zu diesem Zweck ausdrücklich von den Horse Guards herkommt.
Mrs. Miff ist heute morgen gegen das gemeine Volk noch intoleranter als sonst, obschon sie in dieser Beziehung, da sie mit Freisitzen in Verbindung steht, zu allen Zeiten sehr entschiedene Ansichten hegt. Sie hat sich mit dem Studium der Staatswirtschaft nicht abgegeben – sie meint, diese Wissenschaft beziehe sich auf »Dissenters, Baptisten, Wesleyaner oder dergleichen Volk«, sagt sie – kann aber nicht begreifen, wie gemeine Leute auch heiraten wollen. »Zum Henker mit ihnen«, sagt Mrs. Miff, »man muß das nämliche mit ihnen vornehmen und kriegt statt Goldstücke Sixpence.«
Mr. Sownds, der Kirchendiener, ist liberaler als Mrs. Miff – freilich aber auch kein Stuhlöffner. »Es muß geschehen, Ma'am«, sagt er. »Wir müssen sie zusammengeben. Wir brauchen Nationalschulen, denen wir vorangehen müssen, und brauchen stehende Heere. Wir müssen sie zusammengeben, Ma'am«, fährt Mr. Sownds fort, »und das Land im Gang halten.«
Mr. Sownds sitzt auf der Portaltreppe, und Mrs. Miff fegt eben die Kirche aus, als ein einfach gekleidetes junges Paar eintritt. Mrs. Miffs zerbeulter Hut wendet sich rasch zu ihnen hin, denn sie erkennt in diesem frühen Besuch Anzeichen einer Entführungshochzeit. Das Paar will übrigens nicht heiraten – »nur sich in der Kirche umsehen«, sagt der Gentleman. Und da er ein höfliches Kompliment in Mrs. Miffs Handfläche gleiten läßt, so wird ihr Essiggesicht milder, während der zerbeulte Hut und ihre schmächtige, dürre Gestalt rasselnd sich ducken.
Mrs. Miff nimmt ihr Abstäuben wieder auf und klopft auf die Polster los – denn der gelbgesichtige alte Gentleman soll sehr empfindliche Knie haben – folgt aber mit ihrem stuhlöffnenden Auge ohne Unterlaß dem jungen Paare, das in der Kirche umhergeht. »Ahem«, hustet Mrs. Miff, deren Husten noch trockener ist als die Binsen in den ihrer Obhut vertrauten Matten, »wenn ich mich nicht sehr täusche, meine Lieben, so werdet ihr eines schönen Morgens auch herkommen!«
Sie betrachteten eine Wandtafel, die zum Andenken eines Toten eingefügt wurde. Ihre Entfernung von Mrs. Miff ist groß, aber letztere kann mit einem halben Auge sehen, wie sie sich auf seinen Arm lehnt und wie er den Kopf zu ihr niederbeugt. »Na, na«, sagt Mrs. Miff, »ihr könnt etwas Schlimmeres tun, denn ihr seid ein nettes Pärchen!«
Es liegt nichts Persönliches in Mistreß Miffs Bemerkung, da sie nur von ihrem Gewerbsvorrat spricht. Paare haben für sie ebensoviel Interesse wie Särge. Sie ist eine so schmächtige, stracke, ausgetrocknete alte Dame – ein solcher Kirchenstuhl von einer Weibsperson, daß man ebensoviele individuelle Sympathien in einem Zimmerspan finden könnte. Mr. Sownds dagegen, der fleischig ist und Scharlach an seinem Rocke trägt, besitzt ein ganz anderes Temperament. Während er auf der Kirchentreppe dem sich entfernenden jungen Paare nachsieht, bemerkt er, sie habe eine recht hübsche Figur und, so viel er sehen kann (denn sie trug beim Herauskommen den Kopf gesenkt), ein ungewöhnlich nettes Gesicht. »Sie ist im ganzen Mrs. Miff«, sagt Mr. Sownds mit Wohlbehagen, »was ich eine Rosenknospe nennen möchte.«
Mrs. Miff stimmt mit einem dürren Nicken ihres zerbeulten Huts zu, ist aber von der Bemerkung so wenig erbaut, daß sie in ihrem Innern sich vornimmt, sie möchte um kein Gold, das er ihr geben könne, das Weib des Mr. Sownds werden, Kirchendiener hin, Kirchendiener her.
Und was sagt das junge Paar, als es die Kirche verläßt und zum Gittertor des Hofs hinausgeht?
»Ich danke dir, lieber Walter, ich kann jetzt glücklich von hier scheiden.«
»Und nach unserer Zurückkunft besuchen wir sein Grab wieder, Florence.«
Florence erhebt ihre von Tränen glänzenden Augen zu seinem freundlichen Gesicht und schlingt die freie Hand in die andere, die bescheiden in seinem Arm ruht.
»Es ist noch sehr früh, Walter, und die Straßen sind fast noch leer. Laß uns einen Spaziergang machen.«
»Aber du wirst müde werden, meine Liebe.«
»O nein! das erstemal, als wir zusammen gingen, war ich allerdings müde, aber heute wird es nicht der Fall sein.«
Und so gingen Florence und Walter – nicht viel verändert – sie so unschuldig und warmherzig, er aber so offen und hoffnungsvoll, nur noch stolzer auf sie – an ihrem Brautmorgen miteinander durch die Straßen.
Nicht einmal bei jenem kindlichen Gang vorzeiten waren sie so weit entfernt von der ganzen sie umgebenden Welt wie heute. Die kindlichen Füße betraten damals keinen so bezauberten Boden wie jetzt. Die vertrauensvolle Liebe von Kindern mag oftmals verschenkt werden und an vielen Orten aufsprießen: aber ein so weibliches Herz wie das von Florence mit seinem ungeteilten Schatz kann sich nur einmal geben und unter Geringschätzung oder Wechsel bloß hinwelken und sterben.
Sie wählten nur die ruhigsten Straßen und vermieden die Gegend, wo Florences alte Heimat steht. Es ist ein schöner, warmer Sommermorgen, und die Sonne trifft sie mit ihren Strahlen, während sie in den Dünsten, die sich über der Stadt herbreiten, weiter wandeln. Reichtümer enthüllen sich in den Läden: Gold, Silber und Edelsteine blitzen in den sonnigen Fenstern der Goldarbeiter, und große Häuser werfen einen vornehmen Schatten auf sie, während sie vorübergehen. Aber durch Licht und Schatten wandeln sie liebevoll miteinander, ohne auf ihre Umgebung zu achten: sie denken an keine stolzere Heimat, an keine andern Reichtümer, als die sie sich selbst gegenseitig bieten.
Allmählich kommen sie in die dunkleren, schmaleren Straßen, wo die Sonne, bald gelb, bald rot, nur an den Straßenecken und an kleinen offenen Plätzen durch den Nebel zu sehen ist: sie erhellt daselbst einen verkümmerten Baum, eine von den zahlreichen Kirchen, einen gepflasterten Weg und eine Treppenflucht, ein wunderliches Streiflein Garten oder einen Friedhof, wo die wenigen Gräber und Grabsteine fast schwarz aussehen. Liebend und vertrauensvoll geht Florence, sich an seinem Arme festhaltend, durch alle die engen Höfe, Gäßchen und schattigen Straßen, um seine Gattin zu werden.
Ihr Herz beginnt schneller zu schlagen, denn Walter sagt ihr, daß sie jetzt in der Nähe ihrer Kirche seien. Sie kommen an einigen großen Magazinen vorbei, wo Wagen vor den Türen stehen und geschäftige Fuhrleute den Weg versperren; aber Florence sieht und hört nichts von ihnen. Die Luft ist ruhig und das Licht des Tages gedämpft, als sie zitternd in eine Kirche tritt, die den dumpfigen Geruch eines Kellers verbreitet.
Das schäbige alte Männchen, das die hoffnungslose Glocke zu läuten pflegt, steht vor dem Portal. Sein Hut liegt in dem Taufstein, denn er ist der Totengräber, folglich hier ganz zu Hause. Er führt das Paar in eine von Alter gebräunte, getäfelte, staubige Sakristei, die wie ein Eckschrank mit herausgenommenen Simsbrettern aussieht. Die von Würmern zerfressenen Register riechen scharf nach altem Schnupftabak, so daß die tränenvolle Nipper niesen muß.
Wie schön und jugendlich sieht an dem staubigen alten Platz die junge Braut aus, der außer ihrem Gatten kein verwandtes Wesen zur Seite steht. Ein staubiger alter Küster ist da, der in einem gegenüberliegenden Bogengang hinter einem eigentlichen Bollwerk von Pfählen einen Laden unterhält und damit hinreichend beschäftigt zu sein glaubt. Ein staubiger alter Kirchendiener ist da (Kirchendiener und Stuhlöffnerin dieselben, denen am letzten Sonntag Mr. Toots zu schaffen machte), ein Mann im Dienste einer frommen Gesellschaft, die im nächsten Hof eine Halle mit einem farbigen Glasfenster hat, das noch nie einem Sterblichen zu Gesicht gekommen ist. Ferner sieht man hier ein- und ausspringende staubige Karniese, Holzleisten und Kränze über dem Altar, über der Schirmwand an der Empore herum, und über der Inschrift von dem, was der Gründer und die Direktoren der frommen Gesellschaft im Jahr tausendsechshundertvierundneunzig getan haben; desgleichen staubige alte Schalbretter über der Kanzel und dem Lesepult, die aussehen, als seien sie Deckel, um auf die funktionierenden Kirchendiener niedergelassen weiden zu können, im Falle sie ihrer Zuhörerschaft Anstoß geben. Kurz, einer bequemen Ablagerung von Staub ist überall die beste Gelegenheit geboten, nur im Kirchhofe nicht, der in dieser Beziehung nur sehr beschränkten Raum darbietet.
Der Kapitän, Onkel Sol und Mr. Toots sind angelangt. Der Geistliche zieht in der Sakristei seinen Kirchenrock an, während der Küster um ihn hergeht und den Staub abbläst; Braut und Bräutigam stehen vor dem Altare. Eine Brautjungfer fehlt, wenn man nicht etwa Susanna Nipper dafür gelten läßt, und in Ermangelung eines Besseren muß Kapitän Cuttle die Stelle des Vaters vertreten. Ein Mann mit einem hölzernen Beine, der an einem faulen Apfel nagt und einen blauen Sack in der Hand trägt, schaut herein, um zu sehen, was es gibt; da er aber nichts Unterhaltliches findet, so stelzt er wieder weiter und weckt draußen das Echo mit seinem Auftretens Man steht keinen freundlichen Lichtstrahl auf Florence fallen, die mit schüchtern gebeugtem Haupte vor dem Altare kniet. Der helle Morgen ist verbaut und scheint nicht herein. Draußen steht ein magerer Baum, auf dem die Sperlinge zirpen, und dem Fenster gegenüber sieht man in einem nadelöhrgroßen Sonnenblick an der Dachwohnung eines Färbers eine Amsel, die während des Gottesdienstes mit Macht ihre Kehle in Tätigkeit setzt; auch hört man das Holzbein weiterstelzen. Die Amen scheinen dem staubigen Küster wie dem Macbeth ein wenig in der Kehle stecken zu bleiben; aber Kapitän Cuttle leistet Aushilfe und tut dies mit so gutem Willen, daß er das Wort an drei ganz neuen Stellen anbringt, an denen man es nie zuvor während einer Trauung gehört hat.
Sie sind sich zur Ehe gegeben und haben ihre Namen in eines der alten Schnupftabak-Register eingezeichnet. Der Kirchenrock des Geistlichen ist wieder dem Staub überantwortet und der Geistliche nach Hause gegangen. In einer dunkeln Ecke der dunkeln Kirche hat Florence Susanna Nipper gefunden, und sie weint in ihren Armen. Die Augen des Mr. Toots sind rot. Der Kapitän poliert seine Nase. Onkel So! hat seine Brille von der Stirne nach den Augen niedergelassen und ist zur Tür hinausgegangen.
»Gott segne dich, Susanna, teuerste Susanna! Wenn du je Zeugnis geben kannst von der Liebe, die ich für Walter im Herzen trage, und von den Gründen, die mich zu dieser Liebe bewegen, so tue es um meinetwillen! Gott sei mit dir! Gott sei mit dir!«
Sie haben es für besser gehalten, nicht nach dem Midshipman zurückzugehen, sondern so zu scheiden. Eine Kutsche wartet auf sie in der Nähe.
Miß Nipper kann nicht sprechen, sondern nur schluchzen und würgen, und umarmt ihre Gebieterin. Mr. Toots tritt heran, bittet sie guten Muts zu sein, und nimmt sie in seine Obhut. Florence reicht ihm ihre Hand – bietet ihm in der Überfülle ihres Herzen die Lippen – küßt Onkel Sol und Kapitän Cuttle, und wird von ihrem jungen Gatten fortgezogen.
Aber Susanna kann es nicht ertragen, daß Florence mit einer traurigen Erinnerung an sie scheiden soll. Sie hat sich so ganz anders verhalten wollen, daß sie sich bittere Vorwürfe macht. In der Absicht, durch eine letzte Anstrengung die Ehre ihrer Standhaftigkeit zu retten, reißt sie sich von Mr. Toots los und eilt fort, um die Kutsche zu suchen und noch ein Abschiedslächeln zur Schau zu stellen. Der Kapitän, der ihren Zweck ahnt, setzt ihr nach, denn er hält es gleichfalls für seine Pflicht, das Brautpaar womöglich mit einem Hurra zu entlassen. Onkel Sol und Mr. Toots bleiben miteinander zurück und warten vor der Kirche, bis sie wiederkehren.
Die Kutsche ist bereits abgefahren; aber die steile, schmale Straße muß irgendwo ein Hindernis bieten. Susanna gewinnt diese Überzeugung aus einem Stillstehen der Menschen in der Ferne. Kapitän Cuttle folgt der Berganfliegenden und schwenkt als allgemeines Signal, das vielleicht von der rechten Kutsche aufgefangen wird, seinen Glanzhut.
Susanna ist dem Kapitän weit voran und erreicht den Wagen. Sie schaut zum Fenster hinein, sieht Walter mit dem sanften Gesicht an seiner Seite, schlägt ihre Hände zusammen und ruft:
»Miß Floy, mein Herz, seht heraus! Wir alle sind jetzt so glücklich, meine Liebe. Nur noch ein Lebewohl, mein Kleinod – nur noch ein einziges!«
Wie es Susanna möglich wird, weiß sie nicht, aber sie erreicht das Fenster, küßt Florence und hat im Nu die Arme um ihren Hals geschlungen.
»Wir sind alle so – so glücklich jetzt, meine liebe Miß Floy!« sagt Susanna mit einem verdächtigen Drücken in ihrer Stimme. »Ihr werdet mir jetzt nicht zürnen – nicht wahr?«
»Zürnen, Susanna?«
»Nein, nein; ich wußte es ja. Ich sagte, Ihr würdet's nicht, mein Liebling!« ruft Susanna. »Und da ist auch der Kapitän – Ihr wißt, Euer Freund, der Kapitän – um Euch noch einmal Lebewohl zu sagen.«
»Hurra, meine Herzensfreude!« brüllte der Kapitän mit sehr aufgeregtem Gesicht. »Hurra, Wal'r, mein Junge! Hurra! Hurra!«
Der junge Mann ist an dem einen Fenster, die junge Frau an dem andern; der Kapitän hängt rechts und Susanna links an dem Kutschenschlag; aber der Wagen muß vorwärts, mag er wollen oder nicht, da alle andern Karren und Kutschen wegen seines Zögerns aufrührerisch werden. Nie hat es eine solche Verwirrung auf vier Rädern gegeben. Aber Susanna Nipper führt standhaft ihr Vorhaben aus. Sie behauptet das lächelnde Gesicht bis auf den letzten Augenblick, während ihre Gebieterin gleichfalls durch ihre Tränen lächelt. Und sogar als sie schon zurückbleibt, fährt der Kapitän fort, mit dem Rufe: »Hurra, mein Junge! Hurra meine Herzensfreude!« vor dem Schlag aufzutauchen und zu verschwinden; sein Hemdkragen kommt dabei in sehr ungestüme Aufregung, bis er zuletzt die Hoffnungslosigkeit des Versuches, länger mit der Kutsche gleichen Schritt zu halten, einsieht. Zum Schlusse, nachdem der Wagen abgefahren ist, verfällt Susanna Nipper in einen Zustand der Bewußtlosigkeit, und der Kapitän muß sie in einen Bäckerladen führen, damit sie sich daselbst wieder erhole. Onkel Sol und Mr. Toots sitzen auf dem Schlußstein des Geländers und warten geduldig im Kirchhof, bis Kapitän Cuttle und Susanna zurückkommen. Obschon es ihnen durchaus nicht ums Sprechen oder Angeredetwerden zu tun ist, leisten sie sich doch trefflich Gesellschaft und sind vollkommen zufrieden. Wieder im kleinen Midshipman angelangt, setzen sich alle vier zum Frühstück nieder, aber niemand ist imstande, auch nur einen Bissen anzurühren. Kapitän Cuttle tut, als sei er ungeheuer gierig auf einige Röstschnitte, gibt es aber bald als einen Betrug wieder auf. Nachdem der Tisch wieder abgeräumt ist, verspricht Mr. Toots, am Abend wieder zurückzukommen, und wandert den ganzen Tag mit dem unbestimmten Gefühl in der Stadt umher, als sei er vierzehn Tage lang keines Bettes ansichtig geworden.
Es liegt ein eigentümlicher Zauber auf dem Hause und auf dem Stübchen, in dem sie zusammenzusitzen pflegten und das jetzt so viel verloren hat. Er erhöht und beschwichtigt zugleich den Schmerz des Abschieds. Mr. Tools teilt, als er abends zurückkommt, Susanna Nipper mit, er habe sich den ganzen Tag über nicht so elend gefühlt, und doch könne er sich von dem Stübchen nicht trennen. Da er mit ihr allein ist, so schenkt er ihr sein Vertrauen und erzählt ihr von seinen Gefühlen, als sie ihm so offen ihre Ansicht über die Unwahrscheinlichkeit mitteilte, daß Miß Dombey je ihn lieben werde. Das Vertrauen wird durch solche gemeinschaftliche Rückblicke und durch ihre Tränen erhöht, so daß Mr. Toots zuletzt seiner Gefährtin den Vorschlag macht, sie wollen miteinander ausgehen und Nachtessen kaufen. Miß Nipper gibt ihre Zustimmung, und sie schaffen allerlei Kleinigkeiten herbei, so daß unter Mithilfe von Mrs. Richards ein stattliches Souper aufgetragen werden kann, ehe der Kapitän und der alte Sol nach Hause kommen.
Der Kapitän und der alte Sol sind am Bord des Schiffes gewesen, um Diogenes dahin zu verpflanzen und die Ladung des Gepäcks zu überwachen. Sie wissen viel davon zu erzählen, wie beliebt Walter sei; er habe es ganz gemächlich und sei mit aller Ruhe früh und spät tätig, um seine Kajüte zu einem »Bildchen«, wie es der Kapitän nennt, zu machen und seine junge Frau damit zu überraschen. »Wohlverstanden«, sagt der Kapitän, »eine Admiralskajüte könnte nicht schmucker sein.«
Eine von des Kapitäns Hauptfreuden besteht jedoch darin, daß er weiß, die große Uhr, die Zuckerzange und die Teelöffel seien wohlbehalten an Bord. Man hört ihn wieder und wieder vor sich hinmurmeln: »Ed'ard Cuttle, mein Junge, du hast in deinem Leben nie auf einen so guten Kurs angelegt, als wie du das kleine Eigentum gemeinsam überwachtest. Du hast sogleich gemerkt, wo das Land lag, Ed'ard«, sagte der Kapitän, »und es macht dir Ehre, mein Junge.«
Der alte Instrumentenmacher ist zerstreuter und düsterer als sonst; er nimmt sich die Hochzeit und den Abschied sehr zu Herzen. Zum Trost gereicht es ihm übrigens, daß er seinen alten Bundesgenossen Ned Cuttle zur Seite hat, und er setzt sich mit dankbarem und zufriedenem Gesicht zum Nachtessen nieder.
»Mein Junge ist erhalten worden und gedeiht«, sagt der alte Sol Gills, indem er sich die Hände reibt. »Habe ich ein Recht, etwas anderes zu sein als dankbar und glücklich?«
Der Kapitän, der seinen Sitz am Tisch noch nicht eingenommen, aber sich eine Zeitlang sehr unruhig umgetrieben hat, sieht jetzt Mr. Gills zaudernd an und beginnt:
»Sol, wir haben noch die letzte Flasche alten Madeira drunten. Wünscht Ihr, mein Junge, daß sie heute abend Wal'r und seiner Frau zu Ehren angebrochen werde?«
Der Instrumentenmacher sieht den Kapitän nachdenklich an, steckt die Hand in die Brusttasche seines kaffeefarbigen Rocks, holt seine Brieftafel hervor und nimmt ein Schreiben heraus.
»An Mr. Dombey«, sagt der alte Mann. »Von Walter. Es soll ihm nach drei Wochen zugesendet werden. Ich will es lesen.«
»Sir.
Ich bin mit Eurer Tochter vermählt und sie hat mit mir eine weite Reise angetreten. Obschon ihr, Gott weiß es, mein ganzes Dasein gewidmet ist und ich sie über alle Erdendinge liebe, hätte ich doch meine Ansprüche nicht bis zu ihr oder zu Euch erheben sollen; indes sind Gründe vorhanden, die mich bewogen, ohne Gewissensbisse ihr Geschick mit den Unsicherheiten und Gefahren meines Lebens zu verflechten. Ich will nichts weiter sagen. Ihr seid ihr Vater und wißt warum. Macht ihr keine Vorwürfe. Sie hat Euch nie einen Vorwurf gemacht. – Ich denke und hoffe nicht, daß Ihr mir je vergeben werdet. Ich erwarte es am allermindesten. Wenn aber eine Stunde kommen sollte, in der Euch das Bewußtsein tröstlich wird, Florence habe stets jemand in der Nähe, der sich's zur großen Aufgabe seines Lebens macht, die Erinnerungen an den vergangenen Kummer zu verwischen, so gebe ich Euch die feierliche Versicherung, daß Ihr Euch in einer solchen Stunde dieser Überzeugung hingeben dürft.«
Solomon legt das Schreiben bedächtig wieder in seine Brieftafel und steckt sie in seine Rocktasche.
»Wir wollen die letzte Flasche des alten Madeira noch nicht trinken, Ned«, sagte der alte Mann. »Noch nicht.«
»Nein«, pflichtete der Kapitän bei. »Nein, noch nicht.« Susanna und Mr. Toots sind derselben Ansicht. Nach einer schweigsamen Pause setzen sie sich zum Nachtessen nieder und trinken die Gesundheit des jungen Ehepaars in etwas anderem. Die letzte Flasche alten Madeiras bleibt unter dem Staub und den Spinngeweben noch ungestört.
Einige Tage sind vergangen, und ein stattliches Schiff sticht in die See, seine weißen Schwingen vor dem günstigen Winde ausbreitend. Auf dem Deck – für den rauhesten Mann an Bord ein Bild der Anmut, Schönheit und Unschuld, ein Bild von etwas Gutem und Angenehmem, das die Reise glücklich machen muß – befindet sich Florence. Es ist Abend. Sie und Walter sitzen allein und betrachten den feierlichen Lichtpfad auf dem Meer zwischen ihnen und dem Mond.
Endlich kann sie nicht mehr deutlich sehen, denn Tränen füllen ihre Augen. Sie lehnt ihr Haupt an seine Brust, schlingt die Arme um seinen Nacken und sagt:
»O Walter, mein teures Leben, ich bin so glücklich!« Der junge Gatte drückt sie an seine Brust. Ein stilles Glück erfüllt ihre Herzen, und das stattliche Schiff gleitet ruhig weiter.
»Wenn ich lauschend da sitze und das Rauschen des Meeres höre«, sagte Florence, »so kommen mir viele Tage der Vergangenheit in den Sinn. Es erinnert mich stets – –«
»An Paul, meine Liebe. Ich weiß es.«
»An Paul und Walter.«
Und die Stimmen in den Wellen flüstern in ihrem unablässigen Gemurmel Florence stets zu von Liebe – von Liebe, ewig und grenzenlos, nicht abgeschieden durch die Schranken dieser Welt oder durch das Ende der Zeit, sondern weiter sich breitend über Meer und Himmel, hinaus nach dem fernen unsichtbaren Lande!
Achtundfünfzigstes Kapitel. SPÄTER.
Das Meer hatte während eines ganzen Jahres geebbt und geflutet. Ein ganzes Jahr waren die Winde gekommen und gegangen; die Zeit hatte ihre rastlose Arbeit getan in Sturm und Sonnenschein. Während eines ganzen Jahres waren die Fluten menschlicher Zufälligkeiten in den ihnen angewiesenen Strömungen fortgegangen. Während eines ganzen Jahres hatte das berühmte Haus Dombey und Sohn einen Lebenskampf gekämpft gegen widrige Zufälle, zweifelhafte Gerüchte, verunglückte Wagnisse und ungünstige Zeiten, am meisten aber gegen die Betörung seines Hauptes, das seine Unternehmungen nicht um eine Haaresbreite beschränken und nie dem warnenden Winke Gehör schenken wollte, das so hart gegen den Sturm gedrängte Schiff sei schwach und vermöge ihn nicht auszuhalten. Das Jahr war um, und das große Haus fiel.
An einem Sommernachmittag, nicht völlig ein Jahr nach der Hochzeit in der Citykirche, summte und flüsterte man auf der Börse von einem großen Bankrott. Ein dort wohlbekannter, kalter, stolzer Mann war nicht zugegen und auch durch niemand vertreten. Am nächsten Tage verbreitete sich da« Gerücht, Dombey und Sohn habe seine Zahlungen eingestellt, und am Abend darauf stand dieser Name obenan auf der Liste der Bankrotten.
Die Welt war in der Tat jetzt sehr geschäftig und wußte gar viel zu sagen. Es war eine unschuldige, leichtgläubige, eine viel mißhandelte Welt – eine Welt, in der es nie Bankrotte anderer Art gegeben hatte. Man erblickte darin keine Personen, die weit und breit auf mürben Ufern von Religion, Patriotismus, Tugend und Ehre Geschäfte machen. Es gab keinen auch nur des Zeitungspapiers werten Betrag, von dem dieser und jener sich recht hübsch durchbrachte – wir meinen, einen Betrag von Tugenden, der wohl versprochen, aber nicht bezahlt wird. Es gab nirgends und in nichts eine Verkürzung, als im Gelde. Die Welt war in der Tat sehr aufgebracht, und namentlich zeigten sich diejenigen besonders entrüstet, die in einer schlechteren Welt selbst des moralischen Bankrotts verdächtig gewesen wären.
Für den armen Spielball der Umstände, Mr. Perch, den Ausläufer, gab es jetzt neue Verlockung zu einem ungeregelten Leben. Das Schicksal schien diesen Mann dazu bestimmt zu haben, daß er stets aufwachen und sich berühmt finden mußte. Man möchte sagen, kaum gestern hatte es ihm das Verklingen des Rufs, den er der Entführung und den darauffolgenden Umständen verdankte, möglich gemacht, wieder in seinem ruhigen Gang fortzuwandeln, und nun wurde er durch den Bankrott zu einem bedeutsameren Mann als je. Wenn Mr. Perch von dem Trippel im Außenkontor, von wo aus er jetzt die fremden Gesichter der Rechnungsprüfer und anderer Personen musterte, die rasch fast alle alten Buchhalter verdrängten, herunterglitt, brauchte er sich nur im Hof draußen oder höchstens in der Schenkstube des Königswappens zu zeigen, um augenblicklich mit einer Menge Fragen überschüttet zu werden, unter denen die, was er zu trinken wünsche, obenan stand. Er pflegte dann über die Stunden bitterer Unruhe zu lamentieren, die er und Mrs. Perch in Balls Pond draußen erlitten hätten, seit zum erstenmal der Argwohn in ihnen aufgetaucht sei, »daß es schief gehe«. Dann eröffnete er den gaffenden Zuhörern mit gedämpfter Stimme, als ob die Leiche des gefallenen Hauses unbeerdigt im nächsten Zimmer liege, wie Mrs. Perch zuerst auf die Mutmaßung gekommen sei, daß es wirklich nicht richtig sein müsse, weil sie ihn im Schlaf hatte stöhnen hören: »Zwölf Schilling und neun Pence am Pfund, zwölf Schilling und neun Pence am Pfund.« Diese somnambulische Prophezeiung mußte wohl, wie er meinte, von dem Eindruck herrühren, den der Wechsel von Mr, Dombeys Gesicht auf ihn gemacht habe. Sodann teilte er seinem Auditorium mit, wie er einmal gesagt habe: »Darf ich mir wohl die Freiheit nehmen zu fragen, Sir, ob Ihr Euch im Gemüt bedrückt fühlt?« und wie Mr. Dombey darauf erwiderte: »Mein treuer Perch – aber nein, es kann nicht sein!« Und mit diesen Worten sei er mit der Hand über seine Stirn gefahren und habe gesagt: »Laßt mich allein, Perch!« Mit einem Wort: Mr. Perch, ein Opfer seiner Stellung, pflegte Lügen aller Art vorzubringen, rührte sich dabei selbst bis zu Tränen und glaubte am Ende wirklich, die Erfindungen von gestern seien durch die öftere Wiederholung heute zu einer Art Wahrheit geworden.
Mr. Perch schloß solche Konferenzen stets mit der bescheidenen Bemerkung, daß es natürlich, welchen Argwohn er auch gehabt haben möge (als ob er je einen gehabt hätte!), ihm nicht zustehe, das in ihn gesetzte Vertrauen zu verraten – eine Gesinnung, die, weil nie Gläubiger anwesend waren, unter Anerkennung der Ehrenhaftigkeit seiner Gefühle aufgenommen wurde. So brachte er in der Regel ein beruhigtes Gewissen wieder fort und hinterließ einen angenehmen Eindruck, wenn er wieder nach seinem Trippel zurückkehrte, um die fremden Gesichter der Rechnungssteller und anderer zu beobachten, die so frei mit den großen Geheimnissen der Bücher umgingen. Hin und wieder schlich er dann auf den Zehen in Mr. Dombeys leeres Zimmer, um das Feuer zu schüren, oder schöpfte Luft unter der Tür und plauderte mit irgendeinem vorübergehenden Bekannten über die klägliche Geschichte. Auch ließ er es nicht daran fehlen, dem Hauptrechnungssteller unterschiedliche kleine Aufmerksamkeiten zu erweisen und sich denselben dadurch günstig zu stimmen: denn er hoffte, der besagte Gentleman werde ihm, wenn die Angelegenheiten des Hauses abgeschlossen seien, zu einem Ausläuferposten bei einer Feuerversicherungs-Gesellschaft verhelfen.
Für Major Bagstock war der Bankrott eine richtige Kalamität. Der Major war kein sympathischer Charakter, da sich seine Aufmerksamkeit ganz auf J. B. konzentrierte, und auch keinen lebhaften Erregungen ausgesetzt, wenn wir von der physischen des Keuchens und Erstickenwollens absehen. Er hatte jedoch im Klub mit seinem Freund Dombey so groß getan, ihn den Mitgliedern desselben im allgemeinen so an den Kopf geworfen und den Reichtum des großen Mannes stets so nachdrücklich behauptet, daß der Klub, der nur ein menschlicher war, ein Entzücken darin fühlte, sich an dem Major zu rächen, indem er ihn mit dem Anschein großer Teilnahme fragte, ob dieser furchtbare Schlag überhaupt erwartet worden sei und wie sein Freund Dombey ihn ertrage. Auf solche Fragen pflegte der Major, der dabei ganz purpurrot wurde, zu antworten, es sei ganz und gar eine schlechte Welt, Sir, und Joe wisse ein und das andere, aber es sei jetzt aus mit ihm, Sir, aus wie mit einem Kinde: wenn man dies J. Bagstock vorausgesagt hätte, Sir, als er mit Dombey auf Reisen ging und jenem Vagabunden durch Frankreich auf und ab nachjagte, so würde J. Bagstock einem jeden, der etwas Derartiges behauptet hätte, ins Gesicht gehustet – ja, ins Gesicht gehustet haben, Sir – so wahr Gott lebt! Joe sei getäuscht, sei angeführt und geblendet worden, Sir, habe aber jetzt seine Augen wieder weit offen, in der Tat so weit, Sir, daß, wenn Joes eigener Vater morgen aus dem Grab aufstünde, er dem alten Kunden keinen Penny anvertrauen, sondern zu ihm sagen würde, sein Sohn Josh sei ein zu alter Soldat, um sich noch einmal über den Löffel barbieren zu lassen. Er sei ein argwöhnischer, schwieriger, vorsichtiger, aufgebrauchter J. B.-Heide, Sir, und wenn es sich mit der Würde eines rauhen und zähen alten Majors von der alten Schule, der die Ehre hatte, von Ihren königlichen Hoheiten, den Herzogen von Kent und Jork, ausgezeichnet zu werden, vertrüge, so würde er sich, bei Gott, in ein Faß zurückziehen und darin leben. Er würde sich morgen in Pall Mall ein Faß anschaffen, Sir, um damit seine Verachtung vor der Menschheit auszudrücken.
Solcher Vorträge mit allerlei Variationen über das gleiche Thema entledigte sich der Major mit so vielen schlagflüssigen Symptomen, einem so einschüchternden Rollen des Kopfes und einem so ungestümen Brummen des Ärgers über seine mißbrauchte Persönlichkeit, daß die jüngeren Mitglieder des Klubs auf die Vermutung kamen, er habe bei dem Hause seines Freundes Dombey Geld angelegt und es verloren, obschon die älteren Soldaten und die schlaueren Männer, die Joe besser kannten, nichts von dergleichen hören wollten. Der unglückliche Eingeborene, der keine Ansicht ausdrückte, litt furchtbar, nicht bloß in seinen moralischen Gefühlen, die von dem Major jede Stunde des Tages mit einem regelmäßigen Feuer bearbeitet wurden, sondern auch körperlich durch Püffe und Stöße, so daß er keinen Augenblick zu einer leiblichen Ruhe kommen konnte. Sechs volle Wochen nach dem Bankrott lebte der unglückliche Ausländer in einer Regenzeit von Stiefelziehern und Bürsten.
Über den schrecklichen Umschwung der Dinge hatte Mrs. Chick drei Vorstellungen. Die erste war, daß sie ihn nicht begreifen könne, die zweite, daß ihr Bruder keine Anstrengung gemacht habe, und die dritte, daß dies, wie sie schon damals gesagt habe, nie hätte vorkommen können, wenn sie an dem bewußten ersten Tag zum Diner eingeladen worden wäre.
Die Ansicht von niemand trat auf die Seite des Unglücks, erleichterte es oder machte es schwerer. Man wußte, die Angelegenheiten des Hauses würden so gut, als es gehen wolle, zum Abschluß kommen, und Mr. Dombey habe freiwillig auf all sein Eigentum verzichtet, ohne sich von irgend jemand eine Gunst zu erbitten. Von einer Wiederaufnahme des Geschäfts könne keine Rede sein, da er von keinem gütlichen Vergleich, dessen Möglichkeit in Aussicht stehe, etwas wissen wolle; auch habe er alle Posten des Vertrauens und der Auszeichnung, die ihm als einem unter den Kaufleuten geachteten Mann übertragen worden, abgegeben. Die einen erklärten, er sei todkrank, die andern wollten wissen, die Schwermut habe ihm den Verstand verwirrt, alle aber vereinigten sich dahin, daß er ein zugrunde gerichteter Mann sei.
Die Angestellten zerstreuten sich nach einem kleinen Beileids-Diner, das durch Possenlieder belebt wurde, und fanden wunderbar guten Abgang. Einige nahmen Plätze im Ausland an, andere erhielten ein Unterkommen in englischen Häusern, wieder einige erinnerten sich plötzlich, daß sie eine besondere Vorliebe für gewisse Bekanntschaften im Land hätten, und andere boten ihre Dienste in den Zeitungen an. Nur Mr. Perch blieb in dem Hause und betrachtete sich von seinem Trippel aus die Rechnungssteller oder stürzte von seinem Posten herunter, um den Hauptrechner, der ihn bei der Feuerversicherungs-Gesellschaft unterbringen sollte, für sich zu gewinnen. Das Kontor sah bald sehr schmutzig und vernachlässigt aus. Der Hauptpantoffel- und Hundehalsband-Verkäufer an der Ecke des Hofs hatte seine Bedenken, ob er nicht eine Ungebühr begehe, wenn er bei Mr. Dombeys Heraustreten auch nur seinen Zeigefinger an den Rand seines Hutes lege, und der Zettelträger mit den Händen unter der weißen Schürze moralisierte in sehr nüchterner Weise über das Sprichwort, daß Hochmut vor dem Fall komme.
Mr. Morfin, der braunäugige Junggeselle mit dem graugesprenkelten Haar und Bart, war vielleicht in der Atmosphäre des Hauses die einzige Person – natürlich den Prinzipal ausgenommen – dem das hereingebrochene Unglück tief und schwer zu Herzen ging. Er hatte Mr. Dombey durch eine Reihe von Jahren mit der gebührenden Achtung behandelt, aber nie seinen natürlichen Charakter verheimlicht oder zu Förderung selbstsüchtiger Zwecke mit der Leidenschaft seines Herrn ein Spiel getrieben, weshalb es denn auch bei ihm keine Mißachtung zu rächen, überhaupt keine lang angespannten Federn gab, die mit einem raschen Rückprall sich losmachten. Er arbeitete früh und spät, um die verwickelten oder schwierigen Verhältnisse des Hauses zu entwirren, war stets bereit, etwa verlangte Auskunft zu erteilen, blieb bisweilen bis tief in die Nacht hinein auf dem alten Kontorstübchen, um sich so weit in die Verhältnisse hineinzuarbeiten, daß er Mr. Dombey den Schmerz einer persönlichen Vernehmung ersparen konnte, und ging dann nach seiner Wohnung in Islington, wo er vor Schlafengehen seinen Geist durch die ungeheuerlichsten Töne, die er seinem Violoncello entlockte, zu beruhigen suchte.
Er unterhielt sich eines Abends mit diesem melodischen Gekratze und holte, da er den Tag über sehr niedergeschlagen gewesen, sich Trost aus den tiefsten Baßtönen seines Instruments, als seine Hauswirtin, die zum Glück nicht gut hörte und von künstlerischen Leistungen ihres Mieters keinen andern Eindruck erhielt, als ob etwas in ihren Knochen knarre, den Besuch einer Dame ankündigte.
»In Trauer«, sagte sie.
Der Violoncellobogen hörte augenblicklich auf zu streichen, und nachdem der Musiker mit großer Sorgfalt sein Instrument auf ein Sofa gelegt hatte, deutete er durch ein Zeichen an, daß die Dame kommen könne. Zugleich ging er zur Tür hinaus, um den Besuch zu empfangen, und traf Harriet Carker auf der Treppe.
»Allein«, sagte er; »und John war heute morgen hier? Ist etwas vorgefallen, meine Liebe? Doch nein«, fügte er hinzu; »Euer Gesicht läßt mich etwas ganz anderes lesen.«
»Dann fürchte ich, Ihr findet darin nur eine selbstsüchtige Enthüllung«, antwortete sie.
»Jedenfalls eine sehr angenehme«, sagte er, »und ist sie selbstsüchtig, so wird sie noch obendrein zu einer Neuigkeit, die man nicht leicht bei Euch zu hören bekommt. Ich glaube es übrigens nicht.«
Er hatte ihr inzwischen einen Stuhl angeboten und nahm ihr gegenüber Platz, während das Violoncello behaglich zwischen ihnen auf dem Sofa lag.
»Ihr werdet Euch nicht wundern, daß ich allein komme oder daß John von meinem beabsichtigten Besuche nichts gegenüber Euch erwähnt hat«, sagte Harriet, »wenn ich Euch mitteile, weshalb ich hier bin? Darf ich?«
»Ihr könnt nichts Besseres tun.«
»Ihr waret nicht beschäftigt?«
Er deutete nach dem auf dem Sofa liegenden Violoncello und sagte:
»Ich war's den ganzen Tag. Hier ist mein Zeuge. Ihm habe ich alle meine Sorgen vertraut. Wollte Gott, ich hätte ihm keine als meine eigenen mitzuteilen.«
»Ist's mit dem Haus zu Ende?« fragte Harriet dringlich.
»Völlig zu Ende.«
»Und wird nie wieder aufgenommen werden?«
»Nie.«
Der glänzende Ausdruck ihres Gesichtes wurde nicht überschattet, als ihre Lippen leise das Wort wiederholten. Er schien dies mit einer unwillkürlichen kleinen Überraschung zu bemerken und fuhr fort:
»Nie. Ihr erinnert Euch, was ich Euch sagte. Es ist unmöglich gewesen, ihn zu überzeugen, unmöglich, ihm Vernunft beizubringen, bisweilen sogar unmöglich, ihm nur nahezukommen. Das Schlimmste ist eingetroffen und das Haus gefallen, um nicht wieder aufgerichtet zu werden.«
»Und ist Mr. Dombey persönlich zugrunde gerichtet?«
»Ja.«
»Wird denn kein Privatvermögen übrig bleiben? Nichts?«
Eine gewisse Hast in ihrer Stimme und ein Ausdruck in ihrem Gesicht, der fast freudig zu sein schien, überraschte ihn noch mehr, und zwar nicht in angenehmer Weise, da seine eigenen Gefühle dadurch widerlich berührt wurden. Er trommelte mit den Fingern der einen Hund auf den Tisch, blickte sie fragend an, schüttelte den Kopf und sagte nach einer Pause:
»Ich weiß nicht genau, wie weit sich Dombeys Hilfsquellen erstrecken, aber wenn sie auch ohne Zweifel sehr groß sind, stehen ihnen doch ungeheure Verbindlichkeiten gegenüber. Er ist ein Gentleman von Ehre und hoher Rechtschaffenheit. Mancher in seiner Lage hätte sich retten können und würde sich auch gerettet haben durch Anbieten von Bedingungen, die die Verluste der Geschäftsfreunde nur gering, fast unmerklich vergrößert und ihm doch noch einen Rest gelassen hätten, von dem er leben kann. Aber er ist entschlossen, bis auf den letzten Heller seines Vermögens Zahlung zu leisten. Seine eigenen Worte lauten, sein Haus werde dadurch zwar geleert oder nahezu geleert werden, indes könne im schlimmsten Fall niemand viel verlieren. Ach, Miß Harriet, es würde uns nicht schaden, wenn wir öfters daran dächten, daß Laster bisweilen nur übertriebene Tugenden sind. Wir sehen hierin wieder seinen Stolz.«
Sie hörte ihn mit geringem oder gar keinem Wechsel in dem Ausdruck ihres Gesichts und mit einer geteilten Aufmerksamkeit an, die zeigte, daß ihr Inneres mit etwas anderem beschäftigt war. Als er schwieg, fragte sie ihn abermals:
»Habt Ihr ihn in letzter Zeit gesehen?«
»Er läßt niemand vor. Wenn dieser Wendepunkt seiner Angelegenheiten es nötig macht, sein Haus zu verlassen, so zeigt er sich, geht wieder nach Hause und sperrt sich gegen jedermann ab. Er hat mir ein Schreiben zugehen lassen, in dem er unsere frühere gegenseitige Beziehung höher anschlägt, als sie es verdiente, und von mir Abschied nimmt. Das Zartgefühl verbietet mir, mich ihm jetzt aufzudringen, da ich in besseren Zeiten nie viel Verkehr mit ihm hatte; aber gleichwohl habe ich einen Versuch dazu gemacht. Ich schrieb ihm, ging zu ihm und bat ihn um Gehör, aber völlig vergeblich.«
Er sah sie an, in der Hoffnung, sie dürfte eine größere Teilnahme kundgeben, als sie bisher an den Tag gelegt hatte. Obschon er ernst und gefühlvoll gesprochen, als wolle er den Tatbestand ihr näher ans Herz legen, ließ sich doch kein Wechsel in ihr bemerken.
»Doch lassen wir das, Miß Harriet«, sagte er mit der Miene getäuschter Erwartung: »es führt zu nichts. Ihr seid nicht hierhergekommen, um dies zu hören. Es liegt Euch ein anderer, angenehmerer Gegenstand auf dem Herzen. Laßt mich teilnehmen daran, und wir werden unter gleicheren Verhältnissen uns besprechen können.«
»Nein, es ist derselbe Gegenstand«, entgegnete Harriet mit unverhohlenem Erstaunen. »Warum sollte dies nicht der Fall sein? Ist es nicht natürlich, daß John und ich in letzter Zeit oft und viel an die kürzlichen großen Veränderungen dachten und davon sprachen? Mr. Dombey, dem er so viele Jahre gedient hat – Ihr wißt, unter welchen Verhältnissen – so heruntergekommen, wie Ihr sagt, und wir dagegen eigentlich reich.« So gut und ehrlich auch ihr Gesicht war und so lieblich es Mr. Morfin, dem braunäugigen Junggesellen, seit der Zeit geworden sein mochte, als er es zum erstenmal erblickte, gefiel es ihm in diesem Moment, in dem ein Strahl von Freude darüber hinblitzte, weniger als je zuvor.
»Ich brauche Euch nicht daran zu erinnern«, sagte Harriet, nach ihrem schwarzen Gewand niederbückend, »durch welche Mittel unsere Umstände so verändert wurden. Ihr habt nicht vergessen, daß unser Bruder James an jenem schrecklichen Tage kein Testament und außer uns keine Verwandten hinterließ.«
Das Gesicht kam ihm jetzt wieder lieblicher vor, obschon es blaß und schwermütig aussah. Er schien freier aufzuatmen.
»Ihr kennt unsere Geschichte«, sagte sie, »die Geschichte meiner beiden Brüder in ihrer Beziehung zu dem unglücklichen Gentleman, von dem Ihr eben mit so viel Wärme gesprochen habt. Ihr wißt, wie wenig wir – John und ich – bedürfen und wie wir nach der Lebensweise, die wir so viele Jahre gemeinschaftlich geführt haben, keinen großen Aufwand nötig haben: auch verdankt er Eurer gütigen Verwendung einen Posten, dessen Ertrag für uns vollständig ausreicht. Ihr könnt Euch jetzt wohl denken, um welcher Bitte willen ich zu Euch gekommen bin?«
»Ich weiß es kaum. Vor einer Minute meinte ich, es mir denken zu können, jetzt aber glaube ich, daß ich in einem Irrtum befangen war.«
»Von meinem verstorbenen Bruder will ich nicht sprechen. Wüßte der Tote, was wir tun – aber Ihr versteht mich. Von meinem lebenden Bruder könnte ich viel sagen: doch wozu bedarf es einer weiteren Erklärung, als daß die pflichtmäßige Handlung, bei der wir Eure Mithilfe nicht entbehren können, von ihm ausgeht, und daß er weder rasten noch ruhen kann, bis sie erfüllt ist!«
Sie erhob abermals ihren Blick, und das Licht der Freude auf ihrem Gesicht erschien wunderlieblich in den Augen dessen, der es betrachtete.
»Mein teurer Sir«, fuhr sie fort, »es muß in aller Stille und Heimlichkeit geschehen. Eure Erfahrung und Sachkenntnis wird Euch ein Mittel an die Hand geben, uns dabei behilflich zu sein. Man kann vielleicht Mr. Dombey den Glauben beibringen, von den Trümmern seiner Habe sei unerwarteterweise etwas gerettet worden; es handle sich dabei um einen freiwilligen Zoll, der von einem seiner bedeutenderen früheren Geschäftsfreunde seinem ehrenhaften und aufrichtigen Charakter gebracht werde, oder um eine alte für verloren gegebene Schuld, für welche Zahlung einlief. O, es gibt viele Arten, die Sache einzuleiten, und ich weiß, Ihr werdet die beste wählen. Nur bitte ich Euch um die Gunst, in Eurer eigenen freundlichen, ehrenhaften und rücksichtsvollen Weise für uns zu handeln. Sprecht mit John nicht davon, denn er fühlt sich am glücklichsten, wenn dieser Akt der Rückerstattung im geheimen, unbekannt und ohne Lob geschieht. Nur ein sehr kleiner Teil der Erbschaft soll uns vorbehalten bleiben, Mr. Dombey aber die Nutznießung des übrigen für Lebenszeit bekommen. Aber Ihr müßt treulich unser Geheimnis bewahren – ich bin überzeugt, daß Ihr es werdet, und von Stunde an wollen auch wir beide darüber schweigen, denn ich sehe nur einen neuen Grund darin, dem Himmel zu danken und auf meinen Bruder stolz zu sein.«
Solch ein frohlocken mag sich auf den Gesichtern der Engel ausdrücken, wenn unter neunundneunzig Gerechten der einzige reuige Sünder in den Himmel eingeht. Es wurde nicht getrübt oder gemindert durch die frohen Tränen, die ihre Augen füllten, sondern erschien dadurch nur um so glänzender.
»Meine teure Harriet«, sagte Mr. Morfin nach einer Pause, »hierauf war ich nicht vorbereitet. Wenn ich Euch recht verstehe, so wünscht Ihr Euren eigenen Anteil an der Erbschaft ebensogut Einem schönen Zweck dienstbar zu machen als den Eures Bruders John?«
»Ja«, entgegnete sie. »Nachdem wir so lange Zeit alles miteinander geteilt haben und uns keine weitere Sorge oder Hoffnung vorbehalten bleibt, hatte ich mich wohl von der Beteiligung ausschließen können? Darf ich nicht verlangen, bis auf den letzten Augenblick in allem seine Gesellschafterin und Teilhaberin zu sein?«
»Verhüte der Himmel, daß ich dies bestreite!« erwiderte er.
»Wir dürfen uns also auf Eure freundliche Beihilfe verlassen?« sagte sie. »Ich wußte wohl, daß ich keine Fehlbitte tun werde.«
»Ich wäre ein schlechterer Mensch, als – ich hoffentlich bin oder zu sein glaube, wenn ich Euch nicht aus vollem Herzen und von ganzer Seele diese Versicherung gäbe. Zählt unbedingt auf mich. Bei meiner Ehre, ich will Euer Geheimnis bewahren, und stellt sich wirklich heraus, daß Mr. Dombey so weit herabgekommen ist, als ich besorge, so soll Euch bei Ausführung des Plans, zu dem Ihr Euch mit Eurem Bruder verbunden habt, mein ganzer Einfluß zur Seite stehen.«
Sie gab ihm ihre Hand und dankte ihm mit herzlichem, glücklichem Gesicht.
»Harriet«, fuhr er fort, die ihm dargebotene Rechte festhaltend, »es wäre eitel und anmaßend, mit Euch über den Wert irgendeines Opfers, das Ihr jetzt bringen könnt, namentlich aber eines bloßen Geldopfers sprechen zu wollen, und mein Inneres sagt mir, daß jede Aufforderung, Euer Vorhaben noch einmal zu überlegen oder ihm engere Grenzen zu stecken, die gleiche Bezeichnung verdiente. Ich habe kein Recht, das großartige Ende einer großen Geschichte durch eine Aufdrängung meines eigenen schwachen Ichs zu verderben, sondern muß mein Haupt beugen vor dem, was Ihr mir vertraut, in der festen Überzeugung, daß es aus einer höheren und besseren Begeisterungsquelle stammt, als mein armes weltliches Wissen zu bieten vermag. Laßt mich nur noch hinzufügen, daß ich Euer getreuer Verwalter sein werde. Da ich nicht Ihr selbst sein kann, so ziehe ich es allem in der Welt vor, von Euch zum Freund gewählt worden zu sein.«
Sie dankte ihm abermals herzlich und wünschte ihm gute Nacht.
»Geht Ihr nach Hause?« fragte er. »Erlaubt mir, Euch zu begleiten.«
»Nein, heute nicht. Ich gehe nicht nach Hause, sondern habe noch einen Besuch zu machen. Wollt Ihr morgen kommen?«
»Ja, ja, ich komme morgen«, versetzte er. »Inzwischen will ich mir die Sache überlegen und sehen, wie sie sich am besten einleiten läßt. Vielleicht denkt Ihr gleichfalls darüber nach, teure Harriet, und – und denkt dabei auch ein wenig an mich.«
Er geleitete sie nach der Kutsche hinunter, die vor der Tür wartete, und wenn seine Hauswirtin nicht halb taub gewesen wäre, so hätte sie, als er nach Abfahrt des Wagens wieder die Treppe hinaufstieg, wohl hören müssen, wie er vor sich hin murmelte, wir seien doch schlimme Gewohnheitsgeschöpfe, und am meisten ärgere ihn die Gewohnheit, daß es alte Junggesellen gebe.
Da das Violoncell zwischen den beiden Stühlen auf dem Sofa lag, so nahm er es auf, ohne den leeren Sitz beiseite zu rücken, und begann auf den Saiten zu streichen, während er zugleich lange, lange Zeit mit dem Kopf nach dem verlassenen Stuhle nickte. Der Ausdruck, den er anfänglich in die Töne seines Instrumentes legte, war zwar ungeheuerlich und pathetisch genug, aber doch nichts gegen den, den er dem leeren Sitze gegenüber seinem eigenen Gesichte mitteilte, denn es lag darin eine so große Aufrichtigkeit, daß er mehr als einmal zu Kapitän Cuttles Hilfsmittel seine Zuflucht nehmen mußte. Allmählich glitt jedoch, im Einklang mit seiner eigenen Gemütsstimmung, das Violoncell melodisch in den fröhlichen Hammerschmied über, den er wieder und wieder spielte, bis sein rötliches, heiteres Gesicht ganz wie das Metall auf dem Ambos eines wahrhaftigen Hammerschmiedes glühte. Mit einem Wort, das Violoncell und der leere Stuhl waren bis fast um Mitternacht die Gefährten seines Junggesellenstandes, und als er sein Instrument, geschwellt von der verborgenen Harmonie einer ganzen Gießerei voll lustiger Hammerschmiede, in die Sofaecke legte, um sein Nachtessen einzunehmen, schien ihn der leere Stuhl in ungemein vielsagender Weise aus seinen gekrümmten Augen anzugucken.
Nachdem Harriet das Haus verlassen hatte, schlug der Kutscher eine Richtung ein, die ihm augenscheinlich keine neue war. Es ging auf Nebenwegen durch einen Teil der Vorstädte, bis er einen offenen Grund erreichte, wo einige ruhige alte Häuschen in den Gärten standen. An einem Gartentürchen machte der Kutscher halt, und Harriet stieg aus.
Ihr leichter Zug an der Klingel rief ein kläglich aussehendes Weib mit blasser Gesichtsfarbe, hochgezogenen Augenbrauen und seitwärts gesenktem Kopfe herbei, die bei ihrem Anblick knixte und sie durch den Garten nach dem Hause fühlte.
»Wie geht es heute abend Eurer Kranken, Wärterin?« fragte Harriet.
»Ich fürchte, schlimm, Miß. O wie erinnert sie mich bisweilen cm meines Onkels Betsey Jane!« entgegnete die Frau mit der blassen Gesichtsfarbe in einer Art melancholischen Entzückens.
»In welcher Beziehung?« fragte Harriet.
»In allen Beziehungen, Miß«, versetzte die andere, »den einzigen Umstand ausgenommen, daß sie erwachsen ist, und Betsey Jane, als sie am Tor des Todes stand, nur ein Kind war.«
»Ihr habt mir aber erzählt, das Kind sei mit dem Leben davongekommen«, bemerkte Harriet mild; »es ist daher um so mehr Grund zur Hoffnung vorhanden, Mrs. Wickam.«
»Ach, Miß, die Hoffnung ist wohl etwas Schönes für solche, die heiter genug sind, um sich damit zu tragen«, sagte Mrs. Wickam, den Kopf schüttelnd. »Ich beneide diejenigen, welche so gesegnet sind, denn mein Geist kann sich nicht so weit erheben, obschon ich nicht darüber murre.«
»Ihr solltet es versuchen, ob Ihr Euch nicht aufheitern könnt«, versetzte Harriet.
»Danke schön, Miß«, entgegnete Mrs. Wickam grämlich. »Wenn ich auch Lust dazu hätte, so würde die Einsamkeit dieses Platzes – Ihr entschuldigt mich, daß ich so frei spreche – mir es in vierundzwanzig Stunden verleiden. Dies ist übrigens bei mir nicht der Fall, und ich lasse den Versuch lieber ganz und gar. Das bißchen Heiterkeit, da« ich je besaß, wurde mir vor einigen Jahren zu Brighton genommen, und ich denke, es ist mir um deswillen jetzt nur wohler.«
In der Tat war die Sprecherin dieselbe Mrs. Wickam, die Mrs. Richards in der Pflege des kleinen Paul verdrängt hatte und durch den fraglichen Verlust unter dem Dach der liebenswürdigen Pipchin gewonnen zu haben glaubte. Das ausgezeichnete und verständige, durch lange Vorschrift geheiligte alte System, das gewöhnlich die traurigsten und unleidlichsten Personen, die nur aufzutreiben sind, zu Jugend- Erziehern, Tugend-Weisern, Ermahnern, Krankenwärtern und dergleichen auswählt, hatte Mrs. Wickam auf dem Boden der Krankenpflege zu einem recht guten Geschäft verholfen und dazu Anlaß gegeben, daß ihre ernsten Eigenschaften von vielen Bewunderern ganz besonders löblich gefunden wurden.
Die Augenbrauen aufgezogen und den Kopf auf die eine Seite geneigt, leuchtete Mrs. Wickam die Treppe hinauf nach einem reinlichen Zimmer, das nach einem matt erhellten Zimmer mit einem Bette führte. In dem ersten Zimmer saß ein altes Weib, das vor dem offenen Fenster mechanisch in die Dunkelheit hinausstierte; im zweiten aber lag, auf dem Bette ausgestreckt, der Schatten einer Gestalt, die in einer bekannten Winternacht dem Wind und Regen Trotz geboten hatte, jetzt aber kaum an etwas anderem zu erkennen war, als an dem langen dunkeln Haar, das gegen das farblose Gesicht und das weiße Bettzeug auffallend abstach.
O, die großen Augen und der hinfällige Körper! die Augen, die sich so hastig und funkelnd der Tür zuwandten, als Harriet hereinkam – der schwache Kopf, der sich nicht aufrichten konnte und so langsam auf dem Kissen sich umdrehte!
»Alice«, sagte der Besuch mit milder Stimme, »komme ich heute spät?«
»Ihr scheint immer spät zu kommen, kommt aber stets früh.«
Harriet hatte sich neben dem Bett niedergelassen und die auf der Decke liegende abgezehrte Hand mit der ihrigen erfaßt.
»Geht es besser?«
Mrs. Wickam, die wie ein trostloses Gespenst unten an dem Bett stand, schüttelte entschieden und nachdrücklich den Kopf, um die Frage zu verneinen.
»Es liegt sehr wenig daran«, versetzte Alice mit einem matten Lächeln. »Heute besser oder schlimmer, es macht nur den Unterschied eines Tages aus – vielleicht nicht so viel.«
Mrs. Wickam drückte als ernster Charakter ihre Zustimmung in einem Seufzer aus. Dann befühlte sie die Füße der Patientin, die sie eiskalt zu finden erwartete, und klapperte unter den Arzneiflaschen auf dem Tisch umher, als wollte sie sagen: »Weil's doch einmal so ist, so wollen wir die Mixtur wie bisher wiederholen.«
»Ein elendes Leben«, fuhr Alice flüsternd zu ihrem Besuch fort, »Gewissensbisse, das Umherziehen, Mangel und Unwetter, Sturm innen und Sturm von außen haben mein Leben aufgezehrt. Es wird nicht lange mehr währen.«
Sie zog bei diesen Worten Harriets Hand an sich und legte ihr Gesicht dagegen.
»Wenn ich so daliege, denke ich bisweilen, ich möchte wohl noch eine Weile am Leben bleiben, um Euch zu zeigen, wie dankbar ich sein könnte! Doch dies ist eine Schwäche, die bald vorüber geht. Für Euch ist's besser so, wie es ist – und auch besser für mich!«
Wie ganz anders hielt sie jetzt die Hand fest, wenn man dabei an die Art denkt, wie sie dieselbe an dem kalten Winterabend neben dem Kamin ergriffen hatte! Geringschätzung, Wut, Trotz und Sorglosigkeit – schaut her! Dies ist das Ende.
Mrs. Wickam, die nun genug mit den Flaschen geklirrt hatte, brachte die Arznei. Als die Kranke sie nahm, sah sie mit aufgeworfenem Mund und in die Höhe gezogenen Augenbrauen zu, indem sie zugleich den Kopf schüttelte, als wollte sie sagen, nicht einmal die Folter sei imstande, sie zu überzeugen, daß dies ein hoffnungsloser Fall sei. Sie sprengte dann mit der Miene einer weiblichen Totengräberin, die Asche auf Asche, Staub auf Staub streut – denn sie war ein ernster Charakter – eine kühlende Feuchtigkeit im Zimmer umher und entfernte sich, um drunten gewisse leichenhaft gebackene Speisen zu sich zu nehmen.
»Wie lange ist es«, frug Alice, »seit ich zu Euch kam, um Euch zu sagen, was ich getan hatte – ich meine die Zeit, als man Euch versicherte, es sei zu spät, um einem gewissen Menschen zu folgen?«
»Es ist ein Jahr und darüber,« antwortete Harriet.
»Ein Jahr und darüber«, sagte Alice, gedankenvoll zu ihrem Gesicht aufblickend, »Und schon Monate und Monate, seit Ihr mich hierher gebracht habt!«
Harriet antwortete mit einem »Ja«.
»Mich hierher gebracht durch die Gewalt der Güte und Freundlichkeit. Mich!« sagte Alice, ihr Gesicht hinter der Hand verbergend. »Und mich durch die Blicke und Worte eines Weibes und durch die Handlungen eines Engels menschlich gemacht!«
Harriet beugte sich über sie nieder und suchte sie zu beruhigen. Alice hatte, die Hand noch immer an ihr Gesicht drückend, ihre frühere Lage wieder eingenommen und bat, man möchte ihre Mutter herbeirufen.
Harriet tat dies mehr als einmal, aber die Alte war an dem offenen Fenster so in die Nacht vertieft, daß sie nicht hörte. Erst als Harriet hinausging und sie berührte, richtete sie sich auf und kam herein.
»Mutter,« sagte Alice, die Hand wieder ergreifend und ihre glänzenden Augen mit Innigkeit auf Harriet heftend, während sie die Anwesenheit der Alten nur mit einer Bewegung des Fingers anerkannte, »sagt ihr, was Ihr wißt.«
»Heute, mein Herzchen?«
»Ja, Mutter«, antwortete Alice mit matter, aber feierlicher Stimme, »heute!«
Die Alte, deren Verstand durch Schrecken, Gewissensbisse oder Kummer irregeworden zu sein schien, schlich an der andern Seite des Bettes hin, kniete nieder, so daß ihr welkes Gesicht in gleicher Höhe mit der Decke war, streckte ihre Hand aus, um den Arm ihrer Tochter zu berühren, und begann:
»Mein schönes Mädel –«
Himmel, welch ein Schrei war das, mit dem sie innehielt, wahrend sie die klägliche Gestalt auf dem Bette ansah.
»Schon längst verändert, Mutter! schon längst hingewelkt«, sagte Alice, ohne sie anzusehen. »Grämt Euch jetzt nicht darüber.«
»Meine Tochter«, stotterte die Alte – »mein Mädel – sie wird bald besser werden und alle mit ihrem guten Aussehen beschämen.« Alice lächelte wehmütig zu Harriet hin und drückte die Hand inniger an sich, sprach aber nichts.
»Ich sage, sie wird bald besser werden«, wiederholte die Alte, mit der abgezehrten Faust in die leere Luft drohend, »und wird alle durch ihr gutes Aussehen beschämen. Ja, das wird sie – das soll sie!«
Sie rief es, als liege sie in leidenschaftlichem Kampf mit irgendeinem unsichtbaren Feind neben dem Bett, der ihr widersprach.
»Man hat sich von meiner Tochter abgewandt und sie verstoßen, aber sie könnte sich doch der Verwandtschaft mit stolzen Leuten rühmen, wenn sie wollte! Ah! diese stolzen Leute! Es gibt eine Verwandtschaft ohne eure Pfaffen und eure Trauringe – sie können sie machen, aber nicht brechen – und meine Tochter ist von gutem Blute. Zeigt mir Mrs. Dombey, und ich will Euch ein Geschwisterkind meiner Alice zeigen.«
Harriet blickte von der Alten nach den glänzenden Augen, die so angelegentlich auf ihrem Gesichte hafteten, und fand darin die Bestätigung dieser Worte.
»Was meint Ihr?« rief die Alte, den nickenden Kopf in unheimlicher Eitelkeit aufwerfend, »Obschon ich jetzt alt und häßlich bin, – viel älter durch das, was ich durchgemacht habe, als den Jahren nach – so war ich doch einmal so jung als eine. Ja, und obendrein so hübsch wie viele! Ich war meiner Zeit eine frische Landdirne, mein Schätzchen«, sie streckte über das Bett herüber ihren Arm nach Harriet aus, »und mein Aussehen war darnach. In meiner Gegend drunten waren Mrs. Dombeys Vater und sein Bruder die lebenslustigsten Gentlemen, die beliebtesten unter denen, die von London auf Besuch kamen – freilich sind sie jetzt längst tot! O Himmel, wie lange schon! Der Bruder, der der Vater meiner Ally war, am längsten von beiden.«
Sie richtete den Kopf ein wenig auf und blickte in das Gesicht ihrer Tochter, als führe sie die Erinnerung an ihre eigene Jugend auf die von der Jugend ihres Kindes. Dann drückte sie plötzlich ihr Gesicht auf das Bett nieder und verbarg ihren Kopf mit den Händen und Armen.
»Sie waren sich so ähnlich«, fuhr die Alte, ohne aufzublicken, fort, »wie Ihr nur zwei Brüder sehen könnt, auch fast gleichaltrig – soviel ich mich erinnere, nicht mehr als ein Jahr zwischen ihnen – und wenn Ihr mein Mädel hättet sehen können, wie ich sie einmal gesehen habe, Seite an Seite mit der Tochter des andern, so hättet Ihr trotz des Unterschieds in der Kleidung und Lebensweise bemerken müssen, daß sie einander glichen. O, ist diese Ähnlichkeit denn ganz dahin und mußte mein Mädel – nur mein Mädel – sich so verändern!«
»Es kommt an alle die Reihe des Anderswerdens«, sagte Alice.
»Die Reihe?« rief die Alte. »Aber warum kommt sie nicht ebenso bald an sie wie an mein Mädel? Die Mutter muß sich verändert haben – sie sah so alt aus wie ich und war ebenso runzlig, ungeachtet ihrer Schminke – aber sie war schön. Was habe ich getan, ich – was habe ich Schlimmeres getan als sie, daß nur mein Mädel so hinschwindend daliegt!«
Mit demselben Schrei wie früher eilte sie in das äußere Zimmer hinaus, kehrte aber in ihrer verwirrten Stimmung augenblicklich wieder zurück, kroch zu Harriet heran und sagte:
»Dies ist's, was Alice mir Euch mitzuteilen auftrug, mein Schatz. Dies ist alles. Ich machte die Entdeckung, als ich eines Sommers mich in Warwickshire nach ihr und ihren Verhältnissen erkundigte. Damals waren solche Verwandte nicht gut für mich. Sie würden mich nicht anerkannt haben und hatten nichts zu verschenken. Nachher hätte ich sie vielleicht um ein bißchen Geld angehen können, wenn meine Alice nicht gewesen wäre; aber ich glaube, sie würde mich fast umgebracht haben, wenn ich's getan hätte. Sie war in ihrer Art so stolz wie die andere«, sagte die Alte, furchtsam das Gesicht ihrer Tochter berührend und ihre Hand wieder zurückziehend, »obschon sie jetzt so ruhig ist. Aber sie wird sie noch mit ihrem guten Aussehen beschämen. Ha, ha. Meine schöne Tochter wird sie noch beschämen.«
Das Lachen, mit dem sie sich zurückzog, war noch schlimmer als ihr Schrei, schlimmer als der Ausbruch kleinmütigen Wehklagens, mit dem es endigte, schlimmer als das faselnde Gesicht, mit dem sie ihren alten Platz wieder einnahm und in die Dunkelheit hinausstierte.
Alice hatte diese ganze Zeit über kein Auge von Harriet verwandt und ihre Hand unablässig festgehalten.
»Wie ich so dalag«, sagte sie jetzt, »kam mir der Gedanke, es dürfte gut sein, wenn Ihr dies erfahrt. Es wird vielleicht einen Umstand erklären, der dazu mithalf, mich zu verhärten. Wenn ich unrecht tat, mußte ich so viel von Pflichtübertretung hören, daß der Glaube in mir Wurzel griff, an mir sei die Pflicht verabsäumt worden, und wie man säe, so müsse auch die Ernte ausfallen. Ich kam irgendwie auf die Ansicht, wenn vornehme Frauen schlimme Mütter und eine schlimme Heimat hätten, so gingen sie wohl auch in ihrer Art auf unrechten Pfaden, aber doch nicht auf so schlimmen, wie der meinige war, und sie hatten Ursache, Gott dafür zu danken. Doch das ist jetzt vorbei. Es kommt mir vor wie ein Traum, dessen ich mich nicht ganz erinnere, den ich nicht recht verstehen kann. Es wurde mir mit jedem Tag mehr und mehr zum Traum, seit Ihr mich zu besuchen und mir vorzulesen anfinget. Ich sage Euch dies nur, wie es eben in meiner Erinnerung ist. Wollt Ihr mir noch ein wenig vorlesen?«
Harriet wollte ihre Hand zurückziehen, um das Buch zu öffnen, aber Alice hielt sie noch einen Augenblick fest.
»Ihr werdet meine Mutter nicht vergessen? Ich vergebe ihr, wenn ich Ursache dazu habe, und weiß, daß sie mir verzeiht – daß ihr Herz traurig ist. Ihr werdet sie nicht vergessen?«
»Nein, Alice!«
»Noch einen Augenblick. Legt meinen Kopf so, daß ich, wenn Ihr lest, in Eurem lieben Gesicht die Worte sehen kann.«
Harriet entsprach ihrem Wunsch und las – las das ewige Buch für alle Müden und Schwerbeladenen, für alle Unglücklichen, Gefallenen und Verwahrlosten auf Erden, las die heilige Geschichte, in der der blinde und lahme Bettler, der Verbrecher, das mit Schande befleckte Weib und der von unserem ekeln Staub Gemiedene seinen Anteil findet, den weder menschlicher Stolz noch die Gleichgültigkeit oder Sophistik aller Jahrhunderte irdischen Bestands hinwegnehmen oder auch nur um das Gewicht eines Sonnenstäubchens verkürzen kann – las von dem Wirken dessen, der durch die ganze Runde des menschlichen Lebens mit seinen Hoffnungen und Schmerzen von der Geburt an bis zum Tode und von der Kindheit bis ins hohe Alter, für jede Szene und Abstufung desselben, für jeden Kummer und jedes Leid die innigste Teilnahme empfand.
»Ich will morgen sehr früh wiederkommen«, sagte Harriet, als sie das Buch zumachte.
Die glänzenden, noch immer auf ihr Antlitz gehefteten Augen schlossen sich für einen Moment und öffneten sich wieder. Alice küßte die Leidende und sprach einen Segenswunsch über sie.
Dieselben Augen folgten ihr bis zur Tür, die sich hinter der Abgehenden schloß; in ihrem Glanze und auf dem ruhigen Gesichte lag ein Lächeln.
Sie wandten sich nicht wieder ab. Die Kranke legte ihre Hand auf die Brust, murmelte den heiligen Namen, von dem ihr vorgelesen worden war, und das Leben wich aus ihrem Antlitz wie ein erlöschendes Licht.
Es lag nichts mehr da als die Trümmer der irdischen Hütte, auf die der Regen niedergefallen war, und das schwarze Haar, das im winterlichen Winde geflattert hatte.
Neunundfünfzigstes Kapitel. VERGELTUNG
Abermalige Wechsel haben das große Haus in der langen öden Straße betroffen, das vordem der Schauplatz von Florences Kindheit und Verwaisung war. Es ist noch immer ein großes Haus, fest gegen Wind und Wetter, ohne Brüche im Dach, ohne zerschlagene Fenster oder eingestürzte Mauern; aber nichtsdestoweniger steht es als eine Ruine da, und die Ratten fliehen daraus.
Mr. Towlinson und Co. sind anfänglich ungläubig in betreff der ungeheuerlichen Gerüchte, die sie vernehmen. Die Köchin sagt, der Kredit unserer Leute sei gottlob nicht so leicht zu erschüttern, als daß es soweit kommen könnte, und Mr. Towlinson erwartete ebensogut mit nächstem zu vernehmen, daß die Bank von England falliert habe oder die Kronjuwelen im Tower verkauft worden seien. Aber zunächst kommt die Zeitung und Mr. Perch; und Mr. Perch bringt Mrs. Perch mit sich, um in der Küche über die Sache zu plaudern und einen angenehmen Abend zu verleben. Sobald kein Zweifel mehr darüber obwaltet, ist es Mr. Towlinsons Hauptfürsorge, den Bankerott zu einem recht guten und runden zu machen – nicht weniger als hunderttausend Pfund. Mr. Perch glaubt nicht einmal, daß hunderttausend Pfund hinreichen werden, ihn zu decken. Die Frauen wiederholten unter Mrs. Perchs und der Köchin Anführung oft die Worte »hunderttausend Pfund« mit schauerlicher Selbstbefriedigung, als ob es mit dem Gelde ebenso leicht abgetan sei, und die Hausmagd, die ein Auge auf Mr. Towlinson hat, wünscht, dem Mann ihrer Wahl nur den hundertsten Teil dieser Summe mitbringen zu können. Mr. Towlinson, der das ihm früher zugefügte Unrecht noch immer nicht vergessen hat, ist der Ansicht, ein Ausländer würde kaum wissen, was er mit so viel Geld anfangen müsse, wenn er es nicht auf seinen Bart verwende – ein bitterer Sarkasmus, der die Hausmagd bewegt, sich in Tränen zurückzuziehen.
Aber nicht um lange abwesend zu bleiben, denn die Köchin, die in dem Ruf ungemeiner Gutherzigkeit steht, macht jetzt den Vorschlag, sie wollen zusammenhalten, denn man könne nicht wissen, wie bald sie getrennt würden. »Sie hätten in diesem Hause«, sagt die Köchin – »ein Leichenbegängnis, eine Hochzeit und Entführung erlebt, und man solle ihnen nicht nachreden, daß sie in einer Zeit, wie die gegenwärtige, unter sich uneinig geworden seien.« Mrs. Perch ist von dieser beweglichen Anrede im hohem Grade gerührt und drückt offen ihre Ansicht aus, daß die Köchin ein Engel sei. Mr. Towlinson antwortet der Köchin, er sei weit entfernt, einer so wünschenswerten guten Gesinnung im Weg zu stehen, und bricht sodann auf, um die Hausmagd zu suchen, die er bald darauf am Arm zurückbringt. Er teilt den in der Küche Anwesenden mit, daß er mit den Ausländern nur gespaßt habe und daß er und Anna jetzt entschlossen seien, sich gegenseitig für gute und schlimme Tage zu nehmen und auf dem Oxford-Markte einen Gemüsehandel anzufangen, für den ihre geneigte Kundschaft erbeten werde. Diese Ankündigung wird mit großem Beifall aufgenommen, und Mrs. Perch, deren Auge in die Zukunft blickt, sagt der Köchin mit feierlichem Flüsterton ins Ohr: »Mädchen!«
Ein Familienunglück konnte in diesen unteren Regionen nicht ohne Festessen abgehen. Die Köchin tischte daher einige warme Gerichte zum Nachtessen auf, und Mr. Towlinson fertigte einen Hummersalat an, der demselben gastlichen Zwecke dienen soll. Sogar Mrs. Pipchin zieht, durch die Kunde aufgeregt, an der Klingel und läßt hinunter sagen, man solle ihr die übrig gebliebenen Pfannkuchen wärmen und ihr ein Quart Glühwein bringen, da sie sich elend fühle.
Es wird von Mr. Dombey gesprochen, aber nicht viel, und man behandelt dabei hauptsächlich die Mutmaßung, wie lange er wohl gewußt habe, daß es so kommen werde. Die Köchin wirft die schlaue Bemerkung hin: »O, Gott behüt euch, schon lange, darauf könnt Ihr schwören,« und da auch Mr. Perch darüber vernommen wird, so bestätigt er ihre Ansicht von dem Fall. Jedermann wundert sich, was er wohl anfangen und ob er sich vielleicht nach einer Stellung umsehen wird. Mr. Towlinson glaubt es nicht und deutet auf einen Zufluchtsort in einem der gentilen Armenhäuser besserer Art hin. »Ah, Ihr wißt«, sagte die Köchin kläglich, »wo er seinen kleinen Garten haben wird und im Frühjahr Zuckererbsen ziehen kann.« »Ganz richtig«, sagt Mr. Towlinson, »er geht dann vielleicht unter die Brüder.« »Wir sind alle Brüder«, sagt Mrs. Perch, während sie beim Trinken eine Pause macht. »Mit Ausnahme der Schwestern«, sagt Mr. Perch. »Wie sind doch die Mächtigen gefallen!« bemerkt die Köchin. »Hochmut kommt vor dem Fall«, meint die Hausmagd; »so war es stets und wird es immer sein!«
Es ist wunderbar, wie wohl sie sich bei Anstellung dieser Betrachtungen fühlen und wie christliche Einmütigkeit unter ihnen herrscht, wo es gilt, den gemeinschaftlichen Schlag mit Ergebung zu tragen. Diese treffliche Stimmung erleidet nur eine einzige Störung durch die junge Küchenmagd untergeordneten Ranges mit blauen Strümpfen, die, nachdem sie lange Zeit mit offenem Munde dagesessen, unerwartet sich der Worte entledigt: »Wenn aber gar der Lohn nicht ausbezahlt würde!« Die Gesellschaft ist einen Augenblick völlig sprachlos; dann aber wendet sich die Köchin, die sich zuerst wieder erholt, an die junge Weibsperson und fragt sie, wie sie sich unterstehen könne, durch einen so unehrenhaften Argwohn die Familie zu beschimpfen, deren Brot sie esse, und ob sie glaube, daß jemand nur mit einem Funken Ehrgefühl arme Dienstboten um ihren Liedlohn betrügen werde. »Wenn dies Eure religiöse Gesinnung ist, Mary Daws«, sagt die Köchin mit großem Eifer, »so weiß ich nicht, wohin es mit Euch kommen wird, nach oben oder unten.«
Mr. Towlinson weiß es auch nicht: niemand weiß es, und die junge Küchenmagd, die selbst nicht mit sich darüber im klaren zu sein scheint und jetzt hören muß, wie die allgemeine Stimmung sich gegen sie erhebt, gerät in die größte Verwirrung.
Nach einigen Tagen beginnen fremde Personen einzusprechen und sich im Salon zu gebärden, als ob sie da zu Hause seien. Namentlich macht sich ein Gentleman von mosaisch-arabischem Gesichtsschnitt mit einer schweren Uhrkette sehr bemerkbar, denn während er auf den andern Gentleman wartet, der immer Feder und Tinte in der Tasche mit sich führt, pfeift er in dem Salon und fragt Mr. Towlinson mit der vertraulichen Bezeichnung »alter Hahn«, ob er nicht wisse, was die Scharlach- und Goldbehänge gekostet haben mögen, als sie neu gekauft wurden. Die Besuche und Bestellungen in dem Speisezimmer werden mit jedem Tage zahlreicher, und die Gentlemen, die Feder und Tinte in der Tasche mitbringen, scheinen einigen Anlaß zu finden, von ihrem Schreibmaterial Gebrauch zu machen. Endlich ist von einem Ausverkauf die Rede. Dann kommen noch mehr Leute mit Feder und Tinte in den Taschen und führen eine Abteilung von Männern mit Strohmützen ein, die augenblicklich die Teppiche aufzunehmen anfangen, das Möbelwerk umherwerfen, und in der Halle und auf der Treppe Abdrücke von ihren Schuhen in Tausenden zurücklassen.
Der Küchenrat hält diese ganze Zeit über Konklave und verrichtet, da er nichts zu tun hat, wahre Heldentaten im Essen, bis endlich eines Tags das ganze Gremium nach Mrs. Pipchins Zimmer beschieden und von der schönen Peruvianerin folgendermaßen angeredet wird:
»Euer Gebieter ist in Bedrängnis«, sagt Mrs. Pipchin scharf. »Ihr wißt es vermutlich.«
Mr. Towlinson als Sprecher räumt die Kenntnis der Tatsache im allgemeinen ein.
»Und ich stehe dafür, ihr seid alle für euch selbst auf dem Lugaus«, sagt Mrs. Pipchin, den Kopf schüttelnd.
Eine schrille Stimme von hinten ruft:
»Nicht mehr als Ihr!«
»Ist dies Eure Meinung, Mrs. Unverschämt –he?« sagt die zornmütige Pipchin, mit wildem Blick über die dazwischen befindlichen Köpfe hinschauend.
»Ja, Mrs. Pipchin, sie ist's«, versetzte die Köchin vortretend. »Und was weiter, wenn ich fragen darf?«
»Nur so viel, daß Ihr gehen könnt, sobald es Euch beliebt«, sagt Mrs. Pipchin. »Je eher, desto besser; und ich hoffe, ich werde Euer Gesicht nie wieder sehen.«
Mit diesen Worten zieht die mannhafte Pipchin einen leinenen Beutel hervor und zahlt ihr den Lohn auf einen Monat und darüber aus, hält aber das Geld fest, bis die Quittung auf den letzten Strich hin richtig unterzeichnet ist, und läßt es dann brummend los. Dieses Verfahren wiederholt sie bei jedem Mitglied des Haushalts, bis alle bezahlt sind.
»Wer will, kann jetzt an sein Geschäft gehen,« sagt Mrs. Pipchin. »Diejenigen, die Lust haben, mögen gegen Kostgeld noch eine Woche oder so hier bleiben und sich nützlich machen. Ausgenommen«, fügte die reizbare Pipchin bei, »jene Schlumpe von einer Köchin, die augenblicklich fort muß.«
»Sie wird zuverlässig nicht säumen«, sagt die Köchin. »Guten Tag, Mrs. Pipchin, und ich wünsche aus aufrichtigem Herzen, daß ich Euch über die Holdseligkeit Eures Aussehens ein Kompliment machen könnte.«
»Fort mit Euch!« ruft Mrs. Pipchin und stampft mit dem Fuße.
Die Köchin segelt mit der Miene behaglicher Würde ab; sie ist sehr aufgebracht über Mrs. Pipchin, und bald nachher sammelt sich unten der Rest der Verbindung um sie.
Mr. Towlinson sagt sodann, daß er zuvörderst eine kleine Mahlzeit beantragen möchte, bei der er eine Andeutung kundgeben wolle, die seiner Meinung nach gut auf die Lage passe, in der sie sich befänden. Die Erfrischung wird beigeschafft und findet kräftigen Zuspruch. Mr. Towlinson meint nun, die Köchin gehe und wenn sie nicht sich selbst treu blieben, so werde ihnen niemand treu sein. Sie hätten im Hause so lang gelebt und sich alle Mühe gegeben, unter sich gesellschaftlich zu sein. (Die Köchin erwiderte hierauf mit Erregung »hört, hört!«, während Mrs. Perch, die wieder dabei und bis an den Hals vollgepfropft ist, in Tränen ausbricht.) Er glaube deshalb, in einer solchen Zeit müsse das Gefühl vorherrschen: »Geht eines, so gehen alle.« Die Hausmagd ist von dieser edlen Gesinnung sehr ergriffen und spricht ihr mit Wärme das Wort. Die Köchin fühlt, daß er recht habe, und hofft, es geschehe nicht als Kompliment gegen sie, sondern aus Pflichtgefühl. Mr. Towlinson versetzt: aus Pflichtgefühl; und da er sich jetzt gedrungen sehe, seine Ansichten auszusprechen, so wolle er offen sagen, daß er es nicht für achtbar halte, in einem Hause zu bleiben, wo Ausverkäufe und dergleichen Dinge vorkommen. Die Hausmagd ist davon vollkommen überzeugt und berichtet zur Bekräftigung, daß ein fremder Mann in einer Strohmütze erst sie auf der Treppe habe küssen wollen. Mr. Towlinson springt jetzt von seinem Tisch auf, um den Verbrecher zu suchen und ›niederzulegen‹, wird aber von den Damen zurückgehalten, die ihn bitten, er möchte sich doch beruhigen und in Erwägung ziehen, daß es leichter und klüger sei, den Schauplatz solcher Unanständigkeiten unverweilt zu verlassen. Mrs. Perch, die den Fall in einem neuen Licht darstellt, weist sogar nach, das Zartgefühl gegen Mr. Dombey, der sich in seinem Zimmer einschließe, fordere gebieterisch einen schleunigen Rückzug. »Denn welcher Art«, sagte die gute Frau, »müssen seine Gefühle sein, wenn er einem von den armen Dienstboten begegnet und sich den Vorwurf machen muß, er habe sie getäuscht, indem er sie auf den Glauben brachte, daß er unermeßlich reich sei!« Der Köchin leuchtet diese moralische Rücksicht so sehr ein, daß Mrs. Perch sie mit unterschiedlichen frommen Sprüchen, originell sowohl, als gesammelt, zu belegen sucht. Der Fall stellt sich klar heraus, daß sie alle gehen müssen. Die Koffer werden gepackt, Wagen geholt, und um die Zeit der Dämmerung sieht man kein Mitglied des ganzen Häufleins mehr im Hause.
Das Haus steht da, groß und wetterfest, in der langen öden Straße, aber es ist eine Ruine, und die Ratten fliehen daraus.
Die Männer in den Strohkappen werfen die Möbel umher, und die Gentlemen mit Tinte und Feder fertigen Inventarien darüber an, setzen sich auf Gerätschaften, die nie zum Sitzen gemacht worden sind, essen Brot und Käse, die sie aus dem Wirtshaus beschaffen lassen, auf andern Möbelstücken, die ebensowenig ursprünglich zu solchem Zwecke bestimmt waren, und scheinen eine Freude daran zu haben, wertvolle Artikel in der befremdlichsten Art zu gebrauchen. Auch findet unter dem Hausrat eine eigentlich chaotische Verwirrung statt. Matratzen und Betten verlieren sich in das Speisezimmer; das Glas und das Porzellan gelangen in die Speisekammer, das große Dinerservice ist auf dem langen Diwan des Besuchszimmers aufgehäuft, und die Treppendrähte, die in Bündel zusammengebunden sind, zieren die marmornen Kaminsimse. Zuletzt wird ein wollener Teppich mit einem gedruckten Zettel darauf vor dem Balkon ausgehängt, und ähnliche Banner wehen zu beiden Seiten der Hallentür.
Den ganzen Tag über harren verschimmelte Gigs und Wägelchen in der Straße. Herden von schäbigen Vampyren jüdischer und christlicher Abkunft überlaufen das Haus, untersuchen die Dicke der Spiegeltafeln mit ihren Knöcheln, schlagen auf dem großen Piano mißtönige Oktaven an, fahren mit angefeuchtetem Zeigefinger über die Gemälde, hauchen die Klingen der besten Tischmesser an, zerklopfen die Roßhaarpolster der Sessel und Sofas mit ihren schmutzigen Fäusten, lüften die Federbetten, öffnen und schließen alle Schubladen, wägen die silbernen Löffeln und Gabeln in den Händen, sehen sogar durch die Fäden vom Bett- und Tischzeug und verachten alles. Es gibt kein geheimes Plätzchen im ganzen Haus. Schnupftabaknasige Fremde glotzen mit gleicher Neugierde in den Küchenkasten, wie in die Kleiderschränke der Dachkammern hinein. Stämmige Männer mit abgerutschten Hüten auf den Köpfen schauen zu den Schlafzimmern hinauf und rufen ihren Freunden auf der Straße drunten Späße zu. Ruhige, berechnende Geister ziehen sich mit Listen in die Ankleidegemächer zurück und machen mit Bleistiftstümpfchen Randbemerkungen. Zwei Makler dringen sogar in den Schornstein ein und nehmen vom Dachgiebel aus eine panoramische Übersicht über die Nachbarschaft. Das Schwärmen, Summen und Auf- und Niedergehen dauert Tage lang. Der moderne Hausrat usw. ist zur Schau ausgestellt.
In dem besten Salon sieht man eine Palisade von Tischen, und auf der französisch polierten Mahagoni-Auszugstafel, die ihre Füße in die Höhe reckt, steht das Pult des Auktionators. Die Herden schäbiger Vampyre jüdischer und christlicher Abkunft, die schnupftabaknasigen Fremden und die stämmigen Männer mit den abgerutschten Hüten sammeln sich darum her, sitzen auf alles in ihrem Bereich, selbst die Kaminsimse nicht ausgenommen, und fangen an zu bieten. Den ganzen Tag über geht in den heißen, staubigen Zimmern das Gesumme fort, und hoch über der Hitze, dem Staub und dem Gesumme sind Kopf, Schultern, Stimme und Hammer des Auktionators in steter Tätigkeit. Die Männer in den Strohmützen werden von dem Umherwerfen der Gegenstände verwirrt und boshaft, und doch gehen die Nummern fort, zum ersten, zum zweiten und dritten Mal. Mitunter fällt ein Witz, der einen allgemeinen Beifallsdonner hervorruft. So geht es den ganzen Tag und die drei folgenden. Der moderne Hausrat usw. wird versteigert.
Die verschimmelten Gigs und Wägelchen kommen wieder, und mit ihnen Schubkarren und andere Fuhrwerke nebst einer Armee von Lastträgern. Den ganzen Tag über machen sich die Strohmützen-Männer mit Schraubenziehern zu schaffen, stolpern zu Dutzenden unter schweren Lasten auf der Treppe, oder heben wahre Felsmassen von spanischem Mahagoni, bestem Rosenholz oder Tafelglas in die Gigs und Wägelchen. Alle Arten von Lastfuhrwerken stehen auf der Wache, von dem beplanten Frachtwagen an bis zum Schubkarren herunter. Die kleine Bettstatt des armen Paul wird in einem Eselkarren fortgeführt. Fast eine Woche lang dauert die Abführung des modernen Hausrats usw.
Endlich ist alles fort, und im Hause sieht man nichts mehr als umhergestreute Blätter von Listen, Reste von Heu und Stroh, und eine Batterie von Zinnkannen hinter der Hallentür. Die Männer mit den Strohmützen sammeln ihre Schraubenzieher und ähnliche Gerätschaften in Säcke, nehmen sie auf die Schulter und marschieren ab. Einer von den Tinten- und Feder-Gentlemen geht – die letzte Aufmerksamkeit – noch einmal durch das Haus, steckt die Zettel in die Fenster, Vermietung dieses empfehlenswerten Familiensitzes betreffend, und schließt die Läden. Endlich folgt er den Männern mit den Strohmützen. Keiner von den Eindringlingen bleibt zurück. Das Haus ist eine Ruine, und die Ratten sind daraus geflohen.
Die Zimmer der Mrs. Pipchin nebst jenen verschlossenen Gemächern im Erdgeschoß, wo die Fensterladen niedergelassen sind, haben die allgemeine Verwüstung nicht teilen müssen. Hart und streng ist Mrs. Pipchins während dieses Verfahrens in ihrem Zimmer geblieben, oder hat nur hin und wieder einen kurzen Besuch in dem Auktionslokal gemacht, um zu sehen, was für die Gerätschaften erlöst wird, und auf einen besonders gemächlichen Stuhl ein Angebot zu tun. Als höchste Bieterin hat sie den Stuhl erhalten und sitzt eben auf ihrem Eigentum, als Mrs. Chick kommt, um sie zu besuchen.
»Wie geht es meinem Bruder, Mrs. Pipchin?« fragt Mrs. Chick.
»Ich weiß von ihm verteufelt wenig«, versetzt Mrs. Pipchin. »Er erweist mir nie die Ehre, mich anzureden. Sein Essen und Trinken muß in das Vorzimmer gebracht werden, und was ihm davon paßt, holt er, wenn niemand dabei ist. Es führt zu nichts, mich zu fragen. Ich weiß von ihm so wenig als der Mann im Süden, der sich bei kaltem Pflaumenmus den Mund verbrannte.«
Die scharfe Mrs. Pipchin wirft sich in die Brust, während sie dies spricht.
»Aber du mein gütiger Himmel!« ruft Mrs. Chick milde, »wie lang kann es noch fortwähren? Was soll aus meinem Bruder werden, Mrs. Pipchin, wenn er keine Anstrengung machen will? Man sollte wahrhaftig meinen, er hätte Zeit genug gehabt, um die Folgen des Nichtsichanstrengens kennenzulernen und sich gegen diesen verhängnisvollen Irrtum warnen zu lassen.«
»Ei der Tausend«, sagt Mrs. Pipchin, ihre Nase reibend, »ich denke, man macht da allzuviel Wesens. Der Fall ist nicht so verwunderlich. Auch andere Leute haben Unglück gehabt und mußten sich von ihrem Hausgerät trennen. Mir selbst ist es so ergangen.«
»Mein Bruder«, fährt Mrs. Chick gedankenvoll fort, »ist ein so eigener – ein so sonderbarer Mann – der sonderbarste Mann, der mir je vorgekommen. Sollte man's wohl glauben, daß er, als er die Kunde von der Verheiratung und Auswanderung jenes unnatürlichen Kindes erhielt – es ist mir jetzt ein Trost, wenn ich daran denke, daß ich immer sagte, es sei etwas Außerordentliches an jenem Kind; aber niemand achtete auf mich – ich sage, würde man's wohl glauben, daß er damals mir Vorwürfe machte und mir entgegenhielt, aus meinem Benehmen sei er auf die Vermutung gekommen, sie befinde sich in meinem Hause. Ach, du mein Himmel! Und würde man's wohl glauben, daß er, als ich bloß zu ihm sagte, ›Paul, es mag wohl töricht von mir sein, und ich will's auch nicht in Zweifel ziehen, aber ich kann nicht begreifen, wie deine Angelegenheiten in einen solchen Zustand geraten konnten‹, eigentlich auf mich losfuhr und mir erklärte, ich solle nicht wieder zu ihm kommen, bis er mich bitte! Ach, barmherziger Gott!«
»Ja«, sagte Mrs. Pipchin, »'s ist schade, daß er nicht mehr mit Minen zu schaffen hatte. Sie würden sein Temperament auf die Probe gesetzt haben.«
»Und wie soll es enden?« nimmt Mrs. Chick wieder auf, ohne auf die Bemerkung der Mrs. Pipchin zu achten. »Das möchte ich wissen. Was gedenkt mein Bruder zu tun? Etwas muß geschehen. Es führt zu nichts, wenn er sich in seinen Zimmern absperrt. Das Geschäft kommt nicht zu ihm. Er muß darnach gehen. Aber warum tut er's nicht? Ich denke, er weiß doch, wie er es anzufangen hat, da er sein ganzes Leben über Geschäftsmann gewesen ist. Gut. Aber warum sieht er sich nicht um?«
Nachdem Mrs. Chick diese gewaltige Kette von Vernunftschlüssen geschmiedet hat, bleibt sie eine Minute stumm, um ihr Machwerk zu bewundern.
»Außerdem«, fährt die verständige Dame in argumentierender Weise fort, »wer hat je von einem solchen Starrsinn gehört, sich während aller dieser Unannehmlichkeiten hier einzuschließen? Man sollte ja meinen, es habe keinen andern Platz gegeben, wohin er gehen können. Natürlich hätte er zu mir kommen können, denn weiß er nicht, daß er bei mir wie zu Hause ist? Mein Mann hat es ihm recht übel genommen, und ich sagte zu ihm: ›Da deine Angelegenheit einmal in einen solchen Zustand geraten sind, Paul, meinst du nicht, du wärest bei so nahen Verwandten, wie wir sind, besser zu Hause? Du wirst doch nicht annehmen, daß wir die übrige Welt sind?‹ Aber nein; da bleibt er die ganze Zeit, und da ist er. Du mein Himmel, wenn nun das Haus vermietet wird, was will er dann tun? Er kann doch nicht hier bleiben. Wollte er es, so liefe es auf eine Ausweisung hinaus, auf ein gerichtliches Verfahren, und dann muß er gehen. Und warum dies nicht lieber anfänglich, da sich's doch nicht ändern läßt? Dies führt mich wieder auf meine früheren Worte zurück, und ich frage natürlich, wie soll es enden?«
»So weit ich dabei beteiligt bin, weiß ich schon, wie es enden wird«, versetzt Mrs. Pipchin, »und dies ist genug für mich. Ich werde mich selbst abführen, und zwar im Nu.«
»In was, Mrs. Pipchin?« fragt Mrs. Chick.
»Im Nu«, versetzt Mrs. Pipchin mit Schärfe.
»Ah, so! Ich kann Euch freilich nicht darum tadeln, Mrs. Pipchin«, sagt Mrs. Chick mit Offenheit.
»Es wäre mir auch ziemlich gleichgültig, wenn Ihr's wolltet«, entgegnet die sardonische Pipchin. »Jedenfalls gehe ich. Ich kann nicht hier bleiben, denn in einer Woche hätte ich den Tod davon. Gestern mußte ich meine Schweinsrippchen selber braten, und daran bin ich nicht gewöhnt. Meine Konstitution würde bald erliegen.
Außerdem hatte ich, ehe ich hierher kam, zu Brighton eine recht hübsche Stellung – die kleinen Pankeys trugen mir allein jährlich gute achtzig Pfund ein – und ich kann eine solche Gelegenheit zum Erwerb nicht wegwerfen. Ich habe meiner Nichte geschrieben, und sie erwartet mich bereits.«
»Habt Ihr mit meinem Bruder darüber gesprochen?« fragte Mrs. Chick.
»O ja, es ist gar leicht, mit ihm zu sprechen«, erwidert Mrs. Pipchin. »Und wie ist es geschehen! Ich rief ihm gestern zu, ich sei hier nichts mehr nütze, und es dürfte wohl das geratenste sein, wenn er mich zu Mrs. Richards schicken lasse. Er grunzte irgend etwas, das ein Ja sein sollte, und ich schickte. Jawohl da, grunzen! Wenn er etwa Mr. Pipchin gewesen wäre, so hätte er vielleicht Ursache gehabt zu grunzen. Nein, mit meiner Geduld ist's zu Ende.«
Die musterhafte Frau, die so viel Standhaftigkeit und Tugend aus den Tiefen der peruvianischen Minen gepumpt hat, erhebt sich jetzt von ihrem gepolsterten Eigentum, um Mrs. Chick an die Tür zu begleiten. Letztere, die bis auf den letzten Augenblick den eigenen Charakter ihres Bruders beklagt, entfernt sich geräuschlos und wünscht sich unterwegs Glück, daß sie selbst so weise und einsichtsvoll ist.
In der Abenddämmerung langt Mr. Toodle, der gerade keinen Dienst hat, mit Polly und einem Koffer an und setzt sie in der Halle des leeren Hauses ab, dessen Verlassenheit auf Mr. Toodles Geist einen mächtigen Eindruck macht.
»Ich will dir was sagen, liebe Polly«, er begleitet diese Worte mit einem schallenden Kuß; »da ich jetzt Maschinenführer bin und mein gutes Auskommen habe, so wäre es mir nicht eingefallen, dich hierher kommen zu lassen, wenn ich nicht der früheren Vergünstigungen gedächte. Freilich kann man hier nur trübsinnig werden; aber was man früher Gutes genossen, Polly, darf man doch nicht vergessen, und außerdem ist schon dein Gesicht für Personen in Bedrängnis eine wahre Herzstärkung. Laß dir noch einmal einen Kuß geben. Ich weiß, du willst nichts als das Rechte, und meine Ansicht ist, daß du hierin recht und pflichtmäßig handelst. Gute Nacht, Polly!«
Inzwischen erscheint, eine düstere Nachtgestalt, Mrs. Pipchin in ihrem schwarzen Bombasinkleid, schwarzem Hut und schwarzem Halstuch. Sie hat ihr persönliches Eigentum aufgepackt, ihren Stuhl (vordem der Lieblingssitz von Mr. Dombey und das letzte Möbelstück in der Versteigerung) in die Nähe der Haustür gebracht und wartet nur noch auf einen Planwagen, der in Privatdiensten am Abend noch nach Brighton gehen und infolge eines gesonderten Vertrags sie aufladen soll.
Das Fuhrwerk bleibt nicht lange aus. Mrs. Pipchins Garderobe wird hinein- und untergebracht; dann kommt ihr Stuhl, der seinen Platz unter gewissen Heubüscheln findet, denn die liebenswürdige Dame beabsichtigt, während der Reise dieses Eigentum sich dienstbar zu machen. Dann wird Mrs. Pipchin selbst hineingeschoben und nimmt grämlich ihren Sitz ein. Es ist ein schlangenartiges Leuchten in ihrem harten Auge, gleichsam ein Vorgefühl von gebutterten Röstschnitten, warmen Rippchen, Plackereien an jungen Kindern, schnippischen Reden gegen die arme Berry und all den übrigen Vergnügungen in ihrem Werwolf-Kastell. Mrs. Pipchin lacht fast, während der Planwagen abfährt, glättet ihre schwarzen Bombasin-Schöße und macht sich's in den Kissen ihres Armstuhls bequem.
Das Haus ist eine solche Ruine, daß die Ratten geflohen sind, ohne daß auch nur eine einzige zurückblieb.
Aber Polly, obgleich allein in dem verlassenen Hause – denn die verschlossenen Zimmer, in denen ihr früherer Gebieter sein Haupt verbirgt, sind nicht als Gesellschaft zu rechnen – bleibt nicht lange allein. Es ist Nacht. Sie sitzt im Haushälterinzimmer an der Arbeit und versucht die Einsamkeit und die Geschichte des Hauses zu vergessen, als ein Klopfen sich von der Haustür her vernehmen läßt – ein Klopfen, das an dem leeren Platz nur um so lauter zu tönen scheint. Sie öffnet und kehrt mit einer weiblichen Gestalt in einem dicht anschließenden schwarzen Hut nach der dröhnenden Halle zurück. Es ist Miß Tox, die sich mit rotgeweinten Augen einstellt.
»O Polly«, sagt Miß Tox, »als ich vorhin bei Euch vorsprach, um den Kindern eine Stunde zu geben, erfuhr ich die Nachricht, die Ihr mir hinterlassen habt, und sobald ich mich zu fassen vermochte, kam ich zu Euch. Ist denn außer Euch niemand hier?«
»Ach, keine Seele«, versetzt Polly.
»Habt Ihr ihn gesehen?« flüstert Miß Tox.
»Gott behüte, nein«, entgegnet Polly. »Er hat sich schon tagelang nicht blicken lassen. Wie ich höre, kommt er nie aus seinem Zimmer.«
»Man erzählt sich, daß er krank sei?« bemerkt Miß Tox.
»Nein, Ma'am, nicht daß ich wüßte«, erwidert Polly, »es wäre denn geistig. Es muß dem armen Gentleman sehr schwer ums Herz sein!«
Die Teilnahme der Miß Tox ist so groß, daß sie kaum zu sprechen vermag. Sie gehört zwar nicht zu den heurigen Hasen, ist aber doch nicht von Alter und Zölibat zäh geworden. Sie besitzt ein gefühlvolles Herz; ihre Teilnahme ist echt und ihre Huldigung lauter. Unter dem Schloß mit dem Fischauge birgt Miß Tox bessere Eigenschaften, als manche einladendere Außenseite – Eigenschaften, die um viele Sommer länger leben werden, als die glänzendsten Hüllen, die in der Ernte des großen Schnitters fallen.
Es währt lange, bis Miß Tox sich entfernt und Polly mit einem flackernden Licht sie die Treppe hinab bis auf die Straße hinaus begleitet. Nur ungern kehrt letztere in das traurige Haus zurück, denn die schweren Riegel der Tür klirren so trostlos, ehe sie in ihr Bett schlüpft. Am andern Morgen bringt sie in das verödete Zimmer diejenigen Gegenstände, die man ihr anzufertigen aufgetragen hat, zieht sich dann zurück und betritt es nicht mehr bis zum nächsten Morgen um dieselbe Stunde. Es sind Klingeln da, die aber nie geläutet werden, und obschon sie bisweilen auf und ab gehende Fußtritte vernimmt, kommen sie doch nie heraus.
Miß Tor stellt sich am andern Tage früh wieder ein. Sie beginnt nun, kleine Leckerbissen zuzubereiten, die am andern Morgen in das erwähnte Zimmer gebracht werden. Dieses Geschäft macht ihr so viel Freude, daß sie es fortan mit aller Regelmäßigkeit betreibt, denn sie bringt täglich in ihrem Körbchen unterschiedliche Konfitüren mit, die aus den spärlichen Vorräten des abgeschiedenen Eigentümers vom gepuderten Kopf und Haarbeutel stammen. In gleicher Weise trägt sie ihr eigenes Mittagessen mit sich, aus Stückchen kalten Fleisches, Schafszungen, halben Hühnern und dergleichen bestehend, die sie in Fließpapier eingewickelt hat. Diese Erfrischungen teilt sie mit Polly und bringt ihre Zeit meist in der Ruine zu, aus der die Ratten geflohen sind. Sie erschrickt vor jedem Laut und stiehlt sich wie eine Verbrecherin ein und aus, denn sie wünscht nichts, als dem gefallenen Gegenstand ihrer Bewunderung treu zu sein, ohne daß er oder die ganze übrige Welt, ein einziges armes Weib ausgenommen, darum weiß.
Der Major weiß es zwar auch, wird aber nicht klüger daraus, obschon er es sehr belustigend findet. In einem Anfall von Neugierde hat er den Eingeborenen beauftragt, das Haus von Zeit zu Zeit zu beobachten und ausfindig zu machen, wie es mit Dombey stehe. Der Eingeborene hat über die Treue der Miß Tox Bericht erstattet und der Major vor lauter Lachen fast einen Schlaganfall erlitten. Von Stunde an wird er stets blauer und pustet sich unaufhörlich zu, während ihm die Hummeraugen fast aus dem Kopf springen: »Gott verdamm' mich, Sir, das Weibsbild ist eine geborene Gans!«
Und der zugrunde gerichtete Mann – wie verbringt er seine einsamen Stunden? Möge er sich des erinnern in jenem Zimmer nach vielen kommenden Jahren. Der Regen, der auf das Dach niederfällt, der Wind, der draußen trauert, drückt wohl in dem wehmütigen Ton eine Ahnung aus. Möge ihn jenes Zimmer daran mahnen nach vielen künftigen Jahren!
Er erinnerte sich daran. In der unglücklichen Nacht, dem traurigen Tag, in der trübseligen Morgendämmerung und in dem gespenstischen, von Erinnerungen umspukten Zwielicht dachte er daran! Er dachte daran mit Schmerz, voll Leid, mit Gewissensbissen und in Verzweiflung! »Papa! Papa! redet mit mir, lieber Papa!« Er hörte die Worte wieder und sah das Gesicht. Er sah, wie es auf die zitternden Hände sank, und hörte, wie sie schluchzend die Treppe hinaufstieg.
Er war gefallen, um nie wieder aufgerichtet zu werden. Für die Nacht seines zeitlichen Untergangs gab es keine Morgensonne, für den Flecken seiner häuslichen Schande keine Reinigung; dem Himmel sei Dank, nichts konnte sein totes Kind wieder ins Leben zurückrufen. Aber dasjenige, was er in der Vergangenheit so ganz anders hätte machen können und was ihm selbst eine so ganz andere Vergangenheit geschaffen haben würde, obgleich er jetzt kaum daran dachte, – das, was sein eigenes Werk war und was ihm seit Jahren zum Fluch geworden, während es so leicht in Segen umzuwandeln gewesen wäre, wurde jetzt zum herben Schmerz seiner Seele.
O, er erinnerte sich. Der Regen, der auf das Dach fiel, der Wind, der draußen trauerte – ihr wehmütiger Ton war ahnungsvoll gewesen. Er wußte, er habe alles selbst auf sein Haupt heruntergerufen, und wurde dadurch tiefer gebeugt, als durch den schwersten Schlag des Schicksals. Er wußte, was es war, verlassen und verstoßen zu sein, jetzt, da jede liebende Blüte, die in dem unschuldigen Herzen seiner Tochter verwelkt war, als Asche auf ihn niederregnete.
Er dachte an sie, wie sie gewesen war in der Nacht, als er mit seiner jungen Frau nach Hause zurückkam. Er dachte an sie, wie sie gewesen während aller der verschiedenen Ereignisse in dem verlassenen Hause. Er dachte jetzt, daß von allem um ihn her sie allein sich nie verändert hatte. Sein Sohn war zum Staub zurückgekehrt, sein stolzes Weib zu einem erbärmlichen Geschöpf geworden; sein Schmeichler und Freund hatte sich in den schlechtesten aller Schurken umgewandelt, sein Reichtum war dahin und sogar die Wände, die ihn schirmten, sahen ihn nur wie einen Fremden an. Sie allein wandte ihm stets den gleichen sanften, milden Blick zu. Ja, bis auf den letzten Augenblick. Sie hatte sich nie gegen ihn – er sich nie gegen sie verändert – und sie war für ihn verloren.
Und der Reihe nach schwanden sie hin vor seinem geistigen Blicke – die Hoffnungen, die er auf seinen Knaben gesetzt, sein Weib, sein Freund, seine Habe – sie schwanden hin wie der Nebel, der ihm das Bild seiner Tochter getrübt hatte, und nachdem derselbe weg war, sah er sie in ihrer wahren Gestalt. O wieviel besser wäre es gewesen, er hätte sie geliebt, wie er seinen Knaben liebte, und sie verloren, wie seinen Knaben – beide zusammen in einem frühen Grabe!
In seinem Stolze – denn er war noch immer stolz – kümmerte er sich nicht darum, daß die Welt sich von ihm zurückzog. Wie sie dies tat, schüttelte auch er sie ab. Mochte er sich dieselbe als mitleidsvoll oder gleichgültig gegen ihn denken, sie war ihm in gleicher Weise zuwider, und er wollte sie so wie so meiden. Er hatte keine Vorstellung von irgendeinem Gefährten in seinem Elend, aber die einzige, die bei ihm ausgehalten haben würde, war von ihm vertrieben worden. Was er zu ihr gesagt oder welchen Trost er von ihr empfangen haben würde, dies vergegenwärtigte er sich nie, obschon er stets in seinem Innern fühlte, daß sie ihm treu geblieben wäre in seinem Leiden. Er wußte, sie würde ihn jetzt mehr geliebt haben, als zu irgendeiner andern Zeit, war so fest davon überzeugt, wie von dem Vorhandensein eines Himmels über ihm, und schleppte sich unter solchen Gedanken durch die Einsamkeit seiner Stunden. Tag um Tag hallte die nämliche Stimme in seinen Ohren, Nacht um Nacht trat ihm dasselbe Bewußtsein vor die Seele.
Es begann ohne Zweifel – wie langsam es auch eine Zeitlang fortschreiten mochte – mit dem Empfang des Briefes von ihrem jungen Gatten und mit der Gewißheit, daß sie fort war. Und doch war er so stolz in seinem Untergang, fühlte er so sehr, es sei etwas, das ihm hätte gehören können, unwiederbringlich verloren, daß er nicht zu ihr hinausgegangen sein würde, selbst wenn er in dem anstoßenden Gemach ihre Stimme gehört hätte. Wäre er ihr auf der Straße begegnet und hätte sie auch nur nach ihm hingeblickt, wie sie sonst zu tun pflegte, so würde er mit dem alten, kalten, unversöhnlichen Gesicht an ihr vorbeigegangen sein, ohne sie anzureden, selbst wenn bald darauf sein Herz gebrochen wäre. Mit welcher Bitterkeit, mit welchem herben Ingrimm er auch anfänglich an ihre Heirat und an ihren Gatten gedacht hatte, war doch jetzt alles vorbei. Er vergegenwärtigte sich hauptsächlich, was hätte geschehen können und was nicht geschehen war. In dem Sein ging alles übrige auf. Sie war ihm verloren, und er beugte sich voll Schmerz und Gewissensbissen.
Er fühlte jetzt, daß ihm zwei Kinder in diesem Haus geboren worden waren und daß zwischen ihm und den kahlen, leeren Wänden ein Band lag, ein schmerzliches zwar, aber doch auch ein schwer zerreißbares, das ihn an eine doppelte Kindheit, an einen doppelten Verlust fesselte. An dem Abend des Tages, an dem dieses Gefühl zum erstenmal in seiner Brust Wurzel gefaßt, hatte er daran gedacht, das Haus zu verlassen, obschon er nicht wußte, wohin; er beschloß jedoch, noch eine Nacht zu bleiben und im Lauf derselben zum letztenmal die Gemächer zu durchwandeln.
Gegen Mitternacht verließ er seine Einsamkeit und ging, ein Licht in der Hand, leise die Treppen hinan. Unter allen den Füßen, die hier ihre Abdrücke zurückgelassen und die Treppe so gemein gemacht hatten, wie die gewöhnliche Straße, war nicht einer, der zu der Zeit, als er in seiner Abgeschlossenheit auf ihren Schall lauschte, nicht den Eindruck auf ihn geübt hätte, als zertrete er ihm das Gehirn. Er sah die zahlreichen Spuren, erkannte daraus die Hast und das Vorwärtsdrängen – ein Fuß hatte das Abzeichen des andern ausgetreten, und so ging's gegeneinander anprallend aufwärts und abwärts. Mit einer eigentlichen Furcht machte er sich Gedanken, wieviel er während jener Zeit der Prüfung gelitten haben mußte, und welche Gründe für ihn vorhanden waren, ein anderer Mann zu werden. Außerdem vergegenwärtigte er sich, ob es nicht irgendwo in der Welt einen leichten Fußtritt gebe, der in einem Nu die Hälfte dieser Abzeichen auszutilgen vermöchte! Mit gebeugtem Haupte ging er weiter, und Tränen rannen über seine Wangen nieder.
Er sah jenen fast vor sich hergleiten, hielt inne und schaute nach dem Hochlichtfenster hinauf. Eine Gestalt, selbst noch Kind, aber noch ein Kind auf dem Arme tragend und vor sich hinsingend, schien wieder dort zu sein. Ja, es war dieselbe Gestalt, einsam und für einen Moment mit verhaltenem Atem stehen bleibend. Das schöne Haar wallte lose um ein tränenvolles Antlitz her, das nach ihm zurückschaute.
Er wandelte durch die Gemächer, die sonst so üppig gewesen waren, jetzt aber so kahl und unheimlich, ja selbst in Gestalt und Größe so verändert aussahen. Die Fußspuren häuften sich dort, und der Rückblick auf die Leiden, die sie ihm bereitet hatten, verwirrte und schreckte ihn. Er begann zu fürchten, die wilden Vorstellungen seines Gehirns könnten ihn wahnsinnig machen und seine Gedanken hätten bereits ihren Zusammenhang verloren, um wie die Fußstapfen in nicht mehr erkennbarer Verwicklung ineinander zu laufen und Abwechselungen unbestimmter Formen zu bilden.
Er wußte nicht einmal, in welchem von diesen Zimmern sie gewohnt hatte, als sie allein war, und ging deshalb gern weiter, um höher hinauf zu wandern. Hier bot sich ihm eine Menge von Anhaltspunkten dar, die ihn an sein falsches Weib, an seinen treulosen Freund und Diener, an die falschen Grundlagen seines Stolzes erinnerten; aber er schob sie insgesamt beiseite und gedachte in seinem Elend nur seiner beiden Kinder.
Überall die Fußstapfen! Sie hatten keine Achtung gehabt vor dem alten Stübchen hoch oben, wo das kleine Bett gestanden, und der arme Mann konnte dort kaum einen Raum finden, um an der Wand auf den Boden niederzuknien und seinen Tränen freien Lauf zu lassen. Er hatte vor langer Zeit hier so viele Tränen vergossen, daß er sich an diesem Platze weniger als an irgendeinem andern seiner Schwäche schämte, und vielleicht war es dieses Bewußtsein, das ihm für sein Herkommen als Entschuldigung dienen mußte. Mit gebeugten Schultern und auf die Brust gesenktem Kinne war er eingetreten, und jetzt lag er in Mitte der Nacht da, auf den kahlen Brettern, einsam und bis zu Tränen ergriffen, obschon auch jetzt noch ein stolzer Mann, der, wenn eine freundliche Hand sich nach ihm ausgestreckt oder ein liebevolles Gesicht auf ihn niedergesehen hätte, sich schnell erhoben haben würde, um fort und wieder in seine Zelle hinunterzugehen.
Mit Anbruch des Tages war er wieder in seinen Zimmern eingeschlossen. Er hatte heute ausziehen wollen, hielt aber an diesem Bande im Hause, als an dem letzten und einzigen, das ihm geblieben war, fest. Er wollte morgen gehen. Der Morgen kam. Er verschob es wieder auf den andern Tag. Ohne von irgendeinem menschlichen Wesen beobachtet zu werden, verließ er jeden Abend seine freiwillige Haft und wanderte wie ein Gespenst durch das verheerte Haus. An manchem aufdämmernden Morgen brütete sein verändertes Gesicht hinter den geschlossenen Fensterblenden, niedergebeugt und nur von unvollkommenem Licht erhellt, über den Verlust seiner beiden Kinder. Nicht einmal ein einziges mehr! Er vereinigte sie wieder in seinen Gedanken und sie wollten sich nie trennen lassen. O, hätte auch er sie einigen können in seiner früheren Liebe und im Sterben, denn der eine Verlust war viel schlimmer, als durch den Tod!
Heftige geistige Aufregung und Verstörtheit war ihm auch vor seinem letzten Leiden nichts Neues gewesen. Bei störrischen, finsteren Charakteren ist dies etwas Gewöhnliches, denn es kostet sie Anstrengung, solche Eigenschaften zu behaupten. Doch ein lang untergrabener Boden stürzt oft plötzlich zusammen, wenn auch der Zahn der Zerstörung nur so langsame allmähliche Fortschritte gemacht hat, wie der Weiser auf seiner Uhr.
Endlich begann er zu denken, daß er gar nicht zu gehen brauche. Er konnte auf das verzichten, was ihm seine Gläubiger noch gelassen hatten (daß sie ihn nicht mehr schonten, war seine eigene Schuld gewesen), und um das Band zwischen ihm und dem verfallenen Hause zu trennen, hatte er nur nötig, jenes andere Glied zu lösen – –
Damals hörte man seinen Fußtritt in dem Zimmer der früheren Haushälterin – freilich nicht in seiner wahren Bedeutung, da er sonst einen erschreckenden Ton gehabt haben würde.
Die Welt war wegen seiner sehr geschäftig und unruhig. Dies trat ihm wieder ins Bewußtsein. Sie flüsterte, plauderte und konnte keinen Augenblick aufhören. Dies und die Verwicklung der Fußtritte quälte ihn auf den Tod. Alles zeigte sich ihm jetzt in düsteren, schwarzen Farben. Dombey und Sohn waren nicht mehr – seine Kinder waren nicht mehr – dies mußte er morgen ernstlich in Erwägung ziehen.
Er zog es in Erwägung. In seinem Stuhle sitzend, sah er von Zeit zu Zeit in den Spiegel und erblickte folgendes Bild: eine gespenstische, hagere, abgezehrte Gestalt, der seinen ähnlich, die über dem leeren Feuerplatze brütete. Jetzt erhob sie den Kopf, um die Linien und Furchen in seinem Gesichte zu betrachten, jetzt senkte sie ihn wieder, um aufs neue zu brüten. Dann stand sie auf und ging umher, begab sich in das anstoßende Zimmer hinaus und kam mit etwas zurück, das sie vom Ankleidetische weggenommen und in ihre Brust gesteckt hatte. Dann sah sie nach dem Boden an der Tür hin und dachte.
Stille! Was?
Sie dachte, wenn Blut in diese Richtung rieselte und sich hinauslecken sollte nach der Halle, so brauche es wohl lange Zeit, um so weit zu kommen. Es mußte sich so verstohlen und langsam bewegen, da eine kleine Lache bilden, dort wieder weiter rinnen und dann sich wieder zu einer kleinen Lache sammeln, so daß durch seine Vermittlung ein schwer verwundeter Mensch nur tot oder sterbend aufgefunden werden konnte. Nachdem sie dies eine Weile erwogen hatte, stand sie auf und ging, die Hand in die Brust gesteckt, wieder hin und her. Sie blickte gelegentlich danach hin, um ihre Bewegungen zu beobachten, und bemerkte, wie wild und mordgierig jene Hand aussah.
Sie dachte wieder! Was dachte sie?
Ob die Leute wohl in das Blut, wenn es so weit gekrochen war, treten und es unter den vielen Fußspuren im Hause umher oder vielleicht gar in die Straße hinaustragen würden.
Sie setzte sich wieder, heftete die Augen auf den leeren Kamin, und während sie sich aufs neue in ein Brüten verlor, schoß ein Lichtstrahl ins Zimmer – ein Strahl der Sonne. Sie achtete nicht darauf und blieb gedankenvoll sitzen. Plötzlich erhob sie sich mit einem schrecklichen Gesicht, und die verbrecherische Hand griff nach dem, was in der Brust stak. Dann wurde ihr durch einen Schrei Einhalt getan – durch einen wilden, lauten, durchbohrenden, liebevollen, entzückten Schrei – er sah nur im Spiegel sein eigenes Abbild und die Knie desselben umfaßt von dem seiner Tochter.
Ja, seine Tochter! Sie ist da! Auf dem Boden liegend hat sie seine Knie umschlungen, faltet bittend die Hände und ruft ihm zu:
»Papa – teuerster Papa! Verzeiht mir! Ich bin zurückgekommen, um auf meinen Knien mir Eure Vergebung zu erflehen. Ich kann nicht mehr glücklich sein, wenn Ihr mir nicht verzeiht!«
Noch immer unverändert. Von der ganzen Welt nur sie unverändert. Dasselbe Gesicht zu ihm erhebend, wie in jener unglücklichen Nacht, und um seine Vergebung bittend.
»O teurer Papa, seht mich nicht so schrecklich an! Ich wollte Euch nicht verlassen, dachte nie daran, weder vorher noch nachher. Als ich wegging, war ich so erschrocken, daß ich nicht denken konnte. Lieber Papa, ich bin anders geworden. Reuig kehre ich zurück. Ich weiß, wie schwer ich gefehlt habe, und kenne jetzt meine Pflicht besser. Papa verstoßt mich nicht, oder ich sterbe.«
Er wankte nach seinem Stuhle, fühlte, wie sie seine Arme um ihren Nacken schlang und wie sie die ihrigen um den seinigen legte, empfand auf seinem Gesicht die Glut ihrer Küsse und das Feucht ihrer Wange, die sich an die seinige schmiegte – o, wie tief fühlte er nicht dabei alles, was er getan hatte.
Auf die Brust, die er mit seiner Faust mißhandelte, gegen das Herz, das er fast gebrochen hatte, legte sie sein Gesicht, das er mit den Händen bedeckt hielt, und sagte schluchzend:
»Teurer Papa, ich bin Mutter. Ich habe ein Kind, das Walter bald mit dem Namen nennen wird, den ich Euch jetzt zurufe. Erst nach seiner Geburt und als ich wußte, wie sehr ich es liebte, wurde mir klar, was ich getan hatte, als ich Euch verließ. Verzeiht mir, lieber Papa! O! sprecht Euren Segen über mich und mein kleines Kind!«
Er würde ihn gesprochen haben, wenn er dazu fähig gewesen wäre. Er wollte seine Hände erheben und sie um Verzeihung bitten, aber sie faßte dieselben mit den ihrigen und drückte sie hastig nieder.
»Mein Kind wurde auf dem Meere geboren, Papa. Ich betete zu Gott (und auch Walter betete mit), er möchte mich verschonen und wieder nach der Heimat zurückkommen lassen. Sobald ich ans Land getreten war, eilte ich zu Euch zurück. Wir wollen uns nie wieder trennen, Papa, wir wollen uns nie mehr trennen!«
Sein jetzt graues Haupt war von ihrem Arm umschlungen, und er stöhnte bei dem Gedanken, daß es nie, nie zuvor eine solche Ruhe gefunden hatte.
»Ihr kommt jetzt mit mir, Papa, und seht nach meinem Knaben. Sein Name ist Paul, Papa. Ich glaube – ich hoffe – er gleicht –« Sie konnte vor Tränen nicht weiter reden.
»Lieber Papa, um meines Kindes willen, um des Namens willen, den wir ihm gegeben haben, um meinetwillen bitte ich Euch, daß Ihr Walter verzeihet. Er ist so gut und liebevoll gegen mich. Ich bin so glücklich mit ihm. Er trägt keine Schuld an unserer Verheiratung – sie trifft nur mich, weil ich ihn so sehr liebte.«
Sie klammerte sich fester, inniger und liebevoller an ihn an.
»Er ist das Kleinod meines Herzens, Papa, und ich würde für ihn in den Tod gehen. Er wird Euch lieben und ehren, wie ich es tun will. Er wird unser kleines Kindchen lehren, daß es Euch liebe und ehre, und wir wollen ihm, wenn es so viel verstehen kann, sagen, daß Ihr einmal einen Sohn des gleichen Namens hattet, daß er starb und daß Ihr sehr betrübt waret; aber er sei in den Himmel gegangen, wo wir alle ihn wieder zu sehen hoffen, wenn für uns die Zeit der Ruhe kommt. Gebt mir einen Kuß, Papa, als Zusage, daß Ihr mit Walter versöhnt sein wollet – mit meinem teuren Gatten – mit dem Vater des Kindes, das mich zu Euch zurückkommen lehrte, Papa.«
Mit einem abermaligen Tränenausbruch umschlang sie ihn aufs neue, während er sie auf die Lippen küßte, die Augen gen Himmel erhob und die Worte sprach:
»O mein Gott, vergib mir, denn ich bin dessen sehr bedürftig!«
Dann senkte er das Haupt wieder und streichelte ihr Gesicht im Gefühl schmerzlicher Reue. Lange, lange Zeit ließ sich kein Laut durch das ganze Haus vernehmen. Sie hielten sich gegenseitig mit den Armen umschlungen, und noch immer fiel der glorreiche Sonnenschein auf sie nieder, der mit Florence hereingeschlichen war.
Ihrer Bitte sich bereitwillig unterwerfend, kleidete er sich zum Ausgehen an. Schwankenden Schritts und zitternd nach dem Zimmer zurückschauend, wo er so lang eingeschlossen gewesen, und wo er das Bild im Spiegel gesehen hatte, folgte er ihr in die Halle hinaus. Florence schaute sich kaum um, damit sie ihn nicht aufs neue an ihren letzten Abschied erinnere (denn sie stand auf den Steinen, wo er sie in seinem Wahnsinn niedergeschlagen hatte), hielt sich dicht an ihn, ohne ihre Blicke von seinem Antlitz zu verwenden, und führte ihn, während er sich an ihr festhielt, nach der Kutsche hinaus, die vor der Tür wartete und ihn aufnahm.
Dann kamen Miß Tox und Polly in tränenvollem Jubel aus ihrem Versteck hervor, packten seine Kleider, Bücher usw. mit großer Sorgfalt ein und überantworteten sie im Laufe des Tags an gewisse Personen, die von Florence beauftragt worden waren, diese Gegenstände abzuholen. Abends nahmen sie in dem einsamen Hause die letzte Tasse Tee ein.
»Und so ist Dombey und Sohn, wie ich bei einer gewissen traurigen Gelegenheit bemerkte«, sagte Miß Tox am Schlüsse einer Menge von Erinnerungen, »am Ende doch eine Tochter, Polly.«
»Und dazu eine recht gute!« rief Polly.
»Ihr habt recht«, sagte Miß Tox. »Und es macht Euch Ehre, Polly, daß Ihr stets als Freundin zu ihr hieltet, als sie noch ein kleines Kind war. Ihr seid ein gutes Geschöpf, Polly«, fügte sie bei, »und waret lange vor mir ihre Freundin. Robin!«
Diese letztere Anrede galt einem rundköpfigen jungen Menschen, dem Anscheine nach in sehr bedrängten Verhältnissen, der betrübt in einer Ecke saß. Als derselbe aufstand, ließ sich die Gestalt und das Gesicht des Schleifers erkennen.
»Robin«, sagte Miß Tox, »wie Ihr gehört haben werdet, habe ich soeben Eurer Mutter gesagt, daß sie ein gutes Geschöpf sei.«
»Dies ist sie auch, Miß«, versetzte der Schleifer mit einigem Gefühl.
»Gut, Robin«, sagte Miß Tox. »Es freut mich. Euch so reden zu hören. Da ich auf Euer dringliches Ersuchen eine Probe mit Euch machen und Euch in der Absicht, Eure Achtbarkeit wieder herzustellen, als Dienstboten in mein Haus aufnehmen will, so benutze ich diese eindrucksreiche Gelegenheit, um Euch zu erklären, daß ich hoffe, Ihr werdet nie vergessen, welche gute Mutter Ihr habt und stets gehabt habt. Ich setze von Euch voraus, Ihr werdet Euch Mühe geben, Euch stets so aufzuführen, daß sie Freude an Euch erlebe.«
»Bei meiner Seele, das will ich«, entgegnete der Schleifer. »Ich habe viel durchgemacht, und meine Entschlüsse sind nun so geradaus, wie die eines jungen Bursch –«
»Ich muß mir hier erlauben. Euch zu unterbrechen, Robin«, fiel ihm Miß Tox höflich ins Wort.
»Wenn Ihr lieber so wollt, wie die eines jungen Menschen –«
»Danke, Robin, nein«, erwiderte Miß Tox. »Ich würde Individuum vorziehen.«
»Wie die eines Entenvittum –« sagte der Schleifer.
»Viel besser«, bemerkte Miß Tox wohlgefällig. »Unendlich ausdrucksvoller.«
»– nur sein können«, fuhr Rob fort. »Hätte man nicht einen Schleifer aus mir gemacht, Miß und Mutter, denn dies war ein sehr unglücklicher Umstand für einen jungen Bu – Entenvittum.«
»In der Tat sehr gut«, bemerkte Miß Tox beifällig.
»– und wäre ich nicht durch die Vögel verlockt worden und dann in einen schlimmen Dienst gekommen«, sagte der Schleifer, »so würde es hoffentlich besser mit mir ausgefallen sein. Aber es ist nie zu spät für ein –«
»Indi –« deutete Miß Tox an.
»Vittum«, sagte der Schleifer, »sich zu bessern, und ich hoffe, Miß, ich werde es können, wenn Ihr den freundlichen Versuch mit mir macht. Sagt es auch dem Vater, den Brüdern und den Schwestern, Mutter, und bringt ihnen herzliche Grüße von mir.«
»Es freut mich sehr, Euch so sprechen zu hören«, bemerkte Miß Tox. »Wollt Ihr ein wenig Butterbrot und eine Tasse Tee genießen, Robin, ehe wir gehen?«
»Danke, Miß«, entgegnete der Schleifer, der augenblicklich seine Zähne auf höchst merkwürdige Weise in Tätigkeit zu setzen begann, als sei er beträchtlich lange auf gar kurze Rationen beschränkt gewesen. Nachdem endlich Miß Tox und Polly ihre Hüte und Halstücher angelegt hatten, umarmte Rob seine Mutter und folgte seiner neuen Gebieterin – so sehr zur hoffnungsvollen Bewunderung Pollys, daß, als sie ihm nachsah, etwas in ihren Augen glänzende Ringe um die Gaslampen her erscheinen ließ. Mrs. Richards löschte sodann ihr Licht, schloß die Haustür, übergab den Schlüssel einem in der Nachbarschaft wohnenden Agenten und ging, so schnell sie konnte, im Vorgenusse des Entzückens, das ihre unerwartete Ankunft verbreiten würde, nach Hause. Das große Gebäude, so taub gegen alle Leiden und Wechsel, deren Zeuge es gewesen, stand finster wie ein stummer Leichenbegleiter in der Straße, jede nähere Nachfrage mit der unverantwortlichen Ankündigung täuschend, daß dieser angenehme Familiensitz zu vermieten sei.
Sechzigstes Kapitel. HANDELT HAUPTSÄCHLICH VON HOCHZEITEN.
Das große halbjährliche Fest des Doktors und der Mrs. Blimber, bei welcher Gelegenheit jeder junge Gentleman, der in jenem gentilen Institut seinen Studien oblag, um die Ehre seiner Teilnahme an einer auf halb acht Uhr anberaumten Quadrillen-Partie gebeten wurde, hatte getreulich um die besagte Zeit stattgefunden, und die jungen Gentlemen waren mit nicht unanständigen Kundgebungen von Leichtherzigkeit und in einem Zustande scholastischer Erschöpfung in ihre Heimat zurückgekehrt. Mr. Skettles war ins Ausland gegangen und verdankte zur bleibenden Zierde der Familie des Sir Barnet Skettles den populären Manieren seines Vaters eine diplomatische Anstellung, deren Ehren zur großen Verwunderung und Zufriedenheit ihrer Landsleute besagter Vater und Lady Skettles selbst zu vergeben hatten. Mr. Tozer, jetzt ein junger Mann von hoher Statur in Wellington-Stiefeln, war so vollgepfropft von Altertum, daß er sich in Kenntnis des Englischen nahezu mit einem alten echten Römer messen könnte – ein Triumph, der seine guten Eltern mit der innigsten Rührung erfüllte, und dem Vater und der Mutter des Mr. Briggs, dessen Gelehrsamkeit gleich schlecht geordnetem Gepäck so fest eingestallt war, daß er nie daran kommen konnte, wenn er etwas davon brauchte, Anlaß gab, beschämt ihre Häupter zu verbergen. Die Frucht, die der letztere junge Gentleman so mühsam von dem Baume des Wissens eingeheimst hatte, war so künstlich getrieben worden, daß sie mit einer intellektuellen Norfolker Ananas verglichen werden konnte, der nichts von der ursprünglichen Gestalt und Feinheit geblieben war. Master Bitherstone, auf den das Zwangssystem die nicht ungewöhnliche bessere Wirkung geübt hatte, daß nach Aufhören der Tätigkeit des Nötigungsapparats auch alle Eindrücke verschwanden, fühlte sich weit behaglicher und vergaß, da er sich zu einer Fahrt nach Bengalen an Schiffsbord begeben hatte, alles mit so bewunderungswürdiger Schnelligkeit, daß es wohl zweifelhaft erschien, ob die Deklination der Substantive bei ihm bis zum Ende der Reife aushalten würde.
Statt wie gewöhnlich am Morgen der Partie für die jungen Gentlemen zu bemerken: »Gentlemen, wir wollen am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats unsere Studien wieder aufnehmen«, ging Doktor Blimber diesmal von der herkömmlichen Weise ab und sagte: »Gentlemen, als unser Freund Cincinnatus sich nach seinem Landgut zurückzog, stellte er dem Senat keinen Römer vor, den er sich zum Nachfolger gewünscht hätte. Aber hier ist ein Römer!« sagte Doktor Blimber, die Hand auf die Schulter des Mr. Feeder B. A. legend, »adolescens inprimis gravis et doctus, Gentlemen, den ich, ein abtretender Cincinnatus, meinem kleinen Senat als seinen künftigen Diktator vorzustellen wünsche. Gentlemen, wir wollen am fünfundzwanzigsten des nächsten Monats unter den Auspizien des Mr. Feeder B.A. unsere Studien wieder aufnehmen!« Hierauf antworteten die jungen Gentlemen (Doktor Blimber hatte sich nämlich zuvor schon mit sämtlichen Eltern beraten und ihnen höfliche Erklärungen gegeben) mit einem lauten Hurra, und Mr. Tozer überreichte dem Doktor sogleich im Namen der übrigen ein silbernes Tintenfaß, indem er dazu eine Rede vortrug, die nur sehr wenig von der Muttersprache, wohl aber fünfzehn Zitate aus dem Lateinischen und sieben aus dem Griechischen enthielt. Die jüngeren Gentlemen waren damit sehr unzufrieden und neidisch, denn sie meinten, o, o, es sei alles recht gut für den alten Tozer, aber sie seien der Ansicht, daß sie nicht deshalb Geld unterzeichnet hätten, um dem alten Tozer Gelegenheit zu geben, sich breitzumachen. Was ging es den alten Tozer mehr an, als jeden andern? Es war ja nicht sein Tintenfaß. Warum mußte er sich überhaupt mit dem Eigentum anderer befassen?
In dieser und ähnlicher Weise äußerten sie ihr Mißvergnügen und schienen in nichts einen größeren Trost zu finden, als darin, daß sie ihn den alten Tozer nannten.
Den jungen Gentlemen gegenüber fiel kein Wort, kein Wink oder irgend etwas, das auf eine beabsichtigte Verehelichung zwischen Mr. Feeder B. A. und der schönen Cornelia Blimber hingedeutet hätte. Namentlich gab sich Doktor Blimber den Anschein, wie wenn ihn nichts mehr als eine solche Kunde überraschen könnte. Gleichwohl war die Tatsache unter den jungen Gentlemen so wohl bekannt, daß sie, als sie zu ihren Verwandten und Freunden zurückkehrten, mit einer heiligen Scheu sich von Mr. Feeder verabschiedeten.
Die romantischsten Träume des Mr. Feeder waren erfüllt. Der Doktor hatte beschlossen, das Haus von außen anstreichen und im Innern vollständig ausbessern zu lassen; auch wollte er das Geschäft und Cornelia abgeben. Der Anstrich und die Ausbesserungen begannen an demselben Tage, an dem die jungen Gentlemen abgereist waren, und siehe jetzt – der Hochzeitmorgen war gekommen, und Cornelia sah in einer neuen Brille dem Augenblick entgegen, der sie an Hymens Altar führen sollte.
Der Doktor mit seinen gelehrten Beinen, Mrs. Blimber in einem Lila-Hut, Mr. Feeder B.A. mit seinen langen Knöcheln und seinem kurzgeschorenen Haarschopf, und Mr. Feeders Bruder, der ehrwürdige Alfred Feeder M.A., der die Trauungsfeierlichkeit vollziehen sollte, hatten sich im Salon versammelt, und Cornelia, die unter ihrem Orangeblütenschmuck und den Brautjungfern wie sonst auch aussah, ein bißchen zerdrückt, aber doch sehr bezaubernd, war eben eingetreten, als die Tür aufging und der blödsichtige junge Mann mit lauter Stimme die Ankündigung ausrief:
»Mr. und Mrs. Toots!«
Mr. Toots, der außerordentlich kräftig geworden war, trat jetzt ein; er hatte eine sehr hübsche und anständig gekleidete Dame mit glänzenden schwarzen Augen am Arm.
»Mrs. Blimber«, sagte Mr. Toots, »erlaubt mir, Euch meine Gattin vorzustellen.«
Mrs. Blimber war entzückt, sie kennenzulernen; sie benahm sich zwar ein wenig herablassend, aber doch sehr freundlich.
»Und da Ihr mich schon seit so langer Zeit kennt«, sagte Mr. Toots, »so muß ich Euch versichern, daß sie eines der herrlichsten Frauenzimmer ist, die je gelebt haben!«
»Mein Lieber!« stellte Mrs. Toots vor.
»Bei meinem Ehrenwort, es ist so«, sagte Mr. Toots. »Ich – ich versichere Euch, Mrs. Blimber, sie ist eine ganz außerordentliche Frau!«
Mrs. Toots lachte heiter, und Mrs. Blimber führte sie zu Cornelia. Nachdem Mr. Toots auch in dieser Richtung sein Kompliment gemacht und seinen alten Lehrer begrüßt hatte, der mit Anspielung auf seinen ehelichen Stand zu ihm sagte: »Schön, Toots, schön! Ihr seid also auch einer von den Unsrigen!« zog er sich mit Mr. Feeder B.A. in ein Fenster zurück. Mr. Feeder B.A., der sehr aufgeräumt war, machte gegen Mr. Toots eine Boxer-Schwenkung und klopfte ihn geschickt mit dem Rücken seiner Hand auf das Brustbein.
»He, alter Knabe!« sagte Mr. Feeder lachend. »Gut! da sind wir jetzt! Ein- und abgetan, he?«
»Feeder«, versetzte Mr. Toots, »ich wünsche Euch Glück. Wenn Ihr so – so – vollkommen glücklich seid im ehelichen Leben, wie ich, so bleibt Euch nichts zu wünschen übrig.«
»Ihr seht, ich vergesse meine alten Freunde nicht«, sagte Feeder. »Ich bitte sie zu meiner Hochzeit.«
»Feeder«, entgegnete Mr. Toots ernst, »die Sache verhält sich so, daß verschiedene Umstände mich hinderten, vor Vollziehung des Ehebundes Euch eine Mitteilung zu machen. Erstlich hatte ich mich vor Euch wegen Miß Dombey wie ein wahrer Esel benommen, und ich fühlte, wenn ich Euch zu meiner Hochzeit bäte, so würdet Ihr natürlich erwarten, daß ich mit Miß Dombey an den Altar träte. Die« hätte Erklärungen nötig gemacht, die mich auf Ehre bei einer solchen Wendung völlig niedergeschlagen haben würden. Zweitens fand unsere Trauung ganz im geheimen statt, und es war niemand dabei anwesend, als ein einziger Freund von mir und Mrs. Toots, der ein Kapitän ist bei – ich weiß nicht mehr genau, bei was«, sagte Mr. Toots, »aber es ist von keinem Belang. Ich hoffe, Feeder, daß ich die Pflichten der Freundschaft vollkommen erfüllt habe, indem ich Euch schriftlich mitteilte, was geschehen ist, ehe Mrs. Toots und ich unsere Hochzeitsreise ins Ausland antraten.«
»Toots, mein Junge«, versetzte Mr. Feeder, ihm die Hand drückend, »es war nur ein Scherz von mir.«
»Und nun möchte ich wohl gern wissen, Feeder«, sagte Mr. Toots, »was Ihr von meiner Verbindung haltet?«
»Sie scheint mir vortrefflich zu sein!« sagte Mr. Feeder.
»Kommt sie Euch so vor, Feeder?« erwiderte Mr. Toots feierlich. »Wie vortrefflich muß sie dann nicht für mich sein! Denn Ihr könnt nie wissen, welch eine außerordentliche Frau sie ist!«
Mr. Feeder war geneigt, dies für eine ausgemachte Sache anzusehen, aber Mr. Toots schüttelte den Kopf und wollte nicht an eine solche Möglichkeit glauben.
»Ihr seht«, sagte Mr. Toots, »was ich bei einem Weibe brauchte, war – mit einem Wort, war Verstand. Geld hatte ich, Feeder. Verstand hatte ich – hatte ich nicht besonders viel.«
»O ja. Ihr hattet´s wohl, Toots«, murmelte Mr. Feeder, aber Mr. Toots entgegnete:
»Nein, Feeder, ich hatte nicht. Warum sollte ich es bemänteln? Ich hatte nicht. Ich wußte, daß Verstand da war«, fügte er hinzu, die Hand nach seiner Gattin ausstreckend, »eigentlich in Haufen. Verwandte sind keine vorhanden, die an der Stellung einen Anstoß hätten nehmen können, denn ich stehe allein. Ich hatte nie einen Angehörigen als meinen Vormund, und diesen, Feeder, habe ich stets für einen Piraten und Korsaren gehalten. Ihr seht daher ein, daß es mir nicht darum zu tun sein konnte, seine Ansicht einzuholen.«
»Nein«, pflichtete Mr. Feeder bei.
»Demgemäß handelte ich ganz für mich«, nahm Mr. Toots wieder auf. »Gesegnet sei der Tag, an dem ich es tat. Feeder, niemand als ich kann sagen, welch einen Geist ich in dieser Frau gewonnen habe. Wenn je die Rechte der Frauen, und was dergleichen mehr ist, gehörig ins Licht gestellt werden sollen, so wird es durch ihren gewaltigen Verstand geschehen. – Susanna, meine Liebe!« sagte Mr. Toots, plötzlich zwischen den Fenstervorhängen hervorsehend, »ich bitte, strenge dich nicht zu sehr an!«
»Ich plaudere bloß«, versetzte Mrs. Toots.
»Laß dir raten, meine Liebe«, entgegnete Mr. Toots. »Du mußt in der Tat vorsichtig sein und dich ja nicht zu sehr anstrengen, meine teure Susanne. Sie ist so leicht aufzuregen«, sagte er beiseite zu Mrs. Blimber, »und dann denkt sie gar nicht mehr an ärztliche Vorschriften.«
Mrs. Blimber legte noch Mrs. Toots die Notwendigkeit der Vorsicht ans Herz, als Mr. Feeder B. A. herankam, um ihr seinen Arm zu bieten und sie nach dem Wagen zu führen, der für den Kirchgang unten wartete. Doktor Blimber geleitete Mrs. Toots, und Mr. Toots führte die schöne Braut, um deren funkelnde Brillen zwei prächtig herausgeputzte kleine Brautjungfern wie Motten herumflatterten. Mr. Feeders Bruder, Mr. Alfred M. A., war bereits vorausgegangen, um sich auf seine amtlichen Verrichtungen vorzubereiten.
Die Feierlichkeit verlief in bewunderungswürdiger Weise. Cornelia mit ihren krausen kleinen Locken »ging ein« – wie der Preishahn sich ausgedrückt haben würde – in großer Fassung, und Doktor Blimber vergab sie wie ein Mann, der eine solche Handlung gehörig erwogen hatte. Die prächtig herausgeputzten kleinen Brautjungfern schienen am meisten zu leiden. Mrs. Blimber gab sich einer sanften Rührung hin und erklärte dem ehrwürdigen Mr. Alfred Feeder M. A. auf dem Heimweg, wenn sie Cicero in seiner Abgeschiedenheit zu Tusculum hätte sehen können, so wären jetzt alle ihre Wünsche erfüllt.
Es gab dann ein Frühstück, das auf dieselbe kleine Gesellschaft beschränkt blieb. Mr. Feeder B. A. entwickelte dabei ungeheure Heiterkeit, die sich auch Mrs. Toots mitteilte, so daß man Mr. Toots mehrere Male über den Tisch hinüber bemerken hörte: »Meine teure Susanna, strenge dich ja nicht zu sehr an!« Das Beste aber war, daß Mr. Toots es für seine Pflicht hielt, eine Rede zu halten – sein erstes Auftreten im Leben, von dem ihn der ganze Kodex telegraphischer Winke, die von Mrs. Toots ausgingen, nicht abzumahnen imstande war.
»Ich muß wahrhaftig erklären«, sagte Mr. Toots, »daß ich in diesem Hause, was auch darin zu – zu geistiger Verwirrung bisweilen geschehen mochte – 's ist von keinem Belang, und ich mache deshalb niemand einen Vorwurf – stets behandelt wurde wie einer, der zu Doktor Blimbers Familie gehört, und daß ich beträchtliche Zeit ein Pult für mich hatte. Deshalb kann – ich – nicht – zugeben – daß mein Freund Feeder – hem –«
»Verheiratet ist«, ergänzte Mrs. Toots.
»Es wird nicht unpassend oder überhaupt uninteressant sein«, sagte Mr. Toots mit entzücktem Gesicht, »bei dieser Gelegenheit zu bemerken, daß meine Frau eine ganz außerordentliche Frau ist und sich weit besser dazu eignete als ich – mein Freund Feeder verheiratet ist – namentlich mit –«
»Mit Miß Blimber«, half Mrs. Toots nach.
»Mit Mrs. Feeder, meine Liebe!« sagte Mr. Toots im gedämpften Ton des Privatgesprächs, »›welche Gott zusammengefügt hat,‹ Ihr wißt, ›damit kein Mensch‹ – wißt Ihr's nicht? Ich kann nicht gestatten, daß mein Freund Feeder verheiratet ist, namentlich mit Mrs. Feeder, ohne ihre – ihre Gesundheit – auszubringen; und möge«, fügte er bei, wie in hohem Fluge der Begeisterung die Blicke auf seine eigene Frau heftend, »möge die Fackel Hymens der Leuchtturm der Freude sein, und mögen die Blumen, die heute auf ihren Pfad gestreut wurden, die – Vertreiber sein – von – von allem Düster!«
Doktor Blimber, der ein Freund von Metaphern war, drückte seinen Beifall in den Worten aus: »Sehr gut, Tools! in der Tat, sehr schön gesagt!« und nickte mit dem Kopf, während er zugleich in die Hände klopfte. Mr. Feeder antwortete in einer komischen Rede, in die er sentimentale Brocken mischte. Mr. Alfred Feeder M. A. fühlte sich später sehr glücklich in der Gesellschaft des Doktors und der Miß Blimber, während die stattlich herausgeputzten kleinen Jungfrauen auf Mr. Feeder B. A. einen kaum weniger günstigen Eindruck machten. Doktor Blimber gab dann mit kräftiger Stimme einige Gedanken in idyllischem Stil zum besten, indem er auf das Binsendach hindeutete, unter dem er mit Mrs. Blimber fortan zu wohnen beabsichtigte, und der Bienen erwähnte, die ihre Hütte umsummen würden. Bald nachher zeigte sich in den Augen des Doktors ein merkwürdiges Blinzeln. Sein Schwiegersohn hatte schon zuvor bemerkt, daß die Zeit nur für Sklaven vorhanden sei, und die Frage gestellt, ob Mrs. Toots singe, weshalb die verständige Mrs. Blimber die Sitzung aufhob und mit aller Ruhe und Gemächlichkeit Cornelia samt dem Mann ihres Herzens in eine Postchaise packte.
Mr. und Mrs. Toots kehrten nach Bedford zurück (Mrs. Toots hatte in alten Zeiten unter dem jungfräulichen Namen Nipper dort gewohnt) und fanden daselbst einen Brief, dessen Durchlesen Mr. Toots so ungemein lange in Anspruch nahm, daß Mrs. Toots darüber eigentlich in Schrecken geriet.
»Meine teure Susanna«, sagte Mr. Toots, »Schrecken ist schlimmer als Anstrengung. Ich bitte, beruhige dich!«
»Von wem ist er?« fragte Mrs. Toots.
»Von Kapitän Gills, meine Liebe«, sagte Mr. Toots. »Laß dich's nicht angreifen. Walter und Miß Dombey werden in der Heimat erwartet.«
»Mein Lieber«, versetzte Mrs. Toots, die bei dieser Ankündigung erblaßte und sich hastig von dem Sofa erhob, »versuche nicht, mich zu täuschen, denn es ist doch unnütz. Sie sind nach Hause gekommen – ich lese es deutlich in deinem Gesicht.«
»Sie ist eine ganz außerordentliche Frau!« rief Mr. Toots in entzückter Bewunderung. »Du hast vollkommen recht, meine Liebe; sie sind nach Hause gekommen. Miß Dombey hat ihren Vater besucht, und sie sind versöhnt!«
»Versöhnt!« rief Mrs. Toots, die Hände zusammenschlagend.
»Ich bitte, laß dich's nicht angreifen, meine Liebe«, sagte Mr. Toots. »Denk doch an den Arzt! Kapitän Gills sagt – nein, er sagt es nicht gerade, aber so viel ich aus dem Schreiben entnehmen kann, will er sagen, Miß Dombey habe ihren unglücklichen Vater aus dem alten Hause geholt und nach demjenigen gebracht, wo sie mit Walter lebt; er liegt dort sehr krank – vermutlich auf den Tod, und sie komme Tag und Nacht nicht von seiner Seite.«
Mrs. Toots begann bitterlich zu weinen.
»Meine teuerste Susanna«, stellte ihr Mr. Toots vor, »denke doch, wenn du anders kannst, an den Arzt! Bist du aber außerstande, – nun, 's ist von keinem Belang – aber gib dir doch Mühe.«
Seine Gattin, die nach ihrer alten Weise schnell wieder hergestellt war, bat ihn so flehentlich, er möchte sie unverweilt zu ihrem Herzchen, zu ihrer kleinen Gebieterin, zu ihrem Liebling und dergleichen bringen, daß Mr. Toots, dessen Teilnahme und Bewunderung von der kräftigsten Art waren, bereitwillig zusagte. Sie kamen miteinander überein, unverweilt aufzubrechen und dem Kapitän die Antwort auf seinen Brief in Person zu bringen.
Die geheime Sympathie der Dinge oder der Zufall hatte den Kapitän, zu dem Mr. und Mrs. Toots eben reisten, an jenem Tage in die blumige Schleppe einer Hochzeit gebracht – allerdings nicht als Hauptperson, sondern nur als Anhängsel. Dies war folgendermaßen zugegangen.
Nachdem der Kapitän bei einem kurzen Besuch bei Florence und ihrem Knaben sich Herzstärkung geholt und geraume Zeit mit Walter geplaudert hatte, machte er einen Spaziergang, weil er die Notwendigkeit fühlte, einsam über die Wechsel in menschlichen Angelegenheiten nachzudenken und mit tiefsinniger Miene den Glanzhut über den Fall des Mr. Dombey zu schütteln, an dem er in dem Edelmut und in der Einfachheit seines Herzens lebhaften Anteil nahm. Das Unglück des armen Gentleman würde in der Tat sehr verdüsternd auf ihn gewirkt haben, wenn ihm nicht stets der Knabe vor Augen geschwebt hätte, der einen so erfreulichen Eindruck auf ihn übte, daß er, während er durch die Straße ging, oft laut lachte und in der Tat mehr als einmal in einer plötzlichen Lustanwandlung zum Erstaunen aller Zuschauer den Glanzhut in die Luft warf und ihn wieder auffing. Der schnelle Wechsel von Licht und Schatten, dem diese beiden widerstreitenden Betrachtungsgegenstände den Kapitän aussetzten, setzte seinem Geist in einer Weise zu, daß er weit gehen mußte, um wieder Fassung zu gewinnen, und da in dem Einflusse harmonischer Ideenverknüpfungen so viel liegt, so wählte er für seinen Spaziergang die alte Gegend unter den Masten, Rudern, Zimmerleuten, Zwiebackbäckern, Kohlenträgern, Teerkesseln, Matrosen, Docks, Aufzugbrücken und andern beschwichtigenden Dingen.
Diese friedlichen Schauplätze und namentlich die Gegend um die Lehmgrube her wirkten so beruhigend auf den Kapitän, daß er in stiller Heiterkeit weiterging und in der Tat eben halblaut mit dem Lied von der lieblichen Peg sich unterhielt, als er bei einer Ecke plötzlich durch einen triumphierenden Zug festgebannt und sprachlos gemacht wurde.
Die erschreckende Prozession wurde von jenem entschlossenen Weibe, der Mrs. Mac Stinger, angeführt, die in ihrem Gesicht die Unerbittlichkeit ihres Willens ausdrückte und an ihrem ehernen Busen sehr augenfällig eine ungeheure Uhr samt Anhängseln trug, die der Kapitän sogleich als Bunsbys Eigentum erkannte, unter ihrem Arm keine geringere Person führte als jenen weisen Seemann selbst. Mit der zerstreuten, melancholischen Miene eines Gefangenen, der in ein fremdes Land gebracht werden soll, ließ sich Bunsby demütig fortschleppen und ergab sich ohnmächtig in ihren Willen. Hinter ihnen kam die jubelnde Gesamtzahl der jungen Mac Stingers, und dieser folgten zwei Damen von schrecklich gesetztem Aussehen, die ebenfalls jubelnd einen kleinen Gentleman mit einem hohen Hut zwischen sich führten. Im Kielwasser folgte Bunsbys Schiffsjunge, der Sonnenschirme trug. Der ganze Zug befand sich in guter Marschordnung, und der schreckliche Aufputz, der sich an der ganzen Gesellschaft bemerklich machte, würde, wenn dies auch nicht in den unerschütterlichen Gesichtern der Damen zu lesen gewesen wäre, hinreichend an den Tag gelegt haben, daß es sich hier um eine Opferprozession handelte, und daß Bunsby das Opfer war.
Des Kapitäns erster Gedanke war, Reißaus zu nehmen, und bei Bunsby schien es der gleiche Fall zu sein, so hoffnungslos auch jeder Versuch dazu ausgefallen sein dürfte. Von der Gesellschaft ging jedoch ein Schrei des Erkennens aus, und Alexander Mac Stinger lief mit offenen Armen auf den Kapitän zu, so daß letzterer seine Flagge strich.
»Ah, Kap'tn Cuttle!« sagte Mrs. Mac Stinger. »Dies ist in der Tat eine seltene Begegnung! Ich trage Euch keinen Groll mehr nach, Kap'tn Cuttle – Ihr braucht nicht zu fürchten, daß ich Euch wieder Vorwürfe machen will. Ich hoffe, daß ich mit einem andern Geiste vor den Altar trete.« Mrs. Mac Stinger hielt jetzt inne, warf den Kopf auf, erweiterte sich die Brust mit einem langen Atemzug und fügte mit Hindeutung auf das Opfer hinzu:
»Mein Mann, Kap'tn Cuttle.«
Der unglückliche Bunsby schaute weder nach rechts noch nach links, weder auf seine Braut noch auf seinen Freund, sondern gerade vor sich hin ins Leere. Der Kapitän streckte seine Hand aus und Bunsby tat das gleiche, obschon er auf den Gruß des Kapitäns kein Wort der Erwiderung fand.
»Kap'tn Cuttle«, sagte Mrs. Mac Stinger, »falls Ihr alte Feindschaft zum Heilen bringen und Euren Freund, meinen Gatten, zum letztenmal als ledige Person sehen wollt, so werden wir uns glücklich schätzen, wenn Ihr uns nach der Kapelle begleitet. Hier ist eine Dame«, fügte sie hinzu, sich gegen die Unerschrockenste von den beiden umwendend, »meine Brautführerin, die gern Euren Schutz annehmen wird, Kap'tn Cuttle.«
Der kleine Gentleman in dem hohen Hut, der dem Anschein nach der Gatte der andern Dame war und augenscheinlich über die Versetzung eines Nebenmenschen in eine der seinigen ähnliche Lage jubelte, trat jetzt zurück und überließ die erwähnte Unerschrockene dem Kapitän. Diese faßte sogleich ihren Mann, bemerkte, daß keine Zeit zu verlieren sei, und erteilte in kräftiger Stimme die Weisung, man solle nicht länger säumen.
Die Sorge um den Freund, in die sich anfangs auch einige Sorge um das eigene Ich mischte, – denn ein unbestimmter Schrecken bemächtigte sich des Kapitäns, man könnte ihn mit Gewalt heiraten wollen, bis er sich endlich im Hinblick auf das Ritual erinnerte, daß er persönlich sicher sei, solange er nur auf dem Entschluß bleibe, auf eine jede Frage des Geistlichen mit »Nein« zu antworten – preßte dem guten Mann den Schweiß auf die Stirne und versetzte ihn in eine Stimmung, so daß er geraume Zeit nicht wußte, wie die Prozession, zu der er nun auch selbst gehörte, vorwärts kam oder was seine schöne Begleiterin mit ihm sprach. Nachdem sich seine Aufregung einigermaßen gelegt hatte, erfuhr er von dieser Dame, daß sie die Witwe eines Mr. Bokum, eines vormaligen Zollbeamten, und die wärmste Freundin der Mrs. Mac Stinger sei, die sie für ein Muster ihres Geschlechts halte; sie habe oft von dem Kapitän gehört und hoffe nur, er werde sein vergangenes Leben bereut haben, wie sie der Überzeugung lebe, daß Mr. Bunsby den ihm zugegangenen Segen zu schätzen wisse, obschon sie fürchte, daß die Männer ihr Glück selten früher erkennen, bis sie es verloren haben – und was dergleichen mehr war.
Diese ganze Zeit über entging dem Kapitän nicht, daß Mrs. Bokum kein Auge von dem Bräutigam verwandte, und daß sie, so oft sie in die Nähe eines Hofes oder einer andern schmalen Straßenwendung kamen, die eine Flucht zu begünstigen schien, sorgfältig auf der Hut war, um bei einem versuchten Ausreißen ihn schnell wieder abzufangen. Die andere Dame, wie auch ihr Gatte, der kleine Gentleman mit dem hohen Hut, war infolge eines früher besprochenen Plans gleichfalls auf der Lauer, während Mrs. Mac Stinger den unglücklichen Mann so fest hielt, daß jede Bemühung, sich durch die Flucht zu retten, vergeblich wurde. Sogar der Straßenpöbel schien dies zu bemerken und drückte seine Ansicht durch Geschrei und Spottreden aus, gegen die sich übrigens die furchtbare Mac Stinger mit unwandelbarer Gleichgültigkeit benahm, während Bunsby selbst in einem Zustand von Bewußtlosigkeit sich weiter schleppen ließ.
Der Kapitän versuchte etliche Male, sich mit dem Philosophen, wenn auch nur durch eine einzige Silbe oder durch ein Signal in Rapport zu setzen, verfehlte aber stets seinen Zweck – einesteils infolge der Aufmerksamkeit der Wachen, und dann, weil es Bunsbys eigentümliche Konstitution zu allen Zeiten schwierig machte, seinen Geist durch irgendein äußeres sichtbares Zeichen zu fesseln. So näherten sie sich der Kapelle, einem hübschen, weiß getünchten Gebäude, letzter Zeit unter der Leitung des ehrwürdigen Melchisedek Heuler stehend, der sich auf sehr dringendes Bitten herabgelassen hatte, die Welt noch zwei Jahre bestehen zu lassen – eine Frist, nach der sie übrigens, wie er seine Jünger belehrte, notwendig untergehen mußte.
Während der ehrwürdige Melchisedek aus dem Stegreife einige Gebete sprach, fand der Kapitän Gelegenheit, dem Bräutigam ins Ohr zu brummen:
»Wie geht's, mein Junge – wie geht's?« Bunsby antwortete darauf mit einer Rücksichtslosigkeit gegen den ehrwürdigen Melchisedek, die durch nichts, als durch seine verzweifelten Umstände entschuldigt werden konnte:
»Verteufelt schlecht.«
»Jack Bunsby«, flüsterte der Kapitän, »tut Ihr dies hier aus eigenem freien Willen?«
»Nein«, antwortete Mr. Bunsby.
»Warum laßt Ihr's dann nicht lieber bleiben, mein Junge?« lautete die nicht unnatürliche Frage des Kapitäns.
Bunsby, der noch immer mit unbeweglichem Gesicht in die Welt hinausschaute, gab keine Antwort.
»Warum schert Ihr nicht ab?« fragte der Kapitän.
»He?« flüsterte Bunsby mit einem vorübergehenden Hoffnungsstrahle.
»Schert ab«, sagte der Kapitän.
»Wozu nützt's«, entgegnete der verkaufte Weise. »Sie würde mich wieder kapern.«
»Probiert's!« versetzte der Kapitän. »Hellauf! Kommt! Noch ist's Zeit. Schert ab, Jack Bunsby!«
Statt übrigens von diesem Rat Gebrauch zu machen, erwiderte Jack Bunsby in kläglichem Flüstern:
»Die ganze Geschichte hat mit jener Truhe von Euch angefangen. Warum mußte ich sie auch an jenem Abend in den Hafen geleiten?«
»Mein Junge«, stotterte der Kapitän, »ich meinte, Ihr wäret über sie, nicht sie über Euch gekommen. Ein Mann, der solche Ansichten hat, wie Ihr!«
Mr. Bunsby stieß bloß ein ersticktes Ächzen aus.
»Kommt!« sagte der Kapitän, ihn mit dem Ellbogen anstoßend, »noch ist's Zeit! Schert ab! Ich will Euren Rückzug decken. Die Stunde drängt. Bunsby, es gilt die Freiheit. Wollt Ihr – zum ersten Mal?«
Bunsby blieb unbeweglich.
»Bunsby«, flüsterte der Kapitän, »wollt Ihr – zum zweiten Mal?« Bunsby wollte auch zum zweiten Mal nicht.
»Bunsby«, drängte der Kapitän, »es gilt die Freiheit! Wollt Ihr – zum dritten Mal? Jetzt oder nie!«
Bunsby wollte nicht und wollte nie, denn er wurde unmittelbar darauf mit Mrs. Mac Stinger zusammengegeben.
Eine der schrecklichsten Beigaben zu dieser Feierlichkeit war für den Kapitän die todbringende Teilnahme, die Juliane Mac Stinger dafür an den Tag legte, und die verhängnisvolle Spannung aller Geisteskräfte, womit dieses vielversprechende Kind – jetzt schon das treue Abbild ihrer Mutter – dem ganzen Verfahren zusah. Der Kapitän bemerkte darin eine endlose Reihenfolge von Männerfallen und halbe Jahrhunderte von Zwang und Bedrückung, die den armen Seefahrern in Aussicht standen. Dies war ein denkwürdigerer Anblick als die wandellose Festigkeit der Mrs. Bokum und der andern Dame, als der Jubel des kleinen Gentlemans in dem hohen Hut, oder sogar als die schnöde Unbeugsamkeit der Mrs. Mac Stinger. Die männlichen jungen Mac Stinger verstanden wenig von dem, was vorging, und kümmerten sich noch weniger darum, da sie während der Zeremonie hauptsächlich damit beschäftigt waren, einander auf die Halbstiefel zu treten, aber der Gegensatz, den diese unglücklichen Kleinen darboten, stach nur um so vorteilhafter gegen das frühreife Weib in Juliane ab. Noch ein Jährchen oder zwei, dachte der Kapitän, und wer mit diesem Kinde in einem Hause wohnt, ist dem Untergang verfallen.
Die Zeremonie schloß mit einem allgemeinen Hinaufspringen der jungen Familie an Mr. Bunsby, den das junge Volk jetzt mit dem zärtlichen Vaternamen begrüßte und um Halbpence anbettelte. Nachdem diese Liebesergüsse vorüber waren, wollte der Zug wieder aufbrechen, wurde aber noch eine Weile länger durch einen unerwarteten Jammererguß von seiten des Alexander Mac Stinger zurückgehalten. Dieses liebe Kind schien sich bei einer Kapelle, die mit Grabsteinen in Verbindung stand, nicht denken zu können, daß sie außer den gewöhnlichen gottesdienstlichen Verrichtungen und den Beerdigungen auch noch andere Zwecke habe, und war der festen Überzeugung, man werde jetzt seine Mutter mit allem Anstand begraben und sie sei für ihn auf immer verloren. In seiner Angst schrie er mit erstaunlicher Gewalt, bis er ganz schwarz im Gesicht wurde. Wie rührend übrigens solche Zeichen zärtlicher Anhänglichkeit für die Mutter sein mochten, lag es doch nicht in dem Charakter dieses merkwürdigen Weibes, ihre Anerkennung derselben in Schwäche ausarten zu lassen. Nachdem sie vergeblich versucht hatte, ihn durch Rütteln, Rippenstöße und Anschreien zur Vernunft zu bringen, führte sie ihn ins Freie hinaus und versuchte ein anderes Mittel, das sich der Hochzeitsgesellschaft durch eine rasche Reihenfolge scharfer Töne, wie wenn jemand Beifall klatschte, und unmittelbar darauf durch den Umstand kundgab, daß Alexander sehr erhitzt und laut wehklagend in Berührung mit dem kühlsten Pflasterstein des Hofes dasaß.
Die Prozession, die sich nun wieder bilden und nach Brig-Place begeben konnte, wo ein Hochzeitsmahl bereit stand, kehrte zurück, wie sie gekommen war, bei welcher Gelegenheit der Straßenpöbel Mr. Bunsby manchen humoristischen Glückwunsch zu seinem neu erlangten Segen zurief. Der Kapitän ging bis zur Haustür mit, wo er sich unter dem Vorwand einer Bestellung und mit der Zusage, sogleich wieder zurückzukommen, von dem Zug und von dem Gefangenen verabschiedete, da ihn das zärtlichere Benehmen der Mrs, Bokum, die ihrer früheren Pflicht der Wachsamkeit nach der glücklichen Verheiratung des Bräutigams entbunden war und jetzt Muße hatte, selbst die Angenehme zu spielen, sehr beunruhigt hatte. Es war auch ein anderer Anlaß der Sorge für ihn vorhanden, denn er mußte sich den Vorwurf machen, daß er, freilich ohne es zu beabsichtigen, durch sein unbegrenztes Vertrauen in den hohen Geist des weisen Bunsby das erste Mittel zu dessen Verstrickung gewesen war.
Es lag nicht in der Absicht des Kapitäns, jetzt zu dem alten Sol Gills im hölzernen Midshipman zurückzukehren, ohne zuvor einen Umweg zu machen und zu fragen, wie es Mr. Dombey gehe, obschon das Haus, in dem sich derselbe befand, außerhalb Londons und am Saume einer frischen Heide stand. Er fuhr daher, wenn er müde wurde, eine Strecke weit und kam in solcher Weise wohlgemut an seinem Bestimmungsort an.
Die Laden waren niedergelassen und das Haus so ruhig, daß der Kapitän sich fast fürchtete, zu klopfen; als er aber an der Tür lauschte, vernahm er drinnen ganz in der Nähe gedämpfte Stimmen, weshalb er leise pochte und von Mr. Toots eingelassen wurde. Letzterer war eben mit seiner Frau angelangt und hatte den Kapitän in dem Midshipman aufgesucht, wo man ihm übrigens nur sagen konnte, wo er zu finden sein dürfte.
Sie waren kaum ins Haus getreten, als Mrs. Toots bereits das Bübchen irgend jemand abgejagt, es in ihre Arme genommen und damit auf der Treppe Platz gefunden hatte, wo sie es küßte und streichelte. Florence stand niedergebeugt an ihrer Seite, und man hätte nicht wohl sagen können, wen Mrs. Toots mit mehr Innigkeit herzte und umarmte, die Mutter oder das Kind; oder wer am eifrigsten seine Zärtlichkeit kundgab – Florence für Mrs. Toots, Mrs. Toots für Florence, oder beide für den Knaben. Mit einem Worte, es war eine kleine Gruppe von Liebe und Aufregung.
»Und ist Euer Papa sehr krank, meine liebe, herzige Miß Floy?« fragte Susanna.
»Er ist sehr leidend«, versetzte Florence. »Aber liebe Susanna, du darfst jetzt nicht mehr mit mir sprechen, wie du sonst tatest. Und was ist das?« fügte sie hinzu, erstaunt Susannas Kleider befühlend. »Dein alter Anzug, meine Liebe? Dein altes Häubchen, die Locken und alles ganz so wie früher?«
Susanna brach in Tränen aus und drückte viele Küsse auf die kleine Hand, von der sie so verwundert berührt worden war.
»Meine teure Miß Dombey«, sagte Mr. Toots, der jetzt vortrat, »ich will alles aufklären. Sie ist ein ganz außerordentliches Frauenzimmer und hat nicht viele ihresgleichen! Sie sagte stets – sagte so vor unserer Verheiratung, bis auf den heutigen Tag – wenn Ihr nach Hause kämet, wolle sie in keinem andern Anzug vor Euch erscheinen, als in dem, in welchem sie Euch zu dienen pflegte, denn sie fürchtete, sie möchte Euch fremd vorkommen und Ihr könntet sie weniger lieben. Diese Kleidung gefällt auch mir vor allen andern«, fügte er hinzu. »Ich bete sie darin an! Meine teure Miß Dombey, sie will wieder Euer Mädchen, Eure Wärterin, kurz alles sein, was sie je war, und noch mehr. In ihr ist keine Veränderung vorgegangen. Aber liebe Susanna«, sagte Mr. Toots, der mit viel Empfindsamkeit und hoher Bewunderung gesprochen hatte, »vergiß mir ja nicht den Doktor und laß dich nicht allzusehr aufregen!«
Einundsechzigstes Kapitel. ERLÖSUNG
Florence bedurfte des Beistandes, und der leidende Zustand ihres Vaters machte ihr die Unterstützung ihrer alten Freundin sehr wertvoll. Mr. Dombey stand am Rande des Grabes. Schon hatte ein Schatten dessen, was er gewesen, seinen Geist erschüttert, und da er auch körperlich gefährlich erkrankt war, so legte er sein müdes Haupt auf das Bett nieder, das ihm die Hände seiner Tochter bereitet hatten, um es fortan nie wieder stolz aufzurichten.
Sie war stets um ihn. Er kannte sie in der Regel, obschon er in seinen Delirien oft die Umstände verwirrte, unter denen er mit ihr sprach. So konnte er sie bisweilen anreden, als ob sein Knabe erst kürzlich gestorben sei, und dabei bemerken: wenn er gleich nichts gesagt habe, als sie an dem kleinen Bett wartete, habe er es doch gesehen – er habe es gesehen; und dann verbarg er schluchzend sein Gesicht und streckte die abgezehrte Hand aus. Bisweilen fragte er sie nach ihr selbst. »Wo ist Florence?« – »Hier, Papa; ich bin hier.« – »Ich kenne sie nicht!« konnte er entgegnen. »Wir sind so lange getrennt gewesen, daß ich sie nicht kenne!« Und dann bemächtigte sich seiner ein Gefühl des Schreckens, das nur mit Not ihrem beschwichtigenden Zureden wich, und sie freute sich in solchen Augenblicken, wenn die Tränen wiederkehrten, die sie in andern Zeiten so eifrig zu trocknen bemüht war.
Er beschäftigte sich fast ohne Unterlaß mit den Szenen der Vergangenheit, und während solcher Träume verlor er die zuhörende Florence bisweilen stundenlang aus dem Gesicht. So wiederholte er oft die Frage seines kleinen Sohnes: »Was ist Geld?« brütete darüber, machte sich mehr oder weniger zusammenhängende Vorstellungen und forschte nach einer passenden Antwort, als werde ihm die Frage in diesem Augenblick zum ersten Male vorgelegt. Dann sprach er viele tausendmal den Titel seiner alten Firma vor sich hin und drehte bei jeder Wiederholung unruhig den Kopf auf seinem Pfühl. Auch pflegte er seine Kinder zu zählen! Eins – zwei – dann machte er halt, ging wieder zurück und fing von vorne an.
So ging es übrigens nur, als sein Geist in seinem verwirrten Zustande war. In allen andern Phasen seiner Krankheit, namentlich in den Perioden der Klarheit, waren seine Gedanken stets Florence zugekehrt. Am häufigsten rief er sich jene Nacht ins Gedächtnis, deren er sich so kürzlich erinnert hatte – der Nacht, an der sie zu ihm ins Zimmer kam; es war ihm dann, als wolle ihm das Herz brechen, und als gehe er ihr die Treppe hinauf nach, um sie zu suchen. Dann verwechselte er die Zeit mit den späteren Tagen der vielen Fußstapfen; er war erstaunt über ihre Zahl und fing an, sie zu zählen, während er zugleich stets nach der Tochter forschte. Plötzlich sah er eine blutige Fußspur unter den andern durchlaufen, und dann taten sich in Zwischenräumen die Türen auf, durch die er in Spiegeln gewisse schreckliche Bilder von hageren Männern sah, die etwas in der Brust verbargen. Unter den vielen Fußstapfen und den Blutspuren zeigte sich jedoch ohne Unterlaß Florences Tritt. Sie ging immer vor ihm her. Der unruhige Geist folgte ihr unter Zählen immer weiter, höher hinauf bis zu dem Gipfel eines gewaltigen Turms, so daß Jahre nötig waren, ihn zu erklettern.
Eines Tages fragte er, ob er nicht vor einer geraumen Weile Susanna habe sprechen hören.
Florence antwortete mit Ja und fragte ihn, ob er sie zu sehen wünsche.
Auf seine Zustimmung erschien Susanna nicht ohne Zittern an seinem Bett.
Er schien eine große Erleichterung darin zu finden und bat sie, daß sie doch nicht gehen solle, als wolle er damit andeuten, er verzeihe ihr, was sie gesprochen, und wünsche nicht, daß sie ihren Dienst verlasse. Florence und er seien jetzt ganz anders und leben glücklich miteinander, sagte er. Man solle es nur sehen! Er machte dabei eine Gebärde, als ziehe er Florences Kopf zu sich aufs Kissen nieder und legte ihn an seine Seite.
So blieb er Tage und Wochen lang, bis er – bloß noch der Schatten von einem Mann und so leise sprechend, daß man ihn nur verstehen konnte, wenn man das Ohr fast an seine Lippen hielt – endlich ruhiger wurde. Es war ihm jetzt angenehm, bei offenem Fenster dazuliegen und nach dem Sommerhimmel und den Bäumen, abends aber nach der untergehenden Sonne hinauszuschauen. Dabei achtete er auf die Schatten der Wolken und Blätter, und es war natürlich, daß er dafür eine Teilnahme empfand, da Leben und Welt für ihn nichts anderes mehr war als ein Schatten.
Er begann jetzt zu zeigen, daß er einen Sinn für Florences Anstrengungen hatte, denn wenn er ihre Schwäche bemerkte, flüsterte er ihr oft zu: »Mach' einen Spaziergang in der frischen Luft, meine Liebe. Geh' zu deinem guten Gatten!« Einmal, als Walter im Zimmer war, winkte er ihn heran und zu sich nieder; dann drückte er ihm die Hand und flüsterte ihm die Versicherung zu, er wisse, daß sein Kind bei ihm geborgen sei, wenn er einmal im Grabe ruhe.
Eines Abends gegen Sonnenuntergang, als Florence und Walter beisammen in seinem Zimmer saßen, wie er es so gern hatte, begann Florence, die ihren Knaben in den Armen hatte, dem kleinen Knirps mit gedämpfter Stimme etwas vorzusingen. Es war die alte Weise, die sie oft dem sterbenden Bruder gesungen. Er konnte es nicht ertragen und streckte seine zitternde Hand aus, indem er sie bat, innezuhalten; aber am nächsten Tag forderte er sie auf, das Lied wieder zu singen und es jeden Abend zu wiederholen. Sie tat es, und er hörte mit abgewandtem Gesichte zu.
Einmal saß Florence an seinem Fenster. Sie hatte ihr Arbeitskörbchen vor sich, und neben ihr befand sich die alte Dienerin, die ihr noch immer treulich Gesellschaft leistete. Er lag im Schlummer da. Der Abend war schön, und man hatte noch zwei Stunden bis zum Sonnenuntergang. Die Ruhe und Stille machte Florence gedankenvoll, und sie vertiefte sich in die Vergegenwärtigung des Augenblicks, als die so veränderte Gestalt auf dem Bett ihr zum erstenmal die schöne Mama vorgestellt hatte. Eine Berührung Walters, der über die Lehne des Stuhles sich niederbeugte, weckte sie rasch aus ihren Träumen.
»Meine Liebe«, sagte Walter, »es ist jemand unten, der dich zu sprechen wünscht.«
Walter kam ihr so ernst vor, daß sie ihn fragte, ob etwas vorgefallen sei.
»Nein, nein, meine Liebe!« versetzte Walter. »Ich habe den Gentleman selbst gesehen und mit ihm gesprochen. Es ist nichts vorgefallen. Willst du kommen?«
Florence legte ihren Arm in den seinen, vertraute ihren Vater der schwarzäugigen Mrs. Toots, die so emsig an ihrer Arbeit saß, wie es einem schwarzäugigen Frauenzimmer nur möglich war, und begleitete ihren Gatten die Treppe hinunter. In dem hübschen Wohnstübchen, das in den Garten hinausging, saß ein Gentleman, der bei ihrem Eintritt sich erhob, um ihr entgegenzugehen, aber infolge der Eigentümlichkeit seiner Beine seitab kam, bis ihm der Tisch Halt gebot.
Florence erinnerte sich nun des Vetters Feenix, da sie ihn anfänglich im Schatten der Blätter nicht erkannt hatte. Vetter Feenix reichte ihr die Hand und wünschte ihr Glück zu ihrer ehelichen Verbindung.
»Natürlich wäre es mir lieb gewesen«, sagte Vetter Feenix, der wieder Platz nahm, sobald Florence sich niedergelassen hatte, »wenn ich früher Gelegenheit gefunden hätte, meinen Glückwunsch darzubringen; aber es sind in der Tat so viele schmerzliche Vorfälle eingetreten – Vorfälle, die sich sozusagen auf der Ferse folgten –, daß ich mich selbst in einem ganz verteufelten Zustand befand und somit durchaus in keine Gesellschaft paßte. Die einzige Gesellschaft, mit der ich mich umgab, war meine eigene, und es ist gewiß nichts weniger als schmeichelhaft für die Meinung, die jemand von seinen Hilfsquellen hat, wenn man sich sagen muß, man besitze die Eigenschaft, sich bis in alle Ewigkeit zu langweilen.«
Aus einer gewissen Befangenheit in dem Benehmen des Gentleman – das stets das eines Gentleman war, ungeachtet der harmlosen kleinen Exzentrizitäten, die sich daran hefteten – wie auch aus Walters Haltung zog Florence den Schluß, daß Vetter Feenix nicht bloß um des erwähnten Glückwunsches willen hergekommen war.
»Ich bemerkte bereits meinem Freund Mr. Gay, wenn er mir die Ehre gestattet, ihn so zu nennen«, sagte Vetter Feenix, »wie erfreut ich bin, daß es mit meinem Freund Dombey entschieden der Besserung zugeht. Ich hoffe, mein Freund Dombey wird sich einen bloßen Verlust von zeitlichen Gütern nicht allzusehr zu Herzen nehmen. Ich kann nicht sagen, daß ich je selbst einen besonders großen Vermögensverlust erlitten hätte, da ich in der Tat nie viel zu verlieren hatte. Aber so viel da war, habe ich wirklich verloren, und ich finde nicht, daß ich mich besonders darum kümmerte. Ich kenne meinen Freund Dombey als einen verteufelt ehrenhaften Mann, und es dürfte wohl meinem Freund Dombey sehr tröstlich werden, wenn er erfährt, daß dies die allgemeine Ansicht ist. Sogar Tommy Screw – ein sehr gallsüchtiger Mann, mit dem mein Freund Gay wahrscheinlich bekannt ist – kann diese Tatsache mit keiner Silbe in Abrede stellen.«
Florence fühlte mehr als je, daß noch etwas im Hinterhalt war, und sah demselben ernst entgegen – so ernst, daß Vetter Feenix antwortete, als habe sie offen die Frage gestellt.
»Die Sache verhält sich so,« sagte Feenix, »daß ich mich mit meinem Freund Gay besprach, ob es wohl angehe, Euch um eine Gunst zu bitten. Da ich nun die Zustimmung meines Freundes Gay habe – er kam mir dabei in einer ungemein freundlichen und offenen Weise entgegen, wofür ich ihm sehr zu Danke verpflichtet bin – so erlaube ich mir, mich auszusprechen. Ich fühle, eine so liebenswürdige Dame, wie die liebliche und begabte Tochter meines Freundes Dombey ist, wird nicht viel des Zuredens brauchen; gleichwohl freue ich mich der Überzeugung, daß ich durch den Einfluß und die Zustimmung meines Freundes Gay unterstützt werde. In den Tagen meiner parlamentarischen Wirksamkeit, wenn einer irgendeinen Antrag zu stellen hatte – es kam damals freilich selten vor, denn wir wurden sehr scharf im Zügel gehalten, und die Führer auf beiden Seiten waren eigentliche Tyrannen, ein verteufelt guter Umstand für einen in Reih und Glied stehenden Mann, wie ich, da wir dadurch verhindert wurden, uns jeden Augenblick bloßzustellen, wie so viele unter uns gewaltig Lust hatten –, ich wollte sagen, wenn in der Zeit meiner parlamentarischen Wirksamkeit einer einen kleinen Privat-Sackpuffer loslassen wollte, hielt er stets große Stücke darauf, zu versichern, er habe das Glück, zu glauben, daß seine Gefühle nicht ohne Echo seien in der Brust des Mr. Pitt, dieses Lotsen, der in Wahrheit den Sturm umluvt habe. Es rief ihm dann eine verteufelt große Anzahl von Mitgliedern augenblicklich Beifall zu, so daß sein Mut gekräftigt wurde. Diese Mitglieder hatten die Weisung, stets Bravo zu rufen, so oft Mr. Pitts Name erwähnt wurde, und dieser Name war das Schlagwort, das sie jedesmal weckte. In anderer Art waren sie bei allen Vorgängen so unschuldig, daß der Konversations-Brown – Vier-Flaschenmann bei der Schatzkammer, mit dem der Vater meines Freundes Gay vermutlich bekannt war, da er vor der Zeit meines Freundes Gay lebte – zu sagen pflegte, wenn einer sich von seinem Platze erhebe und sein Bedauern ausdrückte, dem Hause mitteilen zu müssen, daß in der Vorhalle ein ehrenwertes Mitglied im Stadium der letzten Zuckungen liege, und daß der Name dieses ehrenwerten Mitglieds Pitt sei, so würde der Beifallssturm ebenso laut sein.«
Dieses Hinausschieben des eigentlichen Punktes brachte Florence in Verwirrung, und sie blickte mit steigender Aufregung von Vetter Feenix auf Walter. »Meine Liebe«, sagte Walter, »es ist nichts vorgefallen.«
»Nein, auf Ehre, es ist nichts vorgefallen,« fuhr Vetter Feenix fort. »Es tut mir ungemein leid, Veranlassung gewesen zu sein, daß Ihr Euch nur einen Augenblick beunruhigtet. Nehmt die Versicherung, daß nichts vorgefallen ist. Die Gunst, um die ich bitten möchte, besteht einfach darin – doch sie scheint in der Tat so ungewöhnlich zu sein, daß ich meinem Freund Gay im höchsten Grad verbunden wäre, wenn er die Güte haben wollte – mit einem Worte, das Eis zu brechen.«
Der so aufgeforderte Walter, an den jetzt auch Florences Blicke appellierten, ergriff folgendermaßen das Wort:
»Meine Liebe, es handelt sich einfach darum, daß du diesen Gentleman, der dir bekannt ist, nach London begleiten möchtest.«
»Ich bitte um Verzeihung, und auch meinen Freund Gay«, unterbrach ihn Vetter Feenix.
»Er wünscht, daß du mit mir irgendwo einen Besuch machst.«
»Bei wem?« fragte Florence, bald den einen, bald den andern ansehend.
»Wenn ich bitten dürfte«, versetzte Vetter Feenix, »daß Ihr nicht auf einer Beantwortung dieser Frage besteht, so würde ich mir die Freiheit nehmen, dieses Ansinnen zu stellen.«
»Bist du davon unterrichtet, Walter?« fragte Florence.
»Ja.«
»Und hältst du es für recht?«
»Ja. Nur weil ich überzeugt bin, daß du es auch für recht halten würdest. Allerdings dürften, wie ich recht wohl begreife, Gründe vorhanden sein, die es besser erscheinen lassen, wenn vorderhand nicht mehr darüber gesprochen wird.«
»Wenn Papa noch schläft, oder im Falle er wach ist, mich entbehren kann, so will ich sogleich gehen«, sagte Florence.
Sie stand gelassen auf, warf den beiden einen etwas beunruhigten, aber vollkommen vertrauenden Blick zu und verließ das Zimmer.
Als sie wieder zurückkam, um mit ihnen aufzubrechen, besprachen sie sich ernst miteinander im Fenster, und Florence war natürlich neugierig auf einen Gegenstand, der die beiden in kurzer Frist so gut miteinander bekannt gemacht hatte. Weniger verwundert war sie über den Blick voll Stolz und Liebe, mit dem ihr Gatte bei ihrem Eintritt abbrach, denn sie sah denselben nie anders.
»Ich will für meinen Freund Dombey eine Karte zurücklassen«, sagte Vetter Feenix, »und hoffe aufrichtig, daß jede kommende Stunde ihm Kraft und Gesundheit geben wird. Mein Freund Dombey ist vielleicht so gütig, mich für einen Mann anzusehen, der eine verteufelt warme Bewunderung vor seinem Charakter als britischer Kaufmann und als ein verteufelt ehrenhafter Gentleman hegt. Mein Landsitz ist zwar in einem verwünscht baufälligen Zustand; aber wenn mein Freund Dombey einer Luftveränderung benötigt wäre und dort sein Quartier aufschlagen wollte, so würde er einen merkwürdig gesunden Platz finden – natürlich da es dort erstaunlich langweilig ist. Leidet mein Freund Dombey an körperlicher Schwäche und wollte er mir erlauben, ihm zu empfehlen, was mir selbst als einem Mann, dem es zuzeiten außerordentlich schlecht war, da er in den Tagen eines freien Lebens ziemlich frei lebte, treffliche Dienste geleistet hat, so würde ich ihm ein Eigelb anraten, das mit Zucker und Muskatnuß geklopft, mit einem Glas Xeres gemischt und morgens mit einer Röstschnitte genossen wird. Jackson, der die Vorzimmer in Bondstreet hielt – Mann von sehr überlegenen Eigenschaften, dessen Ruf meinem Freund Gay ohne Zweifel bekannt ist, bemerkte zu sagen, daß diejenigen, die sich für den Wahlplatz ausbildeten, statt des Xeres Rum nehmen. Im gegenwärtigen Fall möchte ich aber Xeres empfehlen, weil sich mein Freund Dombey in einem geschwächten Zustand befindet. Der Rum könnte ihm in der Tat zu Kopf steigen und ihn in eine verteufelte Lage versetzen.«
Dieses medizinischen Rats entledigte sich Vetter Feenix augenscheinlich mit sehr verwirrter Miene. Er reichte sodann Florence seinen Arm, tat seinen eigensinnigen Beinen, die mit Gewalt in den Garten hinaus zu wollen schienen, allen möglichen Zwang an, führte sie zur Tür und half ihr in den bereitstehenden Wagen.
Walter stieg nach ihm ein, und sie fuhren ab.
Der Weg mochte wohl ein paar Stunden betragen. Es war bereits dunkel, als sie durch gewisse düstere, vornehme Straßen im westlichen Teile von London fuhren. Florence hatte Walters Hand gefaßt, und ihre Aufregung steigerte sich, so oft sie in irgendeine neue Straße einbogen.
Als der Wagen endlich vor dem Hause in Brook-Street, wo ihr Vater seine unglückliche Hochzeit gefeiert hatte, haltmachte, sagte Florence:
»Walter, was soll das? Wer ist hier?«
Während ihr Walter Mut zusprach, ohne sich auf eine weitere Erwiderung einzulassen, blickte sie an der Vorderseite des Hauses hinauf und bemerkte, daß alle Fenster geschlossen waren, als sei das Gebäude unbewohnt. Vetter Feenix war inzwischen ausgestiegen und reichte ihr seine Hand.
»Kommst du nicht, Walter?« fragte sie.
»Nein, ich will hier bleiben. Du brauchst nicht zu zittern. Es ist nichts zu fürchten, teuerste Florence.«
»Ich weiß das wohl, Walter, da du mir so nahe bist. Wenn ich aber auch davon überzeugt bin, so – –«
Die Tür ging, ohne daß gepocht wurde, leise auf, und Vetter Feenix führte sie aus der Sommerabendluft in das dumpfe, düstere Haus. Brauner als je schien es von dem Hochzeitstage an verschlossen geblieben zu sein; es sah aus, als habe es seitdem Trauer und Düster zusammengespart.
Florence stieg zitternd die dunklen Treppen hinan und machte mit ihrem Führer an der Tür des Besuchszimmers halt. Er öffnete, ohne zu sprechen, und deutete durch ein Zeichen die Bitte an, sie möchte in das innere Zimmer treten, während er hier zurückbleibe. Nach einem kurzen Zögern entsprach Florence der Aufforderung.
Neben dem Fenster an einem Tisch saß eine Dame, die geschrieben oder gezeichnet hatte. Ihr Kopf war dem hinsterbenden Licht zugekehrt und ruhte auf der Hand. Florence trat zweifelnd näher, blieb aber mit einem Male stehen, als habe sie alle Kraft der Bewegung verloren. Die Dame hatte den Kopf umgewandt.
»Gütiger Himmel!« sagte sie. »Was ist dies?«
»Nein, nein!« rief Florence, die, als die Dame sich erhob, einige Schritte zurückwich und ihre Hände ausstreckte, um sie abzuhalten. »Mama!«
Sie blieben stehen und sahen sich an. Stolz und Leidenschaft hatten ihre verheerenden Spuren in Ediths Gesicht zurückgelassen, aber noch immer war es schön und stattlich, während in Florences Antlitz trotz des Schreckens, in dem sie die andere zu vermeiden suchte, Mitleid, Kummer und dankbare Rückerinnerung ausgedrückt waren. Auf jedem Gesicht war Erstaunen und Furcht deutlich zu lesen – jedes so still und stumm, während sie sich gegenseitig über der schwarzen Kluft einer unwiderruflichen Vergangenheit ansahen.
Bei Florence ging zuerst eine Veränderung vor. Sie brach in Tränen aus und rief aus der Fülle ihres Herzens:
»O Mama, Mama, warum müssen wir uns so wiedersehen! Ihr wart sonst so freundlich gegen mich, als ich niemand anders hatte. Warum müssen wir uns so wieder finden!«
Edith stand stumm und regungslos vor ihr. Ihre Augen hafteten auf ihrem Gesicht.
»Ich wage nicht daran zu denken«, sagte Florence. »Ich komme von Papas Krankenbett. Wir sind jetzt stets beisammen und werden uns nie mehr trennen. Wenn Ihr wünscht, daß ich für Euch seine Verzeihung erbitte, so will ich es tun, Mama. Ich bin fest überzeugt, daß er sie erteilen wird, wenn ich ihn darum angehe. Möge auch der Himmel Euch verzeihen und Euch trösten.«
Sie antwortete mit keiner Silbe.
»Walter – ich bin mit ihm verheiratet, und wir haben einen Sohn«, sagte Florence schüchtern, »ist unten an der Tür und hat mich hergebracht. Ich will ihm mitteilen, daß Ihr reuig, daß Ihr verändert seid,« fügte sie mit einem Blick der Wehmut hinzu. »Ich weiß, er wird mit mir dem Papa zusprechen. Kann ich außerdem noch etwas für Euch tun?«
Edith unterbrach ihr Schweigen, ohne ein Auge und ein Glied zu bewegen, und erwiderte langsam:
»Der Flecken auf Eurem Namen, auf dem Eures Gatten und Eures Kindes – kann er je vergeben werden, Florence?«
»Ob er's kann, Mama? Er ist vergeben! Offen und unverhohlen von Walter und von mir. Wenn Euch dies Trost bereiten kann, so mögt Ihr mit Sicherheit darauf bauen. Ihr sprecht – Ihr sprecht –« stotterte Florence – »nicht von Papa; aber zuverlässig wünscht Ihr, daß ich ihn in Eurem Namen um Verzeihung bitte.«
Sie antwortete mit keiner Silbe.
»Ich will es tun«, fuhr Florence fort. »Ich will Euch seine Vergebung bringen, wenn Ihr mir's gestattet; und dann können wir uns wieder so Lebewohl sagen, wie in alten Zeiten. Ich bin«, fügte sie in sanftem Tone hinzu, während sie näher herantrat – »ich bin nicht vor Euch zurückgewichen, Mama, weil ich Euch fürchte oder weil ich durch Euch beschimpft zu werden glaube. Ich wünsche nur gegen Papa meine Pflicht zu erfüllen. Ich bin ihm sehr teuer und liebe ihn aus ganzer Seele. Gleichwohl kann ich nie vergessen, wie gütig Ihr gegen mich wart. O, betet zum Himmel«, rief Florence, indem sie an ihre Brust sank, »betet zum Himmel, Mama, er möge Euch die Sünde und Schande vergeben – er möge, falls es unrecht ist, auch mir verzeihen, daß ich so handeln muß, wenn ich denke, was Ihr sonst wart.«
Edith sank, als bräche sie unter Florences Berührung zusammen, auf ihre Knie nieder und umschlang ihren Nacken.
»Florence!« rief sie. – »Mein besserer Engel! Ehe ich wieder wahnsinnig werde – ehe mein Starrsinn zurückkehrt und meine Zunge bindet, glaube mir, – bei meiner Seele, ich bin unschuldig!«
»Mama!«
»Schuldig in vielem, schuldig in dem, was für immer eine Öde zwischen uns wirft. Schuldig in dem, was mich für den ganzen Rest meines Lebens trennen muß von Reinheit und Unschuld – vor allem auf Erden von dir; schuldig einer blinden, leidenschaftlichen Rachsucht, die ich selbst jetzt nicht bereuen kann oder will; aber nicht schuldig mit jenem toten Manne. Gott ist mein Zeuge!«
Sie tat diesen Schwur mit erhobenen beiden Händen und auf ihren Knien liegend.
»Florence!« sagte sie, »reinstes und bestes Wesen – das ich liebe – das mich längst hätte umwandeln können und eine Zeitlang sogar in dem Weibe, das ich bin, einen Wechsel hervorbrachte – glaube mir, hierin bin ich unschuldig. Laß mich noch einmal dein teures Haupt an mein verödetes Herz drücken – zum letztenmal!«
Sie weinte in tiefer Ergriffenheit. Wäre sie in früherer Zeit öfter so gewesen, so hätte sie jetzt glücklicher sein können.
»In der ganzen Welt gibt es nichts anderes«, sagte sie, »was mir diese Verneinung hätte entringen können. Weder Liebe noch Haß, weder Hoffnung noch Drohung. Ich erklärte, daß ich sterben wollte, ohne es durch ein Zeichen anzudeuten. Ich hätte Wort halten können, würde Wort gehalten haben, wenn wir uns nicht wiedergesehen hätten, Florence.«
»Ich hoffe«, sagte Vetter Feenix, der zur Tür hereinkam und halb im Zimmer, halb draußen zu sprechen anfing, »daß meine liebliche und begabte Verwandte mich entschuldigen wird, wenn ich durch eine kleine Kriegslist diese Begegnung herbeiführte. Ich kann nicht sagen, daß ich anfänglich ganz ungläubig war in betreff der Möglichkeit, meine liebliche und begabte Verwandte könnte sich unglücklicherweise in Beziehung auf den verstorbenen Mann mit den weißen Zähnen eine Blöße gegeben haben; denn in der Tat, man sieht in dieser Welt, die sich durch seltsame Verkettungen auszeichnet und Dinge erleben läßt, die man völlig unbegreiflich findet – gar sonderbare Konjunktionen solcher Art. Aber wie ich meinem Freund Dombey erklärte, ich konnte die Schuld meiner lieblichen und begabten Verwandten nicht zugestehen, bis sie vollkommen bewiesen wäre. Als nun der verstorbene Mann in einer so verteufelt schrecklichen Weise zugrunde ging, dachte ich mir, ihre Lage müsse sehr peinlich sein, und da ich außerdem fühlte, unsere Familie habe sich einiges vorzuwerfen, weil wir ihr nicht mehr Aufmerksamkeit schenkten und überhaupt eine unbekümmerte Familie sind – ferner, weil meine Tante, obschon eine verteufelt lebhafte Frau, doch vielleicht nicht unter die besten Mütter gehörte – so nahm ich mir die Freiheit, sie in Frankreich aufzusuchen und ihr den Schutz anzubieten, den ein Mann von ziemlich beschränkten Mitteln gewähren kann. Bei dieser Gelegenheit erwies mir meine liebliche und begabte Verwandte die Ehre, mir zu erklären, daß sie mich in meiner Art für einen verteufelt guten Burschen halte und deshalb von meinem Schutz Gebrauch machen wolle. Es war dies in der Tat sehr freundlich von meiner lieblichen und begabten Verwandten, da ich nachgerade ungemein unbeholfen werde und ihrer häuslichen Sorgfalt viel Bequemlichkeit verdanke.«
Edith, die Florence auf das Sofa zu sich niedergezogen hatte, winkte ihm mit der Hand, als bitte sie ihn, nicht weiterzusprechen.
»Meine liebliche und begabte Verwandte wird mich entschuldigen«, nahm Vetter Feenix wieder auf, während er noch immer an der Tür umherschwankte, »wenn ich zu ihrer und meiner eigenen Befriedigung, wie auch zur Befriedigung meines Freundes Dombey, dessen liebliche und begabte Tochter wir so sehr bewundern, den Faden meiner Bemerkungen vollends abwickle. Sie wird sich erinnern, daß von Anfang an nie eine Hindeutung auf ihre Entführung zwischen uns stattfand. Ich habe allerdings immer unter dem Eindruck gelebt, daß in der Sache ein Geheimnis liege, das sie erklären könne, wenn sie dazu geneigt sei; da aber meine liebliche und begabte Verwandte eine verteufelt entschlossene Frau ist, so wußte ich in der Tat wohl, daß sie nicht mit sich spielen läßt, und ich enthielt mich daher jeder Erörterung. In letzter Zeit nun bemerkte ich, daß ihre zugänglichste Seite eine sehr lebhafte Zärtlichkeit für die Tochter meines Freundes Dombey sei, und da fiel mir ein, wenn ich, beiderseits unerwartet, eine Zusammenkunft zusammenbringen könnte, so dürfte dies wohltätige Folgen nach sich ziehen. Wir sind noch in unserer Abgeschiedenheit in London, ehe wir nach dem südlichen Italien ziehen, um uns dort niederzulassen, bis wir in die lange Heimat eingehen (eine verteufelt unangenehme Betrachtung), und ich schickte mich deshalb an, den Aufenthalt meines Freundes Gay – schöner Mann von ungemein offenem Charakter, der wahrscheinlich meiner lieben und begabten Verwandten bekannt ist – zu entdecken, und hatte das Glück, seine liebenswürdige Gattin hierherzubringen. Und nun«, fügte Vetter Feenix mit einem wahren und echten Ernste hinzu, der durch die Leichtigkeit seines Wesens und seine geschraubte Sprache durchblickte, »beschwöre ich meine Verwandte, nicht auf halbem Wege stehenzubleiben, sondern, soweit es ihr möglich ist, das begangene Unrecht wieder gutzumachen – nicht im Interesse der Ehre ihrer Familie, ihres Rufs oder sonstiger Rücksichten, die sie infolge unglücklicher Verkettungen für hohl und abgeschmackt anzusehen gelernt hat– sondern weil es Unrecht ist und vor dem Rechte nicht bestehen kann.«
Die Beine des Vetters Feenix willigten nun ein, ihn abzuführen. Er ließ die beiden allein und schloß die Tür.
Edith blieb einige Minuten stumm, während Florence dicht an ihrer Seite stand. Dann nahm sie ein versiegeltes Papier aus ihrem Busen.
»Ich ging lange mit mir zu Rat«, sagte sie mit gedämpfter Stimme, »ob ich für den Fall eines plötzlichen oder zufälligen Todes dies überhaupt schreiben sollte, bis ich mich endlich dazu gedrungen fühlte. Seitdem erwog ich immer, wann und wie ich es wieder vernichten sollte. Nimm es, Florence. Die Wahrheit ist darin aufgezeichnet.«
»Ist es für den Papa?« fragte Florence.
»Für wen du willst«, antwortete sie. »Es ist dir übergeben und muß durch deine Hand gehen. Anders hätte er es nie erhalten können.«
Wieder eine stumme Pause, während die Nacht hereinbrach.
»Mama«, sagte Florence, »er hat sein Vermögen verloren, stand am Rande des Grabes und erholt sich vielleicht nie wieder. Habt Ihr kein Wort, das ich ihm in Eurem Namen sagen soll?«
»Hast du mir nicht gesagt«, fragte Edith, »daß du ihn sehr liebst?«
»Ja«, entgegnete Florence mit bebender Stimme.
»So sage ihm, es tue mir leid, daß wir uns je gesehen hätten.«
»Weiter nichts?« entgegnete Florence nach einer Pause.
»Wenn er fragt, so sage ihm, daß ich nicht bereue, was ich getan habe – auch jetzt noch nicht –, denn falls es morgen wieder geschehen müßte, so würde ich nicht zögern. Aber wenn er ein veränderter Mann ist –«
Sie hielt inne. Es lag etwas in der stummen Berührung von Florences Hand, das ihr Einhalt gebot.
»Er weiß wohl jetzt, wäre er anders gewesen, so würde es nie vorgefallen sein. Sage ihm, ich wünsche, es hätte nie stattgefunden.«
»Darf ich ihm mitteilen«, entgegnete Florence, »daß Ihr mit Bedauern vernommen habt, welches Unglück ihn betroffen?«
»Wenn es ihn gelehrt hat, seine Tochter zu lieben – nein«, erwiderte sie. »Er wird es mit der Zeit selbst nicht beklagen, daß eine solche Lehre über ihn kommen mußte, Florence.«
»Ihr wünscht ihm aber nichts Schlimmes – Ihr wünscht, daß er glücklich sei? O, gewiß wünscht Ihr dies!« sagte Florence. »Setzt mich in die Lage, ihm bei irgendeiner künftigen Gelegenheit dies mitteilen zu können.«
Edith heftete ihre dunkeln Augen fest vor sich auf den Boden und antwortete nicht, bis Florence ihre Bitte wiederholt hatte. Dann zog sie die Hand ihrer Gefährtin durch ihren Arm, richtete denselben gedankenvollen Blick in die Nacht hinaus und sprach:
»Sage ihm, wenn er in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung einen Grund finden könne, meiner Vergangenheit Mitleid zu schenken, so bitte ich ihn, es zu tun. Sage ihm, wenn er in seiner gegenwärtigen Gemütsstimmung einen Grund finden könne, mit weniger Bitterkeit meiner zu gedenken, so bitte ich ihn, es zu tun. Sage ihm, obschon wir tot seien für einander und uns nie mehr auf dieser Seite der Ewigkeit treffen werden, so wisse er, es gebe jetzt ein einziges gemeinsames Gefühl zwischen uns, das früher nie bestanden.«
Ihre Strenge schien sich zu mildern, und Tränen traten in ihre dunkeln Augen.
»Diesem Gefühl vertraue ich«, fuhr sie fort, »daß es in ihm bessere Gedanken von mir und in mir bessere von ihm wecke. Wenn er seine Florence am meisten liebt, wird er mich am wenigsten hassen. Wenn er am stolzesten und glücklichsten ist in ihr und ihren Kindern, wird er am meisten seine Beteiligung an dem düsteren Traum unseres ehelichen Lebens bereuen. Dann will auch ich bereuen – laß ihn dies dann wissen. Ich will dann darüber nachdenken, daß mir, wenn ich alle diese Ursachen erwogen hätte, die mich zu dem machten, was ich war, vielleicht Anlaß gegeben worden wäre, mit den Ursachen, die ihn zu dem machten, was er war, mehr Nachsicht zu haben. Ich will dann versuchen, ihm seine Beteiligung an der Schmach zu verzeihen. Versuche er, mir die meinige zu vergeben!«
»O Mama!« rief Florence. »Wie erleichtert es mir das Herz, auch bei einem solchen Zusammentreffen und Scheiden dies zu hören!«
»Seltsame Worte in meinen Ohren«, sagte Edith, »und befremdlich für den Ton meiner eigenen Stimme! Aber selbst wenn ich das elende Geschöpf gewesen wäre, für das mich zu halten ich ihm Anlaß gab, so glaube ich, daß ich sie hätte sprechen können, nachdem ich hörte, daß du und er, ihr beide euch gegenseitig teuer seid. Möge er, wenn er dich am meisten liebt, stets fühlen, daß er auch mir in seinen Gedanken die meiste Nachsicht zuteil werden lassen muß – daß ich dann in meinen Gedanken die meiste Nachsicht mit ihm trage! Dies sind die letzten Worte, die ich ihm zugehen lasse! Jetzt, Gott mit dir, mein Leben!«
Sie schlang sie in ihre Arme und schien ihre ganze Seele voll Liebe und Innigkeit mit einemmal auszugießen.
»Diesen Kuß deinem Kinde! Diese Küsse, Segenswünsche über dein Haupt! Meine teure Florence, mein süßes Mädchen, lebe wohl!«
»Um uns wiederzusehen!« rief Florence unter Tränen.
»Nie – nie wieder! Wenn du dieses düstere Gemach verläßt, so denke, du habest mich im Grabe gelassen. Erinnere dich meiner als eines Wesens, das war und das dich liebte!«
Und Florence entfernte sich, von ihren Umarmungen und Liebkosungen bis auf den letzten Augenblick begleitet, ohne jedoch ihr Gesicht wiederzusehen.
Vetter Feenix trat ihr an der Tür entgegen und führte sie nach dem trüb aussehenden Speisesaal zu Walter hinunter, auf dessen Schulter sie ihr weinendes Haupt legte.
»Es tut mir verteufelt leid«, sagte Vetter Feenix, in der möglichst einfachen Weise und ohne die mindeste Verhehlung seine Manschetten zu den Augen erhebend, »daß die liebliche und begabte Tochter meines Freundes Dombey, die liebenswürdige Gattin meines Freundes Gay, bei ihrem empfindsamen Wesen durch das Zusammentreffen, das eben zum Schluß gekommen ist, so traurig gestimmt wurde. Aber ich hoffe und vertraue, daß ich aufs beste gehandelt habe und daß mein ehrenwerter Freund Dombey sich durch die stattgefundenen Enthüllungen erleichtert fühlen wird. Ich beklage ungemein, daß mein Freund Dombey sich durch eine Verbindung mit unserer Familie in eine so verteufelte Verwicklung eingelassen hat, obschon ich lebhaft der Ansicht bin, wäre jener höllische Schurke, Carker – Mann mit weißen Zähnen – nicht gewesen, so hätte alles noch ziemlich ordentlich ablaufen können. Was meine Verwandte betrifft, die mir die Ehre erweist, eine ungewöhnlich gute Meinung von mir zu haben, so kann ich der liebenswürdigen Gattin meines Freundes Gay die Versicherung geben, daß ich in der Tat wie ein Vater an ihr handeln werde, und in Anbetracht der Wechsel im menschlichen Leben und der außerordentlichen Weise, in der wir uns stets benehmen, kann ich nur mit meinem Freund Shakespeare – Mann, der nicht für ein Menschenalter, sondern für alle Zeit lebte, und den mein Freund Gay ohne Zweifel kennt – sagen, daß sie dem Schatten eines Traumes zu vergleichen sind.«
Zweiundsechzigstes Kapitel. SCHLUß.
Eine Flasche, die lang abgeschieden war vom Licht des Tages und eine dichte Hülle von Staub und Spinngeweben auf sich trägt, ist in den Strahl der Sonne gekommen, und der goldene Wein darin verbreitet einen Glanz über den Tisch.
Es ist die letzte Flasche des alten Madeira.
»Ihr habt vollkommen recht, Mr. Gills«, sagt Mr. Dombey. »Dies ist ein seltener, ein köstlicher Wein.«
Der Kapitän, der gleichfalls von der Partie ist, strahlt von Freude. Eine wahre Entzückensglorie breitet sich um seine glühende Stirn.
»Wir haben uns immer versprochen, Sir«, bemerkt Mr. Gills, »Ned und ich, meine ich –«
Mr. Dombey nickt dem Kapitän zu, der in sprachloser Wonne mehr und mehr erglänzt.
»– daß wir sie eines Tages trinken wollen, wenn Walter wohlbehalten nach Haus gekommen sei, obschon wir nie an eine solche Heimat dachten. Wenn Ihr gegen unsere alte Grille nichts einzuwenden habt, so laßt uns dieses erste Glas Walter und seiner Gattin weihen!«
»Walter und seiner Gattin!« sagt Mr. Dombey. »Florence, mein Kind« – und er beugt sich zu ihr hin, sie zu küssen.
»Walter und seiner Gattin!« sagt Mr. Toots.
»Wal'r und seiner Gattin!« ruft der Kapitän. »Hurra!«
Und der Kapitän zeigt große Lust, mit seinem Glas gegen ein anderes anzustoßen, worauf Mr. Dombey bereitwillig das seine hinhält. Die andern folgen. Es klingt so heiter und schön wie Hochzeitglocken.
Anderer begrabener Wein wird älter, wie der alte Madeira seinerzeit tat, und Staub und Spinngewebe häufen sich auf den Flaschen.
Mr. Dombey ist ein weißhaariger Gentleman, dessen Gesicht tiefe Spuren von Sorge und Leiden trägt; aber sie sind die Reste eines Sturms, der für immer vorübergegangen ist und einen klaren Abend zurückließ.
Ehrgeizige Pläne beunruhigen ihn nicht mehr. Seine Tochter und ihr Gatte sind sein einziger Stolz. Er hat ein ruhiges, stilles, gedankenvolles Wesen angenommen und ist stets um seine Tochter. Miß Tox besucht die Familie häufig, ist ihr sehr zugetan und sehr beliebt. Ihre Bewunderung vor dem einst so stattlichen Gönner war von dem Morgen der Erschütterung auf dem Prinzessinnenplatze an platonisch, ohne übrigens auch nur im mindesten nachzulassen.
Aus dem Schiffbruch seines Wohlstandes ist ihm nichts geblieben als eine gewisse jährliche Summe, die ihm, er weiß selbst nicht wie, mit der dringenden Bitte, daß er nicht nachforschen möchte, und mit der Versicherung zukommt, sie sei eine Schuld und ein Akt der Vergütung. Er hat sich mit seinem alten Buchhalter darüber beraten, und dieser ist der Überzeugung, daß sie mit Ehren angenommen werden könne, denn ohne allen Zweifel rühre sie von irgendeinem vergessenen Geschäft aus den Zeiten des alten Hauses her.
Der braunäugige Junggeselle, jetzt nicht mehr ein Junggeselle, ist verheiratet, und zwar mit der Schwester des grauhaarigen Junior. Er besucht bisweilen seinen alten Prinzipal, aber selten. In der früheren Geschichte des grauhaarigen Junior, noch mehr aber in seinem Namen liegt ein Grund, warum er sich von seinem alten Dienstherrn fernhält, und da er bei seiner Schwester und ihrem Gatten wohnt, so teilen sie diese Zurückgezogenheit. Walter kommt bisweilen zu ihnen – auch Florence – und das heitere Haus ertönt dann von tief aufgefaßten, für das Piano und Violoncello eingerichteten Duetten und von den Anstrengungen fröhlicher Hammerschmiede.
Und wie geht es dem hölzernen Midshipman in diesen veränderten Zeiten? Je nun, er hat es noch immer, den rechten Fuß voran, scharf auf die Kutschen abgesehen und benimmt sich dabei eifriger als je, da er von dem Eckenhut an bis zu den Schnallenschuhen hinunter einen frischen Anstrich erhalten hat. Über ihm liest man in goldenen Buchstaben die funkelnden Namen GILLS and CUTTLE.
Außer seinem gewöhnlichen leichten Geschäft tut der Midshipman keinen weiteren Zug. Aber man erzählt sich in einem weiten Kreise um den blauen Regenschirm auf dem Leadenhall-Markt, daß einige von Mr. Gills' alten Kapitalien wunderbar gut einliefen und daß der Instrumentenmacher, statt wie er gemeint hatte, in dieser Beziehung hinter der Zeit zurückzubleiben, ihr in Wahrheit ein wenig vorgeeilt sei und die Erfüllung derselben noch zu erwarten habe. Es geht das Geflüster, Mr. Gills' Geld habe angefangen zu roulieren, und es rolle immer recht hübsch. So viel ist gewiß, daß es, wenn er in seinem kaffeefarbigen Anzug mit dem Chronometer in der Tasche und der Brille auf der Stirn vor der Ladentür steht, nicht den Anschein hat, als breche ihm bei dem Ausbleiben der Kunden das Herz, denn er sieht recht heiter und zufrieden, wenngleich ganz so neblig aus, wie vor alters.
Was seinen Associé betrifft, so trägt sich der Geist des Kapitäns mit der Fiktion eines Geschäftes, die bei ihm mehr verfängt, als jede Wirklichkeit. Der Kapitän ist von der Bedeutsamkeit des Midshipman für den Handel und die Schiffahrt des Landes so überzeugt, daß er's nicht in einem höheren Grade hätte sein können, wenn jedes Schiff, das den Hafen von London verließ, zuvor den Beistand des Midshipman hätte annehmen müssen. Sein Entzücken über seinen Namen auf dem Schild der Firma ist unerschöpflich. Er geht wohl zwanzigmal des Tags über den Weg hinüber, um ihn von der andern Seite der Straße aus anzusehen, und sagt bei solchen Gelegenheiten unabänderlich: »Ed'ard Cuttle, mein Junge, wenn deine Mutter gewußt hätte, daß du je ein Mann der Wissenschaft werden würdest, wie wäre da die gute alte Kreatur nicht an den Mast zurückgeworfen worden!«
Doch da kommt mit ungestümer Eile Mr. Toots auf den Midshipman herunter und stürzt mit glutrotem Gesicht in das kleine Wohnstübchen.
»Kapitän Gills«, sagt Mr. Toots, »und Mr. Sols. Ich bin so glücklich, Euch mitteilen zu können, daß Mrs. Toots einen Zuwachs ihrer Familie erhalten hat.«
»Das macht ihr Ehre!« ruft der Kapitän.
»Ich wünsche Euch Glück, Mr. Toots!« sagt der alte Sol.
»Danke Euch«, kichert Mr. Toots, »ich bin Euch sehr verbunden. Ich wußte, daß Euch diese Kunde freuen würde, und bin deshalb selbst gekommen. Ihr wißt, es geht bei uns vorwärts. Da ist die Florence, die Susanne, und jetzt kommt wieder ein kleiner Fremdling.«
»Ein weiblicher Fremdling?« fragt der Kapitän.
»Ja, Kapitän Gills«, sagt Mr. Toots, »und ich freue mich darüber. Ich bin der Ansicht, je öfter wir diese außerordentliche Frau wiederholen können, desto besser ist's.«
»Halt!« ruft der Kapitän, sich nach der alten Korbflasche ohne Hals wendend – denn es ist Abend und der Midshipman hat seinen gewöhnlichen mäßigen Vorrat von Pfeifen und Gläsern an Bord. »Ich bringe ihr dies, und mögen noch ebenso viele nachfolgen!«
»Danke, Kapitän Gills«, sagt der entzückte Mr. Toots. »Ich wiederhole diesen Trinkspruch. Wenn Ihr mir's erlaubt, so will ich eine Pfeife nehmen, da dies unter den Umständen niemandem unangenehm sein kann.«
Mr. Toots beginnt zu rauchen und wird in der Offenheit seines Herzens sehr redselig.
»Unter all den merkwürdigen Proben, die die herrliche Frau von ihrem vortrefflichen Verstand abgelegt hat, Kapitän Gills und Mr. Sols«, sagt Toots, »ist meiner Ansicht nach keine merkwürdiger, als die Vollkommenheit, womit sie meine Verehrung der Miß Dombey begreift.«
Beide Zuhörer stimmen zu.
»Denn Ihr wißt«, sagt Mr. Toots, »daß ich meine Gesinnungen gegen Miß Dombey nie geändert habe. Sie sind stets die gleichen. Sie erscheint mir noch immer als derselbe schöne Traum, wie zu der Zeit, ehe ich Walters Bekanntschaft machte. Als Mrs. Toots und ich zum erstenmal zu sprechen anfingen von – mit einem Wort, von der zarten Leidenschaft, wißt Ihr, Kapitän Gills.«
»Ja, ja, mein Junge«, bemerkt der Kapitän, »die uns alle treibt – seht darüber nach in dem Buch –«
»Ich werde es sicherlich nicht versäumen, Kapitän Gills«, sagt Mr. Toots mit großem Ernst. »Als wir zum erstenmal von solchen Dingen zu sprechen begannen, erklärte ich ihr, daß ich das sei, was man eine geknickte Blume nennen kann.«
Der Kapitän zollt dieser Redefigur großen Beifall und murmelt, daß keine Blume, die da blühe, der Rose zu vergleichen sei.
»Aber Gott behüte mich«, fuhr Mr. Toots fort, »sie kannte den Zustand meiner Gefühle gerade so gut, wie ich selbst. Es gab nichts, was ich ihr sagen konnte. Sie war die einzige Person, die zwischen mich und das schweigende Grab zu treten vermochte, und sie tat es in einer Weise, die mir ewige Bewunderung auflegt. Sie weiß, daß es niemand in der Welt gibt, zu dem ich aufblicken könnte, wie zu Miß Dombey. Sie weiß, daß nichts auf Erden ist, was ich nicht für Miß Dombey tun würde. Sie weiß, daß ich sie als die Schönste und Liebenswürdigste, als einen wahren Engel ihres Geschlechts betrachte. Was sagt sie darüber? Ein neuer Beweis von der Vollkommenheit ihres Verstandes. ›Mein Lieber, du hast recht. Ich denke auch so.‹«
»Und ich ebenfalls!« pflichtete der Kapitän bei.
»Ich desgleichen«, sagte Sol Gills.
»Ferner«, nimmt Mr. Toots wieder auf, nachdem er eine Weile nachdenklichst an seiner Pfeife gesogen und in seinem Gesicht das zufriedenste Nachdenken ausgedrückt hatte, »wie aufmerksam meine Frau ist! Welchen Scharfsinn sie besitzt! Welche Bemerkungen sie macht! Erst gestern abend, als wir in der Freude ehelichen Glücks beisammen saßen – auf Ehre, dies ist nur ein schwacher Ausdruck, um meine Gefühle in der Gesellschaft meiner Frau anzudeuten – sagte sie, wie merkwürdig es sei, die gegenwärtige Lage unseres Freundes Walter zu betrachten. ›Er ist hier‹, sagte sie, ›und braucht nach jener ersten langen Reise mit seiner jungen Frau nicht mehr über See zu gehen‹ – Ihr wißt, daß dies der Fall ist, Mr. Sols.«
»Ganz richtig«, sagt der alte Instrumentenmacher, seine Hände reibend.
»›Dessen ist er unmittelbar darauf entbunden worden‹, sagt meine Frau, ›und er hat in demselben Geschäft eine Stelle gefunden, bei welcher ihm viel anvertraut wurde. Er zeigte sich derselben wieder würdig, erstieg mit großer Schnelle die Leiter, ist von jedermann geliebt und wird von seinem Onkel nach Vermögen unterstützt‹ – ich glaube, dies ist der Fall, Mr. Sols? Meine Frau hat immer recht.«
»Nun ja, ja – einige von unseren verlorenen Goldschiffen sind in der Tat wieder angelangt«, entgegnet der alte Sol lachend. »Kleine Fahrzeuge, Mr. Toots, aber doch meinem Jungen nützlich.«
»Ganz richtig!« sagt Mr. Toots. »Ihr werdet meine Frau nie auf einem unrechten Weg erwischen. ›Er befindet sich jetzt in einer solchen Lage‹, sagt dieses höchst merkwürdige Weib, ›und was folgt daraus? Was folgt?‹ bemerkte Mrs. Toots. Jetzt bitte ich acht zu geben, Kapitän Gills und Mr. Sols, wie tief die Auffassung meiner Frau ist. ›Je nun, daß unter Mr. Dombeys Augen ein Grund gelegt wird, auf dem allmählich ein – ein Gebäude‹ – so lautete das Wort, dessen Mrs. Toots sich bediente«, sagt Mr. Toots jubelnd, »›sich erhebt, vielleicht ebenso groß, vielleicht noch größer, als dasjenige, an dessen Spitze er ehemals stand und dessen kleiner Anfang ihm (ein gewöhnlicher, aber sehr schlimmer Fehler, sagt Mrs. Toots) in Vergessenheit geraten war. So‹, sagte meine Frau, ›wird am Ende von seiner Tochter ein anderer Dombey und Sohn entstehen‹ – nein ›ausgehen‹, dies war das Wort, dessen Mrs. Toots sich bediente – ›und im Triumph sich zeigen!‹«
Unter dem Beistand der Pfeife, die Mr. Toots recht gern zu oratorischen Zwecken braucht, weil die gewöhnliche Benutzung derselben in ihm ein sehr unbehagliches Gefühl erregt, läßt er der Prophezeiung seiner Frau so großartige Gerechtigkeit widerfahren, daß der Kapitän im Zustande wildester Aufregung seinen Glanzhut wegwirft und ausruft:
»Sol Gills, Mann der Wissenschaft und mein alter Geschäftsteilhaber, was hieß ich Walter am selbigen Abend überholen, als er zum erstenmal auf das Bureau ging? War es nicht die Zitation: Kehr um, Whittington, Lord-Mayor von London, und wenn du alt bist, wirst du nie mehr daraus weichen. Waren es nicht diese Worte, Sol Gills?«
»Jawohl, Ned«, entgegnet der alte Instrumentenmacher. »Ich erinnere mich ihrer noch gut.«
»Dann will ich Euch was sagen«, erwidert der Kapitän, sich in seinen Stuhl zurücklehnend und seinen Brustkasten zu einem denkwürdigen Gebrüll ausdehnend. »Ich will die liebliche Peg ganz durchsingen, und ihr beide stimmt ein als Chor!«
Eingegrabener Wein wird älter, wie seinerzeit der alte Madeira tat, und Staub und Spinngewebe häufen sich auf den Flaschen.
Die Herbsttage sind schön, und am Seeufer sieht man oft eine junge Frau und einen weißhaarigen Gentleman. Um sie her tummeln sich zwei Kinder, ein Knabe und ein Mädchen, und ein alter Hund ist in der Regel ihre Gesellschaft.
Der weißhaarige Gentleman führt den kleinen Knaben, spricht mit ihm, hilft ihm in seinen Spielen und schenkt ihm so viele Aufmerksamkeit, als ob dies die ganze Aufgabe seines Lebens sei. Wenn der Knabe gedankenvoll ist, wird es der weißhaarige Gentleman gleichfalls, und bisweilen, wenn das Kind an seiner Seite sitzt, zu seinem Gesicht aufblickt und Fragen an ihn stellt, ergreift er die kleine Hand, hält sie fest und vergißt zu antworten. Das Kind sagt dann:
»Wie, Großpapa, habe ich wieder so große Ähnlichkeit mit meinem armen kleinen Onkel?«
»Ja, Paul. Aber er war schwächlich, und du bist sehr kräftig.«
»O ja, ich bin sehr kräftig.«
»Und er lag auf einem kleinen Bett am Meeresufer, und du kannst umherspringen.«
Und so gehen wir wieder weiter, denn der weißhaarige Gentleman liebt es, wenn das Kind frei sich umhertummelt, und während sie so zusammengehen, umschwebt sie die Geschichte des Bundes zwischen ihnen und folgt ihnen auf dem Fuße.
Aber niemand als Florence kennt das Übermaß, mit dem der weißhaarige Gentleman das Mädchen liebt. Diese Geschichte wagt sich nie ins Freie. Das Kind selbst wundert sich fast über ein gewisses Heimlichtun, das sich dabei kundgibt. Er bewahrt sie in seinem Herzen und kann es nicht ertragen, wenn eine Wolke auf dem Gesicht des Mädchens liegt. Er kann nicht mit ansehen, wenn sie allein dasitzt, und meint eine Vernachlässigung zu bemerken, wo weit und breit von nichts derart die Rede ist. Er schleicht fort, um sie in ihrem Schlaf zu betrachten, und es tut ihm wohl, wenn sie am Morgen kommt und ihn weckt. Am liebevollsten und zärtlichsten ist er gegen sie, wenn sie allein sind. Die Kleine fragt dann bisweilen:
»Lieber Großpapa, warum weint Ihr, wenn Ihr mich küßt?«
Er antwortet nur: »Kleine Florence!« und streicht die Locken zurück, die ihre ernsten Augen beschatten.
Ende.
Charles Dickens, 1848
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