3. Teil der Musketier-Triologie
Kurzbeschreibung
Im dritten und letzten Band der Musketier-Trilogie hat Ludwig XIV. bereits den Thron bestiegen. D Artagnan als sein Hauptmann langweilt sich in Versailles, wo sein Gebieter ein Fest nach dem anderen feiert. Aramis spinnt inzwischen im Hintergrund eine Intrige: In seiner neuen Funktion als Jesuitengeneral will er den verantwortungslosen König durch seinen Zwillingsbruder austauschen.
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Im dritten und letzten Band der Musketier-Trilogie hat Ludwig XIV. bereits den Thron bestiegen. D Artagnan als sein Hauptmann langweilt sich in Versailles, wo sein Gebieter ein Fest nach dem anderen feiert. Aramis spinnt inzwischen im Hintergrund eine Intrige: In seiner neuen Funktion als Jesuitengeneral will er den verantwortungslosen König durch seinen Zwillingsbruder austauschen. Hierzu sichert er sich die Mithilfe Porthos und des Finanzministers Nicolas Fouquet, der jedoch im entscheidenden Moment versagt und den Plan zunichte macht. Letztlich kostet ihn dies sein Amt und seine Freiheit; sein Nachfolger wird der intrigante Colbert (Jean-Baptiste Colbert). Ein weiterer Handlungsfaden umfasst Athos Sohn Raoul, der eine Hofdame, Louise de la Vallière, liebt. Leider macht der König sie jedoch zu seiner Mätresse und bringt Vater und Sohn, gleichermaßen treu und voller Respekt vor seiner Person, in einen Gewissenskonflikt. Nachdem der König Aramis Plan aufgedeckt hat, befiehlt er d Artagnan, die Verantwortlichen aufzuspüren; diesem gelingt es jedoch zuletzt, seine Freunde zu rehabilitieren. Drei der vier Helden der Geschichte sterben am Ende des dritten Bandes. Porthos wird durch den Einsturz einer Höhle getötet, in die er sich mit Aramis vor den feindlich gesinnten Männern des Königs geflüchtet hat, kann aber Aramis zuvor noch das Leben retten. Athos stirbt vor Kummer, als sein Sohn in Afrika getötet wird. D Artagnan (der im letzten Drittel des ersten Romans zum Musketier ernannt wird und später Leutnant und zuletzt Hauptmann der Kompanie wird) kommt in Holland bei der Belagerung von Maastricht durch einen Querschläger ums Leben, kurz nachdem ihn der König zum Marschall von Frankreich ernannt hat. Am Ende der Geschichte ist nur noch Aramis, der zwischendurch Abbé und General des Jesuitenordens war und nun spanischer Botschafter ist, am Leben. 1847 erschien dieser dritte Teil, Le Vicomte de Bragelonne ou Dix Ans Plus Tard (Der Vicomte von Bragelonne). Der letztere war die Vorlage für mehrere Verfilmungen, die die Geschichte des Zwillingsbruders des Königs zum Thema hatten, Philippe, der in der Bastille gefangen gehalten wurde und eine eiserne Maske trug (Mann mit der eisernen Maske), um seine wahre Identität zu verbergen. Wie auch seine beiden Vorgänger – ein Meisterwerk.
Autor:
Alexandre Dumas der Ältere (auch Alexandre Dumas Davy de la Pailleterie oder Alexandre Dumas père; * 24. Juli 1802 in Villers-Cotterêts, Département Aisne; † 5. Dezember 1870 in Puys bei Dieppe, Seine-Maritime) war ein französischer Schriftsteller. Heute ist er vor allem durch seine zu Klassikern gewordenen Historienromane, wie etwa Die drei Musketiere und Der Graf von Monte Christo, bekannt.
Einleitung
Ein imposantes Kulturgemälde! Das ist der Eindruck, mit dem man von diesem lesenswerten Roman scheidet. Und ein glänzender Zeitabschnitt ist es, den Dumas darin wieder aufleben läßt. Die Jugendjahre Ludwigs XIV., des Sonnenkönigs, jenes großen Monarchen, der das Wort: »Der Staat bin ich!« nicht nur aussprach, sondern auch zu verkörpern, zu rechtfertigen wußte. Die Jugendjahre, die Lehrjahre des großen Fürsten, das ist der Inhalt des Buches. Ludwig XIV. ist der eigentliche Held der Erzählung, er steht im Mittelpunkt der Handlung, um seine Gestalt gruppiert sich die ganze farbenprächtige Welt, in die wir hineingeführt werden. Seine Wünsche und Befehle bewirken alles, was geschieht, bestimmen Denken und Handeln aller Personen, die auftreten. Daß Dumas dem werdenden König als Lehrmeister der Staatskunst, der Energie und des Seelenadels seine Lieblingshelden an die Seite stellt – seine drei Musketiere: d'Artagnan, Athos und Aramis – das wollen wir ihm nicht verübeln, sondern vielmehr danken; denn es gibt ihm Anlaß zu einigen prachtvollen Szenen, von denen der Literarhistoriker Scherr mit Recht sagt, daß nur ein echter Dichter sie geschrieben haben könne. Das sind die Szenen, wo Athos vor dem König seinen Degen zerbricht und das Band zwischen seinem Geschlecht und dem Königshause zerreißt, wo d'Artagnan sich gegen den Willen Ludwigs auflehnt und zuletzt doch in dem
jungen Autokraten seinen Meister findet. Die Worte, die Dumas in diesen Auseinandersetzungen seinen Lieblingen in den Mund legt, verdienen mehr als einmal gelesen zu werden.
Mit großer Meisterschaft trifft Dumas den Ton, der am Hofe herrschte; wenn man die Herren und Damen reden hört, glaubt man einen Zeitgenossen zu hören, so getreu fühlt Dumas ihr Denken und Dichten nach, so lebendig und handgreiflich wird ihm diese sonderbare Welt, der das Lächeln oder der Unmut eines Jünglings die Signatur gab; wie denn überhaupt die Schilderung von Königshöfen, von glänzenden Gesellschaften, von höfischen Intrigen diesem Schriftsteller ganz besonders gut lag.
»Zehn Jahre später« ist der Schluß der Romanserie, die mit den »Drei Musketieren« beginnt und mit »Zwanzig Jahre nachher« fortgesetzt wird. (Beide Bände sind in gleicher Ausstattung im gleichen Verlag erschienen.) Der Grund zu derartigen Fortsetzungen eines Romans liegt oftmals weniger in einem innern Drange des Verfassers, das Schicksal seiner Personen weiterzuspinnen, als vielmehr in dem Wunsche des Publikums, von Helden, die es liebgewonnen, noch mehr zu hören, und in dem Wunsche eines Verlegers, einen Bucherfolg auszunützen. Oftmals fallen denn auch solche Fortsetzungen schwach und gezwungen aus. Das ist bei den zwei Bänden, die Alexander Dumas seinen »Drei Musketieren« folgen ließ, nicht der Fall. War schon »Zwanzig Jahre nachher« durch das interessante Milieu der »Fronde« mit der Gestalt des Staatsmannes Mazarin ein sehr glücklicher zweiter Band, so möchte man
»Zehn Jahre später«, den dritten Band, fast als den glücklichsten der ganzen Serie bezeichnen. Denn Dumas zeigt sich darin nicht nur als geübter Gestalter ergreifender Szenen und spannend verketteter Ereignisse, sondern auch als Charakterzeichner, als Psycholog. Hier wird die Natur der Personen nie um aufregender Abenteuer willen vergewaltigt; sie handeln von Anfang bis zu Ende ihrem Charakter gemäß. Und Personen wie Lady Henriette von Stuart, Graf von Bragelonne, Luise von Lavallière und namentlich Ludwig XIV. und Marchiali, jener unglückliche Gefangene der Bastille, sind prachtvoll gesehene Persönlichkeiten, die leibhaftig vor unsern Augen stehen, Kabinettstücke dichterischer Charakteristik. Die Figur d'Artagnans aber erhebt sich in diesem Roman zu einer Höhe, auf der nur wenige glücklich entworfene Gestalten der Phantasie stehen, wie etwa der Fallstaff Shakespeares, der Kottwitz Kleists, der Zagloba Sienkiewiczs.
Ist die Zeichnung der Personen vortrefflich, so ist es nicht minder die Wahl der Geschehnisse, in denen sie auftreten. Die Handlung ist dreiteilig: das Liebesverhältnis zwischen Ludwig XIV. und der Lavallière, seiner ersten Mätresse, die um des Königs willen ihren Bräutigam, den Grafen von Bragelonne, verläßt, die politische Intrige, die dem Sturz des Finanzministers Fouquet vorhergeht, und der Staatsstreich der »Eisernen Maske«, den Aramis in Szene setzt – das sind die drei Bestandteile, die mit wunderbarem Geschick ineinander verwoben werden. Abgesondert, wie eine Einleitung gewissermaßen, erscheint die Episode aus dem Leben des Britenkönigs Karls II., mit der der Roman beginnt; aber sie dient doch auch als wichtiges Moment für die Entwicklung
Ludwigs XIV., obwohl sie mit dem ganzen weiteren Verlauf nur sehr lose verknüpft ist.
Der geschlossene Eindruck, den der Roman in der vorliegenden Ausgabe macht, ist ihm jedoch in der Originalfassung nicht zu eigen. So lobenswert im allgemeinen die Konzeption dieses Dumas-Werkes ist, darf doch nicht verschwiegen werden, daß der Autor auch darin ganz nach dem alten guten Schema des Sensationsschriftstellers arbeitet. Auf jedes interessante Kapitel läßt er mindestens drei uninteressante folgen. Ich möchte hier ein Bild gebrauchen. Ich möchte die Lektüre eines solchen Romans mit einem Ritt vergleichen. Das Pferd ist der Leser, der Autor der Reiter. Er jagt ihn durch eine Menge von Fährnissen und Klippen, läßt ihn nicht zu Atem kommen, drückt ihm den Sporn von tausend Spannungen in die Flanke, und wenn er ihn ermattet glaubt, dann führt er ihn in ganz langsamem Schritt über eine völlig ebene Fläche, auf der es gar keine Aufregungen, aber auch herzlich wenig Futter gibt. Sand, trockener Sand, darin das Rößlein sich verschnaufen kann, sich aber auch von neuem nach einem flotten Galopp sehnt. Da macht kein moderner Leser mehr mit. Er würde diese überflüssigen Kapitel entweder überschlagen oder aber den Roman ungeduldig beiseitelegen. »Zehn Jahre später« im Original zu lesen, ist wirklich eine Geduldsprobe, bei der wir versagen. Was nützen uns auch hinreißende Kapitel, wenn wir jedes einzelne durch eine immer wiederkehrende Folge von Langweiligkeiten entgelten müssen? Der »Graf von Bragelonne« wäre für die Lesewelt unserer Zeit verloren, und das wäre denn doch sehr schade, denn er ist ein Roman, an dem man seine Freude haben kann. Aber nur in einer Bearbeitung, wie sie hier dem Publikum geboten wird. Nach dem Unterschied der Seitenzahlen des Originals und dieser Ausgabe, erscheint auf den ersten Blick die Kürzung beträchtlich; sie ist es jedoch nicht. Es fehlt keine für die Handlung wichtige Szene – nur lästiger Ballast ist entfernt worden, wofür der Leser, wenn er die letzte Seite des Buches umgeschlagen hat, dem Bearbeiter Dank wissen wird. Es sei hier nebenbei erwähnt, daß die Einteilung des Werkes in Bücher und Kapitel neu und Eigentum des Bearbeiters ist.
Noch ein paar Worte über diejenigen Personen des Romans, die historisch sind! Es wird den Leser interessieren, die Dichtung mit der Wahrheit zu vergleichen.
Ludwig XIV., der Große, Sohn Ludwigs XIII. und Annas von Oesterreich, 1643-1715. Während seiner Jugend riß seine Mutter die Regentschaft an sich, sie wurde später ganz machtlos in den Händen ihres ersten Ministers Mazarin, zu dem sie übrigens in intimem Verhältnis gestanden haben soll. Der junge König, 1660 mit Maria-Theresia, Infantin von Spanien, vermählt, erregte zuerst keine großen Erwartungen. Aber sofort nach Mazarins Tode übernahm er die selbständige Leitung des Staates, duldete keinen ersten Minister mehr, verdrängte seine Mutter völlig aus den Regierungsgeschäften und erhob die Lehre von der königlichen Allmacht zum halbreligiösen Dogma, wobei er allerdings aufs ehrlichste bestrebt war, durch strengste Erfüllung der königlichen Pflichten diese Vergötterung auch zu verdienen. Seine erste bedeutsame Tat war die Reorganisation der Finanzen, welche völlig in den Händen des Oberintendanten Fouquet lagen, und indem er diesen Minister stürzte und den weit bedeutenderen Staatsmann Colbert mit viel geringeren Privilegien und Befugnissen an seine Stelle setzte, vollbrachte er eine Tat, die zunächst von höchst vorteilhafter Wirkung für das Land war. Die späteren Kriege freilich verschlangen das Geld, das durch Colberts weise Verwaltung an den Tag gefördert wurde, sehr rasch wieder, und es riß von neuem eine furchtbare Finanznot ein, die zu den drückendsten Steuerlasten für Stadt und Land führte. Seine Kriege führte Ludwig XIV. im allgemeinen mit Glück durch, nur der letzte, der
Spanische Erbfolgekrieg, endete unheilvoll und brachte Frankreich fast an den Rand des Zusammenbruchs. Die ungeheure Kriegssteuer, die nötig geworden war, stürzte das Volk in Armut, und bei allem hatte das Reich sich auch noch eine kolossale Schuldenlast aufgebürdet, welche dann sehr viel zur Förderung der Revolution beitrug. Dennoch nennt man noch heute die Zeit Ludwigs XIV. das »große Jahrhundert«, das auch in Literatur und Kunst einen Höhepunkt bezeichnet.
Anna von Oesterreich, älteste Tochter Philipps III. von Spanien, 1601-1666. Sie war noch nicht 15 Jahre alt, als man sie mit Ludwig XIII. von Frankreich vermählte. Sehr schön, sehr leidenschaftlich, lebte sie mit ihrem schwachen, mürrischen Gatten in unglücklicher Ehe. Die politischen Mißhelligkeiten, die ihre Opposition gegen Richelieu, Ludwigs XIII. Premierminister, und ihre geheime Verbindung mit dem spanischen Hofe mit sich brachte, führten zum völligen Bruch zwischen beiden, und erst in den letzten Jahren des Königs kam es wieder zu einer Annäherung. Nach dem Tode ihres Mannes wußte sie im Widerspruch gegen das königliche Testament, das einen Regentschaftsrat bestellte, das Parlament zu veranlassen, daß ihr allein die Regierung übertragen wurde. Sie empfand dann später die Ohnmacht, zu der ihr Sohn sie verurteilte, bis an ihr Ende um so drückender.
Maria Theresia, Infantin von Spanien, Tochter Philipps IV. von Spanien und Elisabeths von Frankreichs (Schwester Ludwigs XIII.), 1638-1683, war 22 Jahre alt, als man sie mit Ludwig XIV. zur Bürgschaft des Pyrenäischen Friedens verehelichte. Sie war also fünf Jahre älter als ihr Gemahl, woraus sich die in ihrem Eheleben sehr bald entstehende Entfremdung erklärt. Von ohnmächtiger Eifersucht verzehrt, überließ sie sich religiöser Schwärmerei. Von ihren sechs Kindern blieb nur der Dauphin, der Erstgeborene, am Leben.
Philipp von Orléans, Ludwigs XIV. jüngerer Bruder, vordem Herzog von Anjou, 1640-1701. Seine Nachkommen bilden das heutige Haus Orléans. Seine Erziehung wurde sehr vernachlässigt, und er entartete bald zum Schwächling und Lüstling. Nach Henriette von England heiratete er Elisabeth Charlotte von der Pfalz. An der Regierung nahm er nie teil.
Henriette Anna, Herzogin von Orléans, Tochter Karls I. von England und der Henriette Marie von Frankreich, 1644-1670. Als sie Philipps Gemahlin wurde, zählte sie 17 Jahre.
Schön und geistreich, anmutig und kokett, wurde sie der Mittelpunkt des Hofs. Ludwig bediente sich ihrer als Geschäftsträgerin zwischen Paris und London. 1670 reiste sie nach England, angeblich einer Einladung ihres Bruders Karls II. folgend, in Wahrheit aber, um diesen zum Bundesgenossen Ludwigs XIV. im Kriege gegen die Niederlande zu werben, was ihr auch gelang. Kurz nach ihrer Rückkehr starb sie ganz plötzlich.
Gaston von Orléans, dritter Sohn Heinrichs IV. und Bruder Ludwigs XIII., 1608-1660, war das Haupt einer großen Reihe von Verschwörungen, erst gegen Richelieu, dann gegen Mazarin. An einer derselben war auch die Herzogin von Chevreuse beteiligt. Nach Ludwigs XIII. Tode hatte er eine Zeitlang Anteil an der Regierung. Während der »Fronde« trat er gegen Mazarin auf. 1652 verwies Ludwig XIV. den ewigen Störenfried für immer vom Hofe, und er hat dann sein Schloß zu Blois nicht mehr verlassen.
Mazarin, eigentlich Mazarini, 1602-1661, Sohn eines sizilianischen Edelmannes, begann seine Laufbahn nach kurzem Studium der Rechte als Offizier im päpstlichen Militärdienst. Als Gesandter des Vatikans kam er mit Richelieu in Berührung, der ihn alsbald für seine Zwecke gewann und ihm, nachdem er in Rom viel für Frankreich getan, den Kardinalshut verschaffte. Sterbend empfahl Richelieu ihn dem König zu seinem Nachfolger. Er wurde Staatsrat, Mitglied des Regentschaftsrats und nach dem Tode des Königs, indem er in ein Liebesverhältnis zur Königin-Witwe trat, alleiniger Leiter des Reichs. Das blieb er, trotz aller Gegenströmung, bis zu seinem Tode. Selbst Ludwig XIV. vermochte sich, solange M. lebte, nicht seiner Herrschaft zu entziehen. Die Jahre der »Fronde« waren seine schwerste Zeit, doch nach dem mühsam errungenen Siege saß er um so fester im Sattel. Er war unstreitig der größte Diplomat seiner Zeit. Seine stärksten Erfolge waren das Bündnis mit England und die Demütigung Spaniens. Weniger genial als Richelieu, wußte er doch geschickt zu vollenden, was die »rote Eminenz« begonnen hatte. Sein unermeßliches Vermögen erbte der Marquis von Lameilleraie, der M.'s Nichte, Hortensia von Mancini, heiratete.
Fouquet, 1615-1680, Staatsmann, leistete in den Kämpfen der »Fronde« Mazarin sehr wertvolle Dienste, wurde dafür 1653 von diesem zum Finanzminister erhoben und erhielt sich lange Zeit die Gunst des Hofs dadurch, daß er die
Geldbedürfnisse des Königs und seiner Familie stets aufs ausgiebigste zu befriedigen wußte. Später schoß er selbst dem Staate Geld vor und ließ sich gegen solche Vorschüsse ganze Staatseinnahmen verpfänden, so daß in der Tat seine Macht auf Grund des Geldes in manchen Gebieten der Verwaltung größer war als die des Königs selbst. Das waren Zustände, die einem Ludwig XIV., der keinen neben sich dulden mochte, unerträglich waren. Fouquet hat auch alle Anstrengungen gemacht, sich zum ersten Minister aufzuschwingen und energisch gegen Ludwig XIV. intrigiert, indem er sogar Anna von Oesterreich umwarb. Von Colbert gewarnt, beschloß der König, ihn unschädlich zu machen. 1661 ward Fouquet verhaftet. Der lange und mit übertriebener Härte gegen ihn geführte Prozeß führte zur Verurteilung Fouquets. Ludwig hatte ein Todesurteil gewünscht, das Gericht erkannte nur auf ewige Verbannung; der König aber verschärfte die Strafe zu lebenslänglichem Gefängnis.
Colbert, Sohn eines vermögenden Kaufmanns, 1619 bis 1683, wurde an Mazarin empfohlen und hielt in der Sturmzeit der »Fronde« treu zu ihm, wofür Mazarin ihm noch im Tode durch Empfehlung an Ludwig XIV. dankte. Colbert trug sehr viel zur Beseitigung der liederlichen Finanzwirtschaft Fouquets bei, trat dann selbst an die Spitze der Verwaltung und leitete alsbald eine Periode der größten Reformen und der höchsten innern Leistungen des französischen Königtums ein. Ihm verdankt, obwohl Colbert stets ein energischer Förderer der Monarchie geblieben ist, der dritte Stand unendlich viel, indem C. eine gleichmäßige Besteuerung einführte, die Unzahl der Beamten und Pensionäre verminderte und zum erstenmal eine gewissenhafte Balanzierung der Staatseinnahmen und -ausgaben anstrebte. Die fortwährenden Kriege Ludwigs XIV. vereitelten allerdings manche seiner Pläne und zerstörten immer wieder einen großen Teil des Segens, den sonst seine Verwaltung hätte stiften müssen. Er organisierte das Zollwesen, schuf Handelsgesetze, regelte Handel und Verkehr nach gesunden weitblickenden Grundsätzen und sorgte dafür, daß im Lande selbst Fabriken für unentbehrliche Bedarfsartikel gegründet wurden. Ebenso Großes schuf er auf dem Gebiete des Seewesens und der Kolonien. Bei seinem Tode war Frankreich die größte Kolonialmacht der Welt. Mit gleichem Glück hob er Kunst und Wissenschaft, schuf Akademien, Schulen, Bibliotheken und Sternwarten. Er war ein arbeitskräftiger, ideenreicher Kopf, fast noch schöpferischer als Richelieu. Dennoch erreichte er nicht, was er wollte, weil er sich auf die Dauer nicht gegen den Absolutismus Ludwigs XIV. zu behaupten wußte, dessen Kriegslust ihn um die Früchte seiner Arbeit brachte. Zuletzt war das Volk über neue Steuern so sehr erbittert, daß es den Leichenzug C.'s angriff, um an dem Toten, der sein Leben dem Wohl des Staates gewidmet, Rache zu nehmen. Jedenfalls war C. nie der kleinliche Intrigant, als den Dumas ihn zuerst erscheinen läßt.
Karl II., König von Großbritannien und Irland, 1630 bis 1685, mußte 1646 nach Frankreich fliehen, nahm aber 1649 nach der Hinrichtung seines Vaters Karls I. sogleich den Königstitel an, ging 1650 nach Schottland, fiel 1651 in England ein und mußte, bei Worcester völlig geschlagen, abermals nach Frankreich flüchten. Er unterhielt mit der Royalisten-Partei und namentlich mit General Monk stets eine geheime Verbindung und wurde 1660 nach dem Sturz der Republik vom Parlament zurückgerufen. Er war ein fröhlicher, aber nichts weniger als sittenstrenger König, der es, was die Zahl der Mätressen anbetrifft, dem König von Frankreich fast noch zuvortat. Auch nach außenhin war seine Regierung wenig würdevoll.
Monk, englischer Feldherr, 1608-1670, blieb im Anfang der englischen Revolution Karl I. treu, ging dann aber zur Parlamentspartei über. Nach Cromwells Tode trat er dem General Lambert entgegen, der die bürgerliche Gewalt niederzuwerfen trachtete, besiegte ihn und erlangte dann die Bildung eines neuen Parlaments, das den König wieder auf den Thron setzte. Seine langjährige geheime Verbindung mit Karl II. während des Protektorats ist nachgewiesen.
Maria Mancini, Nichte Mazarins und Jugendgeliebte Ludwigs XIV., 1639-1715. Eine berühmte Schönheit, gewann sie das Interesse und die Zuneigung des Königs, doch billigte Mazarin das Verhältnis nicht, entfernte sie vom Hofe und vermählte sie 1661 mit dem Fürsten Colonna von Neapel. Sie entfloh 1672 ihrem Gatten und kehrte an den Pariser Hof zurück, doch gelang es ihr nicht mehr, den König zu fesseln. Bis 1634 lebte sie dann in einem spanischen Kloster. – Ihre Schwester Olympia hatte längere Zeit eine Stellung als Surintendantin bei Hofe, da sie aber gegen mehrere Mätressen des Königs komplottierte, verwies Ludwig sie. Später stand sie in Beziehungen zu der berüchtigten Giftmischerin Voysin. Doch ist nicht bewiesen worden, ob sie wirklich ihren Gemahl, den Grafen von Soissons, und die Königin von Spanien vergiftet habe.
Luise von Labaume-Leblanc und von Lavallière, 1644-1710, wurde Ehrendame der Herzogin von Orléans, und obwohl sie nicht schön war, ja sogar ein wenig hinkte, bezauberte sie durch liebenswürdiges Wesen und große Anmut Ludwig XIV. Von 1661-1667 etwa war sie seine Geliebte, sie gebar ihm vier Kinder. Es ist Tatsache, daß allerlei Kriegslisten und Verführungskünste angewendet werden mußten, um ihre Keuschheit zu besiegen, obwohl es der König war, der um sie warb. Von 1667, wo der König sich der Montespan zuwandte, bis 1674 führte sie bei Hofe das traurige Dasein einer gestürzten Mätresse; dann trat sie in das Kloster der Karmeliterinnen zu Paris, wo sie als Luise von der Barmherzigkeit bis zu ihrem Tode blieb. Sie war die charaktervollste von allen Mätressen Ludwigs.
Athenais von Montespan (bei Dumas eine geborene Tonnay-Charente), die Tochter Gabriels von Rochechouart, Herzogs von Mortemart, kam erst durch ihren Mann, den Marquis von Montespan, als Ehrendame an den Hof, wo sie weniger durch Schönheit als durch Witz und Schlagfertigkeit die Aufmerksamkeit des Königs auf sich zog. Ihr Regime liegt in den siebziger Jahren, dann wurde sie dem König zu arrogant, zumal sie auch durch den Giftmischerprozeß gegen die Voysin, in welchem sie mitbelastet war, sich stark kompromittiert hatte. Sie gebar Ludwig XIV. fünf Kinder, als deren Erzieherin man Frau von Maintenon bestellte, welche nach ihr die bevorzugte Mätresse des Königs wurde. 1691 mußte sie den Hof verlassen.
Herzogin von Chevreuse, geborene Marie von Rohan, 1600-1679, eine berüchtigte Intrigantin, deren Haupttätigkeit in den Jahren der »Fronde« lag. In diesem Schlußbande der Romantrilogie sehen wir sie nur noch als erloschenen Stern.
Der Mann mit der eisernen Maske: ein geheimnisvoller Staatsgefangener aus der Zeit Ludwigs XIV. Ueber diese mysteriöse Persönlichkeit gibt es eine große Zahl von Legenden. Tatsache ist, daß er in den Büchern der Bastille unter dem Namen Marchioli geführt wurde (Dumas schreibt Marchiali). Alle Deutungen wurden als falsch nachgewiesen. Heute gilt als feststehend, daß es ein gewisser Mattioli war, Minister des Herzogs Karl Ferdinand von Mantua, den Ludwig XIV. verhaften und nach Pignerol schaffen ließ. Von dort kam er, als der Gouverneur des Pigneroler Gefängnisses versetzt wurde, mit ihm nach der Insel Marguerite und dann erst in die Bastille.
Dr. Hermann Eiler.
ZEHN JAHRE SPÄTER. Alexandre Dumas
Erster Teil. Karl Stuart
1. Kapitel. Eine Botschaft
Mitte Mai 1660 ritten im Schloßgarten zu Blois drei Männer, begleitet von zwei Pagen, über die Stadtbrücke, dem alten Schlosse zu. Die Leute, die am Quai spazieren gingen oder herumstanden, kümmerten sich nicht viel um die vornehme Gesellschaft. Kaum daß einer mal den Hut lüftete oder mit den Worten: »Da kommt Monsieur von der Jagd«, den Nachbar darauf aufmerksam machte. Gaston von Orléans führte, als ältester Bruder des verstorbenen Königs, noch immer den Titel Monsieur. Die guten Bürger von Blois hätten sich eigentlich etwas darauf einbilden können, daß Monsieur ihr heiteres Städtchen zu seinem Wohnort erkoren hatte, allein sie fanden an dem etwas schlafmützigen Herrn mit den trüben Augen und der matten Haltung kein Gefallen.
Monsieur ritt einen kleinen Apfelschimmel und saß auf einem Sattel aus flandrischem Sammet. Dazu trug er ein karmoisinrotes Wams, das ihn schön aus seiner Begleitung heraushob. Der Kavalier an seiner Seite, der Oberstallmeister, war violett gekleidet, der Oberjägermeister zu seiner linken grün. Einer der Pagen trug auf einer Stange zwei Falken, der andere ein Jagdhorn, in das er zwanzig Schritte vor dem Schlosse einmal hineinblies. Darauf traten acht Hellebardiere in Reih und Glied, und Monsieur ritt feierlich ins Schloß. Im Hofe stieg er vom Pferde und begab sich in seine Gemächer, wo der Kammerdiener ihm beim Umkleiden half. Dann streckte er sich in den Armstuhl und schlief ein. Die Hellebardiere wußten, daß sie von nun ab keinen Dienst mehr haben würden, und legten sich der Länge nach auf die Bänke, die eben von der Sonne warm beschienen wurden. Wenn nicht ein paar Vögel in den Hecken gezirpt hätten, hätte man glauben können, das ganze Schloß läge im Schlafe, als wäre es elf Uhr abends.
Diese Stille wurde plötzlich von einem lauten Lachen unterbrochen, das aus jener Ecke des Schlosses herüberschallte, in welche eben die Morgensonne hineinschien. Dort sah man einen kleinen, mit Blumen geschmückten Balkon, und auch in dem Zimmer stand auf einem viereckigen Tische eine langhalsige Vase mit einem Strauß Maiblumen. An diesem Tische saßen zwei Mädchen, die man nach ihrer Kleidung für entlaufene Klosterzöglinge hätte halten können. Die eine schrieb einen Brief, die andere sah ihr dabei zu. Die letztere, aus deren Munde das laute Lachen erklungen war, mochte neunzehn Jahre alt sein. Sie war brünett und hatte lebhafte Augen, die unter kühn geschwungenen Brauen unternehmend blitzten. Zwischen frischen roten Lippen glänzten perlenartige Zähne. Ihre Bewegungen hatten etwas Explosives. – Die andere, welche den Brief schrieb, hatte blaue träumerische Augen, klar und rein wie der Himmel an diesem Tage. Sie war blond und trug das Haar in weichen Locken. Ihre Wangen waren rosig. Ihre zarte,
weiße Hand und ihre weichen Schultern waren zwar schön geformt, erschienen aber doch ein klein wenig zu mager.
»Montalais!« rief diese Dame in sanftem Tone, »du lachst wie ein Mann. Nicht doch so laut. Die Gardisten hören es ja – und wir selbst können nicht hören, wenn Madame klingelt.«
»Die Gardisten schlafen, Luise,« antwortete die Montalais. »Du könntest eine Kanone abschießen, sie würden jetzt nicht aufwachen. Und wenn Madame schellt, na, du weißt ja, das hört man bis über die Brücke. Du ärgerst dich nur, daß ich gerade jetzt lache, während du schreibst, weil du Angst hast, deine Mutter, die gute Frau von Saint-Rémy, könnte heraufkommen und uns überraschen. Dann würde sie natürlich das Blatt Papier da sehen, auf das du seit einer vollen Viertelstunde noch nichts weiter geschrieben hast als die Worte: ›Werter Herr Rudolf!‹ – Und wenn deine Mutter dich ertappte, so würde sie Zetermordio schreien.«
Darauf lachte sie wieder. Die junge Blondine wurde nun ernstlich böse und zerriß das Papier. – »Ei, ei,« rief die Montalais, »unser Lämmchen wird zornig? Sei doch vernünftig, deine Mutter kommt ja gar nicht. Und warum sollst du nicht einmal an einen alten Freund schreiben?« – »Nun schreibe ich eben nicht an ihn!« antwortete die Blondine. – »Wohl zur Strafe für mich?« rief die Montalais lachend. »Doch horch, da klingelt es. Jenun, Madame muß eben warten oder heute morgen auf die Gesellschaft ihres ersten Ehrenfräuleins verzichten.«
In der Tat hatte es geklingelt – das Zeichen, daß Madame das Frühstück erwarte. Alsbald setzte sich denn auch die Dienerschaft in Bewegung und trug die Speisen ins Schloß, und wo der feierliche Zug vorbeikam, da präsentierten die Hellebardiere, die das Glockenzeichen dem süßen Schlummer entrissen hatte.
»Madame muß ohne mich frühstücken,« sagte die Montalais. »Sie wird mich dafür bestrafen, indem sie mich nicht auf die Spazierfahrt mitnimmt, aber das ist es eben, was ich wünsche. Es ist immer dasselbe – immer die gleichen ausgefahrenen Gleise! Und zum Schluß geht's immer wieder an den Fenstern jenes Schloßflügels vorbei, wo sich Maria von Medici befunden, und immer wieder sagt Madame: ›Wie ist es möglich, daß sich die Königin Maria aus diesem Fenster retten konnte? Siebenundvierzig Fuß hoch! Die Mutter von zwei Prinzen und drei Prinzessinnen!‹ Ist das vielleicht eine Unterhaltung? Ich danke schön. Du hast gut reden, Luise. Du bist hier keinem Zwange unterworfen. Denn obwohl du ein Ehrenfräulein bist wie ich, hat doch Madame die Zuneigung, die sie für deinen Stiefvater hegte, auf dich übertragen. Du hast hier im Grunde weiter keine Pflichten als hin und wieder an deinen schönen Rudolf zu schreiben. Na, und das tu nur jetzt. Fang also getrost einen neuen Bogen an.«
»Wie kannst du so reden?« entgegnete Luise. »Du hast eine glänzende Zukunft. Du bist bei Hofe zugelassen. Wenn der König sich vermählt, wird Monsieur zu ihm gerufen werden; du wirst die Festlichkeiten mitansehen –«
»Und auch Rudolf sehen, der bei dem Prinzen ist,« warf die Montalais ein. »Doch genug! Du sollst an ihn schreiben.« – Und sie reichte Luise Feder und Papier.
»Und fang diesmal nicht an: Werter Herr Rudolf!« fuhr die Montalais fort, »sondern so, wie dir ums Herz ist. Schreibe also: Mein lieber Rudolf! – O, erröte doch nicht – ich lese es ja in deinen Augen – Und weiter schreibe: Du mußt dich gewiß sehr am Hofe zu Paris langweilen, daß du noch Zeit hast, an ein Mädchen aus der Provinz zu denken.«
Luise stand plötzlich auf. »Nein, Montalais,« versetzte sie, »so ist mir nicht ums Herz. Vielmehr so – und nun lies das!« Und sie schrieb mit raschem Entschluß ein paar Zeilen. – Die Montalais las: »Ich wäre unglücklich gewesen, wenn Sie mich weniger inständig um ein Andenken an mich gebeten hätten. Hier erinnert mich ja doch alles wieder an die schönen ersten Jahre, die wir zusammen verlebt haben und die mir unvergeßlich sind.« – »Bravo!« rief die Montalais, »so ist's richtig. Und was schreibst du zum Schlusse? ›Ich danke Ihnen, Rudolf, daß Sie meiner gedenken. Wundern kann mich's nicht; haben doch unsere Herzen oft füreinander geschlagen‹ ...«
In diesem Augenblick erklangen Hufschläge auf dem Schloßhof. Luise sprang ans Fenster und rief: »Rudolf ist's.« Dann sank sie vor dem noch unvollendeten Briefe nieder. – »Er kommt wie gerufen,« sagte die Montalais und sah neugierig hinaus. – »Zurück vom Fenster!« rief Luise und zog sie fort. – »Ach was!« rief die Mutwillige, »er kennt mich ja gar nicht, laß mich nur sehen!«
Es war ein großer schlanker Mann von etwa 25 Jahren, der in den Hof ritt. Das malerische Kostüm seiner Zeit stand ihm sehr gut. Er rief einen der Gardisten heran. »Melde mich,« sprach er, »ich bringe eine Botschaft für Seine Königliche Hoheit.« – »So will ich gleich den Hofmeister, Herrn von Saint-Rémy rufen,« antwortete der Bote, »das heißt, nur wenn es dringlich ist.« – »Das ist es,« versicherte der Reiter. »Ich muß so rasch wie möglich vor Seine Hoheit geführt werden.«
»Welchen Namen darf ich dem Hofmeister nennen?«
»Graf von Bragelonne aus dem Gefolge des Prinzen Condé.« – Der Soldat grüßte militärisch und eilte davon. Nach wenigen Minuten kam er zurück.
Ihm folgte die wohlbeleibte Gestalt des Herrn von Saint-Rémy, durch den raschen Lauf ganz außer Atem gebracht. – »Sie in Blois, Herr Graf von Bragelonne?« rief er, sich den Schmerbauch haltend. »Guten Tag! Wie wird sich Fräulein von Lavall ... hm, und meine Frau freuen, Sie zu sehen! Was bringen Sie denn? Hoheit frühstücken eben? Sind es gute Nachrichten?« – »Sehr gute und sehr wichtige.« – »Hoheit lassen sich nicht gern stören, doch in diesem Falle will ich es wagen, Sie sogleich zu melden. Hoheit sind zum Glück auch gerade in sehr guter Laune.« – Nach diesen Worten führte er den jungen Mann ins Schloß.
Monsieur und Madame saßen an ihrer reich gedeckten Tafel. Die Becher klirrten, die Schüsseln dampften, und Gaston von Orléans ließ sich's schmecken, als Saint-Remy mit der Meldung hereintrat, ein Bote vom Prinzen von Condé bitte um Einlaß. – Monsieur erschrak ein wenig. Es schien, als wenn der Name des großen Prinzen einen gespenstischen Schatten über die Tafel werfe. – »Wie heißt der Bote?« fragte er, um seine Bewegung vor seinem Haushofmeister zu verbergen. – »Graf von Bragelonne, ein Edelmann aus dieser Gegend,« antwortete Saint-Rémy. – Monsieur richtete einen fragenden Blick auf Madame. Sie nickte leicht mit dem Kopfe, und Gaston befahl, den Boten vorzulassen.
Rudolf von Bragelonne trat ein, verneigte sich tief vor dem erlauchten Paare und erwartete schweigend die Ansprache des Prinzen. Dieser wartete, bis der letzte der Dienerschaft das Zimmer verlassen hatte und die Türen geschlossen worden waren. – »Sie kommen von Paris?« fragte er dann, die Augen auf den Abgesandten heftend. »Was macht der König?« – »Es geht ihm gut, Königliche Hoheit.« – »Und meine Schwägerin?« – »Ihre Majestät die Königin-Mutter sind noch immer brustleidend, doch befinden sie sich besser.« – »Und Sie kommen im Auftrage des Prinzen von Condé?« – »Sehr wohl, und soll diesen Brief überreichen und auf Antwort warten.«
Gaston von Orléans nahm mit zitternder Hand das Schreiben in Empfang, betrachtete es mit verstörtem Blick, öffnete es dann, las es und rief in freudigem Tone: »Das ist ja eine sehr angenehme Ueberraschung! Madame lesen Sie nur! oder lesen Sie es bitte meiner Frau vor, Herr Graf!« – Rudolf sprang herzu, nahm Monsieur das Schreiben aus der Hand und las: »Königliche Hoheit! Majestät reisen an die Grenze. Binnen kurzem wird die Vermählung Seiner Majestät stattfinden. Nun würden Majestät gern einen Tag in Blois verleben, und ich bitte Sie, mir mitzuteilen, ob Sie damit einverstanden sind, daß ich Ihr Schloß in die Marschroute einsetze. Sollte Ihnen diese unvermutete Bitte Verlegenheit verursachen, so lassen Sie es mich durch den Ueberbringer dieses Schreibens alsbald wissen. Majestät würden dann eben nicht über Blois, sondern über Vendôme oder Romorantin reisen. In der Hoffnung jedoch, Eurer königlichen Hoheit damit einen Gefallen zu erweisen, bin ich Ihr Prinz von Condé.«
»Nichts könnte uns angenehmer sein,« rief Madame
»Sagen Sie Herrn von Condé, wir danken für seine Aufmerksamkeit.« – »Wann wird Majestät kommen?« fragte der Prinz. – »Heute abend.« – »So schnell? Dann sind Majestät wohl schon in Orléans?« – »Noch näher, Hoheit. Wahrscheinlich schon in Meung.« – »Mit dem Hofe?« – »Jawohl.« – »Ich vergaß, zu fragen – wie geht es dem Kardinal?« – »Eminenz scheinen sich wohl zu befinden.« – »Seine Nichten sind jedenfalls bei ihm?«
»Nein, die Fräulein von Mancini sind auf Geheiß Seiner Eminenz nach Brouage gegangen und reisen am linken Loireufer, während der Hof am rechten reist.« – »Wie? Fräulein von Mancini verläßt den Hof?« rief Monsieur, und ein Funke seiner früheren Freude an Intrigen blitzte in seinen trübseligen Augen aus. Darauf entließ er den Grafen, klingelte und rief den hereintretenden Schranzen und Dienern die magischen Worte zu: »Seine Majestät der König werden heute abend hier eintreffen.«
»Es lebe der König!« riefen die Hofleute wie aus einem Munde, und Gaston von Orléans, der ein ganzes Menschenleben lang den Ruf: »Es lebe der König!« hatte mitanhören müssen, neigte betrübt das Haupt; denn er hatte diesen Ruf eine lange Zeit nicht mehr vernommen. Das erlauchte Paar verließ die Tafel, und Madame rief im Hinausgehen Herrn von Saint-Rémy zu, man solle dafür sorgen, daß Graf von Bragelonne aufmerksam verpflegt würde.
Der Haushofmeister nahm sich sogleich des jungen Mannes an, erhielt aber auf seine Einladung, im Schlosse zu bleiben, die Antwort: »Ich danke, Herr von Saint-Rémy aber ich habe Sehnsucht, den Grafen, meinen Vater, wiederzusehen.« – »Das ist begreiflich,« sagte der Haushofmeister. »Bitte, mich aufs beste zu empfehlen.« – Nach diesen Worten wollte Graf von Bragelonne in den Hof hinabsteigen, um sich sein Pferd vorführen zu lassen, doch plötzlich vertrat im dunklen Korridor die Gestalt eines Mädchens ihm den Weg. Es legte den Finger auf die Lippen und reichte ihm die Hand. – »Wollen Sie mir folgen, Herr Ritter?« fragte die junge Dame leise. – Der Graf zauderte nicht, sondern ließ sich von der zarten Hand, die die seine festhielt, fast willenlos fortführen. Der Weg war indessen zu kurz, als daß unterwegs der Graf Zeit gehabt hätte, sich wegen des Ziels, zu dem er geleitet würde, Gedanken zu machen. Die unbekannte Dame stieß eine Tür auf und zog ihn in ein Zimmer. Kaum trat er ein, so hörte er einen lauten Schrei und sah eine schöne Blondine mit blauen Augen und schneeweißen Schultern, die, seinen Namen nennend, mit gefalteten Händen in einen Stuhl sank. Rudolf erkannte sie, warf sich vor ihr auf ein Knie und vermochte nur das eine Wort hervorzubringen: »Luise!«
»O, Montalais,« flüsterte Luise, »wie konntest du mich so hintergehen?« – »Wieso denn hintergehen?« – »Du hast doch gesagt, du wolltest dich nur im Hofe erkundigen. Nun bringst du den Grafen zu mir!« – »Er muß sich doch den Brief abholen.« – Rudolf sah das Schreiben auf dem Tische liegen und streckte die Hand aus; da auch Luise eben danach griff, begegneten sich ihre Hände, und Rudolf zog die des jungen Mädchens ehrfurchtsvoll an die Lippen. Inzwischen nahm die Montalais den Brief an sich, faltete ihn zusammen und steckte ihn in den Busen. – »Hier ist er wohlgeborgen, Luise,« sagte sie. »Der Graf wird nicht so kühn sein, ihn aus diesem Versteck zu rauben. Nun, ich sehe, Luise, du hast mir verziehen, daß ich den Grafen herführte, und der Graf selbst wird mir deshalb gewiß auch nicht böse sein. So wollen wir denn wie alte Freunde miteinander reden. Luise, stelle mich zuerst dem Herrn Grafen vor.«
»Herr Vicomte,« sagte Luise mit holdem Lächeln, »gestatten Sie mir, Sie mit meiner besten Freundin, Aure von Montalais, Ehrendame an Madames Hofe, bekannt zu machen. Sie sind ihr bereits bekannt. Meine Freundin weiß alles.« – Die Montalais nickte lachend. – »Schluß nun mit den Höflichkeiten!« rief sie. »Nehmen Sie Platz, Graf, und erzählen Sie, was für eine Botschaft Sie zu bestellen hatten.« – »Es ist kein Geheimnis mehr, Fräulein,« antwortete Rudolf. »Der König kommt nach Blois.« – Die Montalais war sogleich wie aus dem Häuschen. »Den König und den Hof sollen wir sehen?« rief sie, in die Hände klatschend. »Aber wann denn, Vicomte?« – Als sie jedoch erfuhr, daß Majestät schon am Abend dieses Tages kommen werde, zog sie ein saures Gesicht. – »Da hat man ja nicht mal Zeit, sich zu putzen,« schmollte sie. – »Trösten Sie sich,« antwortete Rudolf galant, »Sie sind ja immer schön.« – »Sehr gütig, Herr Graf! Also heute abend – mit dem ganzen Hofe? Sind die Fräulein Mancini auch dabei?« – »Nein, die sind nicht im Gefolge.« – »Aber man sagt doch, der König könne ohne Fräulein Marie von Mancini nicht leben.« – »Er wird wohl ohne sie leben müssen, denn der Kardinal hat sie aus seiner Nähe verbannt.« – »O, dieser Heuchler!« rief die Montalais und ließ sich durch eine warnende Gebärde Luisens nicht abschrecken hinzuzusetzen: »Ach was, es hört uns hier niemand. Mazarino Mazarini ist ein Heuchler, ich wiederhole es. Es wäre ihm nichts lieber, als wenn er seine Nichte Maria zur Königin von Frankreich machen könnte!«
»Nicht doch,« versetzte der Graf. »Hat doch Mazarin selbst Seiner Majestät die Infantin Maria-Theresia zur Gemahlin bestimmt. Zwischen Don Louis de Hara und Seiner Eminenz ist der Ehekontrakt schon abgeschlossen worden.« – »Also liebt der König Fräulein von Mancini nicht?« – »Im Gegenteil, er betet sie an.« – »Na, dann wird er sie auch heiraten. Und wenn's darüber zum Kriege mit Spanien käme.« – »Rede doch nicht so närrisches Zeug, Montalais,« rief Luise dazwischen. »Die Königin-Mutter wünscht, daß ihr Sohn die Infantin heirate, und er wird seiner Mutter nicht ungehorsam sein. Vor kindlichem Gehorsam muß die Liebe zurückstehen.« – Mit einem Seufzer schlug Luise die Augen nieder, während die Montalais mit übermütigem Lachen rief: »Ei nun, ich habe keine Eltern mehr.«
Doch mitten in ihrem Lachen unterbrach sie sich und horchte mir ernster Miene nach der Tür hin. »Mein Gott, es kommt jemand,« sagte sie. – »Wer kann das sein?« rief Luise ängstlich. – »Nach dem schwerfälligen Schritt zu urteilen, ist es Herr Malicorne,« sagte die Montalais. »Nun, der ist nicht eifersüchtig.« – »Nein,« rief Luise erschrocken, »er ist es nicht! Es ist meine Mutter – ich kenne ihren Schritt.« – Frau von Saint-Rémy!« sagte Rudolf betroffen. »Wo soll ich mich verbergen?« – »Ja, wahrhaftig,« sprach die Montalais, »nun erkenne ich auch die klappernden Stelzschuhe der Frau Mama. Nur ruhig Blut, Herr Graf! Das Fenster hier ist leider fünfzig Fuß hoch und geht auf einen gepflasterten Hof hinaus. Aber Sie können hier in diesen Schrank eintreten, der ist wie gemacht dafür.«
Frau von Saint-Rémy stieg rascher als gewöhnlich die Treppe hinauf und trat eben ein, als die Montalais den Schrank schloß und sich an die Tür lehnte. – »So finde ich dich doch hier, Luise?« rief Frau von Saint-Rémy in ungehaltenem Tone. – »Ja, Mutter,« antwortete Luise kleinlaut, als wäre sie über einem schweren Vergehen ertappt worden. – »Bitte, nehmen Sie doch Platz, gnädige Frau,« sagte die Montalais, ohne vom Schranke wegzutreten, doch Frau von Saint-Rémy lehnte in etwas spitzem Tone ab. »Ich danke, Fräulein Aure,« sagte sie. »Komm rasch mit mir, Kind, du mußt anfangen, Toilette zu machen,« wendete sie sich an Luise. »Wissen Sie denn etwa die große Neuigkeit noch nicht?« fragte sie mit einem Blick auf die Montalais. »Sollte wirklich noch niemand bei Ihnen gewesen sein?«
Dabei sah sie nach dem Tische hin, und Luise, ihrem Auge folgend, sah nun zu ihrem Entsetzen, daß Rudolf dort seinen Hut hatte liegen lassen. Die Montalais stellte sich rasch vor den Tisch, und Frau von Saint-Rémy fuhr fort, als wenn sie wirklich nichts gesehen hätte: »Es ist eben ein Eilbote mit der Nachricht angekommen, daß heute abend der König eintreffen wird. Da müssen sich alle jungen Damen schön machen. Also komm, Luise!«
Das junge Mädchen folgte der Mutter, die auf dem Wege zur Tür noch leise die Worte sprach: »Ich habe dir doch verboten, zur Montalais zu gehen! Und wem gehört der Hut auf dem Tische? Sicher diesem Tagedieb, dem Malicorne. Ein Ehrenfräulein darf mit solchem Taugenichts auf keinen Fall –«
Die andern Worte verloren sich auf dem Korridor, so daß die Montalais sie nicht mehr hörte. Sie zuckte leichthin die Achseln und ließ Rudolf aus seinem Versteck heraus. – »Verlassen Sie das Schloß so rasch wie möglich,« sagte sie, »damit uns durch irgendwelche Indiskretion der guten Dame nicht etwa Unannehmlichkeiten entstehen. Leben Sie wohl!« – »Werde ich von Luise hören?« fragte Rudolf. – »Gewiß, gewiß. Nur Mut! Hier in Blois kümmern wir uns nicht allzusehr um Papas und Mamas Einwilligung. Fragen Sie nur Malicorne.«
Rudolf schlich in den Hof, holte sein Pferd, schwang sich in den Sattel und ritt spornstreichs davon.
Er folgte der wohlbekannten Straße, an die sich viele ihm teure Erinnerungen knüpften, und bemerkte bald das spitze Dach, die beiden Türmchen und die Schwärme von Tauben, die sie umflogen. Ein Jahr war es nun her, daß er seinen Vater nicht wiedergesehen hatte, und diese ganze Zeit über war er beim Prinzen Condé gewesen. Nach den stürmischen Zeiten der Fronde hatte Condé sich feierlich mit dem König ausgesöhnt. Solange Feindschaft zwischen ihnen bestand, war Graf von Bragelonne dem Prinzen ferngeblieben und hatte, statt an dessen revolutionären Unternehmungen teilzunehmen, unter Turenne für den König gekämpft. Condé war Bragelonne sehr zugetan und verübelte ihm diese Königstreue nicht; vielmehr nahm er ihn nach der Aussöhnung mit dem Hofe mit Freuden bei sich auf. So jung Rudolf auch noch war, so hatte er doch unter Turenne und unter Condé bereits in zehn siegreichen Schlachten mitgefochten und durfte sich einen Soldaten nennen, dessen Schild durch keine Niederlage befleckt war.
Rudolf fand die Gartentür offen und ritt ohne weiteres hinein, ungeachtet der zornigen Gebärden eines alten Mannes, der am Wegesrande stand und offenbar erst um Erlaubnis zum Eintritt gefragt sein wollte. Der Alte arbeitete an einem Blumenbeete und trat entrüstet auf den Reiter zu; doch kaum hatte er dessen Gesicht gesehen, so warf er sein Arbeitszeug weg und rannte mit Zeichen höchster Freude auf das Haus zu. Der Graf ritt ruhig weiter, gelangte in den Hof, gab sein Pferd einem Knecht, ging ins Haus und trat in das Zimmer des Grafen de la Fère.
Der Graf war noch immer eine schöne stattliche Erscheinung, obwohl nun sein Haar fast weiß geworden war und der Schnurrbart stark ins Graue spielte. Trotz des Alters hatte der Mann, dem so mancher erlauchte Mund unter dem Namen Athos Lob und Dank gesprochen, noch nichts von seinem imposanten Aeußern eingebüßt. – Rudolf umarmte ihn so zärtlich und so stürmisch, daß der Graf sich nicht loszumachen vermochte. – »Rudolf!« rief er endlich, einen Schritt zurücktretend. »Du hier? Hast du Urlaub oder ist etwas passiert?« – »Ich war als Abgesandter des Königs in Blois. Majestät will seinem Oheim einen Besuch abstatten.« – »So hast du Monsieur gesehen? Ich wünsche dir Glück dazu.« – Rudolf verneigte sich. Athos sah ihm prüfend ins Auge. – »Wen hast du sonst noch in Blois gesehen?« – »Ich habe auch Madame gesehen, Vater,« antwortete der junge Mann. – »Ja doch, aber an die dachte ich dabei nicht,« versetzte Athos mit einem strengeren Blick. »Oder verstehst du mich nicht, Rudolf?«
»Ich verstehe Sie sehr wohl, Vater,« erwiderte Rudolf errötend. »Auch sinne ich nicht auf Ausflüchte, wenngleich ich nicht sofort eine Antwort bereit habe.« – »Also hast du Fräulein von Lavallière gesehen?« fragte der Vater. – »Ja. Ich wußte nicht, daß sie im Schlosse zu Blois sei, der Zufall führte mich zu ihr.« – »Der Zufall?« entgegnete der Graf de la Fère. »Und in welcher Gestalt erschien dir dieser Zufall?« – »In der Gestalt eines Fräuleins von Montalais.« – »Was ist das für eine Dame?« – »Ich habe sie nie zuvor gesehen und weiß nur, daß sie Ehrendame der Herzogin von Orléans ist.« – »Genug, ich habe dir geraten, Fräulein von Lavallière aus dem Wege zu gehen. Wenn nun der Zufall seine Hand im Spiele hatte, so kann ich dir ja wohl keinen Vorwurf machen. Mein Wunsch ist es und bleibt es, daß du sie nicht besuchst. Merke dir das ein für alle Mal, Rudolf. Und nun von etwas anderm! Kehrst du gleich in deinen Dienst zurück?« – »Nein, lieber Vater, ich kann den ganzen Tag bei Ihnen weilen. Der Prinz hat mir weiter keinen Auftrag gegeben, als den, den ich nun erledigt habe.« – »Er und der König sind wohlauf?« – »Wie immer. Vater.« – Nach Mazarin erkundigte sich der alte Herr nicht – er hatte schon früher nie nach ihm gefragt.
»Es freut mich, daß ich dich einen ganzen Tag bei mir habe – so will ich mich auch durch nichts abhalten lassen,« rief er. »Doch da ist ja unser alter Grimaud. Komm her, Mann, laß dich von dem Burschen hier umarmen.« – Das ließ sich Grimaud nicht zweimal sagen, eilte herbei und drückte den Jüngling an die Brust. Als dann Vater und Sohn in den Garten gingen, sah er ihm mit Tränen im Auge nach. »Wie groß er geworden ist!« murmelte er und strich seinen weißen Knebelbart. Und er hatte recht. Rudolf reichte mit dem Kopfe fast an den Querbalken der Tür heran.
2. Kapitel. Der Unbekannte
In Blois herrschte große Aufregung, wurde doch der König mit dem gesamten Hofstaat erwartet, und wo sollten alle diese Menschen, 100 Reiter, 10 Kutscher, 200 Pferde und ebensoviele Diener und Hofleute untergebracht werden? Mit dieser Frage beschäftigte sich alsbald die ganze Stadt. Im Schlosse gar ging alles Hals über Kopf, denn die Zeit für die Vorbereitungen war knapp bemessen, und es galt, Wildbret zu holen, Fische zu beschaffen und Blumen zur Verzierung der Tafel zu besorgen. Eine ganze Schar von armen Leuten wurde aufgeboten, die die Höfe und Gärten ausfegen mußten.
Im untern Teile der Stadt, kaum hundert Schritte vom Schlosse entfernt, stand in der schönen Altgasse ein ehrwürdiges Haus mit spitzem Giebel, das im ersten Stock drei, im zweiten zwei, im dritten nur ein Fenster hatte. Der Sage nach hatte zur Zeit Heinrichs III. ein Stadtrat darin gewohnt, der auf Betreiben der Königin Katharina erdrosselt worden war. Nachher hauste darin ein Italiener namens Cropoli, ein ehemaliger Koch des Marschalls von Ancre. Der Mann hatte aus dem Hause eine kleine Restauration gemacht und war besonders wegen seiner schmackhaften Maccaroni weit und breit bekannt geworden, namentlich seit die Königin Maria von Medici, die im Schlosse gefangen gewesen, sich einmal eine Schüssel voll von dieser Spezialität hatte holen lassen. Als er starb, übernahm sein Sohn das Restaurant, änderte seinen italienischen Namen in einen französischen um, indem er aus Cropoli Cropolé machte, und ließ einen berühmten Maler kommen, der ein Schild mit den Bildnissen zweier Königinnen und mit der Inschrift »Zu den Medicis« malen mußte.
Das Gasthaus Cropolés erfreute sich eines großen Zuspruchs, und der Besitzer, der sich inzwischen auch mit einer jungen Französin verheiratet hatte, welche sogar eine hübsche Summe Geldes mit einbrachte, war auf dem besten Wege, ein reicher Mann zu werden. Daß dies so rasch wie möglich geschähe, war natürlich sein innigstes Verlangen. Anläßlich des Königsbesuchs hoffte er nun ein schönes Stück Geld auf einmal zu verdienen.
Im Gasthaus logierte zur Zeit nur ein Fremder, ein großer, stattlicher Mann von etwa dreißig Jahren und ernstem, fast trübsinnigem Wesen. Er trug ein Wams aus schwarzem Sammet mit weißem Kragen von puritanischem Schnitt. Ueber seiner etwas sarkastischen Oberlippe kräuselte sich ein blonder Schnurrbart. Seine blauen Augen hatten einen durchdringenden Blick, dem man schwer standhalten konnte.
Zu der damaligen Zeit gab es eigentlich nur zwei Klassen Menschen, den Kavalier und den gemeinen Mann, und diese beiden Klassen waren damals ebenso scharf voneinander geschieden wie heutzutage die weiße und die schwarze Rasse. Cropolés Gast nun mußte selbst auf einen flüchtigen Blick hin der ersteren Klasse zugezählt werden: man erkannte in ihm sofort einen Edelmann von reinstem Wasser. Trotzdem aber behagte es nun dem Wirt nicht, daß dieser alleinstehende Fremde die besten Zimmer seines Gasthauses innehatte, zumal er nach einer kurzen Mitteilung, daß er einen Herrn namens Parry erwarte, welcher sofort nach der Ankunft zu ihm zu führen sei, den Mund viele Stunden hintereinander nicht wieder geöffnet hatte. Erst als draußen lauter Lärm erscholl, und ungewöhnlich lebhaftes Treiben die sonst so stille Stadt erfüllte, erwachte er aus seiner gleichgültigen Ruhe und fragte nach der Ursache dieser Aufregung.
Cropolé nahm die Gelegenheit beim Schopfe und erzählte, daß der König erwartet würde, und daß er selbst nun in die größte Verlegenheit käme, da er für die zu erwartenden Gäste keine Zimmer mehr zur Verfügung hätte. – »Wie?« rief der Unbekannte entrüstet, »soll das etwa heißen, daß ich die Wohnung räumen soll? Sind Sie argwöhnisch? Halten Sie mich für arm? Fürchten Sie, nicht zu Ihrem Gelde zu kommen?« – »Durchaus nicht,« versetzte Cropolé geschmeidig, »allein Monsieur werden begreifen, es ist dies eine günstige Gelegenheit, ein Geschäftchen zu machen, die Zimmer teurer zu vermieten als sonst –« – »Herr Wirt,« versetzte der Fremde, »wenn der König nach Blois kommt, so ist dies für mich ein triftiger Grund, hier zu bleiben. Wieviel wollen Sie unter diesen veränderten Umständen für Ihre Zimmer haben?« – »Wenn Monsieur die ganze Wohnung haben wollen – oder wäre Monsieur damit einverstanden, ein paar Zimmer abzutreten, damit ich sie an das königliche Gefolge weitervermieten kann –?«
»Die ganze Wohnung behalte ich,« versetzte der Fremde, der eine etwas lispelnde Aussprache hatte, wie man sie bei Engländern findet. »Die ganze Wohnung, machen Sie Ihren Preis.«
»Jenun,« antwortete Cropolé, »der König kommt, viele Menschen werden Unterkunft suchen, da steigt der Tarif natürlich. Ich kann da spielend zwei Louisdors für das Zimmer herausschlagen.« – »Und ich habe drei Zimmer inne,« unterbrach ihn der Unbekannte. »Das wären also sechs Louisdors, und einen bewillige ich außerdem noch für Fütterung des Pferdes. Sind Sie zufrieden, Herr Wirt?« Mit diesen Worten zog er eine gestickte Börse, allein sie sah ziemlich schlaff aus, was dem scharfen Blick des Wirtes nicht entging. Sie enthielt denn auch nur noch sechs Louisdors, und um die erforderliche Summe vollzumachen, mußte der Gast seine Taschen umdrehen. Mit knapper Not fand sich soviel Geld zusammen, wie die Rechnung betrug.
»Ich danke bestens,« sprach der Wirt, das Geld einstreichend. »Dies wäre der Preis für heute. Gedenken Monsieur nun die Wohnung auch für morgen noch zu behalten? Oder könnte ich –?« – »Auch für morgen noch!« rief der Fremde. »Doch Sie haben es ja gesehen, Cropolé – ich habe kein Geld mehr. Nehmen Sie also diesen Diamantring – er ist unter Brüdern 300 Pistolen wert. Verkaufen Sie ihn so vorteilhaft wie möglich. So viel, wie die Wohnung kostet, schlagen Sie allemal heraus.«
»Aber ich bin kein Kenner von Schmucksachen,« wandte der Wirt bedenklich ein. – »So werden Sie hier einen Goldarbeiter finden, der Kenner ist,« erwiderte der Fremde. »Und nun lassen Sie mich in Ruhe. Unsere Rechnung ist beglichen.« – Cropolé verneigte sich. »Wenn ich Monsieur beleidigt haben sollte, so bitte ich die Umstände zu berücksichtigen und es mir nicht übelzunehmen,« sprach er noch, aber der Fremde machte eine so abweisende, energische Handbewegung, daß der Wirt es vorzog, sich zu empfehlen.
Als er gegangen war, senkte der Fremde den bisher so majestätischen Blick zu Boden, und ein bitteres Lächeln der Hoffnungslosigkeit spielte um seine zusammengepreßten Lippen. Stumm und unbeweglich saß er am Fenster und blickte hinaus, bis die Nacht einbrach und in allen Fenstern Licht aufflammte. Während er saß und schaute, erklang unten plötzlich der Ruf: »Der König kommt! Der König kommt!« – Gleich darauf näherte sich, begleitet von vielen lodernden Fackeln, der Zug des Hofes. Eine Kompagnie Musketiere und eine Schar berittener Edelleute bildeten den Vortrab. Dann folgte, von vier Rappen gezogen, die Equipage des Kardinals Mazarin, hinter der seine Pagen und Diener einherschritten. Dann kam die Kalesche der Königin-Mutter mit einer Escorte von Ehrendamen und Kavalieren. Dann – auf einem schönen Pferde mit langer Mähne – der König – zwei Schritte hinter ihm Prinz von Condé, Dangeau und zwanzig andere Hofherren, begleitet von einem zahllosen Gefolge an Dienern und Gepäckträgern. Der ganze Zug wies eine fast strenge militärische Ordnung auf, auch trugen fast alle Höflinge und Diener Soldatentracht, nämlich das Wams von Büffelleder mit dem Ringkragen à la Henriquatre.
Der Fremde lehnte sich zum Fenster hinaus. Das Schmettern der Trompeten, der Jubel des Volks brauste ihm in den Ohren und schien ihm auf einen Augenblick die ruhige Ueberlegung zu rauben. »Der König ist es!« flüsterte er mit einem Ausdruck der Seelenangst und Verzweiflung. Der Zug war vorüber, die Wirtsleute drängten sich noch in der Tür, als ein alter Mann, der ein irländisches Pferd am Zügel führte, herantrat und Einlaß forderte. Er überließ seinen Gaul dem Stallknecht und eilte die Treppe hinauf, wo der Fremde, der ihn hatte eintreten sehen, ihn schon erwartete.
Sie fielen sich in die Arme. – »O, Parry!« rief der
junge Mann, »Sie kommen von England – eine so weite Reise in diesem Alter! Setzen Sie sich, Sie haben in meinem Dienste gar schwere Mühsal zu ertragen. Gönnen Sie sich Ruhe!« – »Vor allem,« antwortete der Alte, »habe ich Ihnen die Antwort zu überbringen.« – »Und sie lautet ungünstig, Parry,« unterbrach ihn der Fremde, »sonst würdest du nicht so anfangen. O wehe mir, du hast mir nichts Gutes zu melden.« – »Nicht verzweifeln, Mylord!« antwortete der Greis, »noch ist nicht alles verloren. Fester Wille, Beharrlichkeit und vor allem Ergebung – das tut uns not.«
»Parry,« antwortete der junge Mann, »durch tausend Gefahren habe ich mich bis hierher durchgekämpft. Zehn Jahre lang habe ich an dem Gedanken, diese Reise auszuführen, hartnäckig festgehalten. Heute habe ich den letzten Diamanten meines Vaters verkauft, um den Wirt hier zufriedenzustellen. Zweifelst du an meinem festen Willen?« – Der Greis hob seine zitternden Hände gen Himmel. – »Sei getrost,« fuhr der Fremde fort, »der Wirt hat den Edelstein verkauft, und nach Abzug seiner Forderung bleiben mir noch 274 Pistolen. Damit halte ich mich für reich. Doch nun erzähle mir alles! Was hat der General gesagt?«
»Zuerst wollte er mich gar nicht vorlassen, und nachdem ich in einem Briefe Ihre Lage und Ihre Absichten eingehend erläutert hatte, ließ er mir sogar mit Verhaftung drohen.« – »Aber du hattest doch mit ›Parry‹ unterzeichnet?« – »Gewiß, und dem Adjutanten des Generals war ich auch von St. James her wohlbekannt.«
»So drohte dir der General vor den Leuten,« sprach der junge Mann, »aber was tat er, als du mit ihm unter vier Augen warst? Was sagte er da?« – »Er schickte mir vier Reiter, Mylord, die mich zum Hafen Terby brachten – ohne Aufenthalt, ohne Rast. Vom Hafen schafften sie mich in ein kleines Fischerboot, das eben nach der Bretagne in Segel ging. Und nun bin ich hier.«
»Und das ist alles, Parry?« rief der junge Mann, den Kopf in beide Hände pressend. – »Das ist alles, Mylord.« – Dieser kurzen Antwort Parrys folgte ein langes Schweigen, der junge Mann schritt in heftiger Erregung auf und ab. Der Alte wollte dem Gespräch eine Wendung geben und fragte daher, was der Lärm auf den Straßen zu bedeuten hätte. – »Das weißt du nicht?« antwortete der junge Mann. »Der König von Frankreich ist zum Besuch nach Blois gekommen. Sein Minister, der ihm Millionen zusammenscharrt, führt ihn einer reichen Braut zu. Das Volk begrüßt ihn mit Jubelgeschrei. Und während dieser Ludwig in Saus und Braus lebt, haben meine Schwester und meine Mutter nicht satt zu essen. Und wenn Europa erfährt, was du eben erzählt hast, so werde ich in allen Landen verspottet werden. Doch freilich, Parry,« rief er mit ungestümer Gebärde und gürtete das Schwert um, »wenn ich wie eine feige Memme nichts für mich selbst tue, was soll mein Gott für mich tun. Noch habe ich zwei Arme, noch ein Schwert – –!«
»Mylord,« rief der Greis, »was wollen Sie tun?« – »Was meine ganze Familie tut, was meine Mutter und meine Schwester tun und meine Brüder! Betteln um ein Almosen.« Er lachte wild auf, nahm den Hut zur Hand, warf den schwarzen Mantel um und stürmte hinaus. Parry sprang ans Fenster und sah ihn bald verschwinden.
Inzwischen war der König von Gaston von Orléans empfangen worden und weilte nun in demselben Schlosse, in welchem vor 72 Jahren Heinrich III. zu Mord und Verrat gegriffen hatte, um seinem Haupte und seiner Familie eine Krone zu erhalten, die schon von seiner Stirn zu gleiten begann. Ludwig, der junge Herrscher, war ein vollendeter Kavalier. Von ganz besonderer Schönheit waren seine tiefblauen, zugleich feurigen und sanften Augen, die mit dem Blau der unendlichen Himmelsräume, aber auch mit dem schrecklicheren Blau der Meerestiefe wetteifern konnten. Er war nicht groß, kaum fünf Fuß zwei Zoll; aber in all seinen Bewegungen lag dennoch Adel und körperliche Gewandtheit.
Viele freilich mochten die jugendliche Erscheinung für nicht königlich genug halten, weil man an ihrer Seite immer die hohe Gestalt der Königin-Mutter und die stattliche Figur des Kardinals Mazarin erblickte, und namentlich dem letzteren galt das allgemeine Augenmerk, denn es war ja ein öffentliches Geheimnis, daß er der eigentliche König von Frankreich war.
Während Gaston von Orléans mit dem König und dem Kardinal sprach und sich angelegentlich nach dem Befinden der drei Nichten Mazarins erkundigte, die dieser vor kurzem aus Italien hatte herbeigerufen, machte die Herzogin die Königin mit ihren Hofdamen bekannt und stellte ihr der Reihe nach Mademoiselle Arnoulx, Mademoiselle von Montalais und Luise von Lavallière vor. Ludwig XIV. verließ die beiden Herren und trat zu Mutter und Tante hinüber, um die jungen Damen zu mustern, die sich vor den Hoheiten tief verneigten.
»Gnädigste Frau Tante,« sagte der junge König lachend, »ist denn Blois gar so weit von Paris entfernt, daß die Moden mehrere Jahre brauchen, um hier herüberzugelangen.
Diese Damen erscheinen noch alle in der Tracht, die man längst in die Rumpelkammer verbannt hat. Das hat man vor zehn Jahren getragen. Sehen Sie nur das weiße, veraltete Kleid dort mit dem lächerlichen Spitzenbesatz! Lassen Sie die Dame nähertreten. Sie weiß sich selbst in diesem Aufputz noch graziös und ungezwungen zu bewegen. Die andern erscheinen mir gegen sie wie Holzpuppen, mit Stoff behangen. Wie heißt dieses Mädchen?« – »Treten Sie näher, Luise,« befahl Madame, und die schöne Blondine, die wir schon kennen, kam schüchtern heran. – »Fräulein Luise Franziska von Labaume-Leblanc, die Tochter des Marquis von Lavallière und Stieftochter meines Haushofmeisters, des Herrn von Saint-Rémy,« sagte Madame in feierlichem Tone zum König. – Luise sah und hörte nichts, es summte ihr in den Ohren, vor ihren Augen verschwamm alles, und der König streifte das Mädchen nur noch mit einem flüchtigen Blick und trat dann zu den Herren zurück.
»Meine Nichten müssen vor allem erst ihre Erziehung beenden, gnädigster Herr Herzog,« sprach Mazarin zu Gaston von Orléans. »Ist dieses geschehen, so hoffe ich anständige Partien für sie zu finden, was mir nicht schwer fallen wird, denn Gott hat ihnen Anmut, Schönheit und Geist verliehen. Namentlich der jüngsten, der Maria. Sie sind unterwegs nach Brouage und müssen zur Zeit schon weit weg von Blois sein.« – Diese Worte sprach der Kardinal absichtlich laut, daß Ludwig, der eben von den Damen wegtrat, sie hören mußte. Sie trafen sein Herz wie ein vergifteter Pfeil, und obwohl der junge König sich schon soweit beherrschen gelernt hatte, daß er jetzt nur durch ein leichtes Erröten seine Erregung verriet, so war es doch für einen Mann, der seit zwanzig Jahren alle Diplomaten Europas an der Nase herumführte, ein leichtes, die tiefe Wirkung seiner Worte zu erkennen. Von diesem Augenblick an hatte nichts mehr Interesse für den König. Seit er erfahren, daß Maria von Mancini nicht nach Blois kommen würde, fühlte er sich unerträglich gelangweilt und benutzte die erste Gelegenheit, sich zurückzuziehen. Monsieur selbst geleitete die Majestät in ihre Schlafgemächer. Es waren dieselben, die einst König Heinrich III. bewohnt hatte. Auf dem Wege in diesen Teil des Schlosses machte Gaston von Orléans plötzlich halt, öffnete die Tür eines düstern Vorzimmers und sprach: »Dies ist der Ort, wo der Herzog von Guise ermordet wurde. Genau an dieser Stelle sank er nieder und riß im Fall die Vorhänge des Bettes dort mit sich. Er stand fast ebenso da, wie jetzt Eure Majestät und neben ihm – so wie jetzt Euer Musketier-Leutnant neben Euch steht – stand Herr von Loignes. Das andere Gefolge befand sich ein paar Schritte hinter ihm.«
Der König, der von der Geschichte seines Landes nur beschränkte Kenntnis hatte, erbebte leicht und sah sich um. Sein Blick fiel auf einen Offizier, der mit seinen funkelnden Augen, seinem schwarzen Schnauzbart und der imposanten Adlernase ein Muster militärischer Schönheit war.
»Es ist wahr,« sprach dieser Haudegen und warf sein langes, graues Haar in den Nacken, »hinterrücks und meuchlerisch ist er niedergestoßen worden.« – »Und weil der Blutfleck auf den Dielen,« fuhr der Herzog von Orléans fort, »nicht auszumerzen war, sind ganze Stücke des Holzes herausgebrochen worden, wie Majestät bemerken werden.« – »Lassen Sie uns weitergehen, mein Herr Oheim,« sagte der König leise.
Als er sein Schlafzimmer betreten hatte, übernahm der Offizier mit der Adlernase den Kammerdienst, untersuchte plötzlich alle Zugänge und Nebengemächer und quartierte sich mit zehn Musketieren im Vorgemach ein.
Gleich darauf geleitete Monsieur, der Herzog, auch Mazarin in seine Gemächer, und Madame, die Herzogin, führte Anna von Oesterreich, die Königin-Mutter, in die ihrigen. Auf den Treppen, vor den Toren, bezogen die Soldaten von der Wache ihre Posten, und überall im Schlosse herrschte Ruhe.
Nicht lange, so fuhr einer dieser Wachtposten aus seinem Halbschlummer empor, reckte sich steif in die Höhe und rief in die nächtliche Stille: »Wer da?« – »Gut Freund!« erklang die Antwort, und die Gestalt eines fremden Mannes, in einen weiten dunkeln Mantel gehüllt, zeigte sich vor ihm. – »Euer Begehr?« – »Ich will mit dem König reden.« – »Das geht nicht an.« – »Führen Sie mich zum Offizier vom Dienst,« antwortete der Fremde. – »So gehen Sie die Treppe da hinauf!« sagte der Soldat, und gleichzeitig rief er nach oben: »Leutnant, es fragt jemand nach Euch!«
Der Offizier rieb sich die Augen und trat aus der Stube. Im nächsten Augenblick stand der Fremde, kein anderer als der Unbekannte aus dem Gasthause »Zu den Medicis«, vor ihm und wiederholte: »Ich muß mit dem König reden.« – Der Leutnant sah den Mann prüfend an und erkannte mit dem Blick eines Kenners, daß er eine hervorragende Persönlichkeit in unscheinbarem Gewande vor sich habe. – »Der König schläft schon oder ist beim Auskleiden. Sie wissen doch wohl auch, daß ohne Audienzschein niemand vorgelassen wird.« – »Wenn er erfährt, wer ich bin,« antwortete der Unbekannte, »so wird er eine Ausnahme machen und mich vorlassen.« – »Nun denn, wen soll ich melden?«
»Seine Majestät Karl II., König von England, Schottland und Irland,« war die Antwort. – Der Offizier unterdrückte einen Ausruf des Erstaunens und trat zurück. »Verzeihung, Majestät,« sagte er, »ich hätte Sie erkennen sollen.« – »Wieso? Haben Sie mich schon früher einmal gesehen?« – »Nein, Majestät, aber ich sah Ihren Vater in einem furchtbaren Augenblick –« Er verstummte und richtete einen tieftraurigen Blick auf den landesflüchtigen König. – »An dem Tage, wo –?« fragte Karl II. – und ein stummes Nicken des Offiziers war die Antwort.
»Tragen Sie noch Bedenken, mich zu melden?« fragte Karl II. – »Ich muß,« antwortete der Leutnant zaudernd, »ich muß Eure Majestät bitten, den Degen abzulegen.« – »Ich vergaß –« sagte Karl II., »es darf niemand bewaffnet vor den König treten. Hier ist mein Degen – und nun beeilen Sie sich!« – Der Offizier klopfte an das Zimmer des Königs, ein Kammerdiener öffnete. »Seine Majestät der König von England wünschen mit Majestät zu sprechen,« meldete der Leutnant. – Der Kammerdiener trat zurück, und gleich darauf wurde die Tür von einem Hofkavalier geöffnet. Ludwig XIV., ohne Hut und Degen, mit schon offnem Wams, trat unter Zeichen tiefsten Erstaunens hervor. – »Sie, mein Bruder, hier in Blois!« rief er aus. – »Ich war unterwegs nach Paris, als ich erfuhr, daß Sie hierher reisten,«
antwortete der Brite. »Ich eilte infolgedessen hierher, denn ich habe Ihnen etwas sehr Wichtiges mitzuteilen.« – »Wollen Sie in dieses Zimmer treten, lieber Bruder?« – »Gewiß. Es kann uns hier doch niemand hören?« – »Wir sind allein,« antwortete Ludwig, als er mit Karl II. in das Zimmer zurückgetreten war. »Reden Sie, lieber Bruder, ich bin ganz Ohr.«
»Majestät, ich bitte um Mitleid Ihrerseits mit dem Unglück unseres Hauses.« – Der König errötete, rückte näher an Karl II. heran, bewahrte aber Schweigen. – »Sire, in England hat sich vieles geändert, Cromwell ist gestorben, sein Sohn hat sich unfähig erwiesen, das Erbe des Vaters zu verwalten, und vor einem Jahre das Protektorat niedergelegt. Nun spielt man in England um die Krone meines Vaters, und zwei Männer, Lambert und Monk, sind die eifrigsten Spieler. O Majestät, wenn ich eine Million hätte, um in dieses Spiel einzugreifen, um einen dieser beiden zu bestechen und für mich zu gewinnen, dann hätte ich Hoffnung, den Sieg an mich zu reißen.« – »Ich verstehe,« antwortete Ludwig, »Sie wollen von mir –«
»Hilfe will ich von Ihnen, Hilfe an Geld und an Leuten! Wenn Sie mir helfen, kann ich in einem Monate wieder auf dem Throne meines Vaters sitzen. Wünschen doch meine Untertanen selbst ein Ende dieses Protektorats herbei, ein Ende dieser Republik, und sie werden mich mit Freuden begrüßen.« – Der junge König von Frankreich rückte verlegen hin und her und wußte nicht, was er antworten sollte. Karl II., der zehn Jahre älter war, wußte seine Gefühle besser zu bemeistern und brach zuerst das peinliche Schweigen. – »Nun, Sire, ich erwarte eine Antwort! Sprechen Sie mein Todesurteil. Soll ich leben oder muß ich sterben?«
»Mein Bruder,« versetzte nun Ludwig, »Sie verlangen eine Million von mir, aber ich besitze ja doch nichts. Ich bin auch gar nicht König von Frankreich – ebensowenig, wie Sie König von England sind. Ich bin nur ein Name, nur ein mit einem Samtmäntelchen geschmückter Begriff. Sehen Sie dort hinüber! Dort, wo noch alles erleuchtet ist und eine huldigende Menge sich drängt, dort ist der wahre König von Frankreich.« – »Der Kardinal?« rief Karl II. »Dann habe ich nichts zu hoffen. Nie werde ich mich an diesen herzlosen Mann wenden, der meine Mutter und meine Schwester, als sie sich nach Frankreich geflüchtet hatten, fast verhungern ließ.«
Ludwig runzelte die Stirn, zupfte an seinen Spitzenmanschetten und schien plötzlich einen Entschluß zu fassen. »Majestät,« sprach er, »Sie brauchen eine Million und zweihundert Mann? Nun, wenn ich Ihnen beides verschaffe, werden Sie dann mit mir zufrieden sein?« – »O, Sire! ich werde Sie meinen Retter nennen, und solange ich regiere, soll England Frankreichs Schwester sein.« – »Gut!« sprach Ludwig und stand auf. »Was ich für mich nicht fordern würde, das will ich für Sie fordern. Ich will zu dem König von Frankreich gehen – zu jenem andern König – zu dem, der das Geld und die Macht hat – und will für Sie eine Million und zweihundert Mann verlangen. Das weitere wird sich finden.«
»O, Sire!« rief Karl II., »Sie sind ein wahrer, ein edler Freund! Sie retten mir das Leben!« – »Still,« unterbrach ihn Ludwig, »es darf uns niemand hören.
Geld von Mazarin fordern, das ist schlimmer, als einen verzauberten Wald durchwandern, wo in jedem Baum ein böser Geist wohnt. Ich gehe alsbald. Warten Sie hier, bis ich zurückkomme.«
3. Kapitel. Mazarin
Der König schritt, nur von einem Kammerdiener begleitet, dem Flügel zu, wo der allgewaltige Diplomat wohnte. Inzwischen trat aus einem kleinen Kabinett, das von dem Vorzimmer – dem Aufenthalt des Wachthabenden – durch eine dünne Bretterwand getrennt war, der Offizier mit dem Schnauzbart und kehrte leise an seinen früheren Platz zurück. Er hatte mitangehört, was zwischen den beiden Königen gesprochen worden war. Er schüttelte den Kopf und sprach in gaskognischem Dialekt: »Fürwahr, ich diene da einem traurigen Herrn!«
Darauf ließ er sich in seinen Lehnstuhl fallen, streckte die Beine von sich und schloß die Augen.
Mazarin hatte einen leichten Anfall von Gicht gehabt und war zeitig zu Bett gegangen. Aber er schlief noch nicht, sondern arbeitete an einem Pult, das er sich auf das Bett hatte legen lassen. – »Diese verwünschten Zahlen,« sprach er, während er seinem Kammerdiener Bernouin in die Feder diktierte. »Hast du geschrieben? – 3 900 000 Livres auf Lyon – 7 Millionen auf Bordeaux – 4 Millionen auf Madrid. Das Geld gehört dem König, Bernouin, ich zahle des Königs Geld. Die Leute sind verrückt, wenn sie mich für unermeßlich reich halten.
Albernes Geschwätz das! Hast du geschrieben? Weiter! Allgemeine Einkünfte 7 Millionen – Grundbesitz 9 Millionen – Kassenbestand 600 000 Livres – Mobiliar verschiedener Schlösser 2 Millionen – was macht das alles zusammen, Bernouin? Sind 40 Millionen voll?«
»Nein, Eminenz, es fehlen daran noch 740 000 Livres.« – »Nicht einmal 40 Millionen!« rief Mazarin, wie bei sich selbst. »Diese Summe muß erreicht werden. Aber wie? Ich werde alt, wer weiß, ob mir noch Zeit verbleibt. Ei nun, ich werde aus Spanien noch etwas herausschlagen können. Die Leutchen haben jetzt Peru entdeckt, ein neues Goldland.«
Bernouin war hinausgegangen, denn ein Geräusch war vor der Tür zu hören gewesen, jetzt kam er ganz bestürzt zurück und meldete: »Seine Majestät der König!«
»Der König? Zu solcher Stunde noch?« rief Mazarin und versteckte rasch die Papiere mit den Rechnungen. »Was gibt es denn?« – »Nichts, Kardinal,« antwortete Ludwig selbst, indem er ins Zimmer trat. »Ich habe Ihnen nur etwas Wichtiges mitzuteilen.« – »Ich sollte Eure Majestät stehend anhören,« unterbrach ihn der Minister, »allein meine Gicht –« – »Keine Etikette zwischen uns, Eminenz,« versetzte der König. »Auch komme ich nicht als König, sondern als Bittender zu Ihnen. Hören Sie – soeben war mein königlicher Vetter Karl II. von England bei mir ...«
Mazarin, der schon vermutet hatte, der König wolle von Maria Mancini sprechen, fuhr wie elektrisiert auf. »Karl II.!« rief er in heiserm Tone, »Karl II. hat Sie besucht?« – »König Karl II.,« antwortete Ludwig mit einigem Nachdruck. »Der unglückliche Fürst hat mir sein Herz ausgeschüttet, und ich weiß ja auch schon aus Erfahrung, was es heißt, wenn einem König der rechtmäßige Thron streitig gemacht wird.« – »Ei, warum hat Karl II. nicht auch einen Giulio Mazarini?« entgegnete der Kardinal. »Dann würde sich niemand an seiner Krone vergriffen haben!« – »Ich weiß, was ich Ihnen verdanke, Eminenz, und werde es nie vergessen,« erwiderte der König stolz. »Aber da mein königlicher Vetter von England keinen so genialen Mann an der Seite hat, so bedarf er eben um so mehr des Beistandes.« – »Majestät,« versetzte Mazarin kalt, »die Briten sind tolle Kerle, sie haben ihren König geköpft, sie haben sich mit Fürstenblut besudelt, wir wollen nichts mit ihnen zu tun haben.«
»Es handelt sich aber jetzt darum, Karl II. wieder auf den Thron zu setzen.« – »Mein Gott,« rief Mazarin, »sollte die arme Majestät wirklich solchen Hirngespinsten nachjagen?« – »Seine Aussichten sind vielmehr sehr günstig,« antwortete Ludwig eifrig, »und um zum Ziele zu gelangen, braucht er nur eine lumpige Million.«
»Eine lumpige Million,« versetzte Mazarin in spöttischem Tone. »O, diese erbärmliche Familie von Bettlern!« – »Herr, diese Familie ist ein Zweig meines Hauses!« rief Ludwig und warf das Haupt in den Nacken. – »Haben Sie denn so viel Geld, daß Sie gleich eine Million wegschenken können? Wahrlich, Majestät, wir brauchen selber Geld – es fehlt uns an allen Enden daran. Sehen Sie hier!« rief er und zog das Blatt Papier unter seinem Kopfkissen hervor, indem er es nun mit kecker Stirn als einen Beweis für seine Behauptung verwendete, während es doch vielmehr das Gegenteil hätte beweisen können. »Hier sehen Sie die Summe, die wir selber haben müssen, um die notwendigen Ausgaben zu decken. Annähernd 40 Millionen!«
Der König ballte die Fäuste. »So muß also der König von England verhungern?« rief er zornig. – »Sire,« versetzte Mazarin kalt, »ich nannte Ihnen schon oft als Ausdruck der gesundesten Politik das alte Sprüchwort: Freue dich deiner Armut, wenn nur dein Nachbar auch arm ist.« – »Und es ist ganz unmöglich, mir die Million zu beschaffen, die ich verlange?« – »Ganz unmöglich.« – »Bedenken Sie, Karl II. wird unser Feind, wenn er später doch noch den Thron wieder besteigt.« – »Wenn das Ihre einzige Sorge ist,« antwortete Mazarin, »so können Sie einstweilen noch ruhig schlafen. Doch, Majestät, wenn ich Ihnen auch dies abschlagen muß, verlangen Sie etwas anders, und ich will all Ihre Wünsche erfüllen.«
»Gut!« rief Ludwig freudig, »ich halte Sie beim Wort. Ich verlange etwas, das leichter zu beschaffen ist als eine Million.« – »Etwas für sich selbst, Majestät?« fragte Mazarin, in der Erwartung, daß nun endlich die Rede auf Maria Mancini kommen würde. – »Nein, nicht für mich, sondern ebenfalls wieder für meinen Vetter Karl.« – »Majestät!« unterbrach Mazarin ihn in strengem Tone, »ich weiß sehr wohl, was nun kommen soll. Soll ich Ihnen wiederholen, was der Brite zu Ihnen gesprochen hat. ›Wenn dieser Geizhals,‹ hat er gesagt, ›dieser filzige Italiener –‹ – »Nicht doch, Eminenz!«
»In diesem Sinne hat er sich ausgedrückt, vielleicht genau in diesen Worten,« fuhr Mazarin unbeirrt fort. »Ich bin ihm deshalb nicht böse, Sire. Jeder Mensch sieht durch die Brille seines Temperaments. ›Wenn dieser filzige Italiener,‹ hat er also gesagt, ›Ihnen die Million verweigert, ob aus wirklichem Geldmangel, ob aus politischen Rücksichten, so fordern Sie für mich fünfhundert Mann –‹«
Der König sah den Kardinal betroffen an. Mazarin fuhr fort: »›Wenn sie Frankreichs Banner, französische Uniformen um mich geschart sehen,‹ – so hat Karl II. gesprochen – ›dann wird der Sieg mein sein. Ihnen aber wird die Ehre gehören.‹ Und das hat er wahrscheinlich noch mit ein paar Phrasen aufgeputzt, denn die ganze Familie ist geschwätzig; der König hat sich sogar noch auf dem Schafott als Schwätzer gezeigt.« – Ludwig war entrüstet, als er seinen Blutsverwandten so beschimpfen hörte, allein er wußte nicht, was er Mazarin entgegnen sollte. »Herr Kardinal,« antwortete er, »ich habe nie an Ihrem Scharfblick gezweifelt, und Sie haben im Grunde auch hier wieder richtig geraten; allein es handelt sich nicht um 500, sondern nur um 200 Mann. Ich war überzeugt, Sie würden meinem Vetter Karl eine solche Kleinigkeit nicht abschlagen.«
»Majestät,« erwiderte Mazarin, »ich treibe nun schon 30 Jahre lang Politik: erst unter Richelieu und nun selbständig. In dieser Politik habe ich nicht immer das Gebot der Ehrlichkeit befolgt, das gebe ich gern zu, aber ungeschickt waren meine Schachzüge nie. Die Politik jedoch, die Eure Majestät in diesem Augenblick befolgen will, ist beides zugleich: unredlich und ungeschickt.« – »Unredlich, Eminenz?« brauste der König auf. – »Sire, wir haben einen Vertrag mit Cromwell geschlossen, und dieser Vertrag besteht, obwohl Cromwell tot und sein Sohn das Protektorat niedergelegt hat, dennoch zu Recht. Warum wollen Sie ihn nun umgehen, Sire? Es hat sich ja noch nichts geändert in England. Das Unrecht würde auf unserer Seite sein. Ein Krieg könnte daraus entstehen; denn ob Sie 500 oder 200 Mann nach England schicken, das bleibt sich gleich. Ja, eine einzige französische Uniform repräsentiert in solchem Falle schon die ganze Nation, stellt eine Armee vor. Karl II. wird bereits von Holland beschützt. Nun, lassen Sie doch Holland mit ihm fertig werden. Lassen Sie doch England und Holland um seinetwillen aneinandergeraten und sich befehden. Es sind die beiden einzigen Seemächte, und sie mögen getrost ihre Flotten gegeneinander aufreiben. Aus den Trümmern bauen wir uns Schiffe. Nein, nein, Majestät, lassen Sie die Finger davon! Karl II. gibt Ihnen nicht die geringste Gewähr für einen vorteilhaften Ausgang des Unternehmens, und was er als Heerführer leisten kann, das hat er bei Worcester bewiesen.«
»Dort focht er gegen Cromwell, und Cromwell ist nicht mehr,« versetzte Ludwig. – »Aber Monk ist noch da, und der ist noch gefährlicher als Cromwell,« antwortete die Eminenz. »Cromwell war ein Bierwirt und zugleich ein Schwärmer. In Augenblicken der Begeisterung, der Verzückung deckte er seine ganze Seele auf. Aber Monk! O, Gott bewahre Eure Majestät vor Monk! Wegen dieses Menschen habe ich seit einem Jahre graue Haare bekommen. Monk offenbart uns nie, was in seiner Seele vorgeht, was für Ziele er verfolgt. O, fallen Sie nur nicht diesem verschlossenen, starrsinnigen Politiker in die Hände, der nicht nur Politiker, sondern auch Soldat und Feldherr ist. Sein Helm ist ein eiserner Koffer, der alle seine Pläne enthält, und den Schlüssel dazu hat kein Mensch. Und ebenso soll Karl II. sich ja hüten, mit Monk zusammenzugeraten, es würde vernichtend für ihn ablaufen. Majestät könnten Ihrem Vetter allenfalls eine Jahresrente aussetzen und eins Ihrer Schlösser zur Wohnung überlassen – doch nein! auch das können Majestät nicht, denn der Vertrag mit England enthält für Sie ausdrücklich die Verpflichtung, Karl II. nicht in Ihrem Lande aufzunehmen.«
»Halt!« rief Ludwig dazwischen, »Sie haben das Recht, mir eine Million und 200 Soldaten zu verweigern, denn Sie sind der leitende Staatsmann meines Reichs, aber Sie haben nicht das Recht, mir Gastfreundschaft gegen meinen Vetter zu verbieten. Hier endet Ihre Macht, hier beginnt mein Wille.« – »Majestät,« antwortete der Kardinal, der froh war, seinen Zweck soweit erreicht zu haben, »den Willen meines Königs werde ich stets respektieren. Geben Sie Karl II. Obdach auf einem Ihrer Schlösser, Mazarin darf darum wissen, der Minister allerdings nicht.« – Mit einem flüchtigen Gruß entfernte sich der König. Er fand Karl II. in fast unveränderter Haltung auf dem gleichen Fleck sitzend. Der Brite stand auf und sah den Franzosen prüfend an. »Sie bringen mir keine gute Nachricht,« sprach er, »doch gleichviel, Sie sind gut und freundschaftlich zu mir gewesen, und das werde ich Ihnen nie vergessen.« – »Es muß allerdings leider bei meinem guten Willen bleiben,« antwortete Ludwig traurig. – Karl wurde blaß und taumelte ein wenig. »Dann habe ich nichts mehr zu hoffen,« murmelte er und machte eine Bewegung, als wollte er gehen. – »Uebereilen Sie nichts, Vetter,« rief Ludwig, ihn zurückhaltend. »Begeben Sie sich auf eines meiner Schlösser und warten Sie ab, wie die Dinge sich entwickeln werden. Wir können dann gelegentlich beraten, was weiter zu tun ist.«
Karl trat zurück. »Ich habe den größten König der Erde erfolglos um Hilfe gebeten,« sprach er in schmerzlichem Tone, »nun kann ich nur noch Gott um ein Wunder bitten.« – Er verneigte sich und ging in stolzer Haltung, mit dem Ausdruck tiefsten Schmerzes in den Zügen, hinaus. Der Musketier-Leutnant schritt ihm auf dem Korridor mit einer Fackel voran. An der Tür richtete der verstoßene König das Wort an den Offizier. »Sie sagen, Sie haben meinen Vater gekannt?« sprach er, »vielleicht haben Sie für ihn gebetet. Ist dem so, dann vergessen Sie auch mich in Ihren Gebeten nicht. Begleiten Sie mich nicht weiter!« – Der Offizier verneigte sich und kehrte mit seinen Musketieren ins Schloß zurück. – »Ein erbärmlicher Dienst!« brummte er vor sich hin. »Ich habe es satt, mich für einen König aufzureiben, der am Gängelbande eines Ministers und einer Mutter hängen bleibt.«
Er trat eben ins Vorgemach, als aus dem Innenzimmer jemand ihn rief. – »Was gibt's?« versetzte er. – »Der König will Sie sprechen,« war die Antwort. – »Hollah!« murmelte der Recke, »vielleicht wird's nun doch anders.«
4. Kapitel. Maria von Mancini
Als der König den Offizier eintreten sah, entließ er den Kammerherrn und Kammerdiener, schritt einige Male im Zimmer auf und ab, wie jemand, der gern reden möchte, aber den rechten Anfang nicht findet, und blieb schließlich vor dem Haudegen stehen, der in kerzengerader Haltung vor ihm stand und ihn fest ansah. Nach einer Pause drehte sich der König wieder um und began von neuem hin und her zu schreiten. – »Er hat nicht für einen Heller Courage,« murmelte der Leutnant in seinen Schnauzbart. »Er ist nicht nur hochmütig und geizig, sondern auch furchtsam. Der Teufel hole solch einen Dienst.« – Endlich blieb Ludwig abermals stehen, und jetzt öffnete er zögernd die Lippen und sprach: »Leutnant, hören Sie mich an.« – »Ob nun doch einmal eine Probe von persönlichem Willen und Mut kommen soll?« dachte der mit dem Schnauzbart bei sich, warf die grauen Locken in den Nacken und schnarrte: »Zu Befehl, Majestät.«
»Morgen früh um 4 Uhr,« sagte Ludwig, »setzen Sie sich aufs Pferd und halten ein zweites für mich in Bereitschaft, aber keins aus meinem Marstall, sondern eins von Ihren Leuten. Sie werden mich begleiten.« – »Zu Befehl. Habe ich Eure Majestät abzuholen oder zu erwarten?« – »Sie erwarten mich an der kleinen Pforte des Parks.« – Der Leutnant verneigte sich stumm, und da er wußte, daß der König nun alles gesagt hatte, was zu sagen war, verließ er das Gemach und kehrte in seine Wachtstube zurück. »Das ist doch wenigstens was,« sprach er zu sich selbst. »Der König in ihm bleibt doch eine Null, aber der Mensch in ihm rafft sich nun doch einmal auf. Mazarin hat heute abend ganz laut und deutlich gesagt, so daß der König es hören mußte: ›Meine Nichten reisen auf dem linken Ufer und kommen morgen früh über die Loire-Brücke.‹ Damit hängt das zusammen. Es ist sonnenklar. Er soll ja ganz vernarrt sein in die italienische Zierpuppe. Er soll schon einmal seine Mutter fußfällig gebeten haben, sie ihm zur Frau zu geben.« – Wenige Minuten später schlief der Leutnant schon fest in seinem Stuhle.
Die ersten Sonnenstrahlen fielen kaum in die Baumwipfel des Parks, als der junge König aufstand, sich selbst ankleidete, indem er den Diener ruhig schlafen ließ, und, ans Fenster tretend, auf den Schloßhof hinabsah. Die große Uhr unten zeigte schon ein Viertel auf fünf. Durch das Geräusch geweckt, trat der Diener herein, aber der König schickte ihn zurück und befahl ihm strenges Schweigen. Dann ging er die Treppe hinunter und verließ das Schloß durch eine Seitentür. An der Mauer wartete der Offizier mit den Pferden. Der König schwang sich in den Sattel, und beide trabten der Brücke zu.
Am jenseitigen Ufer angelangt, hielt der König an. »Herr Leutnant,« befahl er, »reiten Sie voraus, und wenn Sie eine Kutsche bemerken, kommen Sie zurück und melden es mir; ich warte hier.« – »Was für eine Kutsche soll es sein?« – »Ein Reisewagen mit zwei Damen und wahrscheinlich auch ein paar Zofen.« – »Sonst kein Kennzeichen?« – »Allenfalls noch das Wappen des Kardinals.« – »Sehr wohl, Majestät,« antwortete der Offizier und ritt davon. Kaum war er fünfhundert Schritt weit, so erblickte er eine mit vier Maultieren bespannte Kutsche, der eine zweite folgte. Er kehrte sofort zum König zurück.
»Gut,« sagte der König, als er die Meldung vernahm, »tun Sie den Damen kund, ein Kavalier wünsche mit ihnen ohne Zeugen zu sprechen.« – »Potzblitz,« brummte der Offizier vor sich hin, indem er fortritt, »ich beklage mich über meine unbedeutende Stellung, und jetzt bin ich mit einem Schlage zum Vertrauten des Königs avanciert.« – Er ritt an den Wagen heran und entledigte sich seines Auftrags.
Es saßen zwei Damen im Wagen, die eine von ihnen war außergewöhnlich schön, wenngleich ein wenig hager, die andere weniger hübsch, aber doch auch anmutig, und nach der charakteristisch geformten Stirn zu schließen, auch von sehr energischem, herrschsüchtigem Temperament.
Ohne zu zögern, wendete der Leutnant sich an die letztere, obwohl die erstere durch ihre große Schönheit vielleicht den Vorzug verdient hätte. – »Meine Damen,« sprach er, »ich bin ein Leutnant im Dienste eines Kavaliers, der dort hinten auf der Landstraße auf Sie wartet und darum bitten läßt, Ihnen seine Reverenz machen zu dürfen.« – Die jüngere Dame mit den kohlschwarzen Augen stieß einen Schrei aus, der freudige Ueberraschung verriet; sie neigte sich zum Wagen heraus und sah nun auch schon den Kavalier, von dem die Rede war, heransprengen. Sie streckte die Arme aus und rief: »Ach, meine liebe Majestät!« Dabei rannen ihr die Tränen über die Wangen.
Der Kutscher hielt an, die Zofen standen verlegen auf, und die zweite Dame machte eine spöttische Verbeugung und verbarg unter einem diskreten Lächeln nur schlecht ihre Eifersucht. – »Marie, liebe Marie!« rief der König und streckte die Hand aus. Die Dame, aus dem Wagen gleitend, sank ihm in die Arme. Ludwig hielt sie fest umschlungen und gab dem Kutscher einen Wink weiterzufahren. Er überließ sein Pferd dem Offizier, der stumm, doch aufmerksam an seiner Seite geblieben war. Maria von Mancini brach zuerst das Schweigen. »Majestät verlassen mich also doch nicht?« rief sie. »Man hat mir gesagt, Sie würden bald nicht mehr an mich denken.« – »O, Marie, wir sind von Menschen umgeben, die uns entzweien wollen.« – »Aber weshalb geschieht diese Reise nach Spanien, Sire?« versetzte Maria, doch nur, um Sie zu verheiraten!« Bei diesen Worten blitzten ihre Augen wie ein aus der Scheide gezogener Dolch. – »Marie, fußfällig habe ich meine Mutter gebeten, mich nicht von dir zu trennen, ja, ich habe ihr sogar gedroht, und als dies alles fruchtlos blieb, verlangte ich wenigstens Aufschub meiner Vermählung mit der Infantin. Auf alle meine Tränen hat man mit Staatsgründen geantwortet, und was kann ich tun, wenn so viele sich gegen mich verbünden?« – »Dann muß ich Ihnen also auf ewig Lebewohl sagen, Sire, denn Sie wissen recht wohl,« antwortete die Italienerin, »man verbannt mich, man begräbt mich lebendig, man will auch mich vermählen. Sie sprechen von Staatsgründen, Sire. O, ich weiß recht wohl, der Kardinal hätte schließlich nachgegeben, wäre er doch durch mich der Oheim des Königs geworden! Ja er hätte sicherlich jeden fremden Widerstand überwunden, selbst einen Krieg nicht gefürchtet, um dieses Ziel zu erreichen. Als Oheim des Königs hätte er für immer die Gewißheit gehabt, daß ihm niemand das Staatsruder entreißen könne. O, jawohl, Sire, mit den Staatsgründen hätte Mazarin schon fertig zu werden verstanden.« –
Ludwig erblaßte und biß sich auf die Lippen. Es schien fast, als wenn diese Worte seine Leidenschaft dämpften, statt sie zu steigern. – »Ich sehe trotzdem keinen Ausweg mehr,« sagte er achselzuckend, »nichts kann uns noch helfen.« – »Außer Ihrem eigenen Willen, Majestät,« erwiderte Maria. – »Habe ich denn einen Willen?« versetzte der König. »Mein Wille wird von der Politik, von Staatsrücksichten diktiert.« – »Sie lieben mich eben nicht mehr,« sprach die Mancini, »wo Liebe ist, da ist auch ein Wille.«
Ludwig sah zu Boden, wie ein Verurteilter. Ein langes Schweigen folgte. – »So soll ich Sie morgen schon nicht mehr sehen!« fuhr die Schöne fort. »Soll fern von Paris leben, freudenlos, an der Seite eines mir fremden, alten Mannes. Es ist undenkbar!« Und sie brach in Tränen aus. Auch den König ergriff aufrichtige Rührung, er preßte das Schnupftuch vor den Mund und schluchzte. – »Die Kutschen haben haltgemacht, meine Schwester wartet auf mich,« sagte Maria. »Wir stehen beide am Wendepunkt. Entscheiden Sie, Sire. Soll ich einem andern angehören, als meinem König, meinem Herrn, meinem Geliebten? O, es kostet Sie nur ein Wort, Sire – nur das Wort: Ich will es so! so gehöre ich Ihnen fürs ganze Leben!«
Der König gab keine Antwort. – »Dann ade!« sprach sie. »Ade, Leben, Liebe und Himmel!« – Sie tat einen Schritt, der König hielt sie noch einmal zurück, ergriff ihre Hand und küßte sie. Und auf die schlanken Finger fiel eine Träne aus den Augen des Königs. Maria zuckte zusammen, als ob diese Zähre sie verbrenne.
»Was nützt es, daß sie weinen, Sire,« stieß Maria hervor, »entlassen bin ich dennoch.« – Der König antwortete nicht, er drückte wieder das Taschentuch vors Gesicht und schluchzte laut. Der Musketier-Leutnant gab einen so heftigen Laut des Unwillens von sich, daß die Pferde erschraken. Dann riß Maria von Mancini sich los und eilte zum Wagen. Sie stieg rasch ein, und die Kalesche fuhr davon.
Als sie entschwunden war, wendete der König sich zu dem Offizier. – »Aus!« murmelte er. »Aufgesessen!« – Und sie trabten beide von dannen. Jenseits der Brücke schlugen sie wieder die zum Schlosse führende Straße ein, und um sieben Uhr waren sie zurück. Der Graukopf, dessen scharfem Blick nichts entging, bemerkte, daß an einem Fenster, das zur Wohnung des Kardinals gehörte, die Ecke eines Vorhangs ein wenig gelüftet wurde. Der König hielt an und sprang vom Pferde. – »Unverbrüchliches Schweigen, Leutnant!« rief er seinem Begleiter zu. »Ich weiß, ich kann mich auf Ihre Verschwiegenheit verlassen.« – Der Haudegen verneigte sich. »Würden Majestät mir noch ein paar Minuten Gehör schenken?« antwortete er, und Ludwig, ins Schloß tretend, hieß ihn folgen.
Als sie im Zimmer allein waren, fragte der König: »Was haben Sie mir zu sagen, Leutnant?« – »Majestät,« antwortete jener, »ich muß Sie um eine Gefälligkeit bitten. Mit einem Worte, Sire, gewähren Sie mir huldvollst den Abschied.« – »Wie? Sie wollen Ihren Dienst quittieren?« rief der König erstaunt. – »Ich werde alt, Sire. Seit 35 Jahren trage ich den Panzer, und meine Schultern werden lahm. Ich muß jüngeren Leuten Platz machen. Wer weiß, ob ich nicht in sechs Wochen vor Podagra dienstunfähig bin.« – »Leutnant,« versetzte der König, »Sie sind ja rüstiger und kräftiger als ich. Bisher haben Sie Ihren Posten trefflich versehen und keine Spur von Ermüdung gezeigt. Sie geben nur nicht den wahren Grund an. Weshalb verhehlen Sie ihn mir? Wie soll ich dem besten Soldaten Frankreichs glauben, daß er der Ruhe bedürfe?«
»Sire!« rief der Leutnant in bitterm Tone, »Sie beschämen mich! Sie rechnen mein geringes Verdienst zu hoch an! Inwiefern bin ich denn ein unentbehrlicher, unersetzlicher Mensch? Majestät übertreiben.« – »So sprechen Sie doch aufrichtig, Mann!« entgegnete der König. »Behagt Ihnen der Dienst bei mir nicht mehr? Nur keine Umschweife! das mag ich nicht.« – Der Offizier sah auf und blickte dem König ruhig ins Auge. – »Eine offene Frage erfordert eine offene Antwort,« sprach er. »Ja, Sire, ich will den Dienst meines Königs verlassen, weil ich unzufrieden bin. Wie ich schon sagte, diene ich bereits 35 Jahre meinem Vaterlande und habe für Ihr Haus, Majestät schon manches gute Schwert schartig gemacht. Ihr Vater erkannte meine Fähigkeiten, meinen Mut, meine kriegerischen Eigenschaften, aber Richelieu witterte einen Feind in mir und ließ mich nicht aufkommen. Fünf Jahre lang war ich jeden Tag ein Held – und das ist keine Kleinigkeit. Ich lobe mich nicht selbst, ich führe nur unumstößliche Tatsachen an und berufe mich dabei auf das Urteil von Männern wie Richelieu selbst, der, obwohl mir nie gewogen, dennoch meine Tüchtigkeit anerkannte, Buckingham, Beaufort und Kardinal Retz. Ja selbst König Ludwig XIII. wußte mich zu schätzen, und die Königin hatte eines Tages die Güte, zu mir zu sagen: Ich danke Ihnen. In den Tagen der Fronde war ich der Günstling Mazarins, und man schickte mich nach England zu Cromwell. Das war auch kein sehr erfreulicher Auftrag, aber ich tat mein Bestes und wurde daraufhin zum Kapitän ernannt.«
»Darin irren Sie wohl,« unterbrach ihn der König.
»Nein, Majestät, ich irre nie,« fuhr der Offizier fort, »Mazarin selbst hat mir das Patent ausgestellt, aber Sie wissen ja auch schon, Mazarin gibt selten, und wenn er mal gegeben hat, nimmt er oftmals das Gegebene wieder zurück. So geschah es auch mir, er hat mir das Patent wieder abgenommen. Man hatte mir einmal versprochen, mich an Herrn Trévilles Stelle zu setzen, und wenn ich dessen vielleicht auch nicht würdig war, was man versprochen hatte, mußte man auch halten.« – »Ich bin ein Freund der Gerechtigkeit,« antwortete Ludwig, »Ihre Reklamation gefällt mir. Ich werde mich erkundigen, und man wird Ihnen Rechenschaft geben.« – »Majestät mißverstehen mich,« antwortete der Recke, »jetzt will ich nicht mehr reklamieren.« – »Das ist übertriebene Empfindlichkeit, Mann!« rief der König. »Ich werde mich Ihrer Sache annehmen, und später –«
»O, Majestät!« versetzte der Graukopf bitter, »von diesem Worte »später« lebe ich nun schon 30 Jahre lang, und manche hohe Person hat mich bereits damit vertröstet. Später! Mit diesem Troste bin ich alt und grau geworden, ohne je einen Beschützer zu finden – und doch habe ich so viele Menschen beschützt. Nein, Majestät, ich sehne mich nach Ruhe. Die wird man mir doch gewähren können.« – »Diese Sprache hätte ich von Ihnen nicht erwartet,« unterbrach ihn der König. »Wenn ich sage: »später«, so heißt das soviel wie: »Ganz gewiß.« – »Majestät haben mir selbst befohlen, ohne Umschweife zu sprechen,« versetzte der Haudegen. »Ich bin kein Freund vom vielen Reden, aber wenn ich mal rede, dann sage ich auch alles, was ich auf dem Herzen habe. Majestät, die Zeit, in der ich lebe, gefällt mir nicht. Die Jugend ist zaghaft und arm, während sie reich und mächtig sein sollte. Gestern abend ließ ich den König von England hier ein, dessen Vater ich beinahe das Leben gerettet hätte, wenn nicht Cromwell mir in den Weg getreten wäre. Ich ließ ihn zu seinem königlichen Bruder, dem König von Frankreich, und – ach, Sire, das Herz blutet mir! – der König von Frankreich läßt es geschehen, daß sein Minister den Geächteten verstößt. Ach, und mein junger, kühner Monarch, dem ein so feuriges, mutiges Herz im Busen wohnt, demütigt sich vor diesem Pfaffen, der das Gold Frankreichs in seinen Truhen aufhäuft. Ja, ich verstehe den Blick, den Eure Majestät auf mich werfen. Ich treibe meine Kühnheit bis zur Vermessenheit; ich sage Ihnen Dinge ins Gesicht, die vor mir noch kein Mensch einem König ungestraft sagen durfte. Aber ich bin ein alter Krieger und schütte hier vor Ihnen die seit dreißig Jahren angehäufte Galle aus, so wie ich mein Blut bis auf den letzten Tropfen für Sie vergießen würde.« Er schwieg und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Nach kurzem Schweigen antwortete der König: »Leutnant, andere mögen vergeßlich gewesen sein, ich bin es nicht. Ich will es Ihnen beweisen. Ich erinnere mich eines Tages, an dem eine empörte Menschenmenge gleich einem brandenden Meer in den königlichen Palast eindrang. Ich tat, als schliefe ich, und ein einzelner Mann stand mit gezücktem Degen vor meinem Bett und beschützte mich, indem er sein eigenes Leben für mich aufs Spiel setzte, wie er es schon manches Mal für mein Haus getan hatte. Damals fragte ich diesen Edelmann nach seinen Namen. Er hieß d'Artagnan.« – »Majestät haben ein gutes Gedächtnis,« antwortete der Offizier kalt. – »Sie sehen also, ich erinnere mich dieser Begebenheiten aus meiner Kindheit,« fuhr der König fort, »Meinen Sie auch nun noch nichts von der Zukunft hoffen zu sollen? Wollen Sie nicht in einem Punkte meinem Beispiel folgen?« – »In welchem, Majestät?« – »Indem Sie warten, wie ich warten muß.« – »Sire, Sie können warten, Sie sind jung, aber ich habe keine Zeit mehr dazu. Das Greisenalter steht vor meiner Tür, der Tod guckt schon in mein Haus hinein.«
»Sie halten also Ihr Abschiedsgesuch aufrecht?« fragte Ludwig, erregt auf und nieder schreitend. – »Ich lege es Eurer Majestät untertänigst zu Füßen.« – »Gut. Sie sind verabschiedet. Ich werde Ihnen das Ruhegehalt anweisen lassen.« – »Ich bin Eurer Majestät dankbar dafür.« – »Herr Leutnant,« sagte der König, »ich glaube, Sie verlieren einen guten Herrn. Ob Sie je wieder einen solchen finden werden?« – »Gewiß nicht, Majestät. Auch werde ich bei keinem König der Erde mehr Dienst nehmen.« – »Ist das Ihr Ernst? Ich werde Sie beim Wort halten, und Sie wissen, ich habe ein gutes Gedächtnis.« – »Ich weiß, Sire, und dennoch wünschte ich, das Gedächtnis ließe Eure Majestät in dieser Stunde im Stich; denn ich habe vor Ihnen Erbärmlichkeiten auskramen müssen, die des Erinnerns nicht wert sind. Doch Eure Majestät sind ja über alles Armselige und Geringe weit erhaben und werden es bald vergessen haben.«
»Meine Majestät,« antwortete der junge König mit Würde, »wird es machen wie die Sonne: Groß und klein sehen, und den einen Glanz, den andern Wärme, allen aber Leben spenden. Leben Sie wohl, d'Artagnan!« – Ludwig XIV. wendete sich rasch ab und trat ins Nebenzimmer. D'Artagnan stülpte den Hut auf den Kopf und stampfte hinaus.
Wenige Minuten später trat ein Bote des Königs beim Kardinal Mazarin ein und überreichte diesem einen Brief Seiner Majestät. Die Eminenz öffnete das Schreiben mit einem hoffnungsvollen Lächeln. Mazarin wußte um den Morgenausflug Ludwigs und glaubte nun nichts anderes, als daß sein erhabener Zögling in ihn dringen würde, ihm trotz allem noch die Hand Marias zu gewähren.
Beim Lesen aber verfärbte sich Mazarins Gesicht; er sah sich in seiner Rechnung getäuscht.
»Eminenz!« lautete das Schreiben, »ich danke es Ihrem Rat und Ihrer Konsequenz, daß ich nun glücklich eine Schwäche überwunden habe, die mich fast verleitet hätte, etwas zu tun, was eines Königs unwürdig gewesen wäre. Sie haben meinen Herrscherweg so fürsorglich geebnet, daß ich nicht daran denken darf, Ihr Werk durch eine voreilige Handlung zu zerstören. Das würde undankbar sein. Ein Mißverständnis zwischen mir und meinem Minister würde überdies für Frankreich nachteilige Folgen haben und auch meiner Familie Schaden bringen. Und zu einem solchen Mißverständnis wäre es gekommen, wenn ich Ihre Nichte geheiratet hätte. Ich werde mich daher nicht länger gegen die Verbindung sträuben, die man für mich plant, und bin bereit, die Infantin Maria-Theresia zu nehmen. Tun Sie die nötigen Schritte. Ihr wohlgeneigter Ludwig.«
Ebenfalls wenige Minuten später wurde der Befehl zur Abreise von Blois gegeben, und Prinz von Condé setzte als nächsten Ruheplatz die Stadt Poitiers an. Auf diese Weise spielte sich binnen einer kurzen Stunde eine Intrige ab, mit der sich fast alle Diplomaten Europas beschäftigt hatten. Ihre einzige greifbare Folge war jedoch, daß ein armer Musketier-Leutnant um seine Stelle und um seinen Verdienst gekommen war. Aber er gewann dafür wenigstens die Freiheit.
5. Kapitel Athos
An demselben Morgen, an dem Ludwig von dem Abschied von Maria zurückkehrte, ritt Karl II., der unglückliche Verbannte, der König ohne Land und ohne Geld, auf der Landstraße dahin. Sein treuer Parry bildete sein ganzes Gefolge. Eine halbe Meile etwa waren sie von Blois entfernt, da begegnete ihnen ein Reiter, der an ihnen vorübersprengte, aber trotz der Eile, in der er sich befand, grüßend den Hut zog. Der König, in düstere Gedanken versunken, hätte diesen Mann, einen Jüngling von etwa 25 Jahren, gewiß nicht bemerkt, wenn er ihm nicht dadurch aufgefallen wäre, daß er sich wiederholt umsah und mit dem Hut winkte. Nun erkannte der König auch, daß der Gruß gar nicht ihm gegolten hatte, sondern dem alten Manne, der vor einem Gitter stand und die Winke des jugendlichen Reiters erwiderte. Karl II. wollte weiterreiten, als Parry nach einem Blick auf diesen alten Mann einen Schrei der Ueberraschung ausstieß. Im selben Augenblick war dieser Greis auch auf die beiden fremden Reiter aufmerksam geworden, sah von dem älteren zum jüngeren hin, stieß ebenfalls einen Schrei aus, faltete die Hände und verneigte sich mit allen Zeichen tiefster Ehrerbietung.
»Mein Gott, Parry!« stammelte der König, »dieser Alte scheint mich zu kennen. Wer kann das sein?« – »Sire,« antwortete Parry, »so ist es auch. Gestatten Eure Majestät, daß ich ihn anspreche! Grimaud, sind Sie es wirklich?« rief er und trieb sein Pferd dicht vor das Tor. – »Ich bin es,« antwortete der Greis, sich aufrichtend.
– »Sire« rief Parry, »ich hatte richtig gesehen. Dies ist der Diener des Grafen de la Fère, des würdigen Kavaliers, der dem Gedächtnis Eurer Majestät so teuer sein muß.« – »War das nicht der Mann, der meinem Vater in seinen letzten Augenblicken beistand?« fragte Karl, erbebend. »O, sagen Sie!« wendete er sich an Grimaud, »wohnt Euer Herr, Graf de la Fère dort? Und ist er zu Hause?« – »Dort steht er – dort unter den Kastanien.« – »Ich muß ihm persönlich meinen Dank sagen – Freund, haltet mein Pferd.«
Er sprang ab und eilte in den Garten. Als der Graf, der in der Kastanienallee nachdenklich hin und her ging, Schritte vernahm, sah er auf. Beim Anblick eines Unbekannten, der sich durch eine edle Haltung und ein sicheres Auftreten als Kavalier kennzeichnete, nahm er den Hut ab und wartete. Auch Karl entblößte das Haupt. »Herr Graf,« rief er, auf Athos zutretend, »ich bin Ihnen seit langer Zeit Dank schuldig. Ich bin Karl Stuarts Sohn, Karl II.« – Athos erschrak, starrte den Fremden mit seinen großen, blauen Augen an und verneigte sich dann tief. Karl ergriff seine Hand. »Sie sehen keinen König vor sich,« sprach er düster, »sondern einen Unglücklichen, der keinem Menschen die Liebe lohnen kann.« – »Es ist wahr,« sagte Athos, »Eure Majestät sind schwergeprüft.« – »Die schwerste Prüfung steht mir noch bevor,« antwortete der Geächtete. »Gestern noch hatte ich Hoffnung. Mein Vetter, der Statthalter von Holland, hatte mir seine Hilfe zugesagt, wenn Frankreich den ersten Schritt täte. Von Frankreich habe ich nun eine Million Frank und 200 Mann erbeten, mit denen ich alles hätte erreichen können.« – »Und der König hat Ihnen das abgeschlagen?« rief Athos. –
»Der König nicht,« antwortete Karl, »aber der Kardinal Mazarin.« – Athos biß sich auf die Lippe. »Das war nicht anders zu erwarten,« murmelte er, »ich kenne den Italiener seit langem.«
»Nachdem Frankreich seine helfende Hand verweigert, ist alles verloren – ich muß dem Schicksal weichen,« sagte Karl II. – »Majestät, ich möchte Ihnen darin nicht ohne weiteres beistimmen,« versetzte Athos. »Ich habe oft schon erlebt, daß gerade dann, wenn es am schlimmsten stand, eine glückliche Wendung plötzlich eintrat.« – »Danke, Herr Graf. Sie meinen es gut, indem Sie mich trösten,« erwiderte Karl mit der Kürze der Verzweiflung, »aber ich weiß, woran ich bin – für mich ist keine Rettung mehr. Ich reite nach Holland, wo man mir ein kleines Schloß als Exil überlassen will. Möge nur der Tod nicht lange auf sich warten lassen!« – »Wollen Eure Majestät mir noch ein paar Minuten vergönnen und mit mir kommen?« fragte Athos, indem er dem Hause zuschritt. Karl II. folgte ihm.
In seinem Zimmer angelangt, bot der Graf dem König einen Sessel an. »Majestät,« sagte er, »Sie äußerten eben, daß Sie mit einer Million Frank Ihr Reich wiedererobern könnten. Hören Sie mich an! Die Geschichte vom Tode Ihres Vaters muß seinem Sohne allerdings sehr schmerzlich sein, dennoch muß ich jetzt darauf zurückkommen, weil gewisse Umstände, so getreu Ihr Diener Ihnen auch alles erzählt haben mag, außer Gott im Himmel nur mir allein bekannt sind.« – »Sprechen Sie, Herr Graf.« – »Als Ihr Vater das Blutgerüst betrat, war alles zur Flucht vorbereitet, und ich selbst befand mich unter den verhängnisvollen Brettern des Schafotts. ›Geh' auf einen Augenblick fort,‹ sprach der erlauchte Märtyrer zu dem maskierten Henker, ›und komm wieder, wenn ich dir das Zeichen gebe. Ich will erst ungestört beten.‹«
»Eine Frage, Herr Graf!« unterbrach Karl II. ihn, »wie hieß der Elende, der den Henkerdienst verrichtete?«
Athos wechselte die Farbe. »Ich darf seinen Namen nicht nennen,« antwortete er. – »Aber was ist aus ihm geworden? Man weiß in England nichts von seinem Verbleib.« – »Er ist in einer schrecklichen Nacht eines furchtbaren Todes gestorben. Von einem Dolchstoß durchbohrt, rollte er in die Tiefe des Ozeans. Gott möge dem verzeihen, der ihn tötete! Doch weiter. Karl I. sprach ferner noch zu seinem Henker: ›Höre wohl, du führst den Beilhieb erst, wenn ich die Arme öffne und rufe: Remember!« – »Ich weiß,« nickte der Verstoßene vor sich hin, »dies war das letzte Wort meines unglücklichen Vaters. Doch in welchem Sinne sprach er es, in welcher Absicht?« – »Es war an den unter dem Schafott verborgenen Franzosen gerichtet.« – »Also an Sie, Herr Graf?« – »An mich. Und die Worte des Königs, der nun niederkniete und zu mir sprach, klingen mir noch heute in den Ohren. ›Graf de la Fère,‹ sagte er, ›sind Sie da? Sie haben mich nicht retten können, es sollte nicht sein. Vernehmen Sie meine letzten Worte: Ich habe den Thron meiner Väter verloren, aber ich besitze noch eine Million in Gold, die im Keller des Schlosses zu Newcastle vergraben ist.‹«
»O, Herr Graf!« rief Karl II. und nahm die Hände von dem in Tränen gebadeten Gesicht, »eine Million, sagen Sie!« – »›Um dieses Geld wissen nur Sie,‹ fuhr der König fort, ›verwenden Sie es zum Besten meines ältesten Sohnes, wenn Sie die Stunde gekommen glauben. Und nun leben Sie wohl!‹ Darauf klang von seinen Lippen das letzte Wort: › Remember!‹ Und Sie sehen, Majestät, ich habe daran gedacht.« – Der König konnte seine Gefühle nicht mehr niederdrücken; er schluchzte laut auf, und auch Athos fühlte sich von den wiedererweckten Erinnerungen überwältigt. – »Sire,« fuhr er dann fort, »mir scheint, die Stunde, dieses letzte Hilfsmittel zu benützen, ist nun gekommen. Ich wollte mich schon aufmachen und Sie suchen. Nun schickt Gott Sie mir zu.«
»Eine Million im Schloß Newcastle,« murmelte Karl II. »Aber Schloß Newcastle ist zur Zeit von General Monk besetzt. Der Ort, wo Hilfe für mich verborgen liegt, ist in der Hand meines Feindes.« – »General Monk kann den Schatz nicht entdeckt haben,« versetzte Athos. – »Das mag sein, aber soll ich mich in Monks Hände liefern? Ach, so oft ich mich wieder aufrichte, gleich wirft mich das Schicksal wieder zu Boden.« – »Majestät, was Ihnen und Ihrem Diener nicht gelingen kann, vielleicht gelingt es mir. Ich will für Sie nach Newcastle reisen.« – »Sie, Herr Graf, der Sie hier so glücklich leben?« – »Ich bin nie glücklich, solange ich noch eine Pflicht zu erfüllen habe. Und über den verborgenen Schatz zu wachen, hat mir Ihr Vater als heilige Pflicht übertragen. Es bedarf nur eines Winkes von Eurer Majestät, und ich gehe.«
Alle Etikette vergessend, fiel der König dem Grafen um den Hals. »Sie beweisen mir,« rief er, »daß es einen Gott im Himmel gibt, der die Unglücklichen nicht vergißt.« – Athos trat ans Fenster und rief hinaus: »Grimaud, die Pferde!« – »Sie wollen –?« fragte Karl II. »Aber, Herr Graf, ich bin nicht imstande, solche Dienste zu belohnen.« – »Majestät scherzen,« war die Antwort. »Sie besitzen doch eine Million. Einstweilen habe ich noch einige Rollen Geld und ein paar Familienbrillanten. Majestät werden mir die Ehre erweisen, mit einem treuen Diener zu teilen.« – »Mit einem Freunde,« antwortete der König: »Unter der Bedingung, daß dieser Freund später auch mit mir teilt.« – Die Freude färbte zum ersten Male seit langer Zeit wieder die bleichen Wangen Karls II. Grimaud führte die reisefertigen Pferde vor. – »Blaisois!« rief Athos seinem Diener zu, »dieser Brief ist an den Grafen von Bragelonne zu befördern. Ich reise nach Paris – halte gut Wirtschaft.«
6. Kapitel Herr d'Artagnan sucht seine Freunde
Zwei Stunden nach der Abreise des Hausherrn ritt ein Reiter vor. Blaisois erkannte ihn und rief: »Der Chevalier d'Artagnan! Geschwind, ihr andern, macht das Tor auf!« – Acht dienstfertige Burschen, über die nun Blaisois als Gebieter gesetzt war, eilten hinaus und ließen den Ankömmling herein. – »Wo ist der liebe Graf?« rief dieser, bereit, sich aus dem Sattel zu schwingen. – »Der gnädige Herr hat wirklich Unglück,« antwortete Blaisois, »der Herr Graf ist vor zwei Stunden weggeritten.« – »So warte ich,« antwortete d'Artagnan ruhig. – »Da könnten Sie lange warten, Herr Chevalier, denn es handelt sich um eine lange Reise, von der der Graf sobald nicht wiederkommen wird. Der Herr Graf hat das Haus meiner Obhut anvertraut, und das tut er nur, wenn er lange wegbleiben will. Als Reiseziel nannte er mir Paris.« – »Mehr brauche ich ja nicht zu wissen. Und zwei Stunden ist er voraus?« Mit diesen Worten saß der Chevalier schon wieder im Sattel. »Ist er allein?« – »Nein, zwei Männer, die ich nicht kenne, sind bei ihm, ein alter und ein junger, und dann noch Herr Grimaud. Doch einen Augenblick noch, gnädiger Herr!« setzte Blaisois hinzu und hielt das Pferd fest, »die Sache mit Paris ist nur ein Vorwand gewesen – ich weiß das genau –« – »Nun, zum Teufel, wo will er sonst hin?« – »Das ist's ja eben, Herr – ich habe keine Ahnung. Paris ist es nicht, denn Grimaud hat mir mal geschworen, wenn er je nach Paris gehe, für mich etwas an meine Frau mitzunehmen, von der ich getrennt lebe. Jetzt hätte er also ganz bestimmt dieses Versprechen ausgeführt, denn Grimaud denkt an seine Versprechen, das wissen Sie ja. Daran habe ich erkannt, daß es in Wahrheit nicht nach Paris geht.« – »Und wohin sonst, das kannst du mir auch nicht sagen?« rief d'Artagnan. »Nun, das fängt ja wieder gut an. Adieu!« Er riß sein Pferd herum und sprengte von dannen.
»Sollte Athos wirklich auf die Reise gegangen sein? Er hat den Teufel mit seiner ewigen Geheimniskrämerei! Vielleicht kann ich ihn für meine Zwecke doch nicht brauchen. Ein schlauer Kopf, ein andauernder Geist – das ist's, was ich brauche, und das finde ich nur in einem gewissen Pfarrhause zu Melun. Also auf, dorthin. Vier und einen halben Tag zu reiten. Doch das macht nichts, es ist ja schönes Wetter.« –Vier Tage später traf er denn auch in Melun ein. D'Artagnan pflegte unterwegs nie in geringfügigen Dingen um Auskunft zu fragen, und solange er sich nicht völlig verirrt hatte, verließ er sich stets auf seinen oft bewährten Scharfsinn und auf seine dreißigjährige Erfahrung. Er fand das Pfarrhaus sogleich, denn die Häuser erkannte er an ihrem Aeußern ebenso sicher wieder wie die Menschen. Aus dem Erdgeschoß erscholl ein Summen von Stimmen, als wenn Kinder das Alphabet buchstabierten, und eine tiefere Stimme schien ihre Fehler zu korrigieren. Diese Stimme erkannte d'Artagnan; er ritt heran, steckte den Kopf durch das Weinlaub am Fenster und rief: »Guten Tag, lieber Bazin!«
Ein kleiner dicker Mann mit breitem Gesicht und einer Tonsur auf dem Haupte, fuhr von seinem Platze in die Höhe, als wenn eine Nadel ihn gestochen hätte. »Sie hier?« rief er erstaunt, »Herr d'Artagnan?« – »Ja, ich bin's. Wo ist Aramis oder vielmehr Chevalier d'Herblay oder noch richtiger, der Herr Generalvikar?« – »Ihro Gnaden sind in ihrer Diözese,« antwortete Bazin.
»Was? Aramis hat eine Diözese.« – »Freilich! Warum sollte er keine haben?« – »Er ist also jetzt Bischof?« – »Na, gnädiger Herr, wissen Sie denn das nicht?« – »Wir Leute vom Degen wissen wohl, wenn jemand Marschall wird, aber wir fragen nicht danach, wer Bischof und wer Papst wird.« – »Still! still!« rief Bazin, »reden Sie nicht so vor den Kindern hier.«
Die Kinder hatten inzwischen Herrn d'Artagnan umringt und staunten sein Roß, sein Schwert und seine Sporen an. Bazin jagte sie mit Schlägen in die Schulstube zurück. – »Wo ist die Diözese deines Herrn?« rief der Haudegen. – »Monseigneur René ist Bischof von Vannes.« – »Wer hat ihm denn dazu verholfen?« –
»Der Herr Oberintendant, unser Nachbar.« – »Was? Fouquet? Also steht sich Aramis gut mit ihm?« – »Er hat dort alle Sonntage gepredigt und ist später mit dem Herrn Oberintendanten immer auf die Jagd gegangen?« – »So, so! Und nun ist er in Vannes? Warum bist du nicht mit deinem Herrn gegangen? Wie lange ist er dort?« – »Seit einem Monat. Ich habe hier doch so viel zu tun. Da kann ich doch nicht weg.« – »Wie? Bist du denn gar Priester geworden?« – »Noch nicht. Da nun aber der gnädige Herr fort ist, wird's damit nicht mehr lange dauern,« antwortete Bazin, sich die Hände reibend.
»Laß mir was zum Abendbrot zurechtmachen, Bazin!« rief d'Artagnan, »und besorge meinen Gaul, wenngleich ihr hier wohl nicht mit Pferden umzugehen versteht.« – Bazin betrachtete das Pferd ziemlich geringschätzig. – »Der Herr Oberintendant,« antwortete er, »hat vier Pferde aus seinem Marstall hergeschickt, die alle mehr wert sind als Euers hier. Junge!« rief er einem seiner Schüler zu, »lauf und sag' der Köchin, sie solle ein kaltes Huhn herrichten.« – Diese Worte besänftigten den Soldaten wieder, der über die Beleidigung seines Rosses schon außer sich geraten wollte. »Sieh da!« sagte er, »wenn der Herr Oberintendant so viele Pferde hat, so hat er wohl auch Musketiere.« – »Jedenfalls hat er Geld genug, alle Musketiere des Königs zu unterhalten,« versetzte Bazin prahlerisch.
Da das Abendessen inzwischen fertiggemacht war, trat der Reitersmann in die Küche und ließ sich's gut schmecken. Während des Essens versuchte d'Artagnan, Bazin über alles mögliche auszufragen, aber er hatte damit wenig Glück. Bazin war auf seiner Hut und ließ die Neugierde seines Gastes unbefriedigt. Obwohl das Bett, das ihm angewiesen wurde, in seiner Art fast noch härter war, als das gebratene Huhn gewesen, so fürchtete sich d'Artagnan doch ebensowenig davor, sondern streckte sich behaglich aus und brauchte nicht mehr Zeit dazu einzuschlafen, als er zum Abnagen des letzten Hühnerknochens gebraucht hatte.
Am andern Morgen war d'Artagnan bei früher Stunde schon wieder unterwegs. Sein nächstes Ziel war Pierrefonds, wo er endlich einen Freund und eine volle Geldkiste zu finden hoffte. Er ritt an dem Schlosse des Herzogs Ludwig von Orléans vorbei – einer mittelalterlichen Burg mit dicken Mauern und hohen Türmen – und erblickte am Morgen des dritten Tages am Ufer eines großen Teichs und am Saume eines herrlichen Waldes das Schloß seines Freundes Porthos. Als er in den Wald hineingeritten war, sah er wenige Schritte vor sich einen großen Kasten, der sich auf zwei Rädern bewegte und von zwei Lakaien geschoben, von zweien gezogen wurde. Der unförmige Gegenstand, der sich darin befand, war zunächst nicht zu erkennen, dann glaubte d'Artagnan, es sei ein Faß, und dann, als er noch näher kam, ward ihm klar, daß es ein fabelhaft aufgedunsener Mensch war, der das ganze Innere ausfüllte. Und dieser Mensch war Mousqueton – Mousqueton mit weißen Haaren und rotem Gesicht.
»Wahrhaftig, das ist ja Mousqueton!« rief er aus. »Heda, Freund!« – »Was?« schrie der Dicke. »Herr d'Artagnan! Haltet an, Kerle! O, verehrter Herr! Ich kann Ihre Knie nicht umfassen, ich bin ein Krüppel geworden.« – »Das bringt das Alter mit sich, Freundchen.« – »Nein, ich hab's vom Herzeleid!« stöhnte Mousqueton. »Ach, meine Beine wollen mich nicht mehr tragen.« – »Du fütterst sie zu gut.« – »Jenun, ich habe für meinen Körper stets getan, was in meinen Kräften stand. Ich bin nie einseitig gewesen. Aber wie wird sich der gnädige Herr freuen, daß Sie mal wieder an ihn gedacht haben! Das muß ich ihm gleich schreiben.« – »Was? Schreiben? Also ist er nicht hier? Wo ist er denn? Weit weg oder in der Nähe?« – »Das weiß ich nicht,« antwortete Mousqueton.
»Potzblitz! welch ein Pech! Der Stubenhocker Porthos ist ausgeflogen!« rief d'Artagnan und schlug sich auf den Schenkel. – »Allerdings. Unser Herr pflegt selten auszugehen, aber wenn man von einem Freunde aufgescheucht wird –« – »Von wem denn?« – »Von Chevalier d'Herblay.« – »Was du sagst! Aramis hat Porthos aufgescheucht? Wie ging denn das zu?« – »Lassen Sie sich erzählen,« berichtete Mousqueton, »Herr d'Herblay hat an den gnädigen Herrn einen Brief geschrieben, der ihn ganz außer Rand und Band gebracht hat. Das war vor etwa acht Tagen. Er schlug förmlich um sich – na, und Sie wissen ja! Ueberhaupt jetzt! er ist auch nicht mehr so gut auf den Beinen, da hat sich alle Kraft in die Arme gezogen –« – »So daß er also noch jetzt einen Ochsen zu Boden schlagen kann, wie früher.« – »Ganz recht. Kaum hatte der gnädige Herr den Brief gelesen, so schrie er: ›Geschwind, meine Pferde! Meine Waffen!‹« – »Dann hat es sich wieder um ein Duell gehandelt,« meinte d'Artagnan. – »Mit nichten. Der Brief enthielt nur die Worte: ›Wenn Sie noch rechtzeitig vor der Tag- und Nachtgleiche eintreffen wollen, lieber Porthos, dann wird es nun Zeit, daß Sie sich auf den Weg machen.‹«
»Hm!« brummte d'Artagnan, »dann scheint es ja etwas sehr Dringliches gewesen zu sein. Ob er wohl noch rechtzeitig angekommen ist?« – »Das hoffe ich. Unser Herr ist ja kein Freund von Langsamkeit. ›Donnerwetter!‹ rief er, ›was ist das mit der Tag- und Nachtgleiche? Doch einerlei! Der Kerl muß gut zu Pferde sein, wenn er vor mir ankommen will!‹« – »So meinst du, Porthos sei noch zuerst angekommen?« – »Daran zweifle ich nicht. Bessere Rosse als mein Herr hat niemand.« Mousqueton ließ sich von den Lakaien weiterfahren, und d'Artagnan folgte ihm. Unterwegs stellte er noch viele Fragen, aber es war nichts weiter aus Mousqueton herauszuholen. D'Artagnan schlief in dieser Nacht in einem vortrefflichen Bette. Am andern Tage verließ er denn nun auch Pierrefonds, ohne dort seinen Zweck erreicht zu haben. Und jetzt wußte er nicht mehr, wohin er sich wenden sollte. Gesenkten Hauptes saß er zu Rosse. »Keine Freunde mehr – keine Zukunft mehr!« brummte er vor sich hin. »Alles vorbei! Das Alter kommt, die Jugend ist heidi. Der Tod streckt seine Hand nach mir aus.« Der Gaskogner bebte, so männlich er auch war. – »Ah bah!« rief er auf einmal, spornte sein Roß und schlug einen Galopp an. »Nach Paris!« – Schon am folgenden Tage kam er dort an. Seit er es verlassen, waren zehn Tage verstrichen.
7. Kapitel. D'Artagnans große Idee
Der ehemalige Leutnant stieg vor einem Kolonialwarenladen in der Rue des Lombards ab. Ein stattlicher Mann, der an der Kasse stand und das Geld der Kunden entgegennahm, stieß bei seinem Anblick einen Schrei freudiger Ueberraschung aus. – »Sie sind's, Herr Chevalier!« – »Guten Tag, Planchet!« antwortete d'Artagnan, eintretend. »Schick das Gesindel da weg, ich muß mit dir reden.« Mit diesen Worten meinte er die Laufburschen und Ladendiener, die im Geschäft die Bedienung der Kunden besorgten. – »Heda!« befahl Planchet, »einer besorgt das Pferd des Herrn, einer richtet ihm das Zimmer her, und einer deckt den Abendtisch! Euer Gnaden müssen sich mit dem Gespräch schon noch ein wenig gedulden, ich kann den Laden nicht verlassen,« setzte er hinzu, sich an den Reitersmann wendend. »Um was handelt sich's denn?« – »O, um etwas sehr Angenehmes, gib dich zufrieden.« – »Das freut mich zu hören.« Und Planchet atmete tief auf. Dann widmete er sich wieder dem Publikum. – D'Artagnan, auf einer Kiste sitzend, betrachtete seinen früheren Diener. Der pfiffige Planchet war ziemlich dick geworden, aber sein Gesicht hatte noch immer die charakteristischen Zeichen der Schlauheit, Habgier und Beharrlichkeit, die das überwuchernde Fett nicht zu verwischen vermochte.
Endlich führte der Kaufmann seinen ehemaligen Herrn in sein Zimmer und bot ihm dort ein einfaches, aber trefflich zubereitetes Mahl an. Dazu gab es Anjouwein, welche Sorte d'Artagnan ja von jeher am liebsten trank. – »Ehemals, Herr Chevalier,« sagte Planchet, eingießend, »trank ich Ihren Wein; nun macht es mich glücklich, Sie den meinigen trinken zu sehen.« – »Und ich hoffe, ihn noch lange trinken zu können,« antwortete d'Artagnan. – »Sie sind also beurlaubt?« – »Sogar verabschiedet.« – »Nicht mehr im Dienst? Und der König?« – »Muß ohne mich fertig werden. Doch nun höre mich an. Ich habe dir was zu sagen. Zuerst von Geschäften! Was macht denn unser Geld?« – »O, das steckt noch immer im Geschäft und bringt neun Prozent. Davon gebe ich Ihnen sieben. Bringen Sie frisches?« – »Nein, hast du denn welches nötig?« – »Gott bewahre! Alle Leute wollen jetzt ihr Geld bei mir anlegen. Ich mache nämlich nebenbei noch Bankgeschäfte. Das rentiert sich. Doch von welcher Angelegenheit wollten Sie denn sprechen?«
D'Artagnan kraute sich im Schnurrbart. »Das ist eine lange Geschichte, Freund, und auch schwer zu erzählen,« begann er. – »Handelt sich's um eine Kapitalsanlage?« – »Ja.« – »Und ist was dabei zu verdienen?«
»400 Prozent.« – Planchet schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Flaschen tanzten. – »Jeder steckt 20 000 Livres ins Geschäft,« fuhr d'Artagnan fort. – »Das wäre Ihr ganzes Guthaben, Chevalier,« sagte Planchet. »Und was wird das Geld uns einbringen?« – »Für jeden 50 000 Livres,« – »Das wäre ja fabelhaft!« rief der Kaufmann. »Und wo ist denn das Geschäft zu machen?«
»Nicht hier, sondern in England.« – »Nun, dort blüht freilich die Spekulation. Was ist es denn für eine Art von Geschäft? Ich bin begierig, das Nähere zu erfahren,« und Planchet rückte an d'Artagnan heran.
»Planchet,« begann dieser nach kurzem Schweigen, »du hast doch wohl schon von Karl I. gehört?« – »Ach gewiß, Grimaud hat mir doch erzählt, wie Sie versucht haben, ihn zu retten, wie dann sein Kopf doch fallen mußte, und wie Sie eine halbe Nacht in einem mit Pulver geladenen Schiffe gefahren sind – so etwas vergißt man nicht.« – »Nun, dieser Karl I. hatte einen Sohn.« – »Sogar zwei,« sagte der Krämer. »Den jüngern habe ich mal in Paris gesehen, den älteren aber kenne ich nur dem Namen nach.« – »Um ihn handelt es sich aber gerade, denn er ist jetzt Karl II., König von England.« – »Ein König ohne Königreich,« sagte Planchet in salbungsvollem Tone. – »Ja, und unglücklicher als der ärmste Mann in Paris,« setzte d'Artagnan hinzu.
Planchet zuckte die Achseln. Was ging ihn denn dieser unbekannte Monarch an? Und was hatte das mit der großen Idee des Chevaliers zu tun? Das konnte er nicht begreifen. – »Höre weiter, Planchet,« fuhr sein Herr fort. »Ich sah, wie dieser König als Bettler Hilfe bei Ludwig XIV. suchte und wie man ihm jeden Beistand versagte. Der Stolz, mit dem er seinen Jammer ertrug, hat mir gezeigt, daß er von echt königlichem Sinn beseelt ist.«
»Mein Gott ja,« seufzte Planchet, aber er begriff noch immer nicht, inwiefern das alles mit dem fraglichen Geschäft zusammenhinge. D'Artagnan fuhr fort: »Da bin ich nun auf folgenden Gedanken gekommen. Dieser König ohne Königreich, wie du richtig sagtest, ist ohne Zweifel ein Samenkorn, das, um zu blühen und Frucht zu tragen, nur von der richtigen Hand auf den richtigen Boden gesetzt zu werden braucht. Und das will ich nun tun.«
»Sie wollen ihm also wieder zum Throne verhelfen, wenn ich recht verstehe,« antwortete nun Planchet, und als d'Artagnan nickte, fügte er hinzu: »Haben Sie sich das aber auch reiflich überlegt? In England gibt es jetzt ein von der Nation gebildetes Parlament, das seine eigene Armee hat.« – »Aber wir beide zusammen werden doch eben 40 000 Livres anwenden, um eine Armee ins Feld zu stellen.« – »Eine Armee?« rief Planchet, die Hände zusammenschlagend, als hielte er seinen Herrn für verrückt. »Wie stark soll sie denn sein?« – »Vierzig Mann.« – »Nun, Sie selbst sind zwar so viel wert wie 1000 Mann,« versetzte er, »aber trotzdem sind 40 Mann ein bißchen wenig gegen 40 000. Da verlieren wir gleich die erste Schlacht.« – »Auf eine Schlacht wollen wir uns ja auch gar nicht einlassen,« entgegnete d'Artagnan. »Da du in der neuesten Geschichte Englands ein wenig bewandert zu sein scheinst, wirst du wohl auch wissen, daß Cromwell tot ist, daß sein Sohn das Protektorat niedergelegt hat und ein gewisser General Monk jetzt die erste Geige spielt. Das ist ein sehr geschickter Feldherr, denn er hat sich noch nie geschlagen, und auch ein sehr geschickter Diplomat, denn er spricht nie. Ehe er guten Morgen sagt, sinnt er so lange nach, bis es Zeit ist, guten Abend zu sagen. Und deshalb bewundert ihn nun alle Welt. Nun höre, ich gehe mit meinen vierzig Mann hinüber, packe diesen Monk beim Kragen, schnüre ihn zusammen wie einen Warenballen und bringe ihn nach Frankreich. Hier verlange ich nun für ihn ein Lösegeld von 100 000 Talern oder ich liefere ihn an Karl II. aus. Das letztere erscheint mir als das Bessere, denn wenn Karl diesen Monk nicht mehr zu fürchten hat, steht ihm der Weg zum Throne frei, und er wird die 100 000 Taler mit Kußhand bezahlen.«
»Vortrefflich, Herr Chevalier!« rief Planchet. »Aber es erinnert mich das an die bekannte Bärenhaut, die verkauft werden sollte, ehe sie dem Bären abgezogen worden war. Monk gefangen zu nehmen, ist ein kühnes Unterfangen, das blutige Köpfe kosten wird, soviel Glück Sie auch bisher in derlei gewagten Unternehmungen gehabt haben.« – »Es kann nicht fehlschlagen, Planchet, wenn ich es einmal in die Hand nehme. Für dich ist es ein glänzendes Geschäft, für mich ein famoses Abenteuer, das mir in meinem Alter noch große Ehre machen wird, und darauf bin ich ebenso erpicht, wie du auf Geld.« – »Wenn ich denke, daß ein so toller Plan hier mitten zwischen meinen Backpflaumen und Rosinen geschmiedet worden ist,« sagte Planchet, »dann kommt mir mein Büdchen wie ein Palast vor.« – »Aber hüte dich ja, etwas davon verlauten zu lassen, sonst wandern wir in die Bastille. Monk ist Mazarins Bundesgenosse.« – »Wenn man mit Ihnen zusammen gewesen ist, Herr Chevalier, dann hat man erstens keine Angst und zweitens Schweigen gelernt.«
D'Artagnan nickte, nahm Feder und Papier und schrieb: »Zwischen Chevalier d'Artagnan, Musketier-Leutnant a.D., und Herrn Planchet, Kolonialwarenhändler, wird folgender Vertrag abgeschlossen: Beide begründen eine Geschäftsgesellschaft mit einem Kapital von insgesamt 40 000 Livres, von welchem beide je die Hälfte einzahlen. Das Kapital wird verwendet, um eine von Chevalier d'Artagnan entworfene Idee auszuführen. Herr Planchet kennt und billigt diese Idee und wird Kapital und Zinsen erst dann beanspruchen, wenn Chevalier d'Artagnan aus England zurückkehrt, denn dieses Land ist der Schauplatz des geplanten Unternehmens. Chevalier d'Artagnan hat das freie Verfügungsrecht über das Kapital und kann die ganze Summe in jeder ihm zum Besten seiner Idee genehmen Art verwenden. Wenn jedoch auf irgendeine Weise Karl II. von England wieder auf den Thron gelangt ist, dann zahlt Chevalier d'Artagnan an Herrn Planchet die Summe von...«
Er hielt zögernd inne, und der kluge Kaufmann fiel rasch ein: »Die Summe von 150 000 Livres –« – »Nein, nein,« antwortete d'Artagnan, »zu gleichen Teilen verdienen? Das geht doch nicht gut.« – »Aber wir zahlen doch jeder die gleiche Summe Geldes ein,« meinte Planchet. – »Ja, aber dafür bleibst du hübsch zu Hause, während ich meine Haut zu Markte trage. Sagen wir: du bekommst ein drittel, ich zwei.« – »Na ja, einverstanden.« – Und d'Artagnan schrieb weiter: »Die Summe von 100 000 Livres, während er selbst auf 200 000 Livres Anspruch hat, sofern es ihm gelingt, bei der Ausführung seiner Idee die Summe von 300 000 Livres herauszuschlagen. Aber auch jede andere Summe soll in dieser Weise – zwei Drittel zu ein Drittel – zwischen beiden Gesellschaftern geteilt werden. Zur Beendung des Geschäfts wird die Frist von einem Monat gewährt.«
Diesen Vertrag unterzeichneten beide, dann speisten sie zu Abend, und dann nahm d'Artagnan ein Licht und ging auf sein Zimmer. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf, obwohl er sich, seit er sein eigner Herr war, schon an ruhiges Schlafen gewöhnt hatte. Seine Idee ließ ihm keine Ruhe. Er grübelte darüber nach – er erwog sie nach allen Seiten hin. Und schließlich kam er zu dem Entschluß, nicht vierzig, sondern nur zehn Mann anzuwerben. Erstens, sagte er sich, ist es dann erheblich billiger, und zweitens auch weit ungefährlicher. Wenn jemand mit einer Geleitschaft von 40 Mann erscheint, so erweckt das in kriegerischen Zeiten unter allen Umständen Verdacht. Mit zehn Mann jedoch konnte er unbemerkt auftauchen und verschwinden. Er gedachte sie als bretonische Fischer zu verkleiden, eine Barke zu mieten und dann nach England hinüberzusegeln. Dort wollte er angeben, der Sturm habe ihn verschlagen, und er war der Zuversicht, daß selbst der mißtrauische Monk dann keinen Argwohn schöpfen würde.
Am nächsten Morgen machte er sich auf den Weg nach Calais, und dort gelang es ihm dank seinem Scharfblick und seiner großen Menschenkenntnis in sehr kurzer Zeit unter dem Gesindel von Abenteuerern, Landesflüchtlingen, entlassenen Sträflingen und andern zweifelhaften Menschen, von denen Hafenstädte ja immer angefüllt sind, zehn auserlesene Kerle herauszufinden, die seinen Zwecken entsprachen und mit denen er, wenn er sie gut bezahlte, alles wagen konnte.
Er war es nicht anders gewöhnt, als daß ein General, wenn er mit seiner Truppe auszieht, eine Ansprache hält, und daher hielt er nun auch eine, als er seine kleine Schar vollzählig beisammen hatte. »Leute,« sprach er, »ihr seid vom Schicksal dazu bestimmt, miteinander zu leben, vertragt euch also und brecht euch nicht gegenseitig den Hals! Ich habe euch angeworben, weil ihr mir mutig und standfest erscheint. Ihr sollt nun an einem ruhmvollen Wagestück teilnehmen. Indem ihr für mich arbeitet, leistet ihr dem König einen großen Dienst. Aber vergeßt nicht, daß ihr keinem Menschen eine Silbe davon verraten dürft. Gegen alle andern Menschen seid ihr Fischer, und damit gut. Staatsgeheimnisse, das laßt euch sagen, sind ein tödliches Gift; solange das Gift in einer Büchse fest verschlossen ist, schadet es nichts; kommt es unter die Leute, so ist es von vernichtender Wirkung.
Und so würde auch jeder von euch, der etwas verrät, von meiner Hand ohne Gnade sterben. Tretet dicht um mich herum, damit weder der Vogel, der über uns hinfliegt, noch der Fisch, der aus dem Wasser schnellt, etwas hören kann. Wir haben auszukundschaften, wieviel Schaden der englische Schleichhandel den französischen Finanzen bereitet. Wir sind arme Fischer aus der Picardie, der Sturm hat uns an die englische Küste verschlagen. Nur im äußersten Notfall greifen wir zu den Waffen. Im übrigen haben wir einen mächtigen Beschützer im Rücken. Und somit: Glück auf!«
Vierzehn Tage später befand sich d'Artagnan mit seinen Leuten im Haag, und von hier aus machte er allein einen Ausflug nach dem kleinen Dorf Scheveningen. Dort lag am Meeresstrande das Häuschen, das Wilhelm von Nassau, der Statthalter von Holland, Karl II. als Wohnung eingeräumt hatte. D'Artagnan hatte davon gehört und überzeugte sich nun von der Wahrheit dieses Gerüchts, um zu wissen, wo er im Falle einer glücklichen Rückkehr den König fände. Er sah Karl II. aus seinem Häuschen herauskommen und an den Strand treten. Dort blickte der unglückliche Monarch lange und unbeweglich über das weite Meer hin, als suchten seine Augen den fernen Strand seiner Heimat. D'Artagnan in seiner Schiffertracht blieb unerkannt.
8. Kapitel. General Monk
Es ist bisher noch stets der Verlauf einer jeden Revolution gewesen, daß die bis zur Erreichung des hauptsächlichen Zwecks einigen bürgerlichen Parteien sich später entzweien. So war es bei der großen französischen Revolution, so war es auch schon bei jener englischen, durch die König Karl erst seinen Thron und dann den Kopf verlor. Nachdem der gewaltige Oliver Cromwell gestorben war, nachdem sein Sohn das Protektorat niedergelegt hatte, tat sich eine Menge von Mißvergnügten zusammen, denen die Beschlüsse des Parlaments nicht mehr behagten und die eine andere Regierungsform verlangten. An die Spitze dieser Elemente trat der General Lambert, während die Parlamentspartei den General Monk, einen geborenen Schotten, zum Oberhaupt erkor. Von vornherein war dessen Partei im Uebergewicht; man redete Lambert nach, er trachte danach, eine Militärrepublik zu gründen, mit sich selbst am Ruder; dagegen war man fest überzeugt, daß Monk, ohne jedes persönliche Nebeninteresse, nur auf die Stärkung des bürgerlichen Parlaments bedacht sei. Die Sympathien der Mehrzahl der Bevölkerung lagen daher auf Monks Seite. Die Verhältnisse hatten sich bis zur Feindseligkeit zwischen beiden Lagern zugespitzt, und Lambert und Monk standen ein jeder an der Spitze einer Armee bereit, sich in offenem Kampfe zu messen. Das war in der Gegend von Newcastle, und die alte Abtei dieses Namens lag gerade zwischen den Quartieren der feindlichen Heere.
In Monks Lager herrschte Hungersnot. Der General saß eines Abends, gegen zehn Uhr, in seinem Zelt und kaute Tabak, um den knurrenden Magen zu beruhigen, da eilten mit Freudengeschrei mehrere Soldaten herbei, und ein Offizier trat, ohne sich melden zu lassen, ein und rief: »General! Sie werden heute zu Abend speisen.« – »Das habe ich bereits getan,« antwortete Monk gelassen. »Eben hielt ich mein Verdauungsstündchen. Was führt Euch her?« – »Wir haben eine Fischerbarke abgefangen, die mit einer Ladung Fische an den Strand geworfen wurde.« – »Daran tatet ihr nicht wohl, Kinder,« versetzte der General. »Ihr hättet den Fang Lamberts Leuten lassen sollen. Wenn sie heute abend nichts zu essen haben, werden sie keine Lust verspüren, sich morgen mit uns zu schlagen, wozu sie nach einem guten Abendessen sicher Mut gehabt hätten. Doch was sind das für Fischer?«
»Sie kommen aus der Picardie.« – »Sprechen sie Englisch?« – »Der Kapitän versteht ein paar Brocken davon.« – »Führt sie her! Und – wie viele sind es? Was für ein Schiff haben sie?« – »Es sind ihrer elf. Ihr Fahrzeug ist eine Barke holländischen Typs.« – »Gut, ich will sie sehen.«
Der Offizier führte den Kapitän der Fischer herein, einen Mann von etwa 55 Jahren, aber noch sehr rüstig und jugendlich. Unter der tief in die Stirn gezogenen Mütze blitzten ein paar pfiffige Augen. Er hatte den eigentümlich unsichern Gang der Seeleute an sich, die nur auf den schwankenden Brettern eines Schiffes fest aufzutreten vermögen. Monk musterte den Mann mit durchdringendem Blick. Der Fischer antwortete darauf mit einem dummdreisten Lächeln, wie es den französischen Bauern eigen ist.
»Du sprichst Englisch?« fragte Monk. – »Sehr schlecht,« antwortete jener in südfranzösischem Akzent. »Wir Seeleute schnappen ja von allen Sprachen etwas auf.« – »Du scheinst mehr um Gascogne herum als in der Picardie zu Hause zu sein,« meinte Monk lächelnd. – »Von Geburt bin ich aus Südfrankreich,« war die Antwort, »aber seit langen Jahren fische ich in den nördlichen Gegenden. Habe heute einen guten Fang gemacht. Einen Stör von 30 Pfund, an die 100 Schleien und zahllose Weißfische.« – »Schön, den Fang kaufe ich dir ab. Aber warum bietest du ihn hier aus?« – »Herr, der Fischer stößt das Boot ins Meer, aber Himmel und Wind tun das Uebrige. Ich wollte nicht hier landen.«
»Wenn du von dort drüben kommst,« fuhr Monk fort, mit einer Handbewegung nach der Richtung, wo jenseits der See die holländische Küste lag, »hast du da vielleicht etwas von Karl II. gehört, dem verstoßenen König von England?« – »Ei freilich, Mylord,« antwortete der Fischer mit täppischer Offenherzigkeit, »als wir nämlich bei Ostende nach Makrelen fischten, sahen wir aus einem am Strande gelegenen Häuschen einen Mann kommen, der zum Gestade schritt. Im Näherkommen erkannten wir in ihm Karl II. Er sah sehr traurig aus. Ich glaube, die Luft in Holland ist ihm nicht dienlich. Er guckte starr nach hier hinüber. Ich denke mir, er hat Heimweh – möchte halt gern wieder hier sein. Sie wissen ja, Wilhelm II. von Nassau, der Statthalter von Holland, wäre ihn auch am liebsten los. Er darf ihm wegen der Freundschaft mit England und Frankreich kaum noch Hilfe leisten.« – »Du scheinst in der Politik gut Bescheid zu wissen,« sagte Monk. – »Wir Seeleute beobachten doch täglich Wasser und Luft, die beiden veränderlichsten Dinge auf der Welt, und seitdem wir gelernt haben, in beidem trotz aller Unbeständigkeit mit Sicherheit zu lesen, irren wir uns auch in andern Dingen nur selten.«
»Du hast also eine gute Ladung an Bord?« fragte der General. »Wie teuer verkaufst du sie?« – »Ich kann doch keinen Preis machen, Mylord, kraft dem Faustrecht gehören die Fische Ihnen.« – »Ich will kaufen und nicht rauben,« antwortete der Feldherr. »Ich zahle den üblichen Preis. Geh mit dem Offizier dort, er wird dir das Geld geben. Und höre noch eins! Wenn du zu deinem Schiffe zurückkehrst, so geh nicht durch das Moor. Dort stehen ein paar Posten von mir, die Euch anhalten würden. Wenn sie Euch nun das Geld nähmen, so würdest du bei dir zu Hause erzählen, General Monk hätte zwei Hände, eine schottische und eine englische, und mit der schottischen nähme er wieder zurück, was er mit der englischen gegeben.« – »Können Mylord mir einen Zimmermann mitgeben?« fragte der Fischer. »Ihre Soldaten haben mein Boot demoliert und wir haben nun zwei Schuh Wasser drin.« – »Das soll geschehen,« sprach Monk und wendete sich an seinen Adjutanten. »Digby, sorgen Sie dafür, daß der Mann mit seinen Leuten in der Nähe seines Boots in einem Zelte schlafen kann, damit sie nicht des Nachts im Wasser zu liegen brauchen. Schicken Sie ihnen ein paar Arbeiter. Was gibt es, Spithead?« fragte er einen Sergeanten, der eintrat.
»Ein französischer Edelmann bittet um Einlaß,« war die Antwort. – »Wer ist das?« fragte Monk, während der Fischer die Ohren spitzte. – »Er hat mir seinen Namen genannt, aber diese französischen Worte sind nichts für meine englische Kehle,« antwortete der Sergeant.
»Hm, du kannst ihn hereinlassen.« – »Sollen ihm die Augen verbunden werden?« – »Warum? Er kann getrost sehen, daß ich hier 11 000 tapfere Soldaten um mich habe.« Dann wendete er sich an den Fischer. »Auf Wiedersehen, braver Kerl. Mein Adjutant wird dich führen.« – »Schönen Dank, Mylord,« antwortete der Mann und ging hinaus.
Draußen begegnete er der Wache, die den französischen Edelmann herbeiführte. Der fremde Kavalier saß zu Pferde und blickte schnurstracks vor sich hin. Er beachtete infolgedessen den Fischer gar nicht, während dieser sich dicht an das Pferd herandrängte und beim Scheine eines Wachtfeuers einen raschen Blick auf das Gesicht des Reiters warf. Er stutzte und blieb vor Verblüffung stehen, dann aber faßte er sich rasch, denn er durfte sich nichts merken lassen. »Ich muß mich wohl auch verguckt haben,« brummte er vor sich hin. »Es ist ja ganz unmöglich. Es ist ja undenkbar.«
Der französische Edelmann trat in das Zelt und fand eine freundlichere Aufnahme, als er von Seiten eines so argwöhnischen Mannes wie Monk erwartet hatte. Ruhig, wenn auch scharf, musterte der General seinen Besuch und gab ihm dann einen Wink, sein Anliegen vorzutragen. – »Ich bin Graf de la Fère,« begann Athos mit einer Verbeugung. – »Entschuldigen Sie,« sagte Monk, nachsinnend, »ich höre diesen Namen zum erstenmale. Sind Sie vom Hofe?« – »Nein, ich lebe als Privatmann, bin aber durch Karl I. Ritter des Hosenbandordens und durch Anna von Oesterreich Ritter des Heiligen-Geist-Ordens.« – »Bei welchem Anlaß wurden Sie dekoriert?« – »Für Dienste, die ich den Majestäten leistete.« – »Und was wünschen Sie jetzt von mir?«
Das Gespräch wurde in englischer Sprache geführt, die ja Athos noch von den vielen in England verlebten Jahren her vollständig beherrschte.
»Mylord,« antwortete er aufs Monks letzte Frage, »ich habe im Jahre 1648 in Newcastle gewohnt, und zwar gerade in den Gärten, die jetzt von den Soldaten Eurer Herrlichkeit besetzt sind. Damals stand ich im Dienste Karls I. und mußte, nachdem er gefallen war, flüchten. Ich besaß eine große Summe Geldes, die ich in der damaligen Zeit nicht mit auf die Reise nehmen wollte. Deshalb vergrub ich es im Keller jenes Turmes, den Sie dort hinten im Mondschein emporragen sehen. Jetzt bin ich gekommen, es mir zu holen, und bitte Eure Herrlichkeit um Erlaubnis, mein Eigentum in Sicherheit zu bringen, ehe es vielleicht durch die bevorstehende Schlacht zwischen Ihnen und General Lambert gefährdet wird oder gar in die Hände der Soldaten fällt.«
Monk war ein feiner Menschenkenner; dennoch wußte er jetzt nicht, ob er diese Mitteilung des Fremden einer edeln Offenherzigkeit zuschreiben oder eine ihm gestellte Falle darin vermuten solle. »Ist denn die Summe so bedeutend, Herr Graf,« fragte er, »daß es sich der Mühe lohnt? Und glauben Sie wirklich, das Geld sei noch vorhanden? Nach so langer Zeit?« – »Es handelt sich um eine Million.« – Monk stutzte und sah Athos scharf an. Das erschien ihm denn doch ganz unglaublich. – »Hm,« sagte er, »und Sie wollen das Geld heute noch haben? Warum wendeten Sie sich nicht an General Lambert? Er steht ebenso nahe bei der Abtei, wie ich selbst.« – »Ich folge in derlei Dingen stets meinem Gefühl,« antwortete der Franzose. »Zu General Lambert habe ich nicht so großes Vertrauen, wie zu Ihnen. Was die Frage anbetrifft, ob das Geld auch noch da sei, so unterliegt das für mich gar keinem Zweifel. Der Versteck war gut gewählt, war niemand als mir bekannt, und ich werde die Stelle ohne Schwierigkeit wiederfinden.«
»Ich werde Ihnen sehr gern behilflich sein,« antwortete Monk, »ja, ich will Sie sogar begleiten. Das ist ja auch notwendig, weil die Posten Sie sonst nicht so weit vorlassen würden. Wir können gleich gehen. Sollen wir Leute mitnehmen?« – »Das ist nicht nötig. Zwei Männer und ein Pferd genügen, die beiden Fässer mit Gold auf das Schiff zu bringen, das am Strande auf mich wartet.« – »Er sieht nicht aus wie ein Meuchelmörder,« dachte Monk bei sich, »und dennoch hat er es drauf abgesehen, mit mir an einem einsamen Fleck allein zu sein. Nun, ich will's drauf ankommen lassen.« Und laut setzte er hinzu: »Es muß doch aber jedenfalls gegraben werden, wollen Sie das selbst machen?« – »Es braucht nicht gegraben zu werden,« antwortete Athos. »Der Schatz liegt in einer Gruft, die mittels eines Steins verschlossen ist. Der Stein ist an einem eisernen Ringe in die Höhe zu heben. Eine kleine Treppe von vier Stufen befindet sich darunter, und an ihrem Grunde liegen, von einer Schicht Gips bedeckt, die beiden Fässer. Sie sehen, ich mache in dieser Angelegenheit gar kein Geheimnis vor Ihnen.«
Monk antwortete nicht. Er war im höchsten Maße erstaunt. Entweder besaß der Fremde eine außergewöhnlich vollendete Verstellungskunst und spielte seine Rolle als Kundschafter meisterhaft, oder aber er war von größter Vertrauensseligkeit, daß er sich als Besitzer von einer Million mitten in ein Kriegslager hineinwagte, wo Raub und Faustrecht galten. – »Ich begleite Sie,« sagte der General, »das Abenteuer erscheint mir so seltsam, daß ich selbst die Fackel halten will.« – Als er dies sagte, schnallte Athos sein Schwert ab und legte es auf den Tisch. Er öffnete sein Wams, wie um sein Schnupftuch herauszunehmen, und zeigte dabei dem scharf beobachtenden General, daß er auch auf der Brust keinerlei Waffen trug. – »Sonderbar,« dachte dieser bei sich. »Er ist tatsächlich ganz unbewaffnet. Also muß er in der Abtei einen Hinterhalt gelegt haben.« – Darauf drehte er sich zu seinem Adjutanten herum und sagte: »Es soll mich niemand begleiten. Ich gehe allein.«
9. Kapitel. Der Schatz
Monk und Athos verließen das Lager und wendeten sich dem Tweedfluß zu. Der Franzose zweifelte nicht einen Augenblick, welchen Weg er einschlagen sollte, und der englische General erkannte bald, daß dieser Mann die Gegend ganz genau kenne. Zehn Minuten ging es zwischen Zelten und Schildwachen hindurch, dann betraten sie eine Landstraße, die sich nach wenigen Schritten teilte. Die mittlere der drei Abzweigungen führte zur Abtei Newcastle. Jenseits dieser Straße, gar nicht mehr weit von ihnen, lagen die äußersten Posten Monks. Man war hier also schon verhältnismäßig nahe beim feindlichen Lager. Gleichfalls ganz in der Nähe befand sich am Flußufer das Quartier, das den vermeintlichen Fischern aus der Picardie angewiesen worden war.
Der Mond schien und warf ein gespenstisches Licht auf das Wasser, auf die Baumgruppen, auf die Zelte und die einzelnen hin und her wandelnden Wachtposten. Monk und Athos schritten schweigend durch dieses Zwielicht von Mondschein und Wachtfeuern. Ehe der General die finstere Straße betrat, die geradeswegs zur Abtei führte, warf er einen Blick um sich. Er sah eine Gestalt im Schatten dahinhuschen. – »Ah,« dachte er, »Digby traut der Sache nicht und ist uns doch gefolgt. Digby!« rief er laut, »hierher!« – Aber es konnte doch wohl nicht Digby, der Adjutant, gewesen sein; denn statt zu gehorchen, duckte sich die Gestalt und verschwand hinter einem Damme. Da das nun in einem Kriegslager keine sonderlich auffallende Erscheinung war, so machte Monk sich keine Gedanken weiter darüber, sondern ging mit Athos weiter.
»Es ist aber doch wohl besser, General,« sagte dieser, »wir lassen uns von einem der Soldaten eine Laterne geben.« – »Nein, nicht von einem Soldaten,« antwortete Monk. »Ich will von keinem meiner Leute hier gesehen sein. Gehen wir zu den französischen Fischern, die auch ganz in der Nähe liegen. Die Leute fahren morgen wieder ab, so kann man ihnen das Geheimnis eher anvertrauen. Wüßten meine Soldaten, daß in der Abtei dort eine Million versteckt liegt, sie würden morgen dort das unterste zu oberst kehren und keinen Stein auf dem andern lassen, um nach weiteren Schätzen zu suchen.« – Nach diesen Worten schritt Monk auf das Feld jenseits des Weges, bis er vor einem kleinen Zelt stand. »Hollah!« rief er. »Aufgewacht!« – Der Kapitän der Fischer war sofort auf den Füßen. Als er den General erkannte, fragte er mit gut erkünstelter Schläfrigkeit nach seinen Befehlen. – »Ich brauche einen Mann mit einer Laterne,« war die Antwort. – »Soll ich selbst mitkommen, Mylord?« fragte der Kapitän. – »Du oder ein anderer, das ist mir gleich,« versetzte Monk. »Nur schnell!«
»Sonderbar,« dachte Athos bei sich. »Die Sprache dieses Fischers kommt mir bekannt vor.« – Der Mann hielt sich jedoch im tiefen Schatten der Zeltwand, so daß der Graf nicht sein Gesicht sehen konnte. – »Ich will doch lieber einen andern schicken,« dachte d'Artagnan. »Das ist meiner Treu Athos. Er könnte mich erkennen und meinem Unternehmen Schwierigkeiten bereiten. Sicherlich verfolgt er hier seinen eignen Plan.« – Diese Erwägungen vollzogen sich in seinem Kopfe mit der Geschwindigkeit eines Blitzes, und Monk hatte nicht nötig, noch einmal zur Eile zu drängen. Im nächsten Augenblick stand einer der Fischer bereit, den beiden mit der Laterne voranzugehen.
»Leuchte uns nach der Abtei Newcastle,« befahl Monk, »und mach lange Beine, Kerl!« – Sie schritten weiter durch die Nacht, stumm und rasch, ein jeder mit seinen Gedanken beschäftigt. Die des Grafen weilten bei dem Fischer, dessen Erscheinung und Stimme ihm bekannt erschienen waren. »Aber es ist ja ganz unmöglich,« sagte er sich. »Wie kann ich auf solch eine alberne Vermutung kommen?«
Nach wenigen Minuten traten sie in die Abtei. Im Innern lag ein Posten von vier Mann, die beim Geräusch von Schritten aufsprangen und ihr »Wer da?« ertönen ließen. Monk gab das Losungswort, und sie schritten unangefochten tiefer hinein in die Trümmer der verfallenen Stätte. Festen Fußes ging Athos, seines Zieles ganz sicher, durch die öden Hallen. Es gab hier keine Tür und kein Fenster mehr. Aus den leeren Löchern und Höhlen flüchteten aufgescheuchte Nachtvögel, vom Licht der Laterne erschreckt. Fledermäuse umflatterten die Eindringlinge, deren Schatten in riesiger Größe an den nackten Flächen der verwitterten Mauern tanzten.
Als Monk diese Tiere jetzt erst auffliegen sah, wußte er, daß sich dort drinnen niemand versteckt, daß vor ihnen kein Mensch diese Oedenei betreten hätte. – »Ich werde also mit diesem Manne ganz allein sein,« dachte er bei sich. »Nun, dann will ich es schon mit ihm aufnehmen.« – Athos schritt über Schutthaufen hinweg und stand nun vor der Gruft. – »Wir sind zur Stelle,« sprach er. »Hier ist der Stein.« – »Der Ring daran ist in den Stein eingegossen,« sagte Monk. »Wir müssen einen Hebebaum haben. Hast du ein Messer bei der Hand?« fragte er den Fischer. »Dann schneide die junge Esche dort ab.« Dies geschah. »Bleib dort hinten stehen,« sagte Monk darauf zu dem Manne. »Du darfst mit deinem Licht nicht so nahe heran, wir haben Schießpulver zu Tage zu fördern.«
Der Matrose wich erschrocken zurück. Athos und Monk traten hinter eine Säule. Der Franzose ergriff den Hebebaum, setzte ihn in den Ring und wuchtete mit einem kraftvollen Ruck die Platte in die Höhe. – »Ich danke, Mylord,« sprach er, als Monk ihm helfen wollte. »Ich wünsche nicht, daß Sie mit Hand anlegen an ein Werk, von dem Sie gewiß die Finger lassen würden, wenn Ihnen die Folgen, die es haben wird, bekannt wären.«
Der General stutzte und sah den Grafen an. – »Was meinen Sie damit?« fragte er. – Athos warf einen Blick auf den Fischer und sagte: »Wir sind nicht allein.« – »Ha!« dachte Monk. »Nun, ich will es drauf ankommen lassen, Mann gegen Mann mit ihm zu bleiben.« Darauf rief er dem Matrosen zu, er solle in den Außenhof zurückkehren und seine Laterne da lassen. Der Mann gehorchte. Monk war mit Athos allein.
»In dieser Gruft also soll soviel Geld stecken?« fragte der General, nahm die Laterne und stellte sie hart an den Rand der Oeffnung. – »Ja, General, in fünf Minuten werden Sie nicht mehr daran zweifeln.« – Zugleich schlug Athos mit solcher Kraft auf die Gipsbekleidung, daß sie in Stücke ging. Er faßte die Steine und riß sie los. – »Das ist das Mauerwerk, von dem ich sprach.« – »Ja, aber ich sehe die Fässer noch nicht,« gab Monk zur Antwort. – »Wenn ich einen Dolch hätte,« sagte Athos, »dann würden die Fässer bald zum Vorschein kommen. Leider habe ich alle Waffen in Ihrem Zelte gelassen.« – »Ich würde Ihnen den meinigen geben,« erwiderte Monk, »aber die Klinge ist zu dünn und würde nur abbrechen. Lassen Sie sich den Dolch des Fischers herüberwerfen.« – Athos trat ein paar Schritte vor, bis er in Rufweite des Matrosen war. Gleich darauf klirrte die Waffe auf dem Gestein, und der Graf kehrte zurück. – »Der ist stärker als meiner,« sprach Monk ruhig.
Athos schien nicht zu hören, sondern arbeitete alsbald wieder an den Steinen herum. In wenigen Minuten war aller Gips entfernt, und Monk erblickte zwei Fäßchen. – »Sie sehen, General,« rief Athos, »meine Ahnungen haben mich nicht betrogen. Gott beschützt jede gerechte Sache, und daher war ich der Zuversicht, daß dieser Schatz nicht in unrechte Hände gefallen sei.« – »Sie sind ebenso geheimnisvoll in Worten wie in Taten, Graf,« entgegnete Monk. »Soeben sprachen Sie von den Folgen Ihrer Tat, und jetzt reden Sie von einer gerechten Sache. Was ist das für eine Sache?«
Athos sah General Monk an, als wollte er in der Tiefe seiner Seele lesen. Dann nahm er seinen Hut ab und begann in feierlichem Tone, dem die düstere Umgebung der Ruine noch eine ganz besondere Eindringlichkeit verlieh: »Herr General, als Edelmann spreche ich zum Edelmanne. Ich sagte, dieses Geld gehöre mir. Das war die erste Lüge meines Lebens. Ich eile, sie wieder gutzumachen. Dieses Geld gehört vielmehr Karl II., dem vertriebenen König von England.« – Monk erblaßte und zitterte unwillkürlich. – »Ich bin der Letzte,« fuhr der Graf de la Fère fort, »der dem unglücklichen Herrscher die Treue gewahrt hat, und um ihm zu helfen, habe ich den Mann aufgesucht, von dessen Entschluß das Schicksal Englands und seines Königs abhängt, habe mich ihm wehrlos in die Hände gegeben und spreche also zu ihm: Mylord, diese Million ist der letzte Rettungsanker eines Mannes, der Ihr Fürst und König ist. Sie allein haben über sein Schicksal, über seine Zukunft zu entscheiden. Hier vor Ihnen liegt das, was den König retten kann, was Sie aber auch zu seiner völligen Vernichtung benützen können. Wenn Sie verhindern wollen, daß ich mit diesem Gelde zu Karl II. zurückkehre, daß ich ihm die Heimfahrt damit ermögliche, dann stoßen Sie mich nieder, hier ist ein fertiges Grab. Zu jedem andern als Ihnen, Mylord, würde ich sagen: Nehmen Sie dieses Geld als Bezahlung für Ihre Mithilfe. Treten Sie gegen diese Million auf die Seite Karls, werfen Sie Ihre gewichtige Stimme zu seinen Gunsten in die Wage, Ihnen wird das Volk beistimmen. Allein so darf ich zu General Monk nicht sprechen. An einen so ausgezeichneten Charakter muß ich andere Worte richten. Herr General, eine hervorragende Stelle in der Geschichte Ihres Volkes ist Ihnen eingeräumt worden. Wenn Sie nur das Wohl Ihres Vaterlandes im Auge haben, dann müssen Sie dem König helfen, dem einzigen rechtmäßigen König. Dann wird Ihnen der Ruhm zuteil werden, der redlichste, tugendhafteste Mann Ihrer Zeit gewesen zu sein. Sie haben eine Krone in der Hand gehalten und, statt sie auf das eigene Haupt zu setzen, dem rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben. Handeln Sie so, Mylord, und Ihr Ruhm bei der Nachwelt wird nicht enden.«
Der Graf schwieg. Monk hatte weder Beistimmung noch Widerspruch erkennen lassen. Sein kaltes, gefühlloses Gesicht veränderte sich nicht. Nach kurzem Schweigen antwortete er: »Herr Graf, Sie sind einer von denen, die Karl I. helfen wollten. Als ich sagte, ich hätte noch nie von Ihnen gehört, sprach auch ich die Unwahrheit. Ich habe vielmehr schon viel von Ihnen gehört, aber ich freue mich, daß ich Sie nach meinem Gefühl, nicht nach meinen Erinnerungen beurteilt habe, daß ich Ihnen Gehör schenkte, statt Sie auf der Stelle gefangenzusetzen. Bisher habe ich noch keine der von Karl II. an mich abgeschickten Personen vorgelassen. Was kümmert mich dieses Phantom von einem König? Er hat hier gekämpft und ist besiegt worden, also ist er ein schlechter Heerführer; er hat Unterhandlungen versucht und keine erfolgreich durchführen können, also ist er auch ein schlechter Diplomat. Er ist in seinem Elend an allen europäischen Höfen hausieren gegangen, also ist er auch kleinmütig und schwach. Er hat sich noch nicht königlich gezeigt, keine edle große Tat hat der Geist gezeitigt, der eines der größten Länder der Erde regieren soll. Ich kenne Karl Stuart also nur von einer sehr unvorteilhaften Seite. Soll ich ihm deshalb huldigen, weil er der Sohn Karls I. ist? Den hat das Volk vom Thron gestoßen, weil ihm die Tugenden eines Königs fehlten. Nun wohl, dieser Sohn möge mir zeigen, daß er eben jene Tugenden besitzt; er offenbare mir sein Genie, seinen Mut. Von ihm als dem Sproß eines solchen Geschlechts muß man mehr fordern als von andern Sterblichen. Bringen Sie ihm diese Million. Sie soll für mich ein Prüfstein sein, und ich werde sehen, wie er das Geld anwendet. Bis jetzt will ich ihn ja schließlich nicht ganz verdammen. Nein, gewiß nicht! Sie haben sehr Recht, wenn Sie sagen, ich verfolge nur das Wohl meines Vaterlandes. Ja ich erkläre Ihnen sogar, wenn das Parlament mir heute Befehl erteilte, Karl II. als König zu empfangen, so würde ich –«
»So würden Sie gehorchen?« rief Athos freudig. – »Entschuldigen Sie,« versetzte Monk lächelnd. »Wo hatte ich alter Graukopf nur meinen Verstand? Hätte ich doch beinahe eine jugendliche Torheit gesagt!« – »Sie würden also nicht gehorchen?« fragte Athos. – »Das sagte ich auch nicht, Graf. Das Wohl des Vaterlands über alles! Wenn das Parlament mir einen solchen Befehl erteilte, so würde ich mich bedanken. Doch gestatten Sie nun auch mir eine Frage. Wenn Sie Karl Stuart diese Million bringen, welchen Rat werden Sie ihm dabei geben?« – »Ich werde ihm nicht raten, Unterhandlungen anzuknüpfen, was mancher an meiner Stelle vielleicht täte. Ich werde ihm Folgendes raten: Werben Sie, so werde ich zu ihm sprechen, zwei Regimenter an, rücken Sie in Schottland ein, führen Sie persönlich das kleine Heer an und fallen Sie mit der Fahne in der Hand. Rufen Sie sterbend noch Ihren Gegnern zu: Briten, dies ist der dritte König meines Geschlechts, den ihr mordet, fürchtet die Rache Gottes!« – »Leider werden gerade die guten Ratschläge von den Königen selten befolgt,« versetzte Monk mit ironischem Lächeln. »Graf, unsere Unterredung ist beendet. Ich werde Befehl erteilen, diese Fässer an den Ort zu schaffen, den Sie mir nennen wollen. Wo wohnen Sie?« – »In einem kleinen Dorfe an der Mündung des Flusses. Eine Viertelmeile von der Küste liegt auch mein Schiff.«
»Wollen Sie sogleich absegeln?« fragte Monk. »Ich rate Ihnen, dies nicht zu tun. Zwischen mir und Lambert steht eine Schlacht bevor oder ein Vergleich. Jedenfalls aber eine Entscheidung. Warten Sie acht Tage. Dann muß diese Entscheidung gefallen sein. Wenn ich dann noch am Leben bin, so werde ich Sie aufsuchen. Vielleicht haben die Dinge dann ein ganz anderes Gesicht als heute. Sicherlich aber werden Sie Karl Stuart eine wichtige Neuigkeit gleich als Augenzeuge übermitteln können. Sie werden von mir Nachricht erhalten. Doch nicht vor acht Tagen.« – In den Augen des Grafen blitzte ein Strahl von Freude auf. »O, wie stolz würde es mich machen,« rief er fast unwillkürlich, »das edle Herz, das unter diesem Mantel schlägt, früher als andere entdeckt zu haben!«
Monk antwortete nicht, sondern befahl dem Fischer, den Wachtposten herbeizurufen. Die vier Soldaten kamen. Der General hieß den Sergeanten, der die Aufsicht über die drei Gemeinen führte, hertreten. »In diesen zwei Fässern sind Pulver und Kugeln,« sagte er. »Schaffe sie mit deinen Leuten in das kleine Dorf an der Flußmündung, das wir morgen mit 200 Mann besetzen. Sorge dafür, daß es geheim bleibt. Der Sieg kann dadurch entschieden werden. Dieser Edelmann hier wird dich hinführen und dir zeigen, wo die Fässer niederzulegen sind. Laß also sofort ein Pferd holen, das die Last tragen kann. Herr Graf,« wendete er sich an Athos, »ich lasse Sie mit diesen Leuten allein und kehre ins Lager zurück. Auf Wiedersehen!«
Er verließ die Gruft. Als er etwa zwanzig Schritte von der Abtei entfernt war, ertönte ein leiser Pfiff in der Dunkelheit. Monk sah sich nach dem Fischer um, der sie hergeführt hatte. Der Mann war nirgends mehr zu sehen. Monk glaubte sich in der Mitte seines Lagers frei von aller Gefahr und schritt weiter. Hätte er sorgsamer hingeschaut, so würde er entdeckt haben, daß ein Mann ein Stück von ihm entfernt zwischen den Steinen dahinkroch, und daß das Fischerboot nicht mehr in der Mitte des Flusses, sondern hart am Ufer lag. Die nächsten Wachtposten waren ein beträchtliches Stück von ihm entfernt; den einzigen, der ihm hätte helfen können, hatte er unter den Befehl des Grafen de la Fère gestellt. Der Nebel wurde rasch so dicht, daß man bald keine zehn Schritte weit sehen konnte. Plötzlich glaubte Monk ein Geräusch zu hören, das wie Ruderschläge klang. Er blieb stehen und zog seine Pistole. Einen Hilferuf auszustoßen, solange es nicht dringend nötig war, hielt er seiner unwürdig.
*
Am nächsten Morgen wurde Athos durch den Lärm von Soldaten geweckt, die in seine Wohnung drangen. Sie hatten Befehl, ihn ins Lager zu führen. Verwundert darüber, daß Monk so rasch gegen die Verabredung verstieß, folgte er den Leuten. Als er im Hauptquartier anlangte, sah er im Zelte des Generals außer dem ihm schon bekannten Adjutanten Digby zwei Obersten. Sein Schwert lag noch auf dem Tische, wohin er es am verflossenen Abend gelegt hatte.
»Ist dies derselbe Fremde, mit dem zusammen der General gestern das Zelt verlassen hat?« fragte einer der Stabsoffiziere den Adjutanten. – »Es ist derselbe,« 7 antwortete Digby. – »Meine Herren,« rief Athos mit Würde, »ich habe keinen Grund, das zu leugnen. Warum eine solche Frage in solchem Tone?« – »Wir sind berechtigt, einen solchen Ton anzuschlagen.« – »Nein,« versetzte Athos. »Ich erkenne hier nur den General Monk als meinesgleichen an und stehe nur ihm Rede und Antwort. Führen Sie mich also zu ihm, wenn Fragen an mich zu richten sind. Wo ist er?« – »Das werden Sie wohl besser wissen als wir,« antwortete einer der Obersten. »Was hat der General gestern mit Ihnen gesprochen?« – »Das ist ein Geheimnis zwischen mir und ihm. Ich kann darauf nur antworten, wenn der General mich dazu ermächtigt.« – »Aber Sie wissen doch recht gut, daß dies unmöglich ist.« – »Ich erhalte schon zum zweitenmal eine solche seltsame Antwort! Ist denn der General nicht hier?« – Diese Frage stellte Athos in so ungekünsteltem Erstaunen, daß die Offiziere sich verlegen ansahen. Nach einer Pause fragte der Adjutant: »Der General hat Sie gestern bei der Abtei verlassen? Sie sind dann gegangen?« – »Fragen Sie danach Ihre eigenen Soldaten, die meine Begleiter waren,« antwortete Athos unwillig.
»Sie wollen also nicht wissen, wo sich der General befindet?« – »Wo er sich befindet? Zum Teufel, doch hier im Lager!« – »Und was enthielten jene Fässer?« – »Fragen Sie Ihre Soldaten. Denen hat es der General selber gesagt.« – »Wir haben sie gefragt und erfahren, die Fässer enthielten Pulver und Blei, aber wir lassen uns nicht hinters Licht führen.« – »Bedenken Sie, was Sie da reden, meine Herren!« rief Athos. »Sie zeihen Ihren General der Lüge. Der General hat mich aufgefordert, noch acht Tage hier zu bleiben und auf seine Antwort zu warten. Bin ich entflohen?« – »Er hat Sie aufgefordert, acht Tage zu warten?« rief der Adjutant. – »Meine Schaluppe liegt an der Flußmündung. Ich hätte ohne jede Schwierigkeit an Bord gehen und abfahren können. Nur auf Wunsch des Generals blieb ich hier.«
Der Adjutant wendete sich an die beiden Stabsoffiziere und sprach: »Wenn der Franzose die Wahrheit spricht, dann ist noch Hoffnung. Der General hat vielleicht eine geheime Unterhandlung zu erledigen, über die er niemand etwas sagen wollte. Mein Herr,« sagte er zu Athos, »der General ist spurlos verschwunden, und wir wissen nicht, ob ein Verbrechen vorliegt, oder ob der General absichtlich fortbleibt. Können Sie uns eine Erklärung geben?« – »Zwischen mir und dem General,« antwortete Athos, »hat eine geheime Unterredung stattgefunden und da der General vor der Entscheidungsschlacht, die zu erwarten ist, mir keine bindende Antwort geben wollte, so hieß er mich – ich wiederhole es – acht Tage warten. Das ist alles, was ich weiß, so wahr mein Leben in der Gewalt Gottes steht.« – »Die Sache ist unerklärlich,« sagte einer der Obersten. »Unmöglich können wir annehmen, daß ein so umsichtiger Mann wie unser General am Vorabend einer Schlacht einfach seine Armee verläßt, ohne einem seiner Unterfeldherren etwas zu sagen. Mich will bedünken, als hätten mit diesem plötzlichen Verschwinden die französischen Fischer zu tun, die ja seit gestern abend auch verschwunden sind. Allerdings konnten sie gehen, wann sie wollten, denn sie waren keine Kriegsgefangnen; dennoch erscheint mir das Zusammentreffen seltsam und verdachterregend. Und wer steht uns nun dafür, daß Sie, mein Herr, nicht mit diesen Fischern unter einer Decke gesteckt haben? Daß Sie nur geblieben sind, um jeden Argwohn abzulenken?« – »Das ist ein scheinbar ganz richtiger Schluß,« versetzte Athos, »aber in Bezug auf meine Person trifft er nicht zu. Verdächtig erscheint der Fall nun freilich auch mir, und ich rate Ihnen, schleunigst Nachforschungen anzustellen. Was mich anbetrifft, so gebe ich mich bis auf weiteres gefangen.« – »Das ist selbstverständlich,« erwiderte der Adjutant. »Sie bleiben im Hauptquartier.« – »Damit bin ich nicht einverstanden,« entgegnete Athos ruhig, »Ihr General hat mir sein volles Vertrauen geschenkt und mir ein Gut übergeben, das ich nicht aus den Händen lassen darf. Setzen Sie eine Wache über mich, von soviel Mann, wie Sie wollen, aber lassen Sie mich in meine Wohnung zurückkehren. Der General wird Sie ernsthaft tadeln, wenn Sie hierin gegen seinen Willen handelten.« – Die Offiziere berieten sich einen Augenblick, dann ließen sie Athos unter Bedeckung von fünfzig Mann in seine Wohnung zurückkehren.
Die Sache blieb geheim. Vom Verschwinden des Generals erfuhr niemand im Lager. Aber Tage, ja Wochen verflossen, und Monk kam nicht zurück; ja nicht einmal eine Nachricht traf von ihm ein.
10. Kapitel. Wie d'Artagnans große Idee endete
Zwei Tage nach den eben erzählten Ereignissen ging am späten Abend eine kleine holländische Fischerbark an der Küste von Scheveningen vor Anker und setzte in einem Boote acht Mann an Land, die beim Aussteigen einen großen, länglichen Gegenstand, der eine Kiste oder ein Ballen zu sein schien, auf den Strand legten. Ein einzelner Mann lief sogleich auf das einsame Haus zu, das dem verstoßenen König von England zur Wohnung diente. Der Hund bellte laut, der alte Parry fuhr aus dem Schlafe auf. – »Was gibt's?« rief er und wagte die Tür nur um einen Spalt zu öffnen. – »Ich will zu Seiner Majestät Karl II.,« antwortete eine Stimme. – »Nennt Euern Namen und Euer Begehr!« – »Potzblitz, Ihr seid neugierig, Alter, ich bringe wichtige und unerwartete Nachrichten, laßt mich also nicht länger warten, so Ihr Euern Herrn lieb habt.« – »Ihr müßt vor allem Euern Namen nennen – ich habe ausdrücklichen Befehl, jeden Unbekannten, der anklopft, danach zu fragen.« – »Ich bin kein Unbekannter, potzblitz!« rief die Stimme. »Oeffnet, ich bringe eine Kunde, die nicht mit Geld aufzuwiegen ist!« – »Meiner Treu, ich sollte diese Stimme kennen,« sagte nun Parry und öffnete die Tür um einen Spalt weiter. »Richtig, es ist Chevalier d'Artagnan!« Und nun flog die Tür ganz auf, und Parry ließ den Kriegsmann ein, der noch immer die Fischerstracht anhatte.
»Ja, ja, ich bin's wirklich, lieber Parry!« sagte d'Artagnan. »Und nun melden Sie mich beim König!«
»Aber Majestät schlafen schon.« – Doch im selben Augenblick erschien der König, der noch gearbeitet hatte, in der Tür seines Zimmers und fragte nach der Ursache dieses nächtlichen Lärms. – »Majestät, Verzeihung,« antwortete Parry, »Chevalier d'Artagnan ist hier und will Sie durchaus sprechen. Er hat wichtige Nachrichten.«
»So laß ihn herein, Parry!«
Und d'Artagnan trat auf den König zu. – »Wo ist der Chevalier?« fragte dieser erstaunt beim Anblick einer fremden Gestalt. – »Er steht vor Ihnen,« antwortete der Kriegsmann. – »Ah, nun erkenne ich Sie!« rief der Brite. »Doch wozu diese Verkleidung?«
»Hören Sie mich an, Majestät,« begann d'Artagnan, als er mit dem König in dessen Zimmer allein war. »Als ich Sie in Blois zu Ludwig XIV. führte, war ich Zeuge Ihres Schmerzes und auch Zeuge Ihres Mißerfolges. Aus Ihrem Munde vernahm ich da die Worte, daß ein gewisser General Monk für Sie das gefährlichste Hindernis auf dem Wege zum Throne sei. Wenn es Ihnen gelänge, ihn zu beseitigen oder zu sich hinüberzuziehen, so würden Sie Ihrem Ziel um ein bedeutendes Stück näher sein. Habe ich damals recht gehört?« – »Gewiß, Chevalier, doch wozu diese Frage? Ein König ohne Heer und Geld vermag nichts gegen einen Mann wie Monk.« – »Das war Ihre Meinung, Majestät, doch glücklicherweise nicht die meine,« fuhr der Chevalier fort. »Ich habe ohne Heer und ohne besonders viel Geld ausgeführt, was Eurer Majestät so unmöglich schien.«
»Mann, was wollen Sie damit sagen?« rief Karl II.
»Daß ich nach England gefahren bin, um den Ihnen so lästigen Mann zu fangen, daß ich ihn mitten aus seinem Lager fortgeschleppt habe, daß ich glücklich zurückgekehrt bin, und daß ich ihn Eurer Majestät bringe.« – »Sie bringen mir den General Monk?« rief Karl II. in grenzenlosem Erstaunen. – »Ja, Sire. Ich habe ihn dort am Strande in einer großen Kiste, aus der ich ihn nur herauszuholen brauche. Seien Sie unbesorgt, die Kiste war mit Luftlöchern versehen, er hat also atmen können. Er wollte zwar keine Nahrung zu sich nehmen, aber ich zwang ihn dazu. Somit befindet er sich ganz wohl. Wünschen Sie ihn zu sehen, Majestät?« – »Sie sind des Teufels, Herr! Ich kann nicht glauben, daß Sie im Ernst sprechen!« – Aber d'Artagnan war schon hinausgeeilt, um seine seltsame Beute herbeizuschaffen.
Vor seiner Abfahrt aus Calais hatte d'Artagnan einen Kasten zimmern lassen, lang, breit und tief genug, einen Menschen aufzunehmen. Eine Matratze war hineingelegt worden, so daß man weich darin liegen konnte. Zweierlei war für den wagemutigen Kriegsmann zu fürchten gewesen: entweder der General Monk, der allgemein für halsstarrig galt, zog den Tod dieser seltsamen Gefangenschaft vor, oder aber er versuchte, die Matrosen zu bestechen und gegen ihren Führer aufzuhetzen. Als d'Artagnan den General nun glücklich in der Kiste hatte, blieb er Tag und Nacht daneben sitzen, bis das Gestade von Holland erreicht war. Erst als er nun zum König ging, verließ er den Gefangenen zum ersten Male, indem er mit einem seiner Leute, den er ganz besonders in sein Vertrauen gezogen hatte, ein dreimaliges Pfeifen verabredete, auf welches Zeichen sie die Kiste unverzüglich herbeitragen sollten.
Dieses Pfeifen ließ er nun ertönen, und als der Kasten im Zimmer des Königs stand, hob d'Artagnan den Deckel auf und half dem Gefangenen heraus, der stumm die steifen Glieder reckte und sich umschaute, während d'Artagnan seine Leute mit den Worten entließ: »Ihr habt König Karl II. von England einen wichtigen Dienst geleistet. Binnen sechs Wochen wird er nun wieder auf seinem Throne sitzen. Eure Löhnung wird deshalb verdoppelt werden. Kehrt zum Boot zurück und wartet dort auf mich.« Darauf wendete er sich an den General, der noch immer stumm wie eine Bildsäule dastand, verneigte sich respektvoll vor ihm und sprach: »Herr General, ich muß Sie um Verzeihung bitten, daß ich Sie so behandelt habe, aber es blieb mir nichts weiter übrig. Jetzt sind Sie frei oder vielmehr aus meinen Händen in die des Königs Karl II. übergegangen.« Und zum König gewendet, setzte er hinzu: »Majestät, hier steht Ihr Feind, General Monk. Beschließen Sie nun das Weitere.«
Monk sah den jungen Monarchen gleichgültig an. »Für mich gibt es keinen König von England,« sagte er ruhig; »ich kenne hier keinen, der würdig wäre, ein Edelmann genannt zu werden. Ein verkappter Verräter, den ich für einen ehrlichen Mann hielt, hat mir im Namen Karl Stuarts eine schändliche Falle gestellt, in die ich leider hineingegangen bin. Tötet mich, denn wahrlich, meinen unbeugsamen Willen werdet Ihr Euch nie Untertan machen. Von diesem Augenblick an werde ich nicht einmal mehr zum Hilferufen den Mund mehr auftun.«
Karl II. betrachtete nachdenklich den berühmten Mann, dem er zum ersten Male Auge in Auge gegenüberstand. Mit jenem Scharfsinn, der den Adlern eigen ist und den Königen eigen sein sollte, hatte er die Tiefe dieses Feindesherzens auf den ersten Blick ergründet und faßte alsbald einen jener heroischen Entschlüsse, auf die ein gewöhnlicher Mensch sein Leben, ein Heerführer sein Glück, ein König sein Reich setzt. – »General,« sagte er zu Monk, »Sie haben das Recht zu schweigen. Ich verlange daher nicht, daß Sie mir antworten, sondern nur, daß Sie mich anhören. Sie machen mir einen schmerzlichen Vorwurf, indem Sie behaupten, ein von mir abgesandter Verräter hätte Ihnen eine Falle gestellt. Damit können Sie nicht diesen Herrn hier meinen, den Chevalier d'Artagnan, dem ich für seine uneigennützige Anhänglichkeit tiefen Dank schulde. Der Herr Chevalier ist nämlich ganz aus eigenem Antriebe, und ohne daß ich etwas von seinem Vorhaben wußte, nach England gefahren, um seinen früheren glänzenden Waffentaten eine neue hinzuzufügen. Sie können mit Ihren Worten vielmehr nur auf den Grafen de la Fère anspielen, der in meinem Auftrag nach Newcastle gereist ist –« – »Athos,« rief d'Artagnan dazwischen. – »Ich glaube, dies ist sein Spitzname,« fuhr Karl II. fort. »Er sollte für mich nach einer Million Geldes suchen, die als letztes Besitztum meines Vaters in der Abtei von Newcastle verborgen lag, und dabei gleichzeitig eine Unterredung mit Ihnen, General, herbeiführen. Nun ist, wie mir scheint; die Unterhandlung zwischen Ihnen und meinem Abgesandten durch diesen Biedermann hier auf unfreiwillige Weise unterbrochen worden. Lassen Sie sich das nicht zu Herzen gehen, Herr d'Artagnan, Sie haben sich als treuer Freund bewährt und mir zur persönlichen Bekanntschaft eines Mannes verholfen, den ich bald nach seinem vollen Werte zu schätzen wissen werde.«
In den Augen des Puritaners leuchtete ein Blitz der Freude auf, doch nur ganz flüchtig, dann sah er wieder kalt und starr vor sich hin. Karl II. fuhr fort: »Für die Ihnen verhängnisvolle Wendung, die die Sache genommen hat, Herr General, bin ich also nicht verantwortlich zu machen. Ich werde es Ihnen sogleich beweisen. Folgen Sie mir, meine Herren!« – Mit diesen Worten verließ er das Haus, und Monk und d'Artagnan folgten ihm. Der König ging zum Strande. – »Wo ist das Boot, auf dem Sie herübergekommen sind?« fragte er. – »Dort,« antwortete der Chevalier, »und in Kanonenschußweite liegt die Bark – man kann sie in der Finsternis der Nacht nicht erkennen.« – »Aber Sie wissen, wo sie liegt, und werden sie finden?« – »Gewiß, Majestät.«
Darauf wendete der König sich an Monk und sprach: »General, Sie sind frei.« – Ein so großer Meister Monk auch in der Kunst, sich zu beherrschen, war, so vermochte er doch nicht einen leisen Ausruf der Ueberraschung zu unterdrücken. Karl II. fuhr fort: »Wecken Sie ein paar Fischersleute im Dorfe und besetzen Sie mit diesen das Fahrzeug. Noch in dieser Nacht können Sie die Reise antreten. Chevalier d'Artagnan wird Sie begleiten. Ich stelle meinen Freund und treuen Helfer unter den Schutz Ihrer Ehre.« – Monk ließ einen neuen Ausruf der Verwunderung hören, und der Chevalier seufzte tief. – »Und nun, General, gute Fahrt und Gott befohlen! Wir sehen uns bald wieder.« Nach diesem Gruße machte Karl II. kehrt und verschwand in der Dunkelheit.
»Das Blättchen hat sich gewendet,« brummte d'Artagnan mürrisch. »Gewähren Sie mir noch ein paar Minuten Frist. Ich muß meine Leute ablöhnen.« – Monk nickte stumm, und der Chevalier pfiff dreimal. In wenigen Augenblicken waren sie von zehn Matrosen d'Artagnans umringt. Er warf ihnen eine mit 2500 Goldlivres gefüllte Börse zu. »Ich muß euch verlassen,« sagte er. »Dies als Abschlagszahlung. Vielleicht komme ich bald wieder, vielleicht dauert's auch lange, kann auch sein, wir sehen uns nimmermehr. Wartet immerhin in Calais ein Weilchen auf mich. Und nun, Herr General,« wendete er sich an diesen, »stehe ich zu Ihrer Verfügung. Wir werden die Reise zusammen machen – wenn anders Ihnen meine Gesellschaft nicht unangenehm ist –« – »Ganz im Gegenteil,« antwortete Monk gelassen, und d'Artagnan murmelte kopfschüttelnd: »Ich glaube, armer Planchet, unsere Aktien stehen faul.«
Während der Seefahrt sprach Monk kaum ein Wort mit d'Artagnan, obwohl er täglich mit ihm speiste und ihn auch sonst die Behandlung, die er durch ihn erlitten, in keiner Weise entgelten ließ. Nach achtundvierzigstündiger Reise landeten sie an der Mündung des Flüßchens wo das Haus stand, das Athos zur Wohnung diente. Monk schlug rasch den Weg zu seinem Lager ein, und d'Artagnan, der sich in sein Schicksal ergeben hatte, folgte ihm willenlos, wie ein Bär seinem Führer. Ingrimmig murmelte er vor sich hin, die Könige seien alle über einen Kamm, und der beste unter ihnen tauge nichts. Im Stillen gelobte er sich, keinem von ihnen je wieder zu dienen.
»Dort brennt ein Haus!« rief Monk plötzlich, »meiner Treu, das können nur Lamberts Soldaten sein.« – Sie beschleunigten ihre Schritte, um den durch die Flammen bedrohten Menschen zu Hilfe zu kommen, denn die Anzahl der Leute, die das brennende Haus umringte, schien ihnen nicht allzu groß zu sein, so daß sie es wagen konnten, sie anzugreifen. Als sie näher kamen, bemerkten sie, daß die Soldaten in offenbarer Mutlosigkeit dem Brande zusahen. Ohne vorher von ihnen bemerkt worden zu sein, trat Monk ganz plötzlich unter sie.
»Was bedeutet dies?« rief er. – Da stieß einer der Soldaten einen Schrei der Ueberraschung aus. »Der General!« – Der Ruf pflanzte sich rasch von Munde zu Munde fort, ein paar Offiziere, unter ihnen Digby, der Adjutant, stürzten herbei. Monk war von seinen Getreuen umringt. – »Was geht hier vor?« rief er nochmals. – Digby, der Adjutant ergriff das Wort: »Wir wollten jenen verräterischen Franzosen, der Euer Gnaden an jenem Abend fortlockte, zur Uebergabe zwingen,« erklärte er. »Aber es ist ihm nicht beizukommen. Er hat schon zehn der Unseligen erschossen, und wir sahen uns genötigt, Feuer an das Haus zu legen, um ihn auszuräuchern.«
»Ha!« rief d'Artagnan, und sein Schwert flog aus der Scheide, »mein Landsmann – mein Freund ist in Lebensgefahr – ihn wollt ihr bei lebendigem Leibe verbrennen. O, ihr Hunde! Athos, Athos, Hilfe ist nahe!« schrie er und wollte über die Soldaten Monks herfallen. Der General fiel ihm in den Arm. »Geduld!« sagte er. »Digby, sorgen Sie dafür, daß das Feuer auf der Stelle gelöscht wird. Wer dem Manne da drin ein Haar krümmt, büßt es mit dem Leben. Ist in meiner Abwesenheit eine Schlacht geliefert worden?« – »Wozu, Herr General?« sagte Digby. »Täglich laufen hunderte von Lamberts Soldaten zu uns über. In acht Tagen wird sein Heer zusammengeschmolzen sein, wie Schnee an der Frühlingssonne. Entschuldigen Sie uns, Herr General, wir glaubten Sie schon verloren.«
»Sie sind von Sinnen,« versetzte Monk. »Wie könnte ein Mann wie ich verlorengehen? Darf ich mich etwa nicht entfernen, ohne es an die große Glocke zu hängen? Muß deshalb ein Ehrenmann, ein Freund von mir, wie ein Räuber belagert und ausgeräuchert werden? Bei Gott, ich werde die, die der Graf übrig gelassen hat, erschießen lassen.« – Nach diesen Worten wandte er sich um und schüttelte Athos, der sich aus einer stürmischen Umarmung seines Waffenbruders losriß, die Hand. – »Zurück ins Lager!« rief er dann seinen Soldaten zu, und Sie, Digby, haben vier Wochen Arrest, damit Sie künftighin sich besser nach meinen Befehlen richten.«
»Wir sind allein,« fuhr er fort, als die Soldaten sich entfernt hatten. »Nun sagen Sie mir, Graf de la Fère, warum sind Sie geblieben? Sie konnten doch jederzeit Ihre Feluke erreichen.« – »Ich wartete auf Sie, General,« antwortete Athos. »Sie hatten doch versprochen, mir in acht Tagen Bescheid zu geben.« – »Führen Sie mich in Ihr Zimmer!« sagte Monk, und während d'Artagnan mit dem alten Grimaud draußen blieb und sich beide wohl fünf Minuten lang die Hände schüttelten, trat Monk mit Athos in die von Rauch geschwärzte, vom Feuer beschädigte Wohnung. Er ließ sich Papier und Feder geben, schrieb ein paar Zeilen, setzte seinen Namen darunter, steckte das Blatt in einen Umschlag, versiegelte diesen mit seinem Ringe und übergab das Billett dem Grafen mit den Worten: »Machen Sie sich hiermit sofort auf den Weg zu Karl II. Die Fässer bringen Sie mit Hilfe der Fischer, die mich hierhergebracht haben, an Bord. In einer Stunde schon können Sie unterwegs sein. Herr Chevalier!« rief er zum Fenster hinaus. »Sagen Sie Ihrem Freunde Adieu, er kehrt nach Holland zurück.« – »Zurück nach Holland?« rief d'Artagnan. »Und ich?«
»Sie können ihm nachfolgen, wenn Sie wollen,« erwiderte Monk. »Ich bitte Sie jedoch, bei mir zu bleiben. Schlagen Sie mir das ab?« – »Nein, General.« – Als d'Artagnan sich von seinem alten Kameraden verabschiedet hatte, nahm Monk seinen Arm und schritt mit ihm dem Lager zu. Der Chevalier schüttelte, aufs höchste verwundert, den Kopf und dachte bei sich: »Bei Gott, die Aktien von Planchet und Co. scheinen wieder zu steigen. Himmlischer Vater! gib nur, daß Monk nicht soviel Eigenliebe besitze wie ich. Ich muß gestehen, wenn mich jemand in eine Kiste gesteckt und übers Meer geschafft hätte wie ein Kalb, ich würde es ihm nie vergessen, daß er mich eine so lächerliche Figur spielen ließ. Die Haut würde ich ihm abziehen. In einen wirklichen Sarg würde ich ihn stecken zur Erinnerung an den falschen Sarg, in den er mich gepackt wie ein Ladung Heringe.«
11. Kapitel. Karl II. in London
Monks Rückkehr ins Lager war für das ganze Heer ein freudiges Ereignis, denn man hatte ihn schon tot geglaubt. Die Stabsoffiziere umringten ihn, er aber schien sich zu ärgern über die große Freude, die ringsum herrschte. – »Wozu diese Aufregung?« rief er. »Habe ich denn von Schritt und Tritt Rechenschaft abzulegen?« – »Aber, Herr General,« antwortete ein Oberst, »die Herde kann in Schrecken geraten, wenn der Hirt fehlt.« – »Hol euch alle der Teufel,« versetzte Monk. »wenn ihr in Angst und Schrecken verfallt, sobald ich mal nicht da bin.« – Darauf zog er sich in sein Zelt zurück und kam erst nach ein paar Stunden wieder zum Vorschein, um einen Rundgang durch das Lager zu machen und seine und des Feindes Lage zu rekognoszieren. D'Artagnan begleitete ihn, und der General fand großes Gefallen an der Art und Weise, wie der kriegskundige Franzose die Mängel der feindlichen Stellung erörterte und den in Monks Schar herrschenden Geist pries.
Am folgenden Tage wurde zwischen Monk und Lambert ein Waffenstillstand vereinbart, der aber dem letzteren fast noch verhängnisvoller wurde, als eine offene Schlacht hätte werden können. Täglich liefen ganze Scharen von seinen Soldaten zu Monk über. Die Desertion griff in riesigem Maße um sich, und Lambert, der mit der Zuversicht ausgerückt war, Monks ganzes Heer zu verschlingen, sah seine Armee von Tag zu Tag in erschreckender Weise zusammenschrumpfen. Ehe der Waffenstillstand abgelaufen war, mußte er seine Sache verloren geben. Monk hatte einen Sieg errungen, der ebenso vollständig wie unblutig war. Das Lager wurde abgebrochen, der Marsch nach London angetreten. Mehr als je war nun Monk der Liebling des Parlaments, mehr als je war die große Menge des Volkes bereit, allen Entschließungen dieses erfolgreichen Verteidigers zuzustimmen. Und nun tat Monk jenen großen Wurf, der ihn für alle Zeiten in die glorreiche Reihe der Helden der Weltgeschichte stellt. Er vertrieb den Rest der Lambertschen Partei aus London und schlug sein Hauptquartier mitten in der Stadt auf. In einer Sitzung des Parlaments erklärte er, diese Regierungsform genüge nicht mehr den Bedürfnissen der Zeit und gebe keine Gewähr für eine gedeihliche Entwicklung des Staates. Diese Erklärung gab er unter dem Schutze von 50 000 Soldaten ab, und die Mehrzahl der Bevölkerung, 500 000 Bürger, stimmten ihm ohne weiteres bei. Umringt von einer jubelnden Menge, hielt er auf offener Straße hoch zu Roß.
»Bürger und Brüder!« rief er aus. »Karl II. betritt eben den Boden seines Landes. Ich ziehe ihm mit meinen Soldaten entgegen, um ihn zu empfangen und nach London zu geleiten. Wer mir ergeben ist, der folge mir!« – Und sie folgten ihm alle. – »Potzblitz!« murmelte d'Artagnan, der an seiner Seite hielt, »das war ein kühnes Wagestück.« – »Und auf solche verstehen Sie sich ja gut,« antwortete Monk und spielte damit zum erstenmal auf den Handstreich des Chevaliers an. –
»Darf ich wissen, welche schriftliche Botschaft Sie dem Grafen de la Fère nach Holland mitgegeben haben?« fragte d'Artagnan. – »Ich habe kein Geheimnis vor Ihnen, lieber Chevalier,« sagte Monk. »Ich schrieb nur die Zeilen: In sechs Wochen erwarte ich Eure Majestät in Dover.«
*
König Karl hielt mit großem Pomp seinen Einzug in London. Er hatte seine Brüder zu sich gerufen und brachte Mutter und Schwester mit. Die Wiedereinsetzung des angestammten Herrscherhauses war ein Fest für alle drei Königreiche, obgleich das Volk Karl II. nur als den Sohn eines vom Volk gemordeten Mannes kannte. Der Zug war überaus prächtig, und schönstes Wetter begünstigte die Feier. Unter den englischen Trachten und Uniformen fiel die eines französischen Leutnants auf, der mit unverhohlener Ironie in das Treiben blickte und oftmals mit einem fast spöttischen Lächeln nach dem König selbst hinblickte.
»Fürwahr,« dachte d'Artagnan bei sich – denn er war dieser Franzose, »sie überschütten ihn mit Blumen. Wäre er zwei Monate eher gekommen, hätten sie ihn mit Bleikugeln überschüttet. Mich halten die Leute entschieden für etwas ganz Geringes. Für etwas Hohes halten sie nur den König, obwohl er zwölf Jahre verbannt war und fast das Leben eines Bettlers führen mußte. Allenfalls auch noch den General Monk, obgleich er die Reise nach dem Kontinent in einer Kiste gemacht hat.«
Während er solchen Gedanken nachhing, faßte ihn jemand von hinten am Arm. »Athos!« rief er aus. »Sie hier! Warum sind Sie nicht beim Gefolge? Warum reiten Sie nicht an der linken Seite des Königs wie General Monk an der rechten. Sie haben ihm doch ebenso große Dienste geleistet.« – »Ich gehöre nicht zum Gefolge und stehe nicht im Dienste des Königs,« antwortete Athos. »Als Repräsentant Frankreichs aber mich neben ihm zu zeigen, bin ich nicht befugt. Doch mir scheint gar, die glückliche Rückkehr Karls II. stimmt Sie traurig, statt Sie zu erfreuen. Dabei haben Sie in dieser Sache doch ebensoviel getan wie ich.« – »Wahrhaftig?« versetzte d'Artagnan. »Nun, soviel ich sehe, denkt kein Mensch mehr daran. Sie haben vollständig recht, obwohl ich mich nicht gern selbst lobe. Aber wenn alle andern meine Verdienste immer wieder vergessen, so kann ich selbst sie schon einmal ins rechte Licht rücken. Wenn ich General Monk nicht nach Holland geschleppt hätte, würde der König keine Gelegenheit gehabt haben, sich großmütig gegen ihn zu zeigen, und durch diese Großmut allein hat er Monk bewogen, für ihn einzutreten. Das ist sonnenklar, aber ebenso klar ist es, daß ich nun wieder abreise und daß der arme Planchet mir fluchen wird, weil ich ihn um einen Teil seines Vermögens gebracht habe.«
»Ei, was hat denn Planchet damit zu tun?« fragte Athos erstaunt. – »Lieber Freund, Monk bildet sich ein, den König zurückgerufen zu haben, Sie bilden sich ein, ihm die größte Hilfe geleistet zu haben, ich bilde mir ein, ebensosehr daran beteiligt gewesen zu sein, und er selbst bildet sich ein, durch geschickte Unterhandlung wieder auf den Thron gelangt zu sein – aber das alles ist nicht wahr. Die Wahrheit ist, der stolze König Karl II. ist durch einen ganz simpeln Tütchenkrämer namens Planchet wieder zu Ehren und Würden gelangt, denn wenn dieser Tütchenkrämer mir nicht 40 000 Livres zur Verfügung gestellt hätte, würde ich nie imstande gewesen sein, auf die Jagd nach dem General Monk zu ziehen.«
»Lieber Freund, sind Sie denn nicht mehr Philosoph?« entgegnete Athos. »Freut es Sie denn nicht, mir das Leben gerettet zu haben, als die verteufelten Parlamentssoldaten mich bei lebendigem Leibe braten wollten?« – »Gestehen Sie nur, es wäre Ihnen nicht so unrecht geschehen,« antwortete der Chevalier. – »Wie? wo ich doch dem König die Million gerettet habe!« – »Was für eine Million?« – »Nun, das letzte Geld Karls I., das er mir in seiner Todesstunde anvertraute.« – »So hat Karl II. eine Million? Dann sind Sie wohl Schatzmeister des Königs?« – »Meiner Treu, nein! Uebrigens ist die Million schon längst alle, sie hat sich in Samt und Seide und allerlei andere schöne Sachen aufgelöst.« – »Nicht Schatzmeister?« fragte d'Artagnan, »und auch überhaupt nicht bei Hofe? Dann hat der König gewiß auch Sie schon wieder vergessen. Mich sollte es nicht wundern. Man ist's allmählich gewöhnt geworden.«
»Er hat uns beide nicht vergessen, lieber Freund!« antwortete der Graf. »Und damit Sie über Ihre traurige Stimmung hinwegkommen, so begleiten Sie mich in mein Gasthaus. Wir trinken zusammen eine Flasche, gedenken der vergangenen Tage und richten einen heiteren Blick auf die Zukunft, die Ihnen wahrlich zu Unrecht so düster erscheint.« – D'Artagnan folgte ihm, und als er in Athos' Zimmer stand und sich umsah, rief er plötzlich: »Potzblitz! Das ist ja das Gasthaus ›Zum Hirschgeweih! ‹ Das ist ja dieselbe Stube –« – »Ja,« antwortete der Graf lächelnd, »das ist dieselbe Stelle, wo ich todmüde und verzweifelnd niedersank, als Sie am 31. Januar abends zurückkamen.« – »Nachdem ich die Wohnung des maskierten Henkers ausgekundschaftet hatte. Ja, das war ein entsetzlicher Tag!« Und der alte Haudegen sah sich mit Rührung in dem Gemach um, aber es hatte sich sehr verändert. Denn der ehemalige Wirt war reich geworden und hatte sich zur Ruhe gesetzt; der neue Besitzer hatte das Haus den Ansprüchen der Gegenwart entsprechend umgestalten lassen. Nur die alte Landkarte, die Porthos in seinen Mußestunden so gern studiert hatte, hing noch an der Wand. – »Elf Jahre sind seitdem verflossen!« murmelte d'Artagnan. »Mir ist's, als wäre es eine Ewigkeit!« – »Und mir ist's, als sei alles erst gestern gewesen,« antwortete Athos lachend. »Wie freue ich mich, daß Sie bei mir sind, und daß wir mal eine Flasche Sherry leeren können, ohne wie die Windhunde auf der Lauer liegen zu müssen. Ach, säße doch auch Rudolf, mein geliebter Rudolf, jetzt bei uns!«
Während sie beim Glase saßen, trat der Wirt heran und überreichte Athos einen Brief. – »Von Parry!« sagte dieser. »Sehen Sie, d'Artagnan, der König denkt an uns.« – »Das würde höchstens beweisen, daß er an Sie denkt,« versetzte der Chevalier mißmutig. »Lesen Sie!« Athos öffnete das Schreiben; es lautete: »Herr Graf! – Der König hat es tief bedauert, daß Sie heute beim Einzuge nicht an seiner Seite waren. Er erwartet Sie heute abend zwischen neun und elf im Saint-James-Palast.« – »Sie haben schon immer mehr Glück gehabt als ich,« sagte d'Artagnan bitter. – »Aber, lieber Freund, ich nehme Sie selbstverständlich mit,« rief Athos. Ich werde dem König sagen –« – »Nein, nein,« unterbrach ihn der andere mit Stolz, »wenn es etwas Schlimmeres gibt, als selbst betteln, so ist es, durch andere betteln lassen.«
In diesem Augenblick trat der Wirt abermals ein und überreichte einen zweiten Brief, der an d'Artagnan adressiert war und die Worte enthielt: »Herr Chevalier! Der König hat Sie heute in seinem Gefolge vermißt. Und ich ebenfalls. Majestät erwartet mich heute abend um neun im Saint-James-Palast. Ich fordere Sie auf, mich zu begleiten. Die Audienz ist bewilligt. Monk.«
*
Die beiden Freunde gingen zusammen zum Palast. Die Korridore waren von Höflingen und Bittstellern angefüllt. Alle Anwesenden musterten mit Erstaunen die fremden Gewänder der unbekannten Männer, deren edle, ausdrucksvolle Züge allgemein auffielen. Am Ende des Korridors entstand eine Bewegung. General Monk erschien in Begleitung von zwanzig Offizieren. Sofort war er von einer Schar von Höflingen umringt, die sich durch ihn den Weg zur königlichen Gunst zu bahnen gedachten.
»Sie vergessen, meine Herren,« sagte er in der ihm eignen Derbheit, »ich bin nichts mehr. Vor kurzem noch befehligte ich die Armee der Republik, jetzt aber habe ich den Oberbefehl an den König abgetreten.«
Nach einem Weilchen öffnete sich die Tür der Innengemächer, und Karl II. erschien auf der Schwelle und fragte nach dem General. Als er ihn erblickte, eilte er auf ihn zu und schüttelte ihm die Hand. »General,« rief er laut, »ich habe eben das Diplom unterzeichnet, das Sie zum Herzog von Albemarle ernennt. Es ist mein Wille, daß in meinem Reiche keiner Ihnen an Macht und Reichtum gleichkomme; denn keiner, den edlen Montrose ausgenommen, ist Ihnen an Redlichkeit, Mut und Begabung gleich. Meine Herren, der Herzog von Albemarle ist Oberbefehlshaber unserer Land- und Seemacht. Sie haben ihm, meine Herren, Folge zu leisten.« – Während die Anwesenden sich tief verneigten, raunte d'Artagnan dem Grafen zu: »Sollte man es glauben, daß dieses Herzogtum und dieser Oberbefehl zu Wasser und zu Lande in einer sechs Fuß langen und drei Fuß breiten Kiste Platz gehabt hat?« – »Freund, es haben noch weit imposantere Größen in noch weit kleineren Kisten – und zwar für immer – Platz,« murmelte Athos.
Der König schritt weiter, und Monk trat zu den beiden Franzosen. »Sie haben ja Audienz,« sagte er. »Treten Sie in dieses Kabinett.« – In diesem Augenblick sah der König sie und eilte herbei. »O, meine Franzosen!« rief er. »Nein, Monk, gleich in mein Arbeitszimmer! Ich habe jetzt Zeit für diese Herren.« – Er entließ sein Gefolge und trat mit den beiden Freunden ein. – »Herr Chevalier d'Artagnan,« begann er, »es freut mich, Sie wiederzusehen. Sie haben mir einen sehr wichtigen Dienst geleistet, und ich bin Ihnen zu großem Dank verpflichtet. Wenn ich nicht fürchtete, die Befugnisse meines Oberbefehlshabers zu beeinträchtigen, so würde ich Ihnen in meiner Umgebung einen Ihrer würdigen Posten verleihen.« – »Majestät,« antwortete d'Artagnan, »als ich aus französischen Diensten schied, habe ich gelobt, nie einem andern König zu dienen.« – »Schade,« sagte der König. »Ich hätte gern viel für Sie getan. Sie gefallen mir. Sehr schade – doch ist dann ja wohl nicht weiter darüber zu reden,« und er überließ d'Artagnan einer schmerzlichen Enttäuschung. – »Worte! Worte! Hofweihwasser, ich wußte es wohl!« murmelte dieser. »Könige haben ein großes Talent, Anerbietungen zu machen, von denen sie im voraus wissen, daß man sie ablehnen muß. Das ist eine billige Weise, sich großmütig zu zeigen. O, wie dumm von mir, auch nur aus einen Augenblick Hoffnung zu hegen.«
Der König hatte sich inzwischen an Athos gewendet. »Graf, Sie waren mir ein zweiter Vater und haben mir einen unbezahlbaren Dienst geleistet. Mein Vater hat Sie schon zum Ritter des Hosenbandordens ernannt; das ist eine Ehre, deren sich nicht einmal alle Könige Europas rühmen können. Desgleichen tragen Sie den Orden vom heiligen Geiste; ich füge nun noch den des Goldenen Vlieses hinzu.« Mit diesen Worten nahm er den Orden von seinem eignen Halse und hängte ihn dem knieenden Athos um. »Herr Herzog,« wendete der König sich abermals an Monk, »ich vergaß noch eins: Sie sind zum Vizekönig von Irland und Schottland ernannt.« – Der Herzog ergriff des Königs Hand, tiefbewegt durch diese Gunstbezeugung, die alle seine Erwartungen, wenn er überhaupt solche gehegt hatte, weit übertraf. »Und nun wäre nur noch eins zu erledigen. Sie wohnen mit dem Chevalier d'Artagnan zusammen, nicht wahr?« – »Ja, ich bot ihm ein Zimmer in meinem Hause an,« sagte Monk. – »Und das ist auch in der Ordnung,« meinte der König lächelnd. »Sie sind ja noch immer der Gefangene des Chevaliers. Aber seien Sie ohne Sorge, ich werde Ihr Lösegeld bezahlen.« – D'Artagnan spitzte die Ohren, seine Augen leuchteten wieder. – »Der General,« fuhr Karl II. fort, »ist nicht reich und könnte nicht soviel zahlen, wie er wert ist. Jetzt, wo er Vizekönig ist, ist sein Wert aber so sehr gestiegen, daß auch ich nur das zahlen möchte, was er als General wert war. Also haben Sie Nachsicht mit mir, d'Artagnan. Wieviel bin ich Ihnen schuldig?«
»Als ich ihn gefangennahm,« antwortete d'Artagnan, »hatte ich es ja auch nur mit dem General Monk zu tun, also steht mir auch nur das für einen General übliche Lösegeld zu. Der General möge mir seinen Degen geben, und ich bin befriedigt; denn nur sein Degen ist soviel wert wie er selbst.« – »Ein wackres Wort,« rief der greise Feldherr, den Degen ziehend. »Hier ist er, Chevalier. Sie sind der erste, dem er überliefert wird.« – »Ei, ei!« rief Karl II. »Ein Degen, der einem König auf den Thron geholfen hat, muß unter den Kronjuwelen glänzen. Chevalier, verkaufen Sie mir diesen Degen für 200 000 Livres. Wenn das zu wenig ist, so sagen Sie es.« – »Es ist zu wenig,« sagte d'Artagnan ernst. »Der Degen ist mir nicht feil, und nur weil Eure Majestät ihn durchaus haben wollen, lasse ich mich auf ein Gebot ein. Die Achtung vor dem berühmten Krieger, dem die Waffe gehört, verlangt es, eine höhere Summe zu fordern. Zahlen Sie 300 000 Livres – oder nehmen Sie ihn geschenkt.« – Er reichte den Degen dem König. Karl II. lachte und schrieb eine Anweisung auf 300 000 Livres. D'Artagnan wendete sich, das Papier in der Hand, zu Monk. »Ich weiß, ich habe es billig gemacht,« sagte er, »aber ich kann nun einmal nicht habgierig sein.« – Der König lachte so herzlich, wie der zufriedenste Bürger seines Reiches. – »Meine Herren,« sagte er, »ehe Sie heimreisen, kommen Sie noch einmal her. Ihnen, Herr Graf, habe ich noch eine wichtige Botschaft zu übertragen. Und nun leben Sie wohl!«
»Sind Sie jetzt zufrieden?« fragte Athos draußen seinen Freund. – »Es ist noch nicht aller Tage Abend,« antwortete dieser. »Noch war ich nicht beim Schatzmeister. Das hier ist vorderhand bloß ein Stückchen Papier.«
12. Kapitel. D'Artagnan als reicher Mann
Der Chevalier bekam sein Geld in klingender Münze ausgezahlt, und so gut er sich sonst zu beherrschen wußte, ging diesmal doch die Freude, plötzlich ein reicher Mann geworden zu sein, mit ihm durch, hatte er doch noch nie so viele Rollen Münzen auf einmal gesehen! In seiner Wohnung schloß er sich ein und vergaß über der Betrachtung seines Reichtums das Zubettgehen. Alsbald stellten sich die Schattenseiten so großen Besitzes bei ihm ein, denn er schwebte in beständiger Furcht vor Dieben und zerbrach sich den Kopf darüber, wie und wo er sein Geld am sichersten verwahren könne. Er getraute sich nicht mehr aus dem Zimmer heraus und bat schließlich Athos, ihm Grimaud zu leihen, der nun als Wächter bei dem Schatze zurückgelassen wurde.
Die beiden Freunde begaben sich zum Saint-James-Palast, um von König Karl II. Abschied zu nehmen. – »Sie haben keine Ursache, mir zu danken, Chevalier,« sagte der König. »Die Geschichte von der Kiste, in die Sie den General gepackt haben, ist viermal so viel wert, wie Sie bekommen haben. Uebrigens, hat Monk Ihnen wirklich schon verziehen? Es war ein Teufelsstreich, den ersten Mann der englischen Revolution einzupacken wie einen Hering. Ich würde an Ihrer Stelle, Herr Chevalier, auf meiner Hut sein. Monk nennt Sie ja seinen Freund, aber seine tiefen Augen deuten auf ein gutes Gedächtnis und seine hochgeschwungenen Brauen auf einen stolzen Charakter. Nun, ich werde versuchen, Sie vollends auszusöhnen.«
»Sie jagen mir einen großen Schreck ein, Majestät,« antwortete d'Artagnan ernsthaft bestürzt. »Tun Sie lieber nichts in der Sache; denn wenn Sie es in der Tonart anfangen, wie jetzt eben, dann läßt mich der Herzog ermorden. Ich möchte diese Unterhandlung schon persönlich führen. Das beste wäre freilich, ich nähme meinen Abschied, und wenn Eure Majestät mir nichts weiter zu befehlen haben –« – »Ich wünsche nur noch, daß Sie zu meiner Schwester, Lady Henriette, gehen. Sie muß Sie kennen lernen – sie muß im Notfall auf Sie zählen können. Parry!« rief er hinaus, und der alte Diener erschien. »Was macht Rochester?« – »Er macht mit den Damen eine Spazierfahrt auf dem Kanal,« antwortete Parry. – »Und Buckingham?« – »Ist mit dabei.« – »Schön. Führe den Chevalier zu Villiers und ersuche den Herzog von Buckingham, ihn meiner Schwester vorzustellen. Und danach, Chevalier, können Sie abreisen, sobald es Ihnen beliebt. Eins meiner Kriegsschiffe steht Ihnen zur Ueberfahrt zur Verfügung. Graf de la Fère wird mit Ihnen fahren. Und nun leben Sie wohl! Behalten Sie mich lieb, wie auch ich Ihnen stets von Herzen gut sein werde.«
*
Auf dem dunkeln Wasser des Kanals glitt majestätisch eine lange, flache Barke dahin, über der die englische Flagge wehte. Ueber der Mitte des Fahrzeugs erhob sich ein Baldachin, das Innere war mit Damast ausgeschlagen, dessen Fransen im Wasser schleppten. Acht Ruderer bewegten das glänzende Prunkschiff, das eine zahlreiche, lustige Gesellschaft trug. Den Ehrenplatz unter dem Thronhimmel hatte Lady Henriette Stuart, die Enkelin Heinrichs IV., die Tochter Karls I., die Schwester Karls II., inne. Um sie herum saß eine Schar von Hofherren und Damen. Vier Lautenschläger und zwei Sänger erfreuten das Ohr der Herrschaften. – Die Prinzessin, die mit ihrer Mutter zusammen im Louvre zu Paris lange Zeit hatte darben müssen, war aus dem schrecklichen Traum dieses Elends erwacht und zu Macht und Reichtum zurückgekehrt. Keine Spur der Not, die sie kennen gelernt hatte, war auf dem schönen Antlitz zu erkennen, und die stolze, edle Gestalt schien nie das Joch der Armut kennen gelernt zu haben.
Zwei Herren standen in ihrer unmittelbaren Nähe: Lord Villiers von Buckingham, der Sohn des berühmten Herzogs gleichen Namens, des Günstlings der Anna von Oesterreich, und Vilmot von Rochester. Beide bemühten sich um die Wette, die Prinzessin zu unterhalten, die ebenso kokett wie schön war und, noch frei von aller Liebe, mit den Kavalieren ihrer Umgebung ein grausames Spiel zu treiben pflegte. – »Lassen Sie umkehren, Mylords,« rief sie. »Meine Mutter erwartet mich, und es wird mir nun auch langweilig.« – Das war ein hartes Wort. Buckingham biß sich auf die Lippen; denn er liebte Lady Henriette in allem Ernst und nahm sich daher alles zu Herzen, was sie sagte; Rochester biß sich ebenfalls auf die Lippe, aber da bei ihm die Vernunft stets die Oberhand hielt, so geschah es nur, um sich ein spöttisches Lachen zu verbeißen. Die Prinzessin ließ den Blick über den Rasen des Ufers schweifen und erblickte die Gestalten Parrys und d'Artagnans. – »Wer kommt dort?« fragte sie. – »Es ist nur Parry,« wurde ihr geantwortet. – »Nur Parry?« erwiderte sie. »Will man damit sagen, er sei keine wichtige Person? Er hat sich's in unserm Dienst sauer werden lassen, und ich sehe ihn jederzeit gern. Aber von den hohen Herren werden treue Diener gern rücksichtslos behandelt. Es scheint, er will mich sprechen. Lassen Sie landen, Mylords.«
Eine Minute später legte die Barke an. Lady Henriette nahm Lord Rochesters Arm, obwohl Buckingham ihr den seinen bot, und eilte über die Brücke ans Ufer. »Parry,« rief sie, »guter Parry, ich sehe, du suchst mich. Komm hierher. Seine Augen sind schwach geworden,« setzte sie zu Lord Rochester hinzu. – »O, dafür hat der Mann, der bei ihm ist, umso schärfere. Sie funkeln ja wie das Feuer eines Leuchtturms.« – »Ein imposantes, martialisches Gesicht,« sagte die Prinzessin, »wie man sie nur in Frankreich sieht.« – Rochester und Buckingham bissen sich abermals auf die Lippe.
Parry näherte sich langsam mit der Schwerfälligkeit des Alters der Prinzessin, d'Artagnan schritt würdevoll und selbstbewußt daher, wie es dem Besitzer von 300 000 Livres geziemt. Buckingham schritt ihnen entgegen, und an ihn richtete der alte Diener das Wort. »Wollen Eure Herrlichkeit dem Wunsche des Königs gemäß diesen Herrn der Lady Henriette Stuart vorstellen?« – »Wen habe ich vorzustellen?« fragte der junge Lord in hochfahrendem Tone. – D'Artagnan, leicht erregbar, wie er war, nahm an diesem Ton Anstoß. Mit flammensprühenden Augen sah er den Höfling an. »Den Chevalier d'Artagnan,« antwortete er kurz. – »Ist das alles?« versetzte der Engländer. – »Sie kennen mich nicht?« fragte der Franzose. »Nun, ich habe Ihren Vater sehr gut gekannt.« – Der junge Lord schwieg betroffen, dann sagte er: »Ach, ich glaube mich zu erinnern. Sie sind einer der Franzosen, die mit meinem Vater in geheimer Verbindung standen, nicht wahr? Sie sind es, der meinen Vater kurz vor seinem Tode warnte, und den er so lange vergebens gesucht hat, obwohl Sie doch so viel von uns zu erwarten hatten.« – »O, das Erwarten habe ich in meinem Leben gründlich gelernt, Mylord,« antwortete der Chevalier spöttisch, »ich habe gar vieles erwartet, das nie eingetroffen ist. Doch ich bitte, mich der Prinzessin vorzustellen – sie wundert sich über unser langes Zwiegespräch.«
Buckingham führte ihn zu Lady Henriette. »Majestät haben befohlen, Sie mit dem Chevalier d'Artagnan bekannt zu machen.« – »Damit Königliche Hoheit im Fall der Not einen zuverlässigen Freund und eine feste Stütze haben,« setzte Parry hinzu. »Majestät wünschen, Sie möchten sich nicht nur des Namens, sondern auch der Verdienste dieses Herrn erinnern; Majestät verdanken ihm den Thron.« – Lord Buckingham, Lord Rochester und die Prinzessin sahen sich erstaunt an. – Buckingham half über das peinliche Schweigen hinweg. – »Auch ein alter Bekannter meines Vaters,« sagte er, »und ich hoffe, er wird sich auch mir, dem Sohne, wenn ich einmal nach Frankreich komme, gewogen zeigen.« – »Und nach Frankreich werden Sie kommen, ich stehe Ihnen dafür.« sagte D'Artagnan lächelnd. – »Wieso?« – »O, ich besitze in solchen Dingen eine gewisse Sehergabe, und was ich prophezeie, trifft fast immer ein. Wenn Sie in Frankreich sind, werde ich es mir zur Ehre anrechnen, Ihnen meine Dienste anbieten zu dürfen. Mylady,« wendete er sich zur Prinzessin, »Sie sind eine Tochter Frankreichs, und ich hoffe, auch Eure Hoheit in Paris wiederzusehen. Es soll mich glücklich machen, dann mit einem Auftrag beehrt zu sein, der mir beweist, daß Seine Majestät mich nicht umsonst seiner erlauchten Schwester empfohlen hat.« – Er verneigte sich vor der schönen Prinzessin, die ihm die Hand zum Kusse reichte. – Buckingham seufzte, als er dies sah. – »O, Mylady,« sagte er, »was muß ich tun, um von Eurer Hoheit die gleiche Gunst zu erlangen?« – »Fragen Sie Chevalier d'Artagnan,« antwortete sie. »Er wird es Ihnen sagen können.«
Als d'Artagnan an diesem Tage heimkehrte, machten ihm die Worte, die der König über den General Monk gesprochen hatte, viel zu schaffen. Wenn Monk wirklich nach Rache trachtete, was ja bei der Unberechenbarkeit dieses Charakters immer möglich war, so würde gewiß Karl II. nicht zaudern, den ihm verhältnismäßig fernstehenden Chevalier dem Zorn seines ersten Staatsmannes zum Opfer fallen zu lassen, und nichts zur Rettung des Franzosen oder gar zur Sühne seines Mordes unternehmen. Monk konnte ganz ungestraft den Mann beseitigen, der ihn wie einen Hering in eine Kiste gepackt hatte, das wußte d'Artagnan recht wohl. – »Ich muß mich mit ihm aussöhnen,« dachte er, »und mich davon überzeugen, ob er sich über das Geschehene schon völlig hinweggesetzt hat.«
Er begab sich sogleich in Monks Wohnung und traf ihn in seinem Arbeitszimmer. – »Mylord,« begann er das Gespräch, »ich möchte Sie um einen guten Rat bitten.«
»Lassen Sie hören, Chevalier,« antwortete Monk. – »Seine Majestät der König beliebt manchmal zu scherzen, und Sie wissen, Kriegsleute wie wir können das in gewissen Fällen schlecht vertragen.« – Monk erriet, worauf sich diese Worte bezogen. Eine leichte Röte seiner Wangen verriet dies. Er antwortete jedoch so unbefangen wie möglich: »Ich selbst bin ein Freund der Scherze. Mir hat es seinerzeit sogar Spaß gemacht, die Spottlieder anzuhören, die in Lamberts Lager auf mich gesungen wurden.« – »Ich weiß, Mylord, Sie sind über Kleinlichkeiten erhaben, aber mich berühren Scherze, die sich gegen meine Freunde richten, doch immer schmerzlich. In diesem Falle handelte es sich um Sie, Mylord. Wie kann der König über Sie, der Sie ihm so große Dienste leisten, solche Scherze machen? Wie kann es ihm Vergnügen bereiten, einen Löwen wie Sie mit einer Mücke, wie ich bin, zu ärgern. Wenn nun auch andere von diesem Geheimnis erführen –«
»Von der Geschichte meiner Gefangennahme,« rief Monk. »Das war gut gemacht und damit basta! Sie sind ein Kriegsmann und haben bewiesen, daß Sie ebensoviel Schlauheit wie Tapferkeit besitzen. Es war meine Sache, auf der Hut zu sein – weiter ist darüber nichts zu sagen.« – »Sehr wohl, Mylord,« antwortete d'Artagnan; »wenn es nur nicht gerade eine Kiste gewesen wäre, mit Luftlöchern für Nase und Mund. Wahrlich, Mylord, wenn der König redete, es wäre furchtbar. In eine Kiste gesperrt zu werden, das ist keine Sache für einen Mann, der mit Krone und Szepter spielt wie ein Zigeuner mit bunten Kugeln. Sie begreifen, Ihre Feinde würden sich weidlich daran ergötzen.« – »Beruhigen Sie sich,« versetzte Monk, sichtlich aus der Fassung gebracht, »der König wird nicht darüber sprechen und keinen Scherz mit meiner Person treiben, ich bürge Ihnen dafür. Auch hat er ein zu gutes Herz, um so zu handeln. In Ihre Verschwiegenheit, Chevalier, setze ich fast noch weniger Zweifel.«
»Was meine Person anbetrifft, Mylord, so können Sie ruhig sein, aber leider war ich bei dem Unternehmen nicht allein,« sagte d'Artagnan, »und meine Begleiter wußten auch, wen ich gefangen hatte. Ich fürchte nun, daß sie in meiner Abwesenheit – ja, wenn ich selbst dort wäre, so könnte ich dafür sorgen, daß – kurz und gut, Mylord, wäre es nicht geraten, daß ich so bald wie möglich zurückkehrte?« – »Gewiß, wenn Sie meinen, daß Sie persönlich diese Schnapphähne im Zaume halten können. Gehen Sie nach Frankreich zurück, Chevalier, und da Sie ein liebenswürdiger Kavalier von Geist und Mut sind, so nehmen Sie von mir ein Andenken an, durch das England Ihnen ans Herz wachsen soll, durch das Sie sich bewogen fühlen sollen, bald einmal wiederzukommen. Ich besitze am Clyde-Flusse ein kleines Landhaus mit hundert Morgen Landes. Nehmen Sie es zum Geschenk an.« – »O Mylord –« – »Sie werden dann dort eine Ihnen allzeit offene Zufluchtsstätte haben –« – »Ich sollte Eurer Herrlichkeit so sehr verpflichtet sein, Sie beschämen mich, Mylord.« – »Im Gegenteil, Chevalier,« antwortete Monk, »ich bin Ihnen großen Dank schuldig. Ich setze sogleich die Schenkungsurkunde auf,« und er drückte ihm die Hand und verließ mit ihm das Zimmer.
»Ein wackrer Mann!« murmelte d'Artagnan. »Nur schade, daß er das nur aus Furcht vor mir, nicht aus wahrer Zuneigung tut. Nun, die Zuneigung werde ich mir auch noch erwerben. Doch wozu?« beruhigte er sich, »er ist ja ein Engländer! –Da wäre ich denn nun Grundbesitzer,« setzte er sein Selbstgespräch fort. »Das ist ein Gewinst, den ich nicht mit Planchet, dem Krämer, zu teilen habe. Das hat mir ganz allein mein Genie eingebracht.« – Er kehrte zu Athos zurück, und beide Freunde speisten in guter Laune zusammen. Noch am Abend traf vom König die Erlaubnis zur Abreise ein, und gleichzeitig schickte Monk dem Chevalier die Schenkungsurkunde, die der vorsichtige und großmütige Mann in der Form einer Verkaufsakte, mit einer Quittung über gezahlte 15 000 Livres, abgefaßt hatte. Athos erhielt mehrere Dokumente, die den geheimen Auftrag betrafen, welchen König Karl II. ihm erteilt hatte. – »Ich darf also nicht wissen, was Sie da erhalten haben, Athos?« fragte d'Artagnan. »Es gab eine Zeit, wo Sie derlei Papiere offen auf den Tisch gelegt und zu mir gesagt hätten: d'Artagnan, lesen Sie das Geschreibsel Porthos und Aramis vor.« – »Das stimmt, Freund,« antwortete Athos, »aber das war die Zeit des jugendlichen Vertrauens. Hier liegt die Sache ein wenig anders, und ich kann, ich darf nicht –« – »O, beruhigen Sie sich,« lachte d'Artagnan, »mir sind von jetzt ab auch alle geheimen Sendungen der Welt höchst gleichgültig.« – – – –
Karl II., der in Kleinigkeiten stets einen sehr feinen Takt bewies, ließ sie am Themsestrand durch ein mit Gardematrosen besetztes Jachtboot erwarten, das Befehl hatte, sie an Bord des Kriegsschiffes zu bringen. Um Mitternacht stach das Schiff in See, und um acht Uhr früh waren Athos und sein Gefährte in Boulogne. Der Graf mietete Postpferde, um nach Paris zu fahren. d'Artagnan eilte in die Fischerkneipe, wo er seine Spießgesellen zu finden gedachte. In der Tat hatten diese das Warten auch noch nicht aufgegeben und begrüßten ihren Anführer mit allgemeinem Jubel. Er zahlte ihnen den Rest des versprochenen Soldes. »Und nun noch eins,« sprach er, während die Männer vergnügt die Taler einsteckten. »Der Mann, den wir gefangennahmen, war der Schatzmeister des in England allmächtigen Generals Monk. Ich habe ihn deshalb auf neutrales Gebiet, nach Holland geschafft, damit er dort den neuen Handels- und Schiffahrtsvertrag unterzeichne, der ja inzwischen auch schon in Kraft getreten ist. Selbstverständlich aber stehen wir nun zwischen Galgen und Bastille, denn bei der herrschenden Freundschaft zwischen Frankreich und England auf Grund des neuen Handelsvertrags darf kein Wort darüber ruchbar werden, daß wir dem General Monk durch die Gefangennahme seines Schatzmeisters sozusagen das Messer an die Kehle gesetzt haben. Richtet euch also danach, wenn euch eure Hälse lieb sind. Und somit Gott befohlen!«
Er entließ sie mit einer Handbewegung. – »Menneville!« setzte er hinzu, sich an jenen Mann wendend, den er bei dem Wagestück mehr als die andern ins Vertrauen gezogen hatte, »bleiben Sie noch einen Augenblick da. Ich habe Ihnen allein noch etwas zu sagen. Ich sah es wohl an Ihren Blicken, daß Sie meiner Erzählung keinen Glauben schenkten. Sie fürchten sich weder vor dem Galgen noch vor der Bastille, das weiß ich, aber tun Sie mir wenigstens den Gefallen, sich vor mir zu fürchten. Wenn ein unbedachtsames Wort über Ihre Lippen kommt, so schlachte ich Sie ab wie ein junges Huhn, verstanden? Ich habe die Absolution des heiligen Vaters in der Tasche.« – »Ich schwöre Ihnen, ich weiß nichts, Herr Chevalier,« antwortete Menneville, »und werde mich streng nach Ihrer Vorschrift richten.« – »Ich wußte, Sie haben Kopf und Herz auf dem rechten Flecke,« fuhr d'Artagnan fort; »hier diese fünfzig Taler, die ich Ihnen als Extrazugabe schenke, werden Ihnen beweisen, daß ich was auf Sie halte. Damit könnten Sie nun aber wirklich ein anständiger Mensch werden. Es ist eine Schmach, daß ein so tüchtiger Kerl und ein so guter Name auf immer vom Rost eines lüderlichen Lebenswandels bedeckt bleiben sollen. Werden Sie ein Mann, der keinen falschen Namen mehr zu führen braucht, und führen Sie erst mal von diesem Gelde ein Jahr lang ein anständiges Leben. Dann kommen Sie zu mir, und potzblitz! ich werde etwas für Sie tun.«
Am folgenden Tage ritten Athos und d'Artagnan nach Paris, wo sie am Abend des vierten Tages ankamen. Im Begriff, sich zu trennen, sahen sie einander an, und Athos rief: »Warum muß denn geschieden sein? Sie können doch bei mir in Blois wohnen. Sie haben ja nun Geld und sind ein unabhängiger Mann. Ich kann Ihnen auch in der Nähe von la Fère ein schönes Grundstück mit Jagd kaufen. Sie lieben doch die Jagd. Wir ziehen dann zusammen auf die Pirsch.« – D'Artagnan faßte beide Hände des Grafen. – »Ich sage weder ja noch nein, lieber Freund,« antwortete er. »Erst muß ich meine Angelegenheit hier in Paris ordnen, und erst muß ich mich auch daran gewöhnt haben, reich zu sein. Solange ich mich noch nicht daran gewöhnt habe, bin ich ein unausstehlicher Kerl – ich kenne mich. Und nun adieu!« – Die beiden Freunde gingen auseinander.
Bei Planchet wurde eben der Laden geschlossen. D'Artagnan stieß mit dem Fuß gegen die Tür, daß die Sporen klirrten. Planchet machte noch einmal auf und rief, als er seinen früheren Herrn erkannte: »Ach, mein Gott!« – Mehr konnte er nicht herausbringen. D'Artagnan trat mit finsterm Gesichtsausdruck ein und setzte sich ohne ein Wort des Grußes. – »Herr Chevalier,« begann Planchet, dem das Herz klopfte beim Anblick dieses mürrischen Gesichts, »wie geht es denn?«
»Leidlich.« – »Sie sind doch nicht verwundet worden?« – »Bah!« – »Aber viel saure Arbeit hat's gegeben, nicht wahr?« – »Ja.« – Den Krämer überlief es eiskalt. – »Ich möchte ein Glas Wein trinken,« sagte d'Artagnan traurig. – Planchet holte Flasche und Glas.
»Was ist das für Gesöff?« fragte der Chevalier. – »Ihr Lieblingstropfen, Herr d'Artagnan, Anjouwein!« und er goß ein. »Gnädiger Herr,« fuhr er fort, »ich bin ja Soldat gewesen, ich habe ja Courage – lassen Sie mich doch nicht so lange in schwebender Pein. Raus damit! Unser Geld ist verloren, nicht wahr?« D'Artagnan antwortete nicht. Planchet war blaß geworden, ein würgender Laut entfuhr seiner Kehle, endlich stieß er hervor: »Zwanzigtausend Livres sind 'ne hübsche Summe. Aber wenn es doch mal nicht anders ist, dann müssen wir das Unvermeidliche mannhaft tragen. Die Hauptsache ist doch, daß Sie nicht das Leben dabei verloren haben. Nur nicht gleich verzweifeln! Euer Gnaden ziehen nun zu mir, ich gebe Ihnen Obdach und Nahrung. Ich werde doch meinen alten guten Herrn nicht verkommen lassen. Und wenn das Geschäft nicht mehr gehen sollte, dann essen wir die Mandeln und Rosinen auf und verzehren gemeinschaftlich alles bis auf den letzten Dreierkäse!«
D'Artagnan sprang auf. »Planchet,« rief er aus, »du bist doch ein guter Kerl. Aber hast du nicht bloß Komödie gespielt? Hast du nicht schon durchs Fenster das Pferd mit den Geldsäcken gesehen?« – Nun fiel Planchet aus den Wolken. – »Was für ein Pferd? Was für Geldsäcke?« schrie er. – »Das dort auf der Straße – unter deinem Warenschuppen!« antwortete d'Artagnan. »Siehst du nicht, es ist beladen. Und was meinst du, was es trägt? Säcke mit guten englischen Goldstücken. Heda, Ladenschwengel!« rief er hinunter, »bringt die Säcke herauf.« – Einen Augenblick später stolperten die Jungen unter der schweren Last herein. D'Artagnan nahm ihnen die Säcke ab und schickte sie fort, worauf er sorgsam die Tür verschloß. Dann breitete er eine Decke auf dem Boden aus und schnitt die Beutel entzwei. Eine Flut von Gold quoll auf den Boden. Planchet sah ein Weilchen zu, aber als die metallne Masse ihm an den Waden hinaufzusteigen begann, drehte er sich wie ein Kreisel herum, stieß einen Schrei aus und fiel in Ohnmacht, mitten in das Gold hinein.
Ein Glas Wein brachte ihn wieder zur Besinnung.
»Potzblitz!« rief der Chevalier. »100 000 Livres gehören Ihnen. Zählen Sie sich Ihren Anteil ab. Vor einer halben Stunde wollte ich dir soviel gar nicht gönnen, aber du bist ein braver Kerl. Also rechnen wir ehrlich ab – glatte Rechnung gute Freunde!« – »Ei ja, ei ja!« rief Planchet, »und während ich zähle, lassen Sie mich wissen, wie alles zugegangen ist. Die ganze Geschichte, Herr Chevalier!«
Zweiter Teil. Drei Minister
1. Kapitel. Athos bei Hofe
An demselben Abend, da die beiden Freunde in Paris anlangten, war im königlichen Palast der gesamte Hof um den Kardinal Mazarin versammelt. Durch spanische Wände waren drei Tische voneinander getrennt. An einem derselben saß der junge König mit seiner Gemahlin und der Königin-Mutter. Die beiden Frauen spielten zusammen gegen Ludwig und den Kardinal, der im Bett lag und sehr angegriffen aussah. Die junge Landesherrin schien mehr auf die Augen ihres Gemahls, an dessen Seite sie sich wahrhaft glücklich fühlte, als auf die Karten zu achten. Mit umso größerer Aufmerksamkeit, ja fast mit Habgier folgte Mazarin dem Spiele; er war jedoch so schwach, daß die Gräfin von Soissons für ihn die Karten halten mußte. Er hatte sich von Bernouin schminken lasten, aber das aufgetragene Rot, das namentlich an den Backenknochen erglänzte, ließ die Blässe des Gesichts und den gelben Ton der Stirn nur um so mehr hervortreten. Seine Augen leuchteten fieberhaft, und in diese Augen blickten der König und die beiden Königinnen oftmals mit dem Ausdruck der Sorge und der Scheu, waren es doch die beiden Sterne, in denen die Franzosen des 17. Jahrhunderts an jedem Abend und Morgen ihr Geschick zu lesen pflegten. Mazarin spielte weder mit Glück noch mit Unglück, war daher weder vergnügt noch traurig.
Am ersten der beiden andern Tische saß Herzog Philipp von Anjou, der Bruder des Königs. Auf die Lehne seines Sessels stützte sich Chevalier von Lorraine, ein Günstling des Herzogs, und lauschte voll Neid den Worten eines andern Günstlings Philipps, des Grafen von Guiche, der von den Abenteuern Karls II. erzählte.
»Mein Vetter Karl ist kein schöner Mann,« sagte Philipp leichthin, »aber er ist tapfer und hat sich geschlagen wie ein Landsknecht. Wenn er so fortfährt, wird er auch noch eine Schlacht gewinnen.« – »Er hat ja keine Soldaten,« meinte Chevalier von Lorraine. – »Nun,« versetzte Philipp, »wenn ich König von Frankreich wäre, würde ich ihm eine Armee zur Verfügung stellen.« – Ludwig XIV. errötete, und Mazarin schien nur auf das Spiel zu achten. – »Sein Schicksal muß sich inzwischen entschieden haben,« sagte Graf von Guiche. »Hat Monk ihn betrogen, dann endet Karls Laufbahn mit Gefangenschaft, vielleicht mit dem Tode.« – »Ich möchte wohl wissen, wie es abgelaufen ist!« rief Philipp stürmisch. »Gewiß weißt du es schon, Bruder.« – »Frage den Kardinal,« antwortete Ludwig, abermals errötend. – »Außerhalb des Staatsrats, mein Sohn,« warf Anna von Oesterreich dazwischen, sich an Philipp wendend, »wird nicht von Staatsangelegenheiten gesprochen.« – Philipp nahm diesen Verweis gutgelaunt hin und machte erst gegen seine Mutter, dann gegen seinen Bruder eine Verbeugung, die, tief wie sie war, komisch wirkte.
Plötzlich erschien der Kammerdiener Bernouin hinter dem Kardinal und meldete: »Eminenz, ein Abgesandter des Königs von England.« – Der Kardinal sah betroffen auf, und alsbald erhob sich Ludwig XIV., um nicht indiskret zu erscheinen, und wünschte Mazarin gute Nacht. – »Bleiben Sie, Majestät,« sagte der Minister leise, »ich bin sofort zurück.« – Darauf verschwand er hinter dem Vorhang seines Bettes und folgte, im Schlafrock, dem Kammerdiener in sein Privatkabinett. Dort fand er den Grafen de la Fère. Mazarin trat, wie er pflegte, sehr leise ein und musterte ein Weilchen unbemerkt das Gesicht des Grafen. Er war der Meinung, aus den Zügen von Leuten, die sich unbeobachtet glaubten, das Ergebnis der Unterredung im voraus erraten zu können. Beim Grafen de la Fère hatte er damit aber kein Glück, ja er las in dessen Gesicht nicht einmal den schuldigen Respekt vor der Nähe des Allgewaltigen. Der Menschenkenner in Mazarin witterte daher von vornherein in der kühlen, fast hochmütigen Zurückhaltung des Grafen eine gewisse Feindseligkeit gegen seine Person. Athos trug ein schwarzes Gewand, auf dem man die drei Orden, die ihm verliehen waren, den vom Hosenband, den vom heiligen Geist und den vom Goldnen Vlies, erblickte: Auszeichnungen, die man bisher nur auf der Brust von Königen oder Schauspielern gesehen.
»Wie ich höre,« sagte Mazarin, »handelt es sich um eine Botschaft aus England.« Mit diesen Worten setzte er sich und gab seinem Kammerdiener Bernouin und seinem Sekretär Brienne ein Zeichen, ihn zu verlassen.
»Eine Botschaft von Seiner Majestät dem König von England,« antwortete Athos. – Mazarin, die Orden und das Gesicht des Gesandten aufmerksam betrachtend, sprach: »Sie beherrschen für einen Engländer die französische Sprache sehr gut.« – »Ich bin kein Engländer, sondern ein Franzose,« antwortete Athos. – »Sonderbar, daß der König von England seine Gesandten unter unsern Landsleuten aussucht,« meinte der Minister. »Ihr Name?« – »Graf de la Fère.« – Mazarin zuckte leicht mit den Achseln, als wollte er sagen: »Kenne ich nicht.« Und laut setzte er hinzu: »Sie sind gekommen, mir anzuzeigen –« – »Dem König von Frankreich anzuzeigen.« antwortete Athos, ohne das Stirnrunzeln Mazarins zu beachten, »daß Seine Majestät König Karl II. von England den Thron seiner Väter wieder bestiegen hat.«
»Haben Sie das nötige Kreditiv?« fragte Mazarin mißmutig. – Athos zog ein Dokument hervor. – »Verzeihung,«
sagte er, als Mazarin die Hand danach ausstreckte, »es ist an den König adressiert.« – »Da Sie Franzose sind, so müssen Sie wissen, was für Befugnis der erste Minister am französischen Hofe hat,« entgegnete Mazarin ungehalten. – »Es gab eine Zeit, wo ich mich noch mit den Ministern befaßte,« versetzte Athos, »jetzt aber verkehre ich nur noch mit Königen.« – »Dann werden Sie hier weder zum Minister noch zum König gelangen,« rief Mazarin voll Zorn. »Was verstehen Sie unter Diplomatie?« – Athos stand auf, steckte die Depesche ein und verneigte sich, als wenn er gehen wollte. – »Eminenz,« sagte er, »wenn König Karl II. diese Depesche an Seine Majestät König Ludwig XIV. schreibt, so ist das Schreiben eben nicht an den Kardinal Mazarin gerichtet. Dabei ist von Diplomatie gar keine Rede.«
Mazarin richtete sich auf und schlug mit der Hand an seine welke Stirn. »Ah, nun entsinne ich mich!« rief er. »Nun kann ich mich auch nicht mehr wundern. Jetzt erkenne ich Sie.« – »Eure Eminenz hätten mich bei Ihrem vortrefflichen Gedächtnis eigentlich gleich erkennen sollen,« antwortete Athos. – »Immer Eisenfresser? Wie nannte man Sie doch gleich? Potamos – nein – Naxos? Nein, auch nicht. Es war der Name eines Berges – ah! jetzt fällt mir's ein. Athos! Es freut mich, Sie wiederzusehen. Aber die Fronde ist lange vorbei – warum währt Ihr Zorn noch heute? Meiner ist längst verraucht, trotz des Lösegeldes, das Sie mit Ihren Spießgesellen mir bei Rueil erpreßten.« – »Herr Kardinal, ich lasse mich in Betrachtungen dieser Art nicht ein. Es handelt sich hier um einen Auftrag. Wollen Sie mir behilflich sein, ihn auszuführen?« – »Es befremdet mich, daß Sie, Herr Athos,« fuhr Mazarin in boshaftem Tone fort, »sich darauf eingelassen haben, eine Botschaft an »den Mazarin«, wie man zur Zeit der Fronde sagte, auf sich zu nehmen.« – »Ich habe, wie ich schon betonte, nur eine Botschaft an den König.« – »Aber sie muß doch schließlich durch meine Hände gehen, seien Sie doch nicht lächerlich,« sprach Mazarin. »Ich kenne ja Ihr Geheimnis längst. Doch wenn Sie mir Ihr Schreiben nicht zeigen wollen, so kommen Sie mit auf mein Zimmer – dort können Sie mit dem König und vor dem König reden. Noch eins! Wer hat Ihnen den Orden vom Goldenen Vlies verliehen?« – »Karl II.«
Mazarin stand auf und kehrte, auf den Arm des Kammerdieners gestützt, in sein Schlafzimmer zurück. In diesem Augenblick wurde Prinz von Condé beim König angemeldet. Begleitet von mehreren Kavalieren, trat der Sieger von Rocroy und Nördlingen ein und begrüßte eben den König, als Mazarin hinter dem Vorhang hervortrat. Athos warf einen flüchtigen Blick in das Zimmer und erblickte Rudolf unter den Herren, die Condé gefolgt waren. Der letztere begrüßte sogleich auch den Kardinal. – »Sehr freundlich, Hoheit,« antwortete Mazarin, »einen kranken Freund zu besuchen.« – Athos stutzte, als er diese Worte hörte, und murmelte vor sich hin: »Seit wann nennen die beiden sich Freund?« – Mazarin mochte den Gedanken des Grafen erraten, denn er sah sich mit frohlockendem Lächeln um. – »Sire,« wandte er sich darauf zum König, »ich habe die Ehre, Ihnen den Grafen de la Fère, den Abgesandten Seiner Britischen Majestät, vorzustellen. Meine Herren, es handelt sich um Staatsangelegenheiten.« – Er winkte verabschiedend mit der Hand, und die ganze Gesellschaft entfernte sich, Prinz von Condé an der Spitze. – Rudolf konnte seinem Vater nur mit den Augen guten Tag wünschen.
Als auch die junge Königin und Philipp von Anjou hinausgehen wollten, sagte Mazarin in leiserem Tone: »Familienangelegenheiten!« und hielt sie auf ihren Plätzen zurück. »Der hier anwesende Abgesandte,« verkündete er darauf, »überbringt ein Schreiben, worin Karl II., der inzwischen den Thron wieder bestiegen hat, den Antrag stellt, Lady Henriette Stuart, die Enkelin Heinrichs IV., und Seine königliche Hoheit den Bruder des Königs zusammenzugeben. Wollen Sie dem König Ihr Kreditiv überreichen, Herr Graf?«
Athos war erstaunt. Wie konnte der Minister um den Inhalt eines Schreibens wissen, das er nicht aus den Händen gegeben hatte. Er faßte sich jedoch rasch und legte die Depesche vor Ludwig XIV. auf den Tisch. Ludwig XIV. sah den Grafen scharf an. – »Sie sind Franzose,« sagte er, »und Ihre Orden zeigen mir, daß Sie von hohem Stande und eine verdienstvolle Person sind. Sicher können Sie uns über die gegenwärtige Lage in England genaue Auskunft geben.« – »Majestät,« warf Mazarin ein, »das ist der Graf de la Fère, wie ich schon sagte, und,« setzte er hinzu, sich an die Königin-Mutter wendend, »einer Ihrer früheren Diener, Königliche Hoheit.«
Anna von Oesterreich hatte ein schwaches Gedächtnis. Sie sah Athos an und biß sich auf die Lippe. Mazarin nutzte den kleinen Triumph boshaft aus. »Der Graf stand im Dienste des hochseligen Königs,« fuhr er fort, »und war einer von Trevilles Musketieren. Er ist mehrmals in England gewesen und kennt das Land sehr genau.« – Ludwig XIV. bemerkte die Verlegenheit seiner Mutter und fühlte, daß sie nicht gern an jene stürmischen Zeiten erinnert sein mochte, die man auf immer erloschen geglaubt hatte. – »Reden Sie, Herr Graf,« rief der König und half durch diese Worte seiner Mutter und den Anwesenden über die peinliche Spannung hinweg, die die zweideutigen Worte des Ministers hervorgerufen.
»Sire,« begann Athos, »das ganze Geschick des Königs von England ist wie durch ein Wunder umgewandelt worden. Als er Haag verließ, war er schon kein Flüchtling mehr, sondern ein Eroberer, ein anerkannter König, der mit allgemeinem Jubel empfangen wurde.« – »Wahrlich ein Wunder!« sagte der König. »Aber Monk lebt doch noch, und was hat diesen Mann so ganz andern Sinnes gemacht?« – »Gott hat es gefügt, daß eine gewisse Person einen kühnen, abenteuerlichen Plan ausführte, während eine andere Person aus Anhänglichkeit zum König ebenfalls ein Wagstück unternahm. Die beiden Taten im Verein haben bewirkt, daß Monk aus einem erbitterten Feinde ein Freund des Königs wurde.« – »Und was sind das für zwei Männer, denen mein Vetter sein Glück verdankt?« fragte der König. – »Zwei Franzosen, Majestät.« – »Das freut mich.« – »Und was waren es für kühne Ideen?« rief Mazarin dazwischen. »Mich interessieren die Ideen mehr als die Menschen.«
»Die zweite Idee, um mit dieser anzufangen,« berichtete Athos weiter, »war die weniger gefahrvolle und bestand darin, eine Million in Gold auszugraben, die Karl I. einst in der Abtei von Newcastle versteckt hatte. Mit diesem Golde sollte Monks Beistand erkauft werden. Das Geld wurde zu Tage gefördert, obgleich Monk selbst mit seinem Heer zur Zeit die Abtei Newcastle besetzt hielt. Ja Monk half sogar mit, es auszugraben und fortzuschaffen, sodaß an einen Bestechungsversuch nicht gedacht werden konnte.« – »Hm,« sagte der König. »Als mein Vetter hier in Paris war, scheint er vom Vorhandensein dieser Million nichts gewußt zu haben.« – »Mir scheint vielmehr,« sagte Mazarin, »er hat zu dieser einen noch gern eine zweite haben wollen.« – »Sire,« antwortete Athos ernst, »von dieser Million hat Karl II. in der Tat keine Ahnung gehabt. Er erfuhr das Geheimnis erst durch einen französischen Edelmann, dem Karl I. in der Todesstunde den Schatz anvertraute.«
»Und die zweite Idee?« rief Mazarin. »Der abenteuerliche Entschluß – worin bestand er?« – »Darin, daß ein Franzose es unternahm, das einzige Hindernis, das sich dem vertriebenen König auf seinem Wege zum Throne entgegenstellte, wegzuräumen. Dieses Hindernis war die Person des Generals Monk.« – »Oho!« rief Mazarin. »Ein Kapitalverbrechen? Dann kann dieser geniale Franzose noch an den Galgen kommen.« – »Eminenz raten falsch,« entgegnete Athos trocken. »Es wurde kein Mord verübt, sondern Monk wurde einfach gefangengenommen.« – Der König fuhr auf, der Bruder Seiner Majestät klatschte in die Hände. – »Gefangengenommen?« rief Ludwig. »Aber der General war doch in seinem Lager, bei seinem Heer.« – »Ja, Sire, der Edelmann aber war allein. Nur zehn Mann hatte er bei sich.« – »Das ist großartig!« rief Philipp von Anjou in jugendlicher Begeisterung. – »Das grenzt ans Wunderbare,« setzte der schon etwas besonnenere Ludwig hinzu. – Beide hatten sich Athos genähert und standen nun neben ihm. »Weiter! weiter!« rief Philipp ungestüm. – »Der Edelmann raubte den General mitten aus seinem Lager, schleppte ihn nach Haag und stellte ihn dort dem König zur Verfügung. Der König schenkte dem General die Freiheit, und der General setzte aus Dankbarkeit für diese Großmut den König auf den Thron.«
Philipp von Anjou klatschte abermals in die Hände. Unter den Herren wurde ein Murmeln des Erstaunens laut. Mazarin allein bewahrte ein eisiges Schweigen.
»Können Sie für die Wahrheit Ihrer Angaben einstehen?« fragte der König den Grafen de la Fère. – »Ich war Augenzeuge.« – »Und der Edelmann, der die Million ausgrub, ist einer meiner Kavaliere? Wie heißt er?« – »Es ist Eurer Majestät gehorsamer Diener,« antwortete Athos, sich verneigend. – »Graf!« rief der König. »Sie haben meinem Vetter zum Thron verholfen, ich werde Sie zu belohnen suchen.« – »Ja, das ist ein Triumph, der das Haus Frankreich mit Freude erfüllt,« ließ sich Anna von Oesterreich vernehmen. – »Und wie heißt der Mann, der ganz allein mit nur zehn Mann den General Monk aus einem nach Tausenden zählenden Heer entführte?« – »Chevalier d'Artagnan, Musketier-Leutnant außer Dienst.«
Anna von Oesterreich errötete, Mazarin sah beschämt drein, Ludwig XIV. war verstimmt, ein Schweißtropfen rann von seiner Stirn. – »Das sind Männer!« sagte er leise, mit einem Blick auf Mazarin.
»Zur Sache nun!« rief der Minister. »Herr Graf, bringen Sie Ihr Anliegen vor!« – Athos bot im Namen des Königs die Hand der Lady Henriette Stuart dem Prinzen Philipp von Anjou an. Die Beratung währte eine Stunde, dann wurden die Türen geöffnet, und die Höflinge hatten wieder Zutritt. Sie nahmen ihre Plätze wieder ein, als ob keine Unterbrechung eingetreten wäre. Nun traf auch Athos mit Rudolf zusammen, Vater und Sohn konnten sich die Hand drücken. – Sie hatten nur wenige Worte gewechselt, als Prinz von Condé zu ihnen trat und um die Ehre ersuchte, dem Grafen de la Fère vorgestellt zu werden. – »Schade, daß Sie nicht mehr dienen, Herr Graf,« sprach der Prinz, eine hohe, edle Erscheinung mit stark ausgeprägter Adlernase und hervorstehenden Augen. »Der König wird auf einen Krieg mit England oder Holland rechnen müssen, und da tun Leute not wie Sie.« – »Ich glaube vielmehr, Königliche Hoheit,« antwortete Athos, »zwischen Frankreich und Großbritannien wird brüderliche Eintracht herrschen. Sehen Sie nur, was an dem Tische des Kardinals vor sich geht.«
Die Herren hatten weitergespielt, und Mazarin hatte in kurzer Zeit den vor der Unterbrechung durch Athos begonnenen Gewinst bedeutend vermehrt. Jetzt winkte er den Bruder des Königs zu sich heran, und indem er ihm den ganzen Haufen Goldmünzen zuschob, die auf seinem Tische lagen, sagte er: »Das alles schenke ich Ihnen, Hoheit.« – »Was?« rief Philipp von Anjou in ungekünsteltem Erstaunen. »Soviel Geld habe ich noch nie gehabt.« – »Ich habe zu Ihrem Besten gespielt,« antwortete Mazarin. »Es sind 50 000 Taler.« – »Mein Gott!« rief der Prinz, »ist das ein Glückstag!« Und alsbald griff er in das Gold hinein und stopfte sich die Taschen voll. Da diese den ganzen Reichtum nicht zu fassen vermochten, rief er den Chevalier von Lorraine herbei. »Hilf mir's wegschaffen,« sagte er, »denke nur, das alles schenkt mir der Kardinal.« – »Der Kardinal?«
rief der Chevalier. »Das muß kurz vor seinem Ende sein.«
Der Auftritt erregte allgemeines Aufsehen. – »Es ist wohl das erstemal, daß die Eminenz etwas verschenkt,« sagte Condé gelassen. »Da muß er sehr krank sein.« – »Hören Sie, was der Prinz zu seinem Freunde sagt,« flüsterte Athos, denn die beiden gingen in diesem Augenblick, um das Geld fortzutragen, an ihnen vorüber. – »Es soll wohl mein Hochzeitsgeschenk sein,« sagte Philipp von Anjou. – »Was?« versetzte Lorraine. »Sie wollen heiraten? Machen Sie doch nicht solche Dummheiten.« – »O, ich mache sie auch nicht,« antwortete der Prinz. »Die andern machen sie für mich.« – Damit gingen sie.
»Aha!« sagte Condé. »Er soll die Schwester Karls II. heiraten.« – »Ich glaube, ja,« antwortete Athos. – »Dann allerdings können wir die Schwerter für ein Weilchen an den Nagel hängen,« sagte Condé mit einem Seufzer, in dem sich hochstrebender Ehrgeiz, getäuschte Erwartungen, zerstörte Hoffnungen ausdrückten. Darauf verabschiedete sich Condé, und auch der König ging. Athos erinnerte Rudolf mit einem Wink an die Einladung, die er ihm bereits ausgesprochen hatte. Das Zimmer wurde leer – Mazarin war allein. – »Bernouin, Bernouin!« rief er mit brechender Stimme. »Laß Guénaud kommen. Ich glaube, es geht mit mir zu Ende.« Bernouin eilte ins Kabinett, und wenige Minuten später sprengte ein Eilkurier mit verhängten Zügeln von dannen.
Guénaud fand den Zustand der Eminenz sehr bedenklich. Die Beine waren geschwollen, die Farbe bläulich; ein heftiger Anfall von Gicht hatte den Kranken sehr geschwächt. Der Arzt begleitete seine Untersuchung mit manchem Kopfschütteln und verhehlte dem hohen Patienten den Ernst der Lage nicht. Mazarin brach vollends zusammen. – »Ist meine Krankheit etwa tödlich?« stieß er hervor. – Der Arzt zuckte die Achseln. »Meine Kunst ist zu Ende, Eminenz,« seufzte er. »Seit ich Sie behandle, habe ich die berühmtesten Mediziner mit zu Rate gezogen. Als sie alle mir nichts mehr zu sagen wußten, habe ich mich an die Quacksalber, an die Heilkünstler gewandt. Auch damit sind wir nun fertig. Eminenz, es gibt keine Hilfe mehr.« – Mazarin keuchte. »Und wann muß ich sterben?« lallte er. – »Eminenz, das sagt man nie,« antwortete der Arzt. – »Mir können Sie es sagen, ich befehle es Ihnen!« rief der Kardinal mit erlöschender Kraft. – »Nicht wir Menschen schenken die Gnadentage, sondern Gott. Und Gott gewährt Ihnen noch vierzehn Tage,« war die Antwort des Mediziners.
Mazarin seufzte tief auf und sank in die Kissen zurück. »Ich danke Ihnen, Guénaud,« murmelte er. Der Arzt verneigte sich und wollte gehen. Der Kranke fuhr empor. »Hören Sie!« rief er mit funkelnden Augen. »Kein Wort davon!« – »Eminenz,« erwiderte Guénaud, »ich weiß es schon seit zwei Monaten und habe geschwiegen.« – »Gehen Sie. Ich werde Ihre Zukunft sicherstellen. Und sagen Sie meinem Sekretär, er soll mir Colbert schicken.«
2. Kapitel. Mazarins Nachfolger
Colbert war schon den ganzen Tag im Palast gewesen und hatte sich an Bernouin, den Kammerdiener, und Brienne, den Sekretär, herangemacht, um allerlei Neuigkeiten zu erfahren. Colbert, der als Nachfolger Mazarins der größte Staatsmann und Organisator seiner Zeit werden sollte, war damals von mittlerer Größe und hager. Seine Augen lagen tief, sein Gesicht fiel durch keine außergewöhnlichen Züge auf, sein Haar war dünn und struppig. Er war dreizehn Jahre älter als Ludwig XIV., sein künftiger Herr. Sein Blick war ernst, sein Wesen ein wenig steif, was von Leuten, die ihn nicht kannten, für Blasiertheit gehalten wurde. Nachdem Mazarin auf Colberts Talent aufmerksam gemacht worden war, arbeitete dieser unermüdlich selbst an seiner Karriere weiter. Er war der Sohn eines Kaufmanns, aber das Kontor seines Vaters hatte er bald mit der Schreibstube eines Staatsanwalts vertauscht, wo er seine Kenntnisse erweiterte und zu der schätzbaren Kunst, Berechnungen anzustellen, die unschätzbare Kunst, sie zu verwirren, hinzulernte. Das Glück verschaffte ihm bald darauf eine Stelle bei dem Staatssekretär Michel Letellier, und dieser Posten war das Sprungbrett, von dem aus er sich mit einem kühnen Satze in die Nähe Mazarins schwang.
Man erzählt sich darüber die folgende Anekdote. ES war um die Zeit der Fronde, und Mazarins Stellung war sehr gefährdet. Anna von Oesterreich schien willens, ihn fallen zu lassen. Sie hatte an Letellier einen Brief geschrieben, der für Mazarin ungemein kompromittierend und für Letellier natürlich ungemein wertvoll war. Aber Michel Letellier hatte gern zwei Eisen im Feuer und wollte sich doch mit Mazarin noch nicht völlig überwerfen. Er kam daher auf den Einfall, ihn den Brief Annas von Oesterreich lesen zu lassen. Es war aber keine Kleinigkeit, dieses Schreiben an den Kardinal zu senden; denn die Schwierigkeit lag darin, es auch wirklich zurückzuerhalten. Er erteilte nun Colbert den heiklen Auftrag. Mazarin errötete, als er den Brief las, schenkte Colbert ein gnädiges Lächeln und entließ ihn. – »Wann habe ich die Antwort zu holen?« fragte der Bote. – »Morgen früh.« – Um sieben Uhr war Colbert zur Stelle. Er mußte bis zehn Uhr warten. Dann ließ Mazarin ihn vor und übergab ihm eigenhändig ein Paket. »An den Staatssekretär Letellier,« sagte er und schob Colbert mit freundlichem Lächeln zur Tür. – »Und der Brief der Königin-Mutter?« fragte Colbert. – »Ist im Paket,« antwortete Mazarin. – Colbert nahm den Hut zwischen die Knie und zerriß das Siegel. – »Was fällt Ihnen ein?« rief der Kardinal. »Trauen Sie meinem Wort nicht? Welche unerhörte Frechheit!« – »Ihrem Worte selbstverständlich,« versetzte Colbert ganz ruhig. »Aber Ihr Kanzleipersonal ist vielleicht nicht so zuverlässig – so ein Brief wird leicht vergessen – und sehen Sie, daß ich recht habe. Er ist wirklich in der Kanzlei vergessen worden – er ist nicht im Paket.« – »Unverschämter Mensch!« rief Mazarin, entriß ihm das Paket und lief hinaus. – Nun erschien Colbert an jedem Morgen, so oft er abgewiesen wurde, und endlich mußte Mazarin den Brief der Königin-Mutter herausrücken. Colbert prüfte das Schriftstück von allen Seiten, hielt es sich sogar an die Nase und unterzog die Schriftzüge einer so genauen Untersuchung, als wenn er es mit dem gemeinsten Fälscher zu tun gehabt hätte. Mazarin schäumte vor Wut, aber Colbert kehrte sich gar nicht daran. Als später all diese Dinge vergessen waren und Mazarin so fest saß wie nie zuvor, da erinnerte er sich dieses Schreibers und der Hartnäckigkeit, die er bewiesen, und nahm ihn zu sich. Colbert erwarb sich rasch die Gunst Mazarins und wurde ihm mit der Zeit ganz unentbehrlich. Er gestattete ihm Einblick in alle seine Geschäfte, so daß Colbert, umsichtig und scharfblickend wie er war, nicht nur über die Staatsfinanzen, sondern auch über die persönlichen Vermögensverhältnisse Mazarins genau unterrichtet war.
Als nun Mazarin sich dem Ende nahe glaubte, rief er Colbert sofort zu sich, um mit ihm schleunigst alles in Ordnung zu bringen. »Es kann sein, daß ich das Zeitliche segnen muß, Colbert,« sprach er, »da ist es not, daß wir ein ernstes Wort miteinander reden.« – »Sterben muß jeder Mensch,« antwortete Colbert gelassen. – »Ich habe dies stets vor Augen gehabt und dafür gesorgt, daß ich nicht mittellos sterbe. Wie hoch schätzen Sie mein Vermögen?« – »Auf vierzig Millionen und 560 000 Livres.« Der Kardinal seufzte tief auf und lächelte mühsam. – »Das ist die bekannte Höhe,« setzte Colbert hinzu. – »Was meinen Sie damit?« fragte Mazarin erstaunt. – »Außer dieser Summe sind noch 13 Millionen vorhanden, von denen niemand etwas weiß. Sie sterben als reicher Mann, Eminenz, während der König keine 500 000 Livres in der Schatulle hat.«
»Was wollen Sie damit sagen?« fuhr Mazarin auf. »Habe ich mein Gehalt zu Unrecht bezogen? Habe ich etwa nicht Ordnung in die Finanzen des Reichs gebracht? Wieviel der König hat, das ist Sache seines Schatzmeisters. Dafür hat Fouquet aufzukommen. Mich geht das gar nichts an. Wollen Sie damit sagen, ich müßte dem König mein Geld vermachen? Ich denke nicht daran – ein paar Legate, ja, aber alles nicht! Ich kann meine Verwandten nicht benachteiligen.« – »Eminenz,« antwortete der unerschütterliche Sekretär, »ein Legat wäre eine Beleidigung des Königs und könnte so ausgelegt werden, als wenn Sie diesen Teil Ihres Vermögens als unrecht erworben ansähen.« – »Also muten Sie mir im Ernst zu, all mein Geld in die Schatulle des Königs zu werfen?« rief Mazarin ironisch. »Das wäre ein gefundener Bissen für Ludwig XIV. Er würde sich ins Fäustchen lachen und meine sauer ersparten Taler bald verschwendet haben.«
»Eure Eminenz sehen in diesem Punkte falsch,« erwiderte Colbert. »Sie beurteilen den Charakter Ludwigs XIV. nicht ganz richtig. Wenn ihm gewisse Dinge gesagt werden, so wird er die Schenkung nicht annehmen.« – »Sie meinen, er würde 40 Millionen zurückweisen? Und was sind denn das für Dinge, die ihm gesagt werden müßten?« – »Die will ich niederschreiben, wenn Eminenz sie mir diktieren wollen,« antwortete Colbert in vielsagendem Tone. – »Und was hätte ich von diesem gewagten Experiment?« fragte der Kardinal. – »Einen ungeheuren Vorteil,« antwortete Colbert, »niemand wird dann Eure Eminenz noch des Geizes anklagen können, wie dies bisweilen in Flugblättern ungerechterweise geschehen ist. Der glänzendste Geist unsers Jahrhunderts wird dann von diesem Vorwurf auf immer befreit sein. Und nachdem Eminenz soviel für Ihren Ruhm getan, sollten Sie auch etwas für Ihren Nachruhm tun.« – »Sie haben recht, Colbert,« antwortete Mazarin. »Aber wenn nun der König doch annimmt?« – »Dann bleiben Ihren Verwandten immer noch 13 Millionen, und das ist eine hübsche, runde Summe. Allein Sie sollten nicht die Annahme, sondern vielmehr die Ablehnung fürchten.« – »Wenn er ablehnt, so stelle ich ihm diese 13 Millionen sicher – ja, ganz bestimmt. Die Schmerzen kehren wieder. O, wirklich, Colbert, ich bin dem Ende nahe.«
Mazarin war wirklich schwerkrank; kalter Schweiß perlte auf seiner Stirn. Bernouin, der Kammerdiener, und Guénaud, der Arzt, wurden wieder an das Lager gerufen, und unter den Händen des letzteren ließen die heftigen Symptome etwas nach. Als der Kardinal wieder allein war mit Colbert, nahm er das Thema von neuem auf. – »Ich will es wagen, Colbert,« flüsterte er, sich aufraffend. »Glauben Sie Ihrer Sache sicher zu sein?« – Colbert antwortete ruhig: »Schreiben Sie eine Schenkung folgenden Inhalts: Im Begriff, vor Gott zu treten, bitte ich den König, der mein Herr auf Erden war, die irdischen Güter zurückzunehmen, die seine Huld mir beschert hat. Meine Angehörigen werden nichts dagegen einzuwenden haben, daß das Vermögen in so erlauchte Hände falle. Das genaue Verzeichnis meiner Besitztümer liegt bereit und wird Eurer Majestät ausgeliefert werden, sobald ich den letzten Seufzer getan habe. Euer treu ergebener Diener Julius von Mazarin.« – Mit zitternder Hand setzte der Kardinal seinen Namen darunter.
Die Kunde von seinem hoffnungslosen Zustande hatte sich im Louvre, wo der König zur Zeit mit dem gesamten Hof weilte, sehr rasch verbreitet. Ludwig XIV. wartete mit Spannung des weiteren Verlaufes. Starb der Kardinal, so war ja für ihn der Tag der Freiheit gekommen, der Tag, da er in Wahrheit König wurde, da er nicht mehr nur das Mäntelchen des Regenten tragen sollte, ohne seine Macht zu besitzen. Anna von Oesterreich, seine Mutter, betrachtete ihn gedankenvoll, aber es waren andere Erwägungen, denen sie nachhing. – »Du scheinst traurig zu sein, Ludwig,« sprach sie zu ihm, während er unruhig auf und ab schritt. »Machst du dir vielleicht Gedanken darüber, daß es uns an Geld fehlt? Wisse, alle Leute, die in deinem Lande reich sind, besitzen ihren Reichtum nur durch deine Güte. Der Herr verleiht ihnen überdies die Erdengüter nur auf kurze Zeit, und niemand,« setzte sie mit besonderer Betonung hinzu, »kann sie mit ins Grab nehmen. Ein junges Geschlecht erntet die Früchte der Alten.« – »Man sollte wirklich glauben,« sagte Ludwig XIV. und sah seine Mutter forschend an, »Sie hätten mir noch mehr zu sagen.« – »Nichts, mein Sohn, als daß der Kardinal sehr krank ist,« antwortete Anna. – »Ich denke, er wird sich noch einmal erholen,« sagte Ludwig seufzend.
Er hatte diese Worte kaum gesprochen, als ein Türhüter den Vorhang aufhob. – »Eine Botschaft von Seiner Eminenz!« rief er und reichte dem König ein Schreiben. Im selben Augenblick, wo Ludwig es öffnete, um es zu lesen, trat Fouquet, der Schatzmeister, herein.
»Sie auch hier, Fouquet?« wandte Ludwig sich wohlwollend an ihn. »Hat die Kunde von der Krankheit des Ministers Sie hergerufen?« – »Ja, Majestät. Ich war vor anderthalb Stunden noch auf meinem Gute in Vaux und bin aufs schnellste hergeeilt.« – »Wie ist das möglich?
In anderthalb Stunden von Vaux nach Paris?« rief der König, der wohl seinen Zorn, aber nicht sein Erstaunen zu bemeistern verstand. – »Eure Majestät bezweifeln, was ich sage, und mit Recht,« erwiderte der Höfling. »Des Rätsels Lösung sind aber sechs Pferde erster Klasse, die ich aus England erhalten habe, die besten Renner unseres Zeitalters. Ich habe sie heute abend probiert, und sie haben die Probe glänzend bestanden. Eure Majestät werden Gelegenheit haben, sich selbst von der seltnen Güte dieser Pferde zu überzeugen; denn sie sind nur für einen königlichen Marstall geschaffen und warten nur auf einen Wink Eurer Majestät, um in Höchstdero Marstall eingereiht zu werden.« – Fouquet verneigte sich. Der König sah betroffen auf.
»Sie wissen doch, Herr Fouquet,« warf die Königin-Mutter ein, »es ist am französischen Hofe nicht Sitte, daß ein Untertan seinem König Geschenke macht.« – »Ich hoffe,« versetzte der Oberintendant der Finanzen verlegen, »meine grenzenlose Ergebenheit und mein sehnlicher Wunsch, meinem geliebten Monarchen zu gefallen, würden genügen, diesen Grundsatz der Etikette einmal fallen zu lassen. Uebrigens ist es kein Geschenk, sondern ein schuldiger Tribut.« – »Ich danke Ihnen,« erwiderte Ludwig. »Ich bin ein großer Freund von schönen Pferden, aber Sie wissen ja, ich bin nicht reich. Ich kann ein so teures Gespann also nicht kaufen.«
Nach diesen Worten faltete der König das Schreiben Mazarins auseinander, in das er bisher noch keinen Blick getan hatte. Er las ein paar Zeilen, und ein Ausruf höchster Ueberraschung entschlüpfte ihm. »Lesen Sie, Königliche Hoheit,« rief er, das Papier der Mutter reichend. – Auch Anna von Oesterreich vermochte ihre Ueberraschung und Freude nicht zu verbergen. – »O,« sagte sie, »das ist ja eine Schenkung in ganz einwandfreier Form.« – Fouquet stutzte und wiederholte: »Eine Schenkung?« – »Ja,« antwortete Ludwig XIV., »der Kardinal schenkt mir sein gesamtes Vermögen.« – »Vierzig Millionen!« rief Anna. »Das ist großmütig. So handelt nur ein treuer Untertan und ein wahrer Christ.« – »Eure Majestät sagten soeben erst,« murmelte Fouquet zurücktretend, »es gezieme sich nicht für einen Untertan, seinem König Geschenke zu machen, noch auch für den König, sie anzunehmen.« – »Aber vierzig Millionen, Herr Oberintendant!« rief Anna. – »Gewiß eine schöne Summe, die selbst ein königliches Gewissen in Versuchung führen kann,« sagte Fouquet. – »Wenn Sie dem König abraten, diese vierzig Millionen anzunehmen,« rief die Königin-Mutter ungehalten, »dann verschaffen Sie als sein Finanzminister ihm wenigstens auf andere Weise eine solche Summe. Sie wissen ja am besten, daß er kein Geld hat.« – »Er kann vierzig Millionen haben, wann es ihm beliebt,« versetzte der Minister kalt. – »Ja, die Sie dem Volk erpressen wollen,« rief Anna. – »Sind jene Millionen etwa nicht erpreßt?« entgegnete Fouquet. »Ich wiederhole, der König kann diese Schenkung nur ablehnen, denn für ihn gibt es keinen andern Maßstab und Richter als das eigene Gewissen. – »Genug!« rief Ludwig, sich zum Gehen wendend. »Ich werde mir die Sache überlegen.«
An demselben Tage hatte der Kardinal sich nach Vincennes schaffen lassen. Dort wartete er nun in höchster Unruhe auf die Entscheidung des Königs. Diese Ungewißheit, ob Colbert in seinem tollkühnen Experiment Recht behalten oder ob Ludwig über der Größe der Summe die königliche Würde vergessen würde, steigerte noch die Qualen des Todeskampfes. So oft die Tür aufging, glaubte er die Nachricht zu erhalten, daß Ludwig die Millionen angenommen hätte. Zwei Tage waren verflossen, als endlich Anna von Oesterreich sich bei dem Kranken melden ließ und ihm mitteilte, der König werde ihn noch am selben Tage besuchen. Nur schwer hatte Ludwig sich dazu entschlossen, denn er fürchtete, in seinen Zügen zu verraten, was im Innersten seiner Seele vorging. – Mazarin war tief ergriffen von dieser königlichen Huld; aber die Frage, ob Ludwig annähme oder ablehnte, vergaß er deshalb doch nicht, und je näher die Besuchsstunde rückte, umso unerträglicher wurde seine Angst.
»Geduld, Geduld, gnädigster Herr!« mahnte Colbert. – »Sie sind von Sinnen!« entgegnete Mazarin außer sich. »Ich stehe am Rande des Grabes, und Sie mahnen zu Geduld. Treiben Sie Ihren Spott mit mir?« – »Es kommt so, wie ich gesagt habe,« antwortete Colbert, ruhig wie immer. »Majestät kommt nur, um Ihnen das Dokument selbst zurückzugeben.« – Der König wurde angemeldet und trat mit seiner Mutter ein. Zwei Sessel wurden an das Bett geschoben, die königlichen Herrschaften nahmen Platz. Alle Höflinge zogen sich auf einen Wink Ludwigs zurück, nur Colbert blieb hinter dem Vorhang des Bettes sitzen. Tiefe, fast feierliche Stille herrschte in dem Zimmer. Der jugendliche König fühlte sich noch immer beklommen in der Nähe des gewaltigen Staatsmannes, der sein Meister und Lehrer von der Geburt an gewesen war. Jetzt, da er ihn als Sterbenden vor sich sah, hegte er fast noch tiefere Ehrfurcht. Er war daher in Verlegenheit, wie er das Gespräch beginnen sollte, wohl wissend, daß jedes einzelne Wort von großer Bedeutung sei. Mazarin, vor Aufregung kaum der Sprache fähig, litt Höllenqualen. Endlich brach er das Schweigen.
»Eure Majestät haben in Vincennes Wohnung genommen?« fragte er. »Das ist eine hohe Gnade. Sie erleichtern dadurch das Ende eines Sterbenden.« – »Ich hoffe,« antwortete der König, »nicht vor einem Sterbenden, sondern vor einem Genesenden zu stehen.« – Mazarin schüttelte den Kopf. »Es ist der letzte Besuch,« sagte er, »den Majestät mir heute abstatten.« – Anna von Oesterreich konnte ein paar Tränen nicht unterdrücken, selbst Ludwig war tiefbewegt; Mazarin verzehrte sich in Ungeduld. Wieder folgte eine lange Pause. Dann sagte Ludwig: »Ich bin Eurer Eminenz großen Dank schuldig.« – Der Kardinal heftete einen erlöschenden Blick auf den König. »Um Ihnen vor allem meinen Dank abzustatten für den letzten Freundschaftsbeweis, den Sie mir gegeben haben, das ist der Hauptzweck meines Kommens,« fuhr Ludwig fort. – Mazarin keuchte; seine zitternden Lippen taten sich auf. »Majestät,« sagte er tonlos, »ich habe meine Verwandten zu Bettlern gemacht, aber ich wollte alles meinem König opfern.« – »Sie verstehen mich falsch, Kardinal,« antwortete der König sehr ernst. »Ihre Verwandten sollen nicht in Armut gestürzt werden – niemand soll um das Seine kommen.« – Mazarin stutzte; seine Zweifel erreichten den Höhepunkt; auch die Königin-Mutter stutzte; sie hob das in Tränen gebadete Gesicht. »Will der König etwa den Großmütigen spielen?« dachte sie. »Seien Sie ohne, Sorge, Kardinal,« beeilte sie sich zu bemerken, »wir werden uns Ihrer Verwandten annehmen. Ihre Nichten sollen wie meine eigenen Kinder gehalten werden, Ihre Freunde sollen auch die unseren sein.« – »Blauer Dunst!« dachte der Sterbende, der es ja am besten wußte, wie wenig auf die Versprechungen von Königen zu geben war.
Ludwig mochte diesen Gedanken in den Augen des Kardinals lesen. »Beruhigen Sie sich,« sagte er mit einem halb traurigen, halb spöttischen Lächeln, »die Fräulein von Mancini werden nicht um ihr Erbe kommen; ich gebe Ihnen Ihre Schenkung zurück.« Und er überreichte Mazarin das Dokument. Hinter den Vorhängen hörte man einen Laut, der einem triumphierenden Ausruf glich. Die Königin-Mutter sprang fast entsetzt vom Stuhl auf und starrte ihren Sohn fassungslos an. Mazarin wühlte mit den Fingern in der Bettdecke.
»Ja, Königliche Hoheit,« wendete Ludwig sich an seine Mutter und zerriß die Urkunde, die Mazarin noch nicht an sich genommen hatte, »ich vernichte diese Schenkung, durch die eine ganze Familie beraubt worden wäre. Das Vermögen, das Seine Eminenz in meinen Diensten erworben hat, gehört ihm allein.« – »Aber du hast keine 10 000 Taler in deiner Schatulle!« rief Anna von Oesterreich. – »Ich habe eben meine erste königliche Tat vollbracht,« versetzte Ludwig. »Ich hoffe mit ihr meine Regierung einzuweihen.« – »Nun, dann glückauf!« rief Anna und lief hinaus.
»Der Himmel segne Eure Majestät für diese Großmut!« rief Mazarin, der inzwischen die Fetzen des Dokuments untersucht hatte, bis er das Stück mit seinem Namenszug gefunden, an welchem er zu seiner Beruhigung erkannte, daß er seine Originalniederschrift und nicht etwa eine Kopie vor sich hatte. »Was Majestät hier getan haben, übertrifft alles, was von den edelsten Männern des Altertums gerühmt wird. Nun, ich will in meiner letzten Stunde, Majestät, Ihnen etwas geben, das ein Ersatz für diese 40 Millionen sein soll, ja, das mehr wert sein wird als sie. Ich will Ihnen einen guten Rat geben. Treten Sie dicht an mein Bett heran, Sire, und hören Sie!« Und die Stimme zu einem fast unhörbaren Geflüster dämpfend, sprach er: »Majestät, nehmen Sie nie wieder einen Premierminister.« – Ludwig richtete sich erstaunt auf; denn diese Worte waren nicht nur ein Rat, sondern ein Bekenntnis. Das Vermächtnis, das Mazarin dem jungen König hinterließ, bestand nur aus sieben Worten; aber Mazarin hatte recht, diese sieben Worte waren mehr wert als 40 Millionen.
Ludwig war für den Augenblick bestürzt. Mazarin, von seiner größten Sorge befreit, hatte seine Ruhe wiedergewonnen. »Und haben Sie mir jemand zu empfehlen, der mir einigen Ersatz für den Verlust Ihrer Person bieten könnte?« fragte Ludwig. – »Ja, Majestät, einen verständigen, tüchtigen und zuverlässigen Mann.« – »Sein Name?« – »Colbert,« antwortete Mazarin. »Und nun leben Sie wohl, Sire. Ich bin müde und habe noch einen beschwerlichen Weg vor mir, ehe ich vor meinem neuen Herrn erscheine.« – Mit Tränen in den Augen neigte Ludwig sich einen Augenblick über das Bett des Sterbenden, dann verließ er schnell das Zimmer.
Vierundzwanzig Stunden waren verflossen, Ludwig saß unruhig und erwartungsvoll in seinem Lehnstuhle, als ein Diener eintrat. – Dieselbe Frage, die der König in diesen Stunden schon so oft getan, kam auch nun wieder von seinen Lippen. »Wie steht es?« – »Tot, Majestät,« antwortete der Diener. – »Wer hat es dir gesagt?«
»Colbert.« – »Wo ist Colbert?« – »Im Vorzimmer Eurer Majestät.« – »Laß ihn herein.« – Colbert trat ein, verneigte sich ehrerbietig und blieb stehen. – »Was haben Sie mir zu melden?« fragte Ludwig. – »Daß Seine Eminenz gestorben ist. Ich bringe Eurer Majestät seinen letzten Gruß.« – »Sie haben lange Jahre im Dienst des Kardinals gestanden und kennen einen Teil seiner Geheimnisse?« – »Alle, Majestät.« – »Sie waren im Finanzfach tätig?« – Colbert verneigte sich. »Ja, Majestät.« – »Und der Kardinal verwendete Sie auch im Verwaltungswesen?« – »Ja, Majestät.« – »Für mein Haus im besondern haben Sie nichts getan?« – »Mit Verlaub, doch, Majestät,« sagte Colbert. »Ich war so glücklich, Seiner Eminenz ein Sparsystem vorzuschlagen, durch das alljährlich 300 000 Livres in Eurer Majestät Schatulle fließen.« – »Und worin bestand dieses System?« – »Ich riet dazu, die echten Silbertressen der Schweizergardisten durch unechte zu ersetzen. Den Unterschied merkt kein Mensch, und für das ersparte Geld kann man ein Regiment ein halbes Jahr lang unterhalten, 10 000 gute Gewehre ankaufen oder ein Transportschiff mit zehn Kanonen versehen.« – »Eine wohlangebrachte Ersparnis!« rief Ludwig. »Hatten Sie sonst noch ein Amt unter Seiner Eminenz?« – »Der Herr Kardinal beauftragte mich mit der Nachprüfung der Rechnungen des Finanzministeriums.« – »Also mit einer Kontrolle des Finanzministers,« sagte Ludwig, »und das Ergebnis?« – »Ein Defizit, überall leere Kassen, nirgends Geld,« antwortete Colbert in seiner unerschütterlichen Ruhe. – »Nehmen Sie sich in acht!« rief Ludwig. »Sie greifen Fouquets Geschäftsführung an.«
Colbert erblaßte ein wenig, denn er fühlte in diesem Augenblick, daß er im Begriff stehe, mit einem Manne, der nach Mazarins Tode ebenso mächtig war wie dieser, in die Schranken zu treten. »Ich erhebe keine Anklage,« antwortete er. »Ich lege nur Beweise vor.« – »Sehr wohl!« rief Ludwig. »Einen Rechnungsnachweis verlange ich auch von Ihnen. Ein Defizit? Wenn ich nun jetzt zum Beispiel Geld haben wollte?« – »So würden Majestät keins bekommen,« erwiderte Colbert. »Die Einkünfte sind auf vier Jahre voraus verpfändet.« – »Mein Gott, dann bin ich ja von Anbeginn meiner Regierung an ruiniert,« rief Ludwig, auf und nieder schreitend. – »Eure Majestät sind auch wirklich ruiniert,« antwortete der Mann der Zahlen in seiner unverwüstlichen Gelassenheit. »Aber ich habe die Ehre, die Schwierigkeit augenblicklich aus der Welt zu schaffen, indem ich Eurer Majestät ein Verzeichnis über Gelder vorzulegen habe, die Seine Eminenz weder in seinem Testament, noch in andern Dokumenten aufgeführt hat. Er hat sie vielmehr mir anvertraut, mit dem Befehl, Sie Eurer Majestät zur Verfügung zu stellen.« – »Wie?« rief Ludwig. »Mazarin hatte außer jenen 40 Millionen noch andere Kapitalien.« Und leise setzte er hinzu: »Der Mann war also ein bodenloser Abgrund. Auf der einen Seite Fouquet, auf der andern Mazarin – da ist es kein Wunder, daß meine Schatulle leer ist. Und was ist's für eine Summe?« fragte er Colbert.
»Dreizehn Millionen,« war die Antwort. – »Dreizehn Millionen!« rief Ludwig erstaunt. »Und von dieser Summe hat niemand gewußt?« – »Nur ich, nicht einmal der Kardinal,« erwiderte Colbert. – »Und ich kann das Geld haben?« – »In zwei Stunden.« – »Der Kardinal hat sich also vollständig auf Sie verlassen?« – »Er war gegen alle Welt mißtrauisch, nur gegen mich nicht.« – »Sie sind ein braver Mann, Colbert.« – »Das ist keine Tugend, das ist Pflicht,« war die Antwort. – »Und dieses Geld gehört nicht den Verwandten?« – »Wenn dies der Fall wäre, so würde es gleich dem übrigen Vermögen im Testament aufgeführt sein. Majestät können aus dieser Abschrift des Testaments,« sagte Colbert, dem König ein Dokument reichend, »ersehen, daß darin keine Rede von den 13 Millionen ist. Ich hätte dann diese Summe ja auch schon zu den 40 Millionen hinzugefügt, über die die Schenkungsurkunde lautete.« – »Sie hätten sie hinzugefügt? Ja, haben denn Sie diese Schenkungsurkunde geschrieben?« – »Ich habe sie Seiner Eminenz diktiert.« – Ludwig strich sich über die Stirn. »O, wie jung bin ich doch noch,« sagte er, »über Menschen zu regieren.«
»Wann soll ich Eurer Majestät das Geld schicken?« – »Morgen nacht um elf Uhr. Besteht es aus gemünztem Golde?« – »Ja.« – »Schicken Sie es zum Louvre. Ich danke Ihnen, Colbert.« Und als er allein war, rief er: »Dreizehn Millionen! Es erscheint mir wie ein Traum.« Er riß das Fenster auf, um die glühende Stirn an der frischen Morgenluft zu kühlen. Die Sonne ging prachtvoll auf und färbte den Himmel purpurrot. Ihre ersten Strahlen fielen, ein goldner Schein, auf das Haupt des jungen Monarchen. – »Die Morgenröte meiner Regierung!« sprach Ludwig XIV.
Colbert hielt Wort. Am nächsten Abend befand sich die ganze Summe von 13 Millionen im königlichen Schloß. Aber der besonnene, zielbewußte Mann wußte sich auch ein Entgelt für seine Uneigennützigkeit zu sichern. Als er an diesem Tage Ludwig XIV. verließ, war er zum Kontrolleur der Finanzen ernannt, mit der Bildung einer Justizkammer betraut, die gegen die betrügerischen Finanzpächter vorgehen sollte, welche, wie Colbert sagte, schon seit zehn Jahren den Staat betrogen hätten, und außerdem auch dazu ermächtigt worden, die britische Korrespondenz in Empfang zu nehmen und zu bearbeiten. Das war viel auf einmal, niemand wußte das besser, als Colbert selbst. Er konnte sich sagen, daß die erste Stufe zur Würde eines zweiten Mazarin erklommen war.
Er war kaum gegangen, so erhielt Ludwig XIV. ein Schreiben von Karl II. Es lautete: »Ich danke Eurer Majestät für Ihre huldvolle Antwort auf meinen Heiratsvorschlag. In acht Tagen wird Lady Henriette nach Paris abreisen. Es ist für mich eine große Freude, daß ich Sie dann noch mit größerem Recht Bruder nennen darf. Inzwischen habe ich erfahren, daß Sie Belle-Ile-en-mer unter der Hand befestigen lasten. Das ist nicht recht von Ihnen. Wir werden nie Krieg miteinander haben. Das betrübt mich. Außerdem vergeuden Sie damit viele Millionen in ganz unnützer Weise. Sagen Sie das Ihren Ministern.« – »Belle-Ile wird befestigt?!« rief Ludwig. »Die Insel ist ein Besitztum Fouquets. Sollte das eine Verschwörung sein? Das wäre der Ruin des Oberintendanten.« Er dachte einen Augenblick nach, dann rief er den Kammerdiener: »Ich hatte einmal einen Musketier-Leutnant namens d'Artagnan. Der Mann soll morgen vormittag zu mir kommen.« Der Kammerdiener verneigte sich und ging. – »Wenn Colbert meine Börse und d'Artagnan mein Schwert führt,« sagte Ludwig zu sich selbst, »dann bin ich König!«
3. Kapitel. D'Artagnan macht weiter sein Glück
Als Athos nach seinem Besuch im Palais-Royal in seine Pariser Wohnung zurückkehrte, fand er dort den Grafen von Bragelonne, der sich von Grimaud das ganze englische Abenteuer hatte erzählen lassen. – Rudolf fragte seinen Vater vorwurfsvoll, warum man ihn ganz in Unkenntnis über diese Reise gelassen habe. – »Reden wir nicht weiter davon,« antwortete Athos. »Ich entschloß mich blitzschnell dazu. Ich hatte Blaisois beauftragt, dir hundert Pistolen auszuzahlen, falls du Geld brauchtest. Aber du bist ohne Geld ausgekommen.«
»Der Prinz hatte vor drei Monaten die Güte, mich 200 Pistolen im Spiel gewinnen zu lassen.« – »Es ist mir nicht lieb, daß du spielst,« sagte Athos streng. – »Tu es auch nicht. Der Prinz ließ sich eine halbe Stunde von mir vertreten, und als er seinen Platz wieder einnahm, hieß er mich das Gewonnene behalten. Das macht der Prinz alle Woche so. Auf diese Weise bekommen alle fünfzig Ehrenkavaliere Seiner Hoheit abwechselnd mal ein Geschenk. Letztens war die Reihe an mir.« – »Du bist seit einem Monat aus Spanien zurück?« – »Ja, Herr Graf.« – »Und wo warst du diesen Monat über? Ich hoffe, nicht in Blois.« – »Nein. Ich habe die Person, auf die Sie anspielen, nicht gesehen,« antwortete Rudolf mit bebender Stimme. »Sie haben mir ja doch verboten, Fräulein von Lavallière aufzusuchen.«
»Und daran tat ich wohl, Rudolf,« versetzte de la Fère. »Ich bin kein grausamer, ungerechter Vater, der für wahre Liebe keinen Sinn hat. Aber mir liegt deine Zukunft am Herzen. Es wird Kriege geben, Rudolf; da werden feurige, junge Männer gebraucht, die frei und ledig in der Welt dastehen. Glaube mir, mein Junge. Halte alle weichen Gefühle von deinem Herzen fern. Stähle es für die Forderungen unserer Zeit. Du hast die Fähigkeit, ein ausgezeichneter, ein hervorragender Mann zu werden. Gehe deinen Weg allein, damit du ihn um so sicherer, um so schneller gehen kannst.« – »Sie haben befohlen,« antwortete Rudolf, »und ich gehorche.« – »Nicht befohlen, nur gebeten,« entgegnete Athos. – »Nein, befohlen, mein Vater,« wiederholte der junge Mann. »Und wenn Sie gebeten hätten, so würde die Bitte noch wirksamer gewesen sein als der Befehl.« – »Und dabei ist dir weh ums Herz. Du liebst das Fräulein – deine weiten, langen Reisen haben nichts daran geändert, ich weiß es – ich weiß es, Rudolf. Nun ja, du bist großjährig, du bedarfst meiner Einwilligung nicht – heirate sie.« – »Sehr gütig, Herr Graf – aber ich werde von dieser Erlaubnis keinen Gebrauch machen.«
»Du weigerst dich nun? Ich weiß nicht, was ich davon denken soll,« sagte Athos. – »Wenn Sie mir jetzt auch die Erlaubnis zur Heirat erteilen, Vater,« antwortete Rudolf. »Im Herzen sind Sie doch dagegen.« – »Das ist wahr, Rudolf.« – »Nun, so werde ich warten, bis Sie andern Sinnes geworden sind.«
»Wird aber das Fräulein von Lavallière auch mit dem Warten einverstanden sein?« fragte de la Fère. »Wenn nun andere Absichten –« – »Sie meinen, wenn sie den Blick auf einen andern Mann richtet?« fragte Rudolf erbleichend. – »Das meine ich.« – »Dieser Mann würde durch mein Schwert fallen,« antwortete Rudolf mit fester Stimme, »er und alle, auf die Fräulein von Lavallières Wahl etwa fiele, bis einer von ihnen mich erschlägt oder das Fräulein mir ihr Herz wieder schenkte.« – Athos erbebte. »Genug!« rief er. »Genug über diesen Punkt! Das geht zuweit. Tu deinen Dienst und liebe das Fräulein – bist ja ein Mann und Herr deiner Entschlüsse. Nur vergiß nicht, daß ich dich zärtlich liebe, und daß du auch mich zu lieben behauptest.«
»Vater!« rief Rudolf, die Hand des Grafen ergreifend. – »Es ist gut, mein Junge. Uebrigens – d'Artagnan ist mit mir aus England zurückgekommen – du bist ihm einen Besuch schuldig.« – »Ich gehe mit Freuden zu ihm!« rief Rudolf. – »Weißt du, wo du ihn findest?« – »Nun, doch im Louvre oder im Palais – überall, wo der König ist – ist er doch Leutnant der Musketiere –« – »Das ist er nicht mehr – er hat den Dienst quittiert. Du findest ihn bei seinem früheren Diener Planchet, der in der Lombardstraße eine Kolonialwaren-Handlung aufgemacht hat. Grüße ihn von mir und bringe ihn zum Diner hierher. Adieu, Rudolf!«
Rudolf fand d'Artagnan jedoch nicht bei Planchet. Aber als er tags darauf an der Spitze von 50 Dragonern aus Vincennes zurückkehrte, sah er auf dem Baudoyer-Platze einen Mann stehen, der ein Haus angelegentlich betrachtete, als wenn er sich mit dem Gedanken trüge, es zu kaufen. Dieser Mann trug einen Zivilrock, den er bis ans Kinn zugeknöpft hatte, und dazu einen kleinen Hut und ein langes Schwert in lederner Scheide. Im Näherreiten erkannte Rudolf in diesem spießbürgerlichen Zivilisten den gesuchten Chevalier. »Sehe ich recht?« rief er. »Herr d'Artagnan!« – Und er sprang ab und drückte seinem alten Freunde die Hand. – Der Chevalier warf einen Blick auf die Reiterschar und sagte: »Gib acht, Rudolf, das zweite Pferd in der fünften Reihe verliert ein Hufeisen, ehe ihr 200 Meter weiter seid. Willst du mit mir speisen?« – »Gewiß. Mein Unteroffizier kann die Leute nach Hause führen.« Er gab sein Pferd ab und nahm den Arm des Chevaliers. – »Kommst du von Vincennes?« fragte dieser. – »Ja.« – »Und was macht der Kardinal?« – »Man sagt, er sei tot.« – D'Artagnan zuckte gleichgültig die Achseln. »Wie stehst du zu Fouquet, Rudolf?« – »Den kenne ich nicht.« – »Das ist bedauerlich. Ein neuer König will poussiert sein.« – »O, der König ist mir gewogen,« rief Bragelonne.
»Ich meine nicht den, der die Krone trägt, sondern den, der in Wahrheit König ist, und das ist, nachdem Mazarin tot, kein anderer als Fouquet. Stell dich gut zu ihm, sonst verschimmelst du, wie's mir gegangen ist. Ja, wenn Ludwig wäre wie Karl II. Das ist noch ein König, sage ich dir! Bei dem müßtest du Dienste nehmen. Da gibt es keine knauserigen Finanzpächter und italienischen Langfinger. Ach, geh mir einer mit einem König, der den ganzen Tag über seufzt, und über dessen Lippe niemals ein anständiger Fluch kommt!« – »Deshalb also haben Sie Ihren Abschied genommen, Chevalier?« antwortete Rudolf. »Ja, wer so denkt, kann auch nicht sein Glück machen.« – »Pah,« versetzte d'Artagnan, »ich bin versorgt. Ich habe Vermögen.«
Rudolf sah ihn erstaunt an, denn d'Artagnans Armut war sozusagen sprichwörtlich geworden, wie die des alten guten Hiob. – »Na, hat dir's dein Vater nicht erzählt?« fuhr der Chevalier fort. »Ich habe in England Glück gehabt. Der Vizekönig von Irland und Schottland hat mir zu einer Erbschaft verholfen. Und zwar zu einer ganz hübschen runden Summe. Eben habe ich das Haus dort gekauft, das ich so angelegentlich betrachtete. Eine gute Kapitalsanlage, sage ich dir. Ja, ja, man muß auch Geschäftsmann sein. Es ist eine Kneipe in dem Hause, Junge, die ich für eine schöne Pachtsumme vermieten kann. Und weißt du warum? weil die Hinterfenster der Kneipe auf den Grèveplatz hinaussehen, und wenn dort eine Hinrichtung stattfindet, dann verkauft der Wirt Zuschauerplätze für teures Geld. Und diese schauerliche Kneipe führt den schönen Namen »Gasthaus Notre-Dame«. Doch nun laß uns zu Planchet gehen, dort wohne ich einstweilen noch.«
Der Krämer war ausgegangen, aber das Mittagessen stand bereit. Denn es herrschte dort noch ein Rest von militärischer Pünktlichkeit. D'Artagnan und Rudolf setzten ihr Gespräch fort. – »Sage mal, mein Junge,« begann der Chevalier, »dein Vater nimmt dich fest in die Kandare?« – »Und mit Recht, Herr Chevalier.« – »Na, ich weiß, Athos ist ein bißchen genau. Wenn du mal ein paar Pistolen brauchst, so denke dran, daß der alte Musketier auch noch da ist. Du spielst gern mal 'ne Partie, was? Nein? Dann hast du wohl Glück in der Liebe. Mach keine Flausen, Junge. Warum wirst du so rot? Liebschaften kosten noch mehr als das Spiel. Aber es findet sich dabei wenigstens bald mal Gelegenheit, vom Leder zu ziehen, wozu man unter einem König wie Ludwig XIV. sonst gar nicht mehr kommt. Denn gib acht, Rudolf! Jetzt, wo er den Kardinal los ist, wird Ludwig sich ein Gnadengehalt von Fouquet aussetzen lassen und nach Fontainebleau ziehen, um auf ein Fräulein von Mancini Verse zur Laute zu singen. Und dann nimmt er seiner Schweizergarde die silbernen Tressen und läßt sie unechtes Zeug tragen, und den Musketieren nimmt er die Pferde, weil jedes davon für 50 Sous täglich Hafer frißt. Doch mir ist's gleich. Ich bin ja nicht mehr Musketier. Ob sie nun beritten sind oder zu Fuß gehn, ob sie Schwerter tragen oder Bratspieße, was schiert das mich?«
»Chevalier, reden Sie nicht so geringschätzig von Seiner Majestät, denn ich stehe in königlichem Dienst und darf dergleichen nicht mit anhören,« sagte Rudolf ernst. »Der Reichtum scheint Sie auch nicht lustiger zu stimmen als vorher die Armut.« – »Hast recht, mein Junge,« sagte d'Artagnan, »ich bin eine alte verrostete Klinge, ein durchlöcherter Panzer, ein Sporn ohne Rad, ein Stiefel ohne Sohle.« – Sie lachten beide herzlich und wurden darin durch einen Ladendiener unterbrochen, der hereinkam und einen an d'Artagnan adressierten Brief abgab. – »Das ist meines Vaters Handschrift,« sagte Bragelonne. – »Ja,« rief der Chevalier, öffnete den Brief und ließ ihn erstaunt auf den Tisch fallen. »Du, Junge, ich soll zum König kommen. Man hat mich bei deinem Vater gesucht. Was steckt denn nun da wieder dahinter!«
»Ich finde nichts Sonderbares dabei,« sagte Rudolf. »Es ist ganz natürlich, daß der König einen so treuen Diener wie Sie vermißt.« – »Schmeichelkätzchen!« rief d'Artagnan. »Nein, die Sache hat einen andern Haken, mein Junge. Du weißt noch wenig von der Hofluft und ihren Gefahren. Wenn man zwei Kardinäle hat sterben sehen wie ich – zwei Kardinäle, von denen der eine ein Tiger, der andere ein Fuchs war – dann sieht man schärfer. Höre, geh zu deinem Vater und sag ihm, ich sei nach England gereist. Du guckst mich an? Denkst du denn etwa, ich würde nun gleich zum Louvre eilen und mich dem gekrönten Gelbschnabel zur Verfügung stellen? Ich weiß, was er will. Er will mich in die Bastille stecken. Denn wisse, Junge, eines Tages in Blois habe ich ihm gründlich die Wahrheit gesagt, hab ihn, wenn auch in verblümter Form, eine Memme, einen Trottel gescholten. Damals konnte er mich nicht verhaften lassen, denn ich war selber Kommandant der Wache und hätte den Befehl einfach nicht ausgeführt, hätte mich mir selber widersetzt. Jetzt ist Mazarin tot, nun will sich das Jüngelchen aufspielen und mich gefangennehmen. Das konnte er nicht riskieren, solange die Eminenz lebte; denn Mazarin und ich, wir kannten einander. Er wußte von mir allerlei Kleinigkeiten und ich ebenso von ihm; also schätzten wir uns gegenseitig. Kurz und gut, Rudolf, d'Artagnan reißt aus. Sag' deinem Vater, ich sei nach England.«
»Sie können nicht mehr fliehen, Chevalier,« sagte Rudolf mit einem Blick auf die Straße, »dort unten steht ein Offizier der Schweizergarde, der auf Sie wartet.« – »Ei, da geh ich einfach nicht auf die Straße, sondern schlüpfe zur Hintertür hinaus, und wenn ich vier Pferde totreite – ein Luxus, den ich mir jetzt leisten kann, so bin ich in elf Stunden in Boulogne.« – »Aber, lieber Chevalier, der König wird sagen, Sie fürchteten sich vor ihm.« – »Da wird er zum erstenmale in seinem Leben recht haben,« antwortete d'Artagnan ruhig. »Ich fürchte mich auch wirklich. Potzblitz, soll ich mich denn in die Bastille stecken lasten?« – »Der Graf de la Fère würde nicht fliehen,« sagte Rudolf mit Stolz.
D'Artagnan kaute an seinem Schnurrbart. – »Aber wenn ich nun in die Bastille gesteckt werde?« rief er polternd. – »Dann holen wir Sie heraus,« sagte Rudolf ruhig. – »Potzblitz, Junge!« lachte d'Artagnan und drückte ihm die Hand. »Das nenne ich ein Manneswort. Gut! Mein Geld ist dir und deinem Vater vermacht. Meinetwegen laßt dafür Messen für mich lesen.« Damit schnallte er den Degen um, nahm den Federhut vom Nagel, umarmte Rudolf noch einmal und schritt auf die Straße hinaus. – »Hier bin ich, Herr,« sagte er zu dem Schweizer-Offizier. »Lassen Sie mich den Degen wenigstens bis zum Louvre tragen. Ich komme mir so dumm vor ohne Schwert, und Sie würden sich wohl noch dümmer vorkommen, wenn Sie zwei trügen.« – »Was denn?« antwortete der Offizier. »Davon hat der König nichts gesagt. Behalten Sie nur Ihre Plempe.«
Zur Verwunderung des Chevaliers wurde er in der Tat mit Degen in den Louvre geführt und auch alsbald beim Könige angemeldet und vorgelassen. Ludwig XIV. saß und schrieb. Er blickte nicht auf, als d'Artagnan eintrat. »Du willst mich demütigen,« dachte der Chevalier. »Na, warte, du sollst es gewahr werden, was ein Mann vermag, der dem Kardinal, und zwar dem wahren Kardinal, dem Richelieu, das Hugenottenlied ins Gesicht gepfiffen hat.« – In diesem Augenblick wandte der König sich um. »Sind Sie da, Chevalier?« – »Zu Befehl, Majestät.« – »Warten Sie – ich habe nur noch ein paar Zahlen zu addieren.« – D'Artagnan verneigte sich. »Immer noch ziemlich höflich,« dachte er. – Ludwig tat ein paar Federzüge, warf dann das Schreibzeug weg und stand auf, einen zugleich gebieterischen und wohlwollenden Blick auf den früheren Leutnant heftend.
»Der Kardinal ist tot, Chevalier, das wissen Sie wohl schon,« begann er. »Ich bin also jetzt mein eigner Herr.« – »Das ist nicht erst seit dem Tode des Kardinals der Fall,« antwortete d'Artagnan ruhig. »Man ist immer sein eigner Herr, wenn man nur will.« – »Aber nach Ihrer Meinung war ich es nicht. Wenigstens sagten Sie mir das in Blois ziemlich deutlich,« sprach der König. – »Aha!« dachte d'Artagnan, »jetzt geht's los. Ich habe doch eben eine ganz feine Nase.« – »Erinnern Sie sich dessen nicht mehr?« fragte Ludwig. – »O, doch wohl,« versetzte der Leutnant außer Dienst. »Aber es ist schon so lange her.« – »Ich habe es genau behalten,« sprach der junge König. »Fast Wort für Wort, Herr Chevalier.« – D'Artagnan strich mit der Hand über die Hutfeder und dann über den Schnurrbart und schwieg. –»Ja, Sie sagten mir die Wahrheit,« fuhr der Monarch fort, »und dann nahmen Sie den Abschied. Sie verurteilten zugleich den König und den Menschen. Doch genug! reden wir nicht mehr davon. Es würde Ihnen Reue und mir Schmerz verursachen. Was haben Sie gemacht, seit Sie verabschiedet sind?« – »Seit ich nicht mehr in Ihren Diensten bin, Majestät,« erwiderte d'Artagnan, »habe ich endlich mein Glück gemacht.« – »Ein hartes Wort, Mann! Sie haben eine glänzende Tat verrichtet – drüben in England – ich weiß. Tut mir nur leid, daß Sie Ihr Versprechen nicht hielten. Nun ja! Sie gaben mir doch Ihr Wort, keinem andern König zu dienen.« – »Das da drüben tat ich auch nur auf eigne Faust, halten zu Gnaden, Sire.« – »Und es ist Ihnen geglückt?« – »Es hat mir 100 000 Taler eingebracht.« – »Ganz nett und damit ist nun Ihr Ehrgeiz ein für alle Mal befriedigt? Wollen Sie untätig leben? Ihr Schwert endgültig an den Nagel hängen?« – »Das ist geschehen, Majestät.« – »Unmöglich, Mann! Ich sage Ihnen, ich dulde es nicht!« rief der König mit Entschiedenheit.
D'Artagnan sah fast verblüfft auf. Die Wendung die das Gespräch genommen hatte, entsprach nicht seinen Befürchtungen. Er harrte mit Spannung, was der König ihm wohl zu sagen hätte. – »Chevalier,« fuhr Ludwig fort, »es ist jetzt alles anders geworden.« – »Das ist es,« war die Antwort des ehemaligen Musketiers, »und ich wünsche Eurer Majestät Glück dazu. Aber ich bin kein Staatsmann. Ich sehe nur eins: Mazarins Regierung ist vorbei, nun wird die der Finanzkünstler angehen. Die haben das Geld in Händen. Eure Majestät wird keins zu sehen bekommen.«
Es klopfte an die Tür und Colbert trat mit einem Aktenbündel herein. – »Entschuldigen Sie mich auf einen Augenblick, Chevalier,« sprach der König. »Ich habe mit dem Herrn hier zu reden. Sie kennen sich doch beide, wie?« – Die beiden Männer sahen sich an: d'Artagnan mit offnem, funkelndem Auge; Colbert mit zusammengekniffenen Lidern. – »Aha, das ist der Herr, der das schöne Wagstück in England vollführt hat,« sagte der Staatsmann. – »Und das ist Herr Colbert,« sagte der Gaskogner, »der den Schweizern die Silbertressen entzogen hat. Eine lobenswerte Sparsamkeit!«
»Nun, Colbert,« fragte der König, »ist die Untersuchung beendet? Wie ist das Resultat?« – »Es ist auf Einziehung der Güter und auf Todesstrafe erkannt worden,« antwortete Colbert. – »So!« sagte Ludwig, sehr befriedigt. »Es handelt sich um gewissenlose Finanzpächter, Chevalier,« wendete er sich mit Hoheit und scharfer Betonung an d'Artagnan, »die mich jahrelang betrogen haben und die ich nun vor Gericht stellen ließ.« – Der Chevalier machte kein Hehl aus seiner Verblüffung. Im selben Moment aber sagte Colbert: »Majestät, die Sache hat ihre Schwierigkeiten, und vielleicht ist die Strafvollziehung ganz unmöglich. Die beiden Verurteilten sind gute Freunde einer sehr hochstehenden Person, und ein Angriff gegen die Finanzpächter ist zugleich ein Angriff gegen das Finanz-Ministerium.« – Ludwig errötete; er sah d'Artagnan an und glaubte in dessen Gesicht ein leises Lächeln der Ironie zu erkennen. Sofort ergriff er die Feder und unterschrieb die beiden Urteile.
»Herr Colbert,« sagte er streng, »wenn Sie künftig von Geschäften mit mir reden, so streichen Sie das Wort Schwierigkeit aus Ihren Vorschlägen. Das Wort Unmöglichkeit will ich überhaupt nicht mehr hören. Auf welchen Betrag belaufen sich die Konfiskationen?« – »Auf fünf Millionen, Majestät.« – »Folglich sind jetzt in meiner Privatschatulle?« – »Insgesamt 18 Millionen,« antwortete Colbert. – »Alle Wetter!« dachte d'Artagnan, »das ist 'ne hübsche Summe.« – »Haben Sie an Seine Majestät den König von England schon gemeldet, daß ich in die Vermählung seiner Schwester Henriette mit meinem Bruder willige?« – Dies war längst geschehen, und der König fragte nur, um unter der Hand d'Artagnan davon in Kenntnis zu setzen. Colbert verneigte sich stumm, und der König entließ ihn.
»Nun wieder zu unserer Sache!« fuhr der König fort, als wenn nichts vorgefallen wäre. »Sie haben gesehen, es ist manches anders geworden. Sie sagten in Blois, Sie seien nicht reich.« – »Jetzt bin ich es, Majestät.« – »Ja, doch das kümmert mich nicht. Sie leben von Ihrem Gelde, nicht von meinem. Und kurz und gut, wären Sie mit einem Jahressolde von 20 000 Livres zufrieden –?« – D'Artagnan machte große Augen. – »Wozu noch vier Pferde geliefert und außerordentliche Zuschüsse je nach Bedürfnis gewährt werden sollen?« fragte Ludwig weiter, »oder würden Sie es vorziehen, gegen einen höheren Gehalt alle Kosten auf sich selbst zu nehmen? In diesem Falle würden wir sagen, 40 000 Livres jährlich?« – »Majestät!« – »Sie sind erstaunt – das habe ich erwartet. Ihre Antwort?« – »20 000 jährlich ist sehr viel –« – »Sie wären also damit zufrieden? Gut! es ist auch besser, die einzelnen Ausgaben bei besonderen Anlässen von Fall zu Fall anzurechnen. Darüber setzen Sie sich dann mit Colbert auseinander. Hier ist Ihr Bestallungsbrief. Sie sind General-Kapitän der Musketiere am Hofe des allerchristlichsten Königs – und Sie wissen, daß über diesem Range nur noch der Marschall steht. Kein Wort, Chevalier! Sie treten Ihren neuen Dienst sogleich an. Seit Ihrer Abreise herrscht sowieso keine Mannszucht mehr unter den Musketieren. Sie werden Ordnung schaffen, sind stets um meine Person und begleiten mich bei der Armee.« – »Dann brauchen Majestät mir keine 20 000 Livres zu zahlen,« versetzte d'Artagnan fast barsch. »Der Dienst ist das Geld nicht wert.« – »Aber mein General-Kapitän soll standesgemäß auftreten können, repräsentieren, ein großes Haus halten –« – »Ich will kein gefundenes Geld, ich will mein Geld verdienen,« erwiderte der Chevalier. »Was ich da machen soll, das macht Ihnen jeder Faulenzer für 4000 Livres.«
Ludwig XIV. lachte. »Die Gaskogner haben's hinter den Ohren,« sagte er. »Sie entlocken mir mein Geheimnis, Chevalier.« – »Majestät haben ein Geheimnis?«
antwortete d'Artagnan. »Dann nehme ich die 20 000; denn ich werde es heilig halten, und Verschwiegenheit ist heutzutage fast unbezahlbar. Wollen Majestät zu sprechen geruhen.« – »Nun denn, Sie müssen in zwei Tagen reisefertig sein.« – »Wohin senden mich Majestät?« – »Nach der Bretagne. Können Sie eine wirkliche Festung von einer einfachen Befestigung, wie unsere Vasallen sie aufführen dürfen, unterscheiden?«
»Wie einen Panzer von einer Käserinde, Majestät. Genügt das?« – »Ich denke wohl, Chevalier. Sie müssen allein reisen und dürfen nicht einmal einen Diener mitnehmen; denn Sie werden wohltun, sich hin und wieder selbst als Lakai zu verkleiden. Ihre Physiognomie ist in Frankreich ziemlich bekannt. In der Bretagne ziehen Sie die Kreuz und die Quer und besichtigen alle Befestigungen des Landes. Mit Belle-Ile-en-mer machen Sie den Anfang.«
»Die gehört doch Herrn Fouquet,« meinte d'Artagnan mit einem Blick auf den König. »Was soll ich da erforschen. Ob's ein guter Platz ist, ob die Befestigungswerke neu oder alt sind, ob die Vasallen des Oberintendanten eine ausreichende Besatzung bilden?« – »Getroffen! Und wenn dort keine Fortifikationen aufgeführt werden, halten Sie an andern Plätzen der Bretagne Umschau.« – »Hm,« meinte d'Artagnan, sich den Schnurrbart streichend, »ich bin also ein königlicher Spion.« – »Nein, Sie spionieren nicht, Sie rekognoszieren nur,« antwortete Ludwig XIV., »es ist genau dasselbe, als wenn Sie in Feindesland an der Spitze meiner Musketiere das Gelände aufklärten.« – »Und wenn nun tatsächlich Befestigungen gebaut werden?« – »Dann zeichnen Sie mir einen genauen Plan der Werke.« – »Wird man mich auch einlassen?« – »Das ist Ihre Sorge. Ich habe Ihnen ja auch einen Zuschuß zu den 20 000 Livres, je nach Bedürfnis zu erheben, gewährt.« – »Sehr wohl, Sire. Und wenn nicht befestigt wird?« – »Dann können Sie ganz gemächlich heimkehren.« – »Majestät, ich bin bereit.« – »Den Anfang machen Sie damit, daß Sie sich morgen beim Oberintendanten melden und sich das erste Viertel Ihres Gehalts auszahlen lassen. Er wird Ihnen die Zahlung verweigern, und eben darauf kommt es mir zuvörderst an. Wenn man Ihnen das Geld nicht geben will, holen Sie es sich bei Colbert. Dann brechen Sie in der Nacht auf, denn niemand darf Sie sehen. Es kann sein, Sie werden gefangengenommen –«
»Das ist nicht anzunehmen.« – »Es kann sogar sein, Sie kommen ums Leben –« – »Das ist noch weniger wahrscheinlich.« – »Im erstern Falle bewahren Sie mein Geheimnis, im letztern sorgen Sie dafür, daß man keine Papiere bei Ihnen findet, die mich verraten könnten. Und nun adieu, Chevalier.« – D'Artagnan steckte die Anweisung auf ein Viertel seines Gehalts in die Tasche und kehrte nach Hause zurück.
4. Kapitel. Fouquet
Um dieselbe Zeit, da diese Unterredung im Louvre stattfand, ereignete sich ein anderes Gespräch zwischen Personen, die dem Gegenstande jener Unterredung sehr nahestanden: nämlich zwischen dem Oberintendanten und einem seiner Vertrauten. Der Finanzminister hatte schon erfahren, daß man gegen zwei seiner Freunde gerichtlich vorgegangen war, und schwebte in größter Besorgnis, als Gourville, sein Sekretär, in sein Arbeitszimmer hereinstürzte mit dem Rufe: »Gnädigster Herr, eine furchtbare Neuigkeit!« – »Was gibt es denn? Ich will ungestört sein –« – »Euer Gnaden, es besteht eine geheime Justizkammer.« – »Das weiß ich – auf dem Papier.« – »Nein, sie ist schon zusammengetreten, ja sie hat schon zwei Urteile gefällt, und zwar zwei Todesurteile.« – Der Minister schnellte von seinem Sitze auf. »Gegen wen?« rief er erbleichend. – »Gegen Lyodot und d'Eymeris.« – »Sie irren sich, das ist unmöglich!«
»Hier ist die Abschrift – der König soll heute unterzeichnen.«
Fouquet nahm das Papier, las es und gab es zurück. »Aber er wird nicht unterzeichnen,« sagte er. – Gourville schüttelte den Kopf. »Euer Gnaden, Colbert ist ein gefährlicher Ratgeber –« – »Schon wieder Colbert!« rief Fouquet außer sich. »Warum muß ich fortwährend diesen Namen hören? Das ist zuviel des Lärms von einer so unbedeutenden Person. Ich werde dem Mann gegenübertreten und ihn zermalmen.« – »Gnädigster Herr, Colbert hat bereits zwei Galgen bestellt, und ich werde erfahren, ob diese aufgestellt werden. Denn das wäre der Beweis –« – »Daß der König unterzeichnet hat –« beendete Fouquet. »So weit wird es nicht kommen! Ihr irrt euch alle. Vorgestern erst war Lyodot bei mir, und vor drei Tagen noch erhielt ich von dem armen d'Eymeris eine Sendung Wein.« – »Sie sind inzwischen verhaftet worden, und es wird jetzt eben in den Straßen von Paris öffentlich ausgerufen.« – »Dann muß ich zum König!« rief Fouquet. »Aber ehe ich in den Louvre gehe, will ich aufs Rathaus – ist das Urteil unterzeichnet, dann werden wir sehen –«
Er war im Begriff, fortzueilen, als Gourville ihn aufhielt mit den Worten: »Euer Gnaden, Abbé Fouquet ist da.« – »Mein Bruder?« rief der Minister ärgerlich. »Dann steht es schlecht mit mir. Mein Bruder kommt immer nur, wenn es gilt, mir eine unangenehme Mitteilung zu machen.« – »Sie tun ihm Unrecht,« antwortete Gourville. »Er will nur Geld.« – »Schon seit zwei Jahren zahle ich ihm alle Monate 100 000 Taler. Wo soll das hinführen? Fort mit ihm, ich habe keinen Sou mehr.« – »Gnädiger Herr, es hat selbst der schlechteste Mensch seine nützliche Seite.« – »Was? Haben etwa auch die Banditen, die der Abbé besoldet, ihre nützliche Seite?« – »Es können Umstände eintreten, wo man froh sein wird, sie bei der Hand zu haben. Ich rate Ihnen, sich nicht mit 120 Strauchdieben zu überwerfen, die im Notfalle eine Schar von 3000 Soldaten zu ersetzen imstande sind.« – Fouquet sah seinen Vertrauten mit einem vielsagenden Blick an. »Gut,« antwortete er. »Laß den Abbé herein.«
Mit tiefen Bücklingen erschien ein etwa 45 Jahre alter Mann, halb Pfaff, halb Kriegsmann, ein auf den Abbé gepfropfter Raufbold. Er trug kein Schwert – aber man konnte unschwer erkennen, daß er Pistolen bei sich führte. – »Was wünschen Sie, Herr Abbé?« rief der Minister. – »So spricht ein Bruder zum Bruder?« antwortete der Abbé. – »Ich habe es eilig.« – »Ich muß heute abend eine Spielschuld von 300 Pistolen bezahlen,« fuhr der Abbé fort, »tausend Pistolen an einen Fleischer, der nicht mehr borgen will, 1200 an den Schneider, der für meine Leute keine Livree mehr liefern will.«
»Soviel an einen Schneider?« rief der Minister. »Dafür kann man eine Masse Kleider machen.« – »Ich unterhalte auch 100 Mann. Das ist keine Kleinigkeit.«
»Wozu 100 Mann?« rief der Oberintendant. »Bist du etwa Richelieu? Wozu 100 Mann?« – »Höre ich recht?« versetzte der andere. »So kannst du fragen, Bruder? Ich für mich allein brauche keinen Menschen, aber du hast ja so viele Feinde, da genügen kaum 100 Mann, dich zu verteidigen. 10 000 müßte ich haben. Die Leute sorgen dafür, daß an öffentlichen Stellen niemand gegen dich zu sprechen wagt.« – »Ich wußte gar nicht, daß ich an dir einen solchen Beschützer habe,« sagte Fouquet. – »Es wird dir jetzt mehr nottun als je, solche Helfershelfer zu haben,« rief der Abbé. »Denn jetzt tritt ein Colbert gegen dich auf, da heißt es seinen Mann stehen. Erst gestern kam es auf der Straße zu einem Handgemenge, weil die Menge Colbert hochleben ließ. Da hat einer meiner Leute, ein gewisser Menneville – er ist erst seit kurzem in meiner Schar, bewährt sich aber sehr gut – einen der Schreier niedergestochen. Das hat einen Höllenlärm gegeben, aber zuletzt blieb doch Fouquet Sieger über Colbert. So verwende ich das Geld, das du mir gibst, und auf diese Weise verteidige ich die Familienehre.« – »Gut,« sagte Fouquet, »laß dir von Gourville deine Rechnung bezahlen und bleib heute abend zum Souper bei mir. Gourville,« sagte er dann in leisem Tone, »laß anspannen, ich fahre zum Rathaus.«
Eine Schar von Gästen – Aristokraten, Künstler, Dichter, Gelehrte und Schmarotzer – versammelte sich im Palais des Ministers, während der Hausherr in den Wagen stieg und mit Gourville nach Paris jagte. Allein als sie in die Nähe des Grèveplatzes kamen, begegnete ihnen ein Lastfuhrwerk, auf dem zwei mit Ketten aneinander befestigte Galgen standen. Eine Bande von Vagabunden und jugendlichen Schreiern gab dem Wagen das Geleit. – »Sie sehen,« sagte Gourville, »es ist entschieden.« – »Zum Louvre!« rief Fouquet. – »Fahren Sie nicht hin, gnädigster Herr,« antwortete Gourville. – »Ich soll meine Freunde verlassen?« entgegnete der Minister. »Ich bin imstande zu kämpfen und soll die Waffen strecken?« – »Sind Sie imstande, das Ministerium in diesem Augenblick niederzulegen?« wandte sein Vertrauter ein. – »Aber meine Freunde dürfen nicht sterben.«
»Wenn Sie einmal im Louvre sind, müssen Sie entweder Ihre Freunde verteidigen, das heißt sich mit ihnen gleichstellen, oder sie einfach fallen lassen. Eine andere Wahl wird Ihnen der König nicht lasten. Deshalb muß fürs erste jeder Zusammenstoß mit Ludwig XIV. vermieden werden. Für Ihre Person brauchen Sie nichts zu fürchten. Sie haben 150 Millionen und sind damit mehr als der König. Kehren Sie nach Saint-Mandé zurück.« – »Zurück nach Saint-Mandé!« rief Fouquet.
Die Ankunft des Ministers wurde von den versammelten Gästen mit Freude begrüßt; aber diejenigen, die ihn genau kannten, merkten, daß er in unruhiger Stimmung war. Vergebens zwang er sich zur Heiterkeit; das Bewußtsein, daß mit jeder Stunde die Entscheidung näherrückte, daß ein Entschluß gefaßt, eine Tat vollbracht werden müsse, drückte ihn nieder. Das Tischgespräch drehte sich um das Testament Mazarins und um die Ernennung Colberts zum Kontrolleur der Finanzen, und da an dieser Tafel nur Leute anwesend waren, die zu Fouquets Partei gehörten und von seinem Gelde lebten, so ließ man an Colbert kein gutes Haar. Dennoch bewahrten Fouquet und seine intimeren Freunde in ihren Aeußerungen eine große Vorsichtigkeit, und selbst der Abbé Fouquet, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen pflegte, verhielt sich abwartend.
Nach dem Diner gab es ein Feuerwerk, das die Mehrzahl der Gäste in den Garten lockte. Fouquet benutzte die Gelegenheit, um mit seinen vertrautesten Freunden zu sprechen. Sein Bruder trat ans offene Fenster und beobachtete die draußen sich vergnügende Schar, um aufzupassen, daß kein weniger Berufener hereinkäme und etwa ein paar Brocken des Gesprächs aufschnappe. – »Meine Herren,« begann der Minister, »vermissen Sie nicht heute zwei unserer besten Freunde?«
»Ganz recht,« bemerkte Pelisson, der in alle Geheimnisse des Oberintendanten eingeweiht war, »die Herren Lyodot und d'Eymeris.« – »Wir werden sie nie wiedersehen,« fuhr der Minister fort, »denn beide müssen sterben.« – »Was?« rief Pelisson, »und vor ein paar Tagen sah ich sie noch frisch und munter. Wie rasch doch eine Krankheit –« – »Es ist keine Krankheit,« unterbrach ihn Fouquet. »Und doch haben sie nur noch eine Nacht zu leben. Sie sollen an den Galgen.«
Ein Schrei des Entsetzens erklang aus aller Munde. Im selben Moment stiegen prasselnd die ersten Raketen des Feuerwerks über die dunkeln Baumwipfel empor. – »Meine Herren,« sprach Fouquet in dumpfem Tone, »Colbert hat meine beiden Freunde verhaften und zum Tode verurteilen lasten. Eben stellt man die Galgen auf dem Grèveplatze auf. Was soll ich tun?« – »Wir hauen Colbert in Stücke!« rief der Abbé. – »Sie müssen mit Seiner Majestät reden,« sagte Pelisson. – »Die Hinrichtung darf nicht stattfinden,« ließ sich Chanost, der Schwiegersohn des Ministers, vernehmen. – »Man muß den Gouverneur der Bastille bestechen,« meinte Gourville. »Er kann in dieser Nacht noch die Gefangenen entkommen lassen.«
Fouquet drehte sich um. »Laß wieder anspannen, Gourville!« rief er. »Wir fahren nach Paris. Pelisson kommt mit. Erwarten Sie mich hier, meine Herren!« Und mit Gourville und Pelisson hinwegeilend, murmelte er: »Für eine Million wird er zu haben sein.« – »Und sind die Gefangenen entkommen,« setzte Pelisson hinzu, »so versammeln wir alle Feinde Colberts und beweisen dem König, daß diese geheime Justizkammer eine Uebertreibung ist, die ihm selbst ebenso gefährlich werden kann wie uns.« – Im selben Augenblick fiel ein Funkenregen des Feuerwerks auf einen nahen Wald, und ein paar Bäume gerieten in Brand. Geigenspiel unterbrach die nächtliche Stille.
Die Pferde brausten wie ein Sturmwind davon. Kein Hindernis stellte sich ihnen entgegen. Sie fuhren in die Stadt und brauchten auf den zu so später Stunde menschenleeren Straßen kaum ihre Geschwindigkeit zu verringern. Vor der Conciergerie machten sie halt. Denn da es bis zur Hinrichtung, die am frühen Morgen stattzufinden hatte, nur noch wenige Stunden waren, so mußten die Verurteilten inzwischen schon von der Bastille nach der Conciergerie, dem letzten Aufenthaltsort aller Delinquenten, geschafft worden sein. Man traf den Gouverneur der Conciergerie noch wach, er schritt im Hofe auf und ab und begrüßte den Minister mit dem Hut in der Hand. – »Welche Ehre für mich, gnädigster Herr!« sagte er, sich verbeugend. – »Ein Wort, Herr Gouverneur. Ich komme, Sie um eine Gefälligkeit zu bitten,« begann Fouquet ohne Umschweife, wie ein Mann, der gewohnt ist, gerade aus sein Ziel loszugehen, weil er sich im Besitz sicherer Mittel weiß, es zu erreichen. »Um eine Gefälligkeit, die kompromittierend ist, von mir aber mit Gold aufgewogen wird. Ich biete Ihnen für zwei Ihrer Gefangenen eine Million. Lasten Sie in dieser Nacht die Herren Lyodot und d'Eymeris entweichen.«
Der Beamte zuckte die Achseln. »Die sind nicht mehr hier,« antwortete er. – Fouquet wurde totenbleich. – »Was sagen Sie?« – »Die beiden Gefangenen sind seit einer Viertelstunde fort. Man hat sie auf Befehl des Königs in den Schloßturm von Vincennes gebracht.« – Fouquet sprach kein Wort weiter. Er rannte zum Wagen zurück und warf sich stöhnend in die Polster. »Unsere Freunde sind verloren,« rief er. »Colbert hat sie in den Turm von Vincennes gesperrt.« – Pelisson war wie vom Donner gerührt. »Wohin nun?« fragte er. – »Sie fahren nach Saint-Mandé zurück und schicken mir meinen Bruder her. Er soll so rasch wie möglich in meinen Pariser Palast kommen,« antwortete Fouquet.
Es war schon späte Nacht, als der Abbé zu seinem Bruder kam. Fouquet ging in rasender Ungeduld auf und nieder, Gourville versuchte umsonst ihn zu beruhigen. »Abbé,« rief der Oberintendant seinem Bruder entgegen, »du sprachst von gewissen Leuten, die in deinem Solde stehen. Kannst du auf sie zählen?« – »Sie stecken Paris für mich in Brand,« antwortete der Abbé. – »Höre, was ich verlange,« fuhr Fouquet fort, sich den Schweiß von der Stirn wischend, »versammle deine 120 Mann, Abbé, und halte sie morgen, Punkt zwei Uhr, auf der nach Vincennes führenden Straße kampfbereit.« – »Ich errate es,« unterbrach ihn der Bruder. »Lyodot und d'Eymeris sollen entführt werden. Es wäre aber wirklich besser, man ließe dem König diese kleine Genugtuung und verhielte sich ruhig.« – »Das geht nicht. Der Tod dieser beiden wäre ein Vorspiel meines Ruins,« versetzte der Oberintendant. »Wenn ich aber falle, so fällst du, so fallt ihr alle. Sie müssen gerettet werden. Und du sollst sie dem Feinde entreißen, wird sich's machen lassen?« – »Selbstverständlich,« antwortete der andere. »Es ist ja ganz einfach. Die Wache bei Hinrichtungen besteht gewöhnlich aus 12 Mann. – »Sie wird morgen aus 100 bestehen,« warf der Minister ein. – »Darauf bin ich gefaßt,« fuhr der kriegerische Pfaffe fort. »Ich nehme sogar an, zweihundert. Allein unter einer Menge von Zuschauern sind immer 10 000 Banditen, die auf eine Gelegenheit zum Losschlagen und Plündern warten, die sich nur nicht getrauen, den Anfang zu machen. Meine 120 Mann werden also morgen auf dem Grèveplatz Hilfstruppen finden. Die Gefangenen bringen wir in ein Haus. Einige der Häuser haben zwei Ausgänge, und ich kenne im besondern eins ganz genau, das einen zweiten Ausgang nach dem Baudoyerplatze hat. Es ist ein gut besuchtes Gasthaus. »Notre-Dame« nennt es sich. Nun, die Gefangenen gehen zur einen Tür hinein, zur andern hinaus.« – »Das ist eine gute Idee. Gourville, zahlen Sie dem Abbé 100 000 Livres, damit er seine Leute in die nötige Stimmung versetzen kann. Gilt es doch, gegen den König zu kämpfen, und in einem solchen Kampfe will man auch siegen.« – »Gnädigster Herr,« antwortete Gourville. »wenn es herauskommt, legt man uns den Kopf vor die Füße.« – »Mein Kopf sitzt noch fest auf den Schultern,« rief Fouquet stolz. – »Man wird den wahren Zusammenhang nicht durchschauen,« sagte der Abbé. »Ich lasse meine Leute rufen: ›Es lebe Colbert‹, und dann sollen sie über die Verurteilten herfallen, als wenn sie sie in Stücke zerreißen wollten.« – »Das läßt sich hören,« stimmte Gourville bei. »Sie haben eine reiche Phantasie, Herr Abbé.« – »Wenn es gilt, die Familienehre zu retten,« versetzte der Abbé, sich in die Brust werfend.
5. Kapitel. Der Kampf auf dem Grèveplatze
D'Artagnan hatte sich reisefertig gemacht und von seinem Freunde Athos Abschied genommen. Gemäß der Einteilung, die er sich für die ihm bis zum Aufbruch noch übrigen Stunden zurechtgelegt hatte, begab er sich nun, begleitet von Rudolf, mit dem er ein paar Tagereisen zusammen machen wollte, nach dem Wirtshause ›Notre-Dame‹, um von seinem Pächter den fälligen Mietszins einzukassieren. Er hatte gehört – denn die Ausrufer hatten es in der ganzen Stadt verkündet – daß zwei betrügerische Finanzpächter, zwei Erzdiebe und Halsabschneider, am frühen Morgen dieses Tages auf dem Grèveplatz vom Leben zum Tode befördert werden sollten, und wollte nun diese günstige Gelegenheit, die sicherlich seinem Pächter eine volle Gaststube verschaffen würde, benützen, sich sein Geld von ihm zahlen zu lassen. Als der Chevalier und Rudolf auf dem Grèveplatz anlangten – es war gegen halb 2 Uhr nachts – wimmelte es dort schon von Menschen, und es war schwer vorwärtszukommen. Sie bahnten sich mit Ellbogen und Degengefäß mühsam einen Weg durch die Kopf an Kopf gedrängte Menge und erreichten endlich den Eingang zu dem Wirtshaus ›Notre-Dame‹.
Der Chevalier musterte mit Befriedigung die vollen Bänke. »Da hat der Wirt keinen Vorwand,« sagte er zu Rudolf, »mir die Pacht nicht zu zahlen. Volles Haus, volle Börse.« – »Und all dieses Volk ist nur da, um zwei arme Kerle baumeln zu sehen. Pfui Teufel!« murmelte Rudolf. – D'Artagnan hielt den Wirt, der geschäftseifrig hin und her lief, am Schürzenzipfel fest. – »Ah, Sie sind's, Herr Chevalier!« rief der Mann. »Nur einen Augenblick! Hier sind hundert durstige Seelen – ich kann nicht genug herbeischaffen. Ihr Pachtgeld liegt oben, aber in dem Zimmer sitzen auch dreißig Kumpane, die seit heute früh ein Fäßchen Portwein ausgetrunken haben. Eine Minute, Herr Chevalier!« – »Ich gehe fort,« sagte Rudolf, »das alles ist mir zuwider.« – »Du bleibst, Junge,« versetzte d'Artagnan. »Ein Soldat muß sich an alles gewöhnen. Ein jugendliches Auge muß sich abhärten. Wir treten dort in den Hof unter den hohen Baum, da haben wir frische Luft.«
Hätte der Chevalier sich als Vorposten aufstellen wollen, so hätte er keinen günstigeren Platz wählen können. Von hier aus entging ihnen nichts – ja, sie hörten jeden Ausruf, sahen jede Gebärde der Zecher im Gasthause. – »Die Delinquenten werden gleich kommen,« sagte Rudolf. »Sie haben den Wirt wieder laufen lassen, und wir werden nun doch warten müssen, bis die Hinrichtung vorüber ist. Das ist mir gar nicht lieb. Ich sehe so etwas nun einmal nicht gern.« – »So schau nach der andern Seite,« sagte d'Artagnan und betrachtete mit argwöhnischem Blick einen kriegerisch aussehenden Mann, der eben an ihnen vorbeischritt und in das Gasthaus trat. Das Schreien und Toben drinnen hörte auf, die Zechenden scharten sich um den Ankömmling, der eine Ansprache an sie zu halten schien. Dann entfernten sich die Leute gruppenweise, und nur sechs von ihnen blieben zurück. Während der Unbekannte den Wirt auf die Seite zog und ein ernstes Gespräch mit ihm führte, zündeten die sechs Männer ein großes Feuer im Kamin an, was bei dem warmen Wetter dieses Tages sehr auffallend war.
»Sonderbar,« meinte d'Artagnan, »diese Gesichter kommen mir bekannt vor.« – »Riecht es nicht nach Rauch?« fragte Rudolf. – »Ja, es scheint brenzlig werden zu wollen,« murmelte der Chevalier. »Das sieht fast aus wie Verschwörung.« – Im selben Augenblick traten vier der Zurückgebliebenen in den Hof und stellten sich, scheinbar unabsichtlich, bei der Verbindungstür auf. Sie sahen ganz aus, als wollten sie Schildwache stehen. – »Du, Rudolf,« flüsterte der Chevalier. »Hier liegt was in der Luft.« – Er zog mit diesen Worten seinen jungen Freund in die Gaststube. Als die beiden letzten Gäste sie eintreten sahen, stießen sie einander an. »Verstärkung!« flüsterte einer von ihnen. – »Ja, Kameraden, Verstärkung,« sagte d'Artagnan, sich umdrehend. »Ein brillantes Feuer! Was soll denn da gekocht werden?« – Die beiden Kerle lachten laut auf, antworteten aber nicht, sondern legten nur noch mehr Holz auf. – d'Artagnan gab Bragelonne einen Wink, und beide traten wieder an das Fenster.
Der große Platz war ganz mit Menschen angefüllt. Die dichtgedrängten Köpfe wogten wie Aehren auf einem weiten Kornfelde. Bis dicht an die Hellebardiere hin, die das Schafott umringten, schob sich die Menge vor, und hin und wieder ließen die Soldaten das Eisen ihrer Waffen auf die Köpfe der Menschen niederfallen, wenn sie gar zu zudringlich wurden. Außer diesen Soldaten sah man noch an einer Stelle mitten unter der Menschenmenge eine Gruppe von etwa fünfzig Musketieren. D'Artagnan erkannte sie und sah zu seiner Beruhigung, daß sie in Rufweite von ihm standen. In der Nähe der Galgen machte sich ein lärmender Haufe bemerkbar, und weiterhin sah man hier und dort unter den einfältigeren Physiognomien der alltäglichen Zuschauer tollkühne, unternehmende Gesichter, die einander über die andern hinweg Zeichen gaben. In der dichtgedrängtesten Gruppe bemerkte d'Artagnan einen Mann zu Pferde, in dem er zu seiner Verwunderung Menneville erkannte, seinen Helfershelfer von früher. Ein dumpfes Gemurmel, das von einer andern Seite her erklang, lenkte jetzt seine Aufmerksamkeit von seinem alten Bekannten ab. Die Verurteilten kamen an, eskortiert von einer starken Abteilung berittner Soldaten, von der Menge mit einem tausendstimmigen Geschrei empfangen.
Die Männer in der Gaststube schürten das Feuer – Rudolf wandte sich mit einem Laut des Mißbehagens zur Seite. Die Todeskandidaten gingen zu Fuß, der Henker hinter ihnen her. Fünfzig Soldaten bildeten zu beiden Seiten Spalier. – »An den Strang mit ihnen, an den Strang. Es lebe der König!« schrie das Volk.
»Nein, weg mit dem Galgen! Es lebe Colbert!« erklang es dagegen. – »Was bedeutet das?« murmelte d'Artagnan. »Ich glaubte, sie würden auf Betreiben Colberts gehenkt.« – Es entstand ein Gedränge, das den Zug auf einen Augenblick zum Stillstand zwang. Als er wieder weiter vorrücken konnte, hatten sich die Leute mit den auffallend tollkühnen Gesichtern ganz dicht an die Soldaten herangedrängt. Und plötzlich fielen diese Kerle mit dem Ruf: »Es lebe Colbert!« über die Mannschaften her. Es gab im Nu ein fürchterliches Handgemenge. Die Hellebarden der Soldaten sausten auf die Köpfe hernieder, die Schwerter blitzten, Musketenschüsse fielen. Man sah nur noch eine verworrene Masse von Waffen, Armen und Köpfen, eine einzelne Gestalt zu unterscheiden war nicht mehr möglich. Die Verurteilten wurden den Soldaten entrissen und nach dem Gasthause geschleppt. Ein Höllenlärm begleitete die Verwirrung, in welchem man aber immer noch deutlich den Ruf heraushörte: »Es lebe Colbert!«
Das Volk war unschlüssig, ob es den Soldaten oder den Aufrührern helfen solle, denn es begriff nicht, weshalb die Aufrührer, die doch die Verurteilten zu befreien schienen, dabei schrien: »Nicht an den Galgen! Ins Feuer mit ihnen.« Wenn man sie doch töten wollte, wozu entriß man sie erst der Justiz? Schließlich tat aber doch der Ruf: »Bratet die Volksschinder lebendig!« seine Wirkung, der Pöbel strömte herbei, und als man gar im Gasthause einen Mann erblickte, der ein brennendes Holzstück schwang, wollte jedermann sich an der Vollstreckung dieses Lynchurteils beteiligen. Der Ruf: »Ins Feuer mit den Dieben!« wurde zur allgemeinen Parole.
»Jetzt wird's ernst,« sagte d'Artagnan. – Im selben Moment hatte einer der Männer am Feuer einen Brand an das ausgedörrte Wandgetäfel und an die Türverkleidung gehalten, und alsbald loderte die Flamme auf, Rauch erfüllte das Zimmer. – Ohne ein Wort zu sagen, entriß d'Artagnan dem Schnapphahn das brennende Holz und schlug ihn damit mitten ins Gesicht. Den zweiten packte Rudolf um den Leib und warf ihn zum Fenster hinaus. Darauf riß er die brennende Bekleidung an der Wand herab und zertrat die Glut mit den Füßen. D'Artagnan überzeugte sich mit einem Blick davon, daß die Gefahr des Feuers beseitigt war, und eilte vor die Türe hinaus, auf die jetzt die Schnapphähne losstürmten, Menneville an der Spitze.
»Was wollt ihr hier?« schrie der Chevalier, das Schwert schwingend. – »Tod und Teufel, Herr d'Artagnan!« rief Menneville, ihn erkennend, »macht Platz!« – »In das Feuer mit den Dieben!« schrien seine Kameraden, schrie die Menge hinter ihnen. – »Musketiere, her zu mir!« brüllte d'Artagnan, und dieser Ruf, mit dem er schon oft seine Schar zum Siege geführt hatte, tat auch diesmal seine Wirkung. Die Soldaten erkannten daran ihren Befehlshaber. Gleichzeitig warf d'Artagnan sich mit erhobenem Schwerte den Anstürmenden entgegen, Rudolf folgte seinem Beispiel. Der erste, der fiel, war Menneville, von einem Schwerthiebe des Chevaliers niedergestreckt. »Sagte ich dir nicht, du solltest ein anständiger Mensch werden?« rief d'Artagnan, indem er ihm den Schädel einschlug. Nun arbeiteten die beiden Recken, der junge und der alte, wie Riesen, wie Erzengel mit Flammenschwertern, und jeder Streich warf einen Feind darnieder. »Im Namen des Königs!« riefen sie, und dieser neue Ruf wurde zur Losung des Siegers. Von hinten rückten die Musketiere und die Soldaten der Wache unwiderstehlich vor, die Reihen des Volks kamen ins Wanken, lösten sich auf und stoben schließlich zur Seite, wie Wellen des Meers vor dem vorwärtsdringenden Schiffsschnabel. Die Schnapphähne mußten ihre Sache verloren geben, ließen die Delinquenten im Stich und suchten sich zu retten. Das Feuer im Ofen wurde nun mit Wasser gelöscht, und die Todeskandidaten vollendeten den Weg zum Galgen. In einer Minute hatte der Henker seine Arbeit getan.
Es war ruhig auf dem Platze; kein Mensch war mehr zu sehen, außer den Soldaten, die sich zum Abmarsch fertig machten. Am Dreibein hingen die Leichen der Gerichteten. – »Kommen Sie nun aber endlich fort, Chevalier,« sagte Rudolf. – »Einen Augenblick!« antwortete d'Artagnan, »ich will nur erst noch meinen Mietszins einkassieren. Das Haus bringt zwar viel ein – aber ich möchte doch lieber eins in einem andern Stadtteil haben.«
6. Kapitel. Kein Geld für die Musketiere
Einer der flüchtenden Schnapphähne hatte sich auf ein Pferd geschwungen und war zum Palast des Finanzministers geritten, um dort Bericht über den Mißerfolg zu erstatten. Als Fouquet alles gehört hatte, schritt er in furchtbarer Niedergeschlagenheit auf und ab, sein Bruder und Gourville bewahrten das schmerzliche Schweigen der vollsten Enttäuschung. Endlich rief der Abbé: »Also der Eigentümer des Hauses! Das war der eingefleischte Teufel, der die Sache unserer Feinde zum Siege führte. Wie heißt der Eigentümer dieses Hauses? Wem gehört das Wirtshaus ›Notre-Dame‹? Das muß ergründet werden, denn dieser Mensch soll es büßen, daß er uns den Spaß so schändlich verdorben hat.«
»Still!« unterbrach ihn der Finanzminister. »Keine Anklagen, gegen wen es auch sei! Ich allein bin schuld daran, ich hätte mich nicht auf fremde Leute verlassen sollen. Geh jetzt, Bruder, und verschone mich mit deinem Besuch, bis ich dich rufen lasse. Wir haben viel Stillschweigen und Vorsicht nötig. Also keine Gewalttat! Ich verbiete es dir!« – Der Abbé verneigte sich, und Fouquet wollte eben mit Gourville hinausgehen, als der Türsteher hereintrat und meldete: »Chevalier d'Artagnan!«
»Wer ist das?« rief Fouquet geringschätzig. – »Ein königlicher Musketier-Leutnant außer Dienst,« sagte Gourville, »der vielleicht seine Pension einkassieren will.«
»Er soll zum Teufel gehn!« rief Fouquet. »Was kommt er zu so ungelegner Zeit?« – »Erlauben Sie, gnädiger Herr, daß ich ihn abfertige,« sagte Gourville. »Ich kenne den Mann, und wie es jetzt mit uns steht, ist es besser, solche Männer zu Freunden statt zu Feinden zu haben.« – »Antworten Sie ihm, was Sie wollen,« warf Fouquet hin, im Begriff hinauszugehen. – »Antworten Sie ihm, es sei kein Geld da,« sagte der Abbé, »am wenigsten für die Musketiere.«
»Kein Geld für die Musketiere!« ließ sich jetzt d'Artagnan vernehmen, mitten in die Tür tretend. »Das wußte ich, und weiter wollte ich hier auch nichts hören. Das wollte ich mir nur bestätigen lassen. Nun gehe ich zu Colbert.« – Er drehte sich auf dem Absatz herum und stampfte davon. – »Heißen Sie ihn bleiben, Gourville,« rief Fouquet, und der Sekretär eilte hinaus und nötigte den Chevalier zur Umkehr. – »Schnurrige Leutchen, diese Herren von der Finanz,« sagte dieser, wieder eintretend, »ich will bei Herrn Fouquet eine mir vom König angewiesene Summe abholen, und man empfängt mich wie einen Bettler oder wie einen Dieb, der das Silberzeug stehlen will.« – »Sie mußten nicht gleich sagen, Sie wollten zu Colbert gehn,« murmelte Gourville. – »Gerade sage ich es,« rief der Musketier, »und ich wiederhole es. Ich habe von Herrn Colbert Genugtuung zu fordern, denn mir ist mein Haus angezündet worden, und man hat dabei gerufen: ›Es lebe Colbert!‹«
Gourville stutzte. »So, so?« versetzte er. »Das war also Ihr Haus, das man auf dem Grèveplatz anzünden wollte? Sie sind also der Eigentümer des Wirtshauses Notre-Dame? Dann sind Sie ja wohl auch der tapfere Mann, der die Aufrührer verjagt und die Verurteilten zum Galgen geschleppt hat?« – »Und sie damit vor dem Tode in den Flammen errettete, jawohl,« antwortete d'Artagnan. »Ich habe den armen Teufeln zu einem leichtern Ende verholfen. Ist Ihnen bekannt, daß man sie lebendig braten wollte? Es übersteigt allen Glauben.« – Fouquet hatte schweigend zugehört. D'Artagnan wischte eine Blutspur von seinem Degen ab, die seiner Aufmerksamkeit entgangen war. »Ich muß um Verzeihung bitten,« sagte er dann, »ich habe nicht viel Zeit, wenn ich noch zu Herrn Colbert will, um mir dort mein Geld geben zu lassen.« – »Aber Sie können es ja auch hier bekommen, Herr Chevalier,« sagte nun Fouquet. »Ich habe schon viel von Ihnen gehört. Haben Sie eine Anweisung?« – D'Artagnan wies das Papier vor, und Fouquet trat mit ihm in ein Nebenzimmer.
»Sie haben zu fordern?« fragte er. – »5000 Livres.« – »Rückständigen Sold?« – »Nein, das erste Quartal meines Jahresgehalts.« – »Also zahlt Ihnen der König 20 000 Livres jährlich?« – »Finden Sie das vielleicht zuviel?« – »Keineswegs, bei Ihren Verdiensten,« antwortete Fouquet. »Wenn es nach mir ginge, würden Sie 100 000 jährlich erhalten und nicht dem König, sondern mir angehören.« – D'Artagnan war nicht unempfänglich für Schmeicheleien, namentlich, wenn sie in so seiner Form ausgesprochen wurden, wie jetzt diese seitens des Herrn Fouquet. Der Minister öffnete einen Schubkasten und nahm vier Geldrollen heraus. – »Das sind ja 20 000 Livres,« sagte d'Artagnan. – »Ich will Ihnen die Mühe ersparen, viermal aufs Ministerium zu kommen,« antwortete Fouquet. – »Sehr gütig, Herr Minister,« antwortete d'Artagnan. – »Nur meine Schuldigkeit,« sagte Fouquet. »Darf ich Sie noch um eine Gefälligkeit bitten?« fuhr er fort und zog einen Diamantring vom Finger, der seine tausend Pistolen wert sein mochte. »Diesen Stein erhielt ich von einem Jugendfreunde, dem Sie heute einen großen Dienst erwiesen haben. Sein Name war d'Eymeris.« – »Einer der Verurteilten?« – »Ja, und zum Dank für Ihren Dienst nehmen Sie bitte diesen Ring an. Ich habe heute einen Freund verloren und suche einen andern dafür zu gewinnen. Adieu, Herr Chevalier, oder vielmehr auf Wiedersehen!« rief Fouquet bewegt, erhob sich und eilte hinaus.
»Das begreife, wer kann,« brummte d'Artagnan, vor dem Gelde und dem Ringe stehend. »Mir ist nur eins klar, dieser Fouquet ist ein ganz netter Mensch. Das soll mir Colbert erklären.«
Colbert hatte inzwischen Bericht über die Vorfälle auf dem Grèveplatz erhalten und war in sehr schlechter Stimmung, zumal das Rätsel, weshalb bei diesem Aufruhr Hochrufe auf seine Person geschehen waren, sich in einer für ihn nicht eben schmeichelhaften Weise aufgeklärt hatte. Ueber d'Artagnans Teilnahme an dem Kampfe war er unterrichtet, und als er den Chevalier eintreten sah, rief er ihm entgegen: »Sie kommen zu spät, ich weiß schon alles.« – »Wieso, Herr Kontrolleur?« erwiderte der Gaskogner. »Ich komme nicht her, um Bericht zu erstatten.« – »Sie haben dabei aber doch eine Tat vollbracht, die der Erwähnung wert ist,« meinte Colbert. – »Bah,« sagte der Musketier trocken, »das Alltägliche hat zuletzt keinen Reiz mehr.« – »Nun, was führt Sie sonst zu mir?« – »Der König hat mir befohlen, mich bei Ihnen einzufinden.« – »In Geldangelegenheiten?« fragte Colbert, als er sah, daß d'Artagnan ein Papier hervorzog. – »Warten Sie einen Augenblick, ich habe nur eine kleine Sache zuvor zu erledigen.« – D'Artagnan aber machte kurz kehrt und schickte sich an hinauszugehen. Colbert war verblüfft; die Soldaten warteten sonst, wenn sie Geld holten, mit der größten Geduld. Wollte der Musketier vielleicht zum König gehen, sich beschweren und seine Heldentat erzählen? Es war doch wohl besser, ihn nicht zu erzürnen.
»Wie denn?« rief er. »Wollen Sie mich schon verlassen?« – »Na ja doch, wir haben uns nichts mehr zu sagen,« versetzte der Gaskogner. – »Aber Sie wollten doch Geld holen?« – »Keineswegs, das habe ich schon von Fouquet bekommen.« – Colbert erblaßte. – »Warum zeigen Sie mir dann dieses Papier vor?« fragte er. – »Der König hat mir befohlen, ein Viertel meines Jahresgehalts bei Fouquet einzukassieren. Majestät meinte, der Oberintendant würde sich weigern, es mir zu zahlen, und dann sollte ich zu Ihnen gehn. Nun war aber Fouquet doch bei Kasse, ja er hat mir nicht nur ein Viertel, sondern das ganze Jahresgehalt auf einmal ausgezahlt, nämlich 20 000 Livres.«
»Zwanzigtausend Livres!« rief Colbert, ebenso erstaunt über die Höhe der Summe, wie Fouquet. »Da bekommen Sie ja zehnmal mehr als ich.« – »Der König sagte, es sei ja wenig, aber er wollte es in Zukunft besser machen, wenn er erst reich wäre,« meinte d'Artagnan. – »Wie kommt der Minister dazu, Ihnen statt eines Viertels gleich das ganze Gehalt zu zahlen?« murmelte Colbert verdrießlich. »Dazu hatte er kein Recht. Zeigen Sie Ihre Anweisung mal her. Da, sehen Sie, Herr Chevalier – der König hat ausdrücklich geschrieben: 5000 Livres. Warum hat der Minister Ihnen mehr gegeben? – »Weil er eben wollte. Das geht niemand was an.« – »Sie sind mit dem Finanzwesen nicht vertraut – ich aber bin Kontrolleur des Finanzministers,« versetzte der Intendant in hochfahrendem Tone. »Fouquet hatte Ihnen nicht mehr zu zahlen, als der König Ihnen schuldig ist. Sie haben also 15 000 Livres an die Staatskasse zurückzuzahlen.« – »Ich zahle nie zurück,« antwortete d'Artagnan lachend. – »Der König ist auf sein Geld angewiesen.« – »Und ich auf das des Königs.« – »Dann wollen wir sehen, was Seine Majestät dazu sagen wird,« rief Colbert. »Ich zeige ihm diese Anweisung –« – »Oho!« rief der Gaskogner und entriß Colbert das Papier. »Das werden Sie nicht tun!« Und er steckte das Papier in die Tasche. – »Was fällt Ihnen ein, Chevalier!« rief Colbert wütend. – »Keine Aufregung!« versetzte d'Artagnan ironisch. »Ein Kriegsmann pflegt nicht lange zu fackeln. Küß die Hand!« Er lachte ihm ins Gesicht und ging hinaus.
7. Kapitel. Porthos
In einer Verkleidung, die ihn halb als herrschaftlichen Diener, halb als Bauer erscheinen ließ, ritt d'Artagnan in jenem Teil der bretonischen Küste, der der »schönen Insel«, oder Belle-Ile, gegenüberlag, von einem Fischerdorf zum andern, überall die Augen aus, überall die Ohren gespitzt. Es währte nicht lange, so hatte er festgestellt, daß in diesem Lande Herr Fouquet König, ja Gott war. Am meisten fielen ihm die vielen Barken auf, die mit Steinladungen nach Belle-Ile hinüberfuhren. »Herr Fouquet bessert alle Jahre die Schloßmauer aus,« sagte man ihm, als er ganz im Tone eines neugierigen Provinzlers, der zum ersten Male das Treiben am Meeresstrande beobachtet, die Leute fragte. In dem Dorfe Croissic beschloß er, einen Kahn zu suchen, der ihn nach Belle-Ile hinüberbringen könnte. Er ging vorsichtig zu Werke, um ja keinen Verdacht zu erregen, und schlenderte stundenlang hin und her, ehe er sich endlich, wie einer, der sich nach langem Bedenken zu etwas entschließt, wovon er sich kein rechtes Vergnügen verspricht, das er aus Neugierde aber doch mitmachen möchte, an ein paar Fischer wendete mit der Frage, ob sie ihn mal auf eine kleine Fahrt mitnehmen möchten.
»Warum nicht, Mann?« antwortete der Patron des Kahnes. »Wir warten nur auf die Flut, dann gehn wir auf den Fang.« – »Wo fischt ihr denn heute?« – »Drüben bei Belle-Ile.« – »Ist das weit von hier?« – »Vier Meilen.« – »O, das ist ja schon eine kleine Reise. Da werde ich wohl seekrank werden, was meint Ihr?« –
»Das kann schon sein. Aber wenn's zu schlimm kommt, können wir Euch ja in Belle-Ile an Land setzen,« meinte der Fischer. – »Darf man denn dort landen?«
»Wir dürfen,« war die Antwort, »wir verkaufen oft unsere Fische an die Korsaren.« – »An was für Korsaren?« fragte der Gaskogner. – »Herr Fouquet rüstet zwei Korsarenschiffe aus, um auf die Holländer und die Engländer Jagd zu machen.« – »Sieh da,« dachte der verkappte Musketier. »Er baut Festungswerke und hält Korsarenschiffe, da hat der König vielleicht doch nicht unrecht. Fouquet ist, soweit ich ihn kenne, ein Feind, vor dem man allen Respekt haben muß. Ich will ihn scharf aufs Korn nehmen.«
Die Flut kam, die Barke ging in See. In zwei Stunden war sie schon außer Sicht des Landes. Die Fischer gingen ihrem Handwerk nach, und es fiel ihnen nicht auf, daß ihr Passagier, obwohl die See ziemlich hoch ging, nicht die geringste Spur von Seekrankheit zeigte. Sie machten einen guten Fang an Schellfischen und Meeraalen und erklärten, der Fremde brächte ihnen Glück. D'Artagnan half schließlich beim Heraufholen der Netze mit und vergaß über den Fischfang ganz seine politische Mission, bis der Patron ihn daran erinnerte, indem er aufs Meer hinauszeigte. »Belle-Ile!« sagte er. – D'Artagnan ließ einen großen Aal, der sich zwischen seinen Fingern wand, entwischen, fuhr herum und sah in geringer Entfernung dunkelgraue Felsen emporragen, die von den weißen Mauern eines prachtvollen Schlosses gekrönt waren. Die Mittagssonne warf goldene Strahlen aufs Meer, und die Zauberinsel war von schimmernder Atmosphäre umhüllt, in der die jenseits des Schlosses sich erstreckenden Wiesen und Waldungen verschwammen.
Er stand im Anschauen verloren, aber bald besann er sich, daß es seines Amtes nicht sei, landschaftliche Schönheiten zu bewundern, und er ließ sein Auge forschend an der Insel entlangwandern. Da erkannte er alsbald, daß tatsächlich Festungswerke gebaut wurden.
»Potzblitz,« rief er plötzlich, »da sind ja auch Soldaten!« – »Natürlich,« antwortete der Fischer. »Es liegen 1700 Mann auf der Insel. Jede einzelne Garnison ist mit 22 Kompagnien Infanterie besetzt.« – »Alle Wetter!« dachte d'Artagnan. »Ich glaube immer mehr, der König hat recht.«
Die Barke landete, und während die Fischer mit ihrem Kahn und ihrem Fang beschäftigt waren, entfernte sich d'Artagnan langsam und unauffällig von ihnen und schlenderte am Strande entlang. Rings sah er Barken, mit Steinen beladen, und überall gingen die Schubkarren hin und her. Die Ausdehnung der Bauarbeiten konnte d'Artagnan vorläufig nicht übersehen. Welchem Zweck sie dienten, darüber war er als Soldat keinen Augenblick im Zweifel. An den beiden Enden des Hafens waren zwei Batterien errichtet, von denen aus die Landungsstellen ins Kreuzfeuer genommen werden konnten. Die Batterien schienen zur Aufnahme schwerer Geschütze bestimmt, doch waren diese selbst noch nicht da, obwohl alle Vorbereitungen zu ihrer Aufstellung schon getroffen waren.
Nachdem d'Artagnan die Küstenbatterien betrachtet, wendete er seine Aufmerksamkeit auf die Festungswerke und unterschied, daß diese nach einem ganz neuen System angelegt waren, welches ihm der Graf de la Fère einmal eingehend erläutert hatte. Das Neue an dieser Bauart war, daß die Werke nicht als Schanzen über den Erdboden emporragten, sondern in Form von Gräben unterhalb des Niveaus lagen, so daß sie feindlichen Geschützen kein Ziel boten. Zugleich hatten sie den Vorteil, daß sie jederzeit durch Schleusen vom Meere aus unter Wasser gesetzt werden konnten. Die Arbeiten waren beinahe beendet, die Leute legten die letzten Steine auf, unter dem Befehl eines Mannes, der den ganzen Bau zu leiten schien. Er trug ein prächtiges Wams, an dem man gleich erkannte, daß er nicht zu der Klasse der Leute gehörte, die er beaufsichtigte. Er hatte einen Federhut, und vor ihm auf einem Steine lag ein Plan, nach welchem er die Arbeiten anordnete. Er betrachtete eben sechs Männer, die alle Kraft aufboten, um einen gewaltigen Stein ein wenig zu lüften und ein Querholz unterzuschieben. Der Stein war ihnen aber schon zweimal aus den Händen geglitten, ohne daß sie ihn hoch genug hatten heben können, um Raum für den Balken zu schaffen. Der Mann mit dem Federhut verlor die Geduld und trat hinzu.
»Ihr seid samt und sonders schlappe Kerle!« rief er. »Macht Platz! Ich will euch zeigen, wie man das anzustellen hat.« – »Alle Wetter!« dachte d'Artagnan, »er will doch nicht etwa den Steinkoloß allein heben?« – Die Arbeiter traten kopfschüttelnd auf die Seite; der Ingenieur bückte sich, legte die Hände an den Stein, spannte die herkulischen Muskeln und hob den Quaderstein mit der Ruhe und Sicherheit einer Maschine vom Boden auf. Der Arbeiter schob rasch den Hebebaum darunter. – »Alle Wetter!« rief d'Artagnan unwillkürlich. »Ich kenne nur einen, der so etwas fertig bringt.« – »Was?« fragte der bärenstarke Mensch und drehte sich um.
»Porthos!« rief der Gaskogner. »Porthos in Bellelle!« – Der Mann mit dem Federhut sah die spießbürgerliche Gestalt an, die vor ihm stand, und erkannte sie trotz der Verkleidung. – »D'Artagnan!« rief er. Die beiden Freunde hatten sich erkannt und wußten im selben Moment auch, daß ein jeder sein besonderes Geheimnis hatte, das er nicht gern preisgeben wollte. – »Was zum Teufel hat Porthos in Belle-Ile zu suchen?« Diese Frage legte sich d'Artagnan vor, doch ohne sie laut auszusprechen. – Porthos jedoch, der kein so feiner Diplomat war wie der Gaskogner, dachte mit Worten. »Was zum Teufel haben Sie in Belle-Ile zu suchen?« fragte er, und da mußte d'Artagnan wohl oder übel sofort antworten.
»Ei, meiner Treu,« lachte er, »Sie suche ich hier.« Und ehe sein Freund Zeit hatte, darüber nachzudenken, setzte er hinzu: »Ich habe Sie in Pierrefonds aufgesucht. Und da ich Sie nicht fand –« – »Aber Mousqueton kann Ihnen doch nicht gesagt haben, daß ich hier bin. Er weiß es ja selber nicht.« – »Das schon, allein ein so vornehmer Herr wie Sie hinterläßt doch, wenn er auf Reisen ist, eine Spur, nach der man sich richten kann, und die hat mich hierher geführt.« – »Wie kann ich eine Spur hinterlassen haben?« versetzte Porthos, »bin ich doch verkleidet hergereist.« – »So, so?« meinte d'Artagnan, »Sie haben sich verkleidet?« – »Ja, als Müller, und ich habe meine Rolle sehr gut gespielt. Wie konnten Sie mich da auffinden?« – »Jenun, ich habe Sie eben doch gefunden. Nur nicht ungeduldig!« antwortete d'Artagnan. »Aramis hatte Ihnen doch einen Brief nach Pierrefonds geschrieben, und darin stand, Sie möchten vor der Tag- und Nachtgleiche zur Stelle sein, nicht wahr?« – »Das ist richtig.« – »Na also!« schloß d'Artagnan, als wenn diese Worte die selbstverständlichste Lösung des Rätsels enthielten. – Porthos schien seinen Geist gewaltig anzustrengen. »Ach so, nun verstehe ich,« sagte er endlich. »Aramis hatte mir geschrieben, und nun sagten Sie sich, wo Aramis ist, da ist auch Porthos. Sie suchten einfach zu erfahren, wo Aramis stecke; und da Sie herausbrachten, daß er in der Bretagne weilte, so war es für Sie klar, daß ich auch in der Bretagne sei.« – »Getroffen, Freund! Daß Sie nun gerade in Belle-Ile seien, das wußte ich allerdings nicht. Ich hatte nur von den prachtvollen Bauten gehört, die hier aufgeführt würden, und bin aus Neugierde einmal herübergefahren.« – Die beiden Freunde schlossen sich noch einmal in die Arme, und Porthos drückte den Chevalier so fest an die Brust, daß ihm alle Luft ausging. – »Noch immer alle Kraft in den Armen!« stöhnte d'Artagnan, als er ihn losließ, und bei sich selbst setzte er hinzu: »Ich werde also hier kein leichtes Spiel haben.«
»Warum haben Sie sich denn in so einen Spießbürgerkittel gesteckt?« fragte Porthos; aber der Gaskogner war glücklicherweise auf diese Frage gefaßt. »Ich bin jetzt Spießbürger und kleide mich nur standesgemäß.« – »Sie als Musketier?« – »Bin ich nicht mehr – habe den Abschied genommen.« – Porthos schlug die Hände zusammen. »Das ist ja erstaunlich!« rief er. »Und warum das?« – »Der König gefiel mir nicht – da warf ich meinen Reitermantel ins Unkraut. Mein erstes, nachdem ich frei geworden, war, zu Ihnen nach Pierrefonds zu eilen.« – »Sieh da, sieh da!« rief Porthos. »Brauchen Sie vielleicht Geld – in diesem Falle wissen Sie –«
»Danke, bin versehen. Ich habe nämlich mein Erspartes bei Planchet angelegt, und der zahlt mir Zinsen dafür. Sie staunen? Warum soll ich nicht ebensogut wie andere Leute sparen? Natürlich ist's nicht so viel, wie Sie, der Herr Baron du Vallon, haben; denn Sie sind ja ein Millionär. Aber 200 000 Livres ist auch schon ganz hübsch.« – »Wo haben Sie denn diesen Reichtum her?« rief Porthos verblüfft. – »Das werde ich Ihnen später erzählen. Erst erzählen Sie mal –«
»Ich erzählen? Was denn?« – »Na, zum Beispiel, wie Aramis –« – »Ach so, wie Aramis Bischof von Vannes wurde –« – »So, so? Aramis ist Bischof von Vannes? Er hat doch eben Glück, der Aramis.« – »Ja, und obendrein, was ihm noch in Aussicht steht.« – »Was denn? Soll er etwa gar Kardinal werden?« – »Es ist ihm bestimmt versprochen worden.« – »Vom König?« – »Von jemand, der noch mächtiger ist als der König.« – »Also von Fouquet. So, so! Der hat ihm den Kardinalshut versprochen? Sagen Sie doch –« Aber Porthos nahm eine sehr zurückhaltende Miene an, und d'Artagnan hielt es für besser, dem Gespräch eine Wendung zu geben. Er sah sich rings um und sagte dann: »Die Festungswerke, die Sie da bauen, sind ganz prachtvoll. Sie sind doch der Bauleiter, vermute ich, der geniale Ingenieur, der dieses Rattennest uneinnehmbar macht?« – Porthos warf sich in die Brust. – »Ich kann nur staunen und bewundern,« fuhr d'Artagnan fort. »Ich hoffe, Sie zeigen mir alles genau.« – »Das ist leicht,« antwortete du Vallon, »hier ist der Plan.« Und er beugte sich über den Stein und erklärte seinem Freunde die ganze Anlage. D'Artagnan erfuhr auf diese Weise jede Einzelheit. Während er den Bauriß betrachtete, erkannte er unter den imposanten Schriftzügen des Barons eine feine, zierliche Handschrift, die mit Radiergummi fast ganz ausgemerzt worden war. Bei diesem Anblick erinnerte er sich gewisser an Marie Michon adressierter Briefe, die er vor vielen Jahren zu Gesicht bekommen hatte. – »So,« sagte Porthos, faltete den Plan zusammen und steckte ihn ein, »nun wissen Sie alles.« – »Nur noch eins!« antwortete d'Artagnan. »Wer ist der Herr, der dort unten auf und ab geht?« – »Das ist Gétard, der Architekt des Hauses.« – »Des Hauses? Sie sagen das, als wären Sie hier zu Hause? Gehören Sie denn zu Fouquets Haushalt?« – Porthos biß sich auf die Lippe. »Wieso?« versetzte er verdrießlich. »Gétard ist Fouquets Architekt, damit gut. Mit den Festungswerken hat er gar nichts zu tun, die sind ganz meine Sache. Wollen wir jetzt zu Tisch gehn?« – »Einverstanden!« – »Doch, um es gleich zu sagen, ich habe nur zwei Stunden Zeit.« – »Dann müssen wir uns danach einrichten,« sagte der Chevalier. »Aber warum nur zwei Stunden?« – »Weil um ein Uhr die Flut kommt und ich dann nach Vannes fahre,« antwortete der Baron. – »Um Aramis zu besuchen?« rief der Gaskogner. »Hollah, da komme ich mit – wie lange dauert die Reise?« – »Sechs Stunden. Drei zu Wasser bis Sarzeau, und drei zu Lande von Sarzeau bis Vannes.« – »Sehr bequem. Da Sie so nahe sind, gehen Sie wohl öfter nach Vannes?« – »Alle Woche einmal,« antwortete du Ballon. – »Hm,« meinte d'Artagnan, zu sich selbst sprechend, »ich glaube, ich kenne jetzt den wahren Urheber dieser Befestigungswerke.«
Zwei Stunden später trat Flut ein, und d'Artagnan und Porthos fuhren zusammen nach Sarzeau hinüber. Die Fahrt ging auf einem jener leichtgebauten Korsarenschiffe, von denen der Chevalier schon unterwegs gehört hatte, leicht und rasch von statten. Es war dem schlauen Gaskogner nicht schwer zu entdecken, daß sein Freund Porthos von Staatsgeheimnissen nicht viel wußte. Diese Unkenntnis der herrschenden Verhältnisse war bei Porthos keine Verstellung, das wußte d'Artagnan; denn wenn der Baron in irgend etwas eingeweiht gewesen wäre, so hätte er damit nicht hinterm Berge halten oder doch seine Mitwissenschaft gegen die schlauen Kreuz- und Querfragen des Gaskogners nicht wirksam verteidigen können. – »In Vannes,« dachte der Chevalier, »werde ich in einer halben Stunde mehr erfahren, als ich von Porthos in zwei Monaten erfahren könnte. Allerdings muß ich dafür sorgen, daß meine Ankunft den guten Aramis unvorbereitet trifft.«
In Sarzeau standen zwei Pferde bereit, die Aramis für Porthos und dessen Knappen hingeschickt hatte. Der Knappe blieb zurück, und d'Artagnan nahm das Pferd für sich. – »Als Gäule eines Bischofs sind sie sehr gut,« meinte der Chevalier. »Aramis ist freilich ein Bischof, wie man selten einen findet.« – »Ein gar frommer Mann!« sprach Porthos in näselndem Tone, indem er die Augen gen Himmel kehrte. – »Dann hat er sich offenbar sehr geändert,« sagte der Chevalier. »Wir haben ihn doch als einen ziemlich sündhaften Kumpan gekannt.«
»Das Licht der Gnade ist über ihn gekommen,« warf du Vallon hin. – »Sehr gut!« rief der Gaskogner. »Ich bin begierig, ihn wiederzusehen.«
Sie plauderten von dem und jenem, vom Lande, vom Wetter, von ihren Pferden, von sich selbst, bis du Ballon die Hand ausstreckte und rief: »Da ist Vannes.«
»Sieh da – gar kein übles Nest,« sagte d'Artagnan. – »Ich finde es düster,« meinte der Baron. »Der Turm dort ist die Kathedrale, die Peterskirche – links davon, mehr am Rande des Ortes, ist Sankt-Paternus, Aramis' Lieblingskirche. Das große, weiße Gebäude mit den vielen Fenstern ist das Jesuiten-Kolleg, und daneben das große Haus mit den Türmchen, das ist die Wohnung unsers Freundes. Aramis wohnt nämlich lieber in der Vorstadt, und außerdem ist der eigentliche Bischofssitz eine Ruine. Aramis' Haus liegt hart am Wasser, und wenn unser Korsarenschiff nicht acht Schuh Tiefgang hätte, dann hätten wir mit vollen Segeln bis unter seine Fenster fahren können.«
Sie ritten in die Vorstadt ein und bemerkten zu ihrer Verwunderung, daß die Straßen mit Blumen und frischen Blättern bestreut waren. Teppiche hingen zu den Fenstern heraus, und alle Häuser schienen leer zu sein, als ob sämtliche Bewohner sich an einem bestimmten Punkt der Stadt versammelt hätten. Es währte nicht lange, so schlug Gesang an das Ohr der Reiter. Dann sah man eine bunt geputzte Menschenmenge erscheinen, und leichte Wolken von Weihrauch stiegen in die Luft. Darüber hinweg waren die Prozessionsfahnen und das Kruzifix zu erkennen. Soldaten mit Blumensträußen auf den Bajonettspitzen, Mädchen in Weißen Kleidern eröffneten den feierlichen Zug einer Prozession. Eine Schar von kirchlichen Würdenträgern, Jesuiten und Dominikanern begleitete den Baldachin, unter dem ein Mann mit blassem, edlem Gesicht, schwarzen Augen, schwarzem, schon von silbernen Fäden durchzognem Haar und ausdrucksvollem Munde einherging. Die Bischofsmütze verlieh diesem majestätischen Antlitz das Gepräge der Hoheit und Strenge.
»Aramis!« rief der Musketier unwillkürlich, als diese stolze Erscheinung an ihm vorüberging. – Der Prälat stutzte, sah rasch nach der Seite, von wo dieser Ruf kam und erkannte sofort Porthos und d'Artagnan. Ein flüchtiges Erröten huschte über seine Wangen, dann sah er wieder so streng und gebieterisch aus wie zuvor. Aber hinter dieser Ruhe seines Antlitzes verbarg sich nun der Gedanke: »Was will d'Artagnan hier?« – Denn Aramis war noch immer der Alte und hatte stets irgendein Geheimnis zu behüten. Der Blick des Gaskogners hatte ihm verraten, daß sein Freund ein Spürhund geworden war, vor dem er sich in acht zu nehmen hatte.
»Ein guter Mensch!« murmelte Porthos. »Sehen Sie nur, wie rasch er jetzt geht. Er beeilt sich, um möglichst bald zu seinen Freunden zu kommen. Er sehnt sich danach, uns zu begrüßen.« – D'Artagnan antwortete nicht. Bei sich selber aber sagte er: »Er hat mich nun gesehen, der Fuchs, und kann sich bequem auf die Unterredung mit mir vorbereiten.« – Sie begaben sich unverzüglich zum bischöflichen Palast und warteten dort. Nach zehn Minuten erschien Aramis wie ein Triumphator, die Soldaten präsentierten wie vor einem General, und die Bürger begrüßten ihn auf seinem Wege mehr wie einen Freund und Gönner als wie ein kirchliches Oberhaupt. D'Artagnan achtete auf alle Vorgänge mit größter Aufmerksamkeit. »Porthos ist dicker, Aramis aber größer geworden,« dachte er bei sich.
8. Kapitel. Aramis
Nach einer Viertelstunde, während welcher Porthos und d'Artagnan lange Gesichter machten und die Daumen umeinander drehten, öffnete sich endlich eine Tür, und Seine Herrlichkeit erschien im Prälatenkleid. Er trug das Haupt hoch, wie jemand, der gewohnt war zu befehlen. Das weite, violette Gewand war an der Seite zurückgeschlagen, und er stemmte eine Hand auf die Hüfte. Er trug noch den zierlichen Schnurrbart und den langen Knebelbart à la Louis XIII. Ohne Umstände ging er auf den Musketier zu und schloß ihn in die Arme. Dann reichte er Porthos die Hand, die der Herkules mit seinen riesigen Fäusten ungestüm ergriff. D'Artagnan wunderte sich nicht, daß es die linke Hand war: die mit Ringen geschmückte rechte hatte ihm Porthos wohl schon mal zu arg gequetscht. Darauf bot Aramis dem Musketier einen Stuhl, den er so stellte, daß das Licht seinem Freunde ins Gesicht fiel, während er selbst sich in den Schatten setzte.
D'Artagnan entging dieser Kniff nicht, er ließ sich aber nichts merken. Er dachte: Wer zuletzt lacht, lacht am besten. Aramis begann das Gespräch. »Lieber alter Freund, welch glücklicher Zufall!« rief er. – »Allerdings ist es ein Zufall, hochwürdiger Freund,« antwortete der Gaskogner. »Meine Freundschaft zu Ihnen bewog mich, Sie zu suchen, wie ich dies stets getan habe, wenn ich ein paar Stunden frei war.« – »Wahrlich, er hat Sie gesucht, Aramis,« bestätigte Porthos, »und dabei mich in Belle-Ile gefunden.« – »Da haben wir's,« dachte der Chevalier, »Porthos muß doch immer mit der Tür ins Haus fallen.« – »In Belle-Ile? Soweit ist er gekommen. Sehr liebenswürdig von ihm!« sagte Aramis. – »Und da habe ich ihm erzählt, Sie seien in Vannes,« setzte Porthos hinzu. – »Das wußte ich so schon,« sagte d'Artagnan. »Und nun sagen Sie mal, lieber Aramis, wollen Sie sich hier zeitlebens begraben? So weit von Paris?« – »Lieber Freund,« antwortete d'Herblay, »Vannes ist ein Bistum, das 20 000 Livres im Jahre einbringt. Das ist für einen armen Prälaten ganz hübsch. Und dann: ich werde alt; das großstädtische Treiben fällt mir auf die Nerven. Mit meinen 57 Jahren sehne ich mich nach Ruhe. Und die habe ich in dieser alten ehrwürdigen Stadt gefunden. Einkehr halten und Gott näherkommen, das ist's, was mir jetzt nottut.«
»Ein vollkommener Mann der Kirche!« rief der Gaskogner, »beredsam, weise, bescheiden!« – »Lieber Freund, Sie sind doch aber gewiß nicht hergekommen, um mir ein paar Schmeicheleien zu sagen. Also, was führt Sie zu mir? Kann ich Ihnen irgendwie von Nutzen sein?« – »Gott sei Dank, lieber Freund,« erwiderte der Chevalier, »ich bin vermögend und unabhängig. Das heißt, nicht im Vergleich zu Ihnen. 15 000 Livres Rente habe ich jetzt im Jahre.« – Aramis sah ihn mißtrauisch an. Er mochte nicht glauben, daß d'Artagnan mit einem Male so viel Geld haben solle, zumal er ihn in ziemlich schäbigem Anzug vor sich sah. Daraufhin erzählte nun der Chevalier sein englisches Abenteuer. Der Prälat hörte mit großem Interesse, und seine Augen blitzten manchmal recht weltlich auf. Porthos brach ab und zu in seiner urwüchsigen Weise in laute Rufe des Beifalls aus. – »Sie sehen also,« schloß d'Artagnan, »ich habe mächtige Freunde in England gewonnen und besitze dort ein Landgut und in Frankreich einen Schatz. Und das wollte ich Sie wissen lassen.« – So fest sein Blick auch war, er konnte dem des Prälaten doch nicht standhalten, wich zur Seite und fiel auf Porthos.
»Hm,« versetzte Aramis, »Sie haben einen recht seltsamen Reiseanzug gewählt.« – »Jenun, ich wollte weder als ehemaliger Offizier noch als vornehmer Herr reisen,« erwiderte der Chevalier, »seit ich reich bin, bin ich geizig.«
»Und Sie sind also nach Belle-Ile gefahren?« fragte Aramis. – »Ja, ich wußte, daß ich Sie und Porthos dort finden würde,« antwortete d'Artagnan. – »Mich? Ei, ich bin nicht ein einziges Mal auf See gewesen.« – »Jenun, ich wußte nicht, daß Sie solch ein Stubenhocker geworden seien.« – »Ich bin nicht mehr der Alte, Freund, ich bin ein armer, kränkelnder Priester, dem nur noch zu tun ist um seine Aussöhnung mit dem Himmel.« – »Auch gut! Wir werden wahrscheinlich Nachbarn werden, denn ich habe vor, ein paar Salinen zwischen Pirrac und Croissic zu kaufen. Man soll 12 Prozent dabei verdienen.«
Aramis sah Portos an, wie um ihn zu fragen, ob dies alles wahr sei oder ob irgendeine Falle dahinter stecke. »Ich hörte,« sagte er, »Sie hätten sich mit dem Hof ein wenig überworfen, aber es scheint ja noch glücklich abgelaufen zu sein.« – »Jenun,« antwortete der Gaskogner, »ich habe meinen Abschied genommen.« – »Aha, und dann haben Sie Ihre alten Freunde gesucht und nicht gefunden, worauf Sie ganz allein, Sie wunderbarer Mann, ausführten, was Sie mit uns zusammen vollbringen wollten. Ich dachte mir gleich, daß Sie bei der Rückkehr Karls II. die Hand im Spiele hätten.
Was macht denn Athos? – »Es geht ihm sehr gut.« – »Und Rudolf?« – »Er scheint die Gewandtheit seines Vaters und die Kraft seines Vormunds Porthos geerbt zu haben. Erst am Tage meiner Abreise konnte ich mich noch davon überzeugen. Lassen Sie sich erzählen! Auf dem Grèveplatz brach anläßlich einer Hinrichtung ein Aufruhr aus. Da mußten wir vom Leder ziehen, und er hat seine Sache ausgezeichnet gemacht.« – »Ein Aufruhr? und weshalb?« fragte Aramis. – »Zwei Finanzpächter wurden gehenkt – zwei Freunde Fouquets,« bemerkte der Gaskogner, indem er Aramis fixierte. »D'Eymeris und Lyodot hießen sie – waren sie Ihnen bekannt?«
»Nein,« antwortete der Prälat in geringschätzigem Tone. – »Fouquet hat es geschehen lassen, daß seine Freunde hingerichtet wurden?« rief Porthos. »Wäre ich an seiner Stelle gewesen –« – »Es geschah auf Befehl des Königs,« sagte d'Herblay, und aus Furcht, Porthos würde eine Dummheit sagen, brach er das Gespräch ab. »Genug von fremden Leuten!« rief er aus. »Reden wir von Ihnen, lieber d'Artagnan!«
»Ich habe Ihnen ja alles erzählt,« antwortete dieser. »Reden wir also vielmehr von Ihnen, lieber d'Herblay!« – »Ich bin nicht mehr der alte, wie ich Ihnen schon sagte. Gott hat mich hierher gesetzt, in eine Stelle, die all meine Hoffnungen übertrifft.« – »Gott? Ach!« versetzte der Gaskogner. »Ich dachte, Fouquet wäre es gewesen. Bazin sagte mir's wenigstens.« – »Der Esel! Ich habe Fouquet nie gesehen,« entgegnete Aramis. – »Nun, was wäre auch dabei?« erwiderte der Chevalier. »Fouquet ist ein netter Mensch und ein großer Staatsmann – mächtiger als der König.
Und hier gehört ja alles Fouquet, Dörfer, Schiffe, Soldaten, Inseln mit Festungswerken – was weiß ich alles!« – »Ich bin, Gott sei Dank, von keinem Menschen abhängig, außer dem Papst und dem König. Ich bin mein eigener Herr,« antwortete der Prälat.
Das für alle drei nicht eben angenehme Gespräch wurde durch die Meldung, das Abendessen sei aufgetragen, beendet. Bei Tisch sprach man von nebensächlichen Dingen, denn ein jeder mochte wohl erkennen, daß jetzt nichts weiter herauszukriegen sei. Der Gaskogner plauderte von Kriegs- und Finanzsachen, von schönen Frauen und ließ erst ganz zuletzt, wie einen lange aufgesparten Trumpf, den Namen Colbert fallen. – »Wer ist denn das?« fragte d'Herblay. – Aber nun wußte d'Artagnan ganz genau, daß er wirklich auf der Hut sein müsse, denn Aramis hatte sich während des ganzen Gesprächs unwissend gestellt. Daß er jedoch noch nichts von Colbert wissen wollte, das war dem Chevalier denn doch zu bunt. Indessen sagte er, als wenn er gar nichts merkte, von Colbert alles, was er selbst wußte. Das Abendessen währte bis ein Uhr. Punkt zehn Uhr war Porthos eingeschlafen und schnarchte wie eine Orgel. Man weckte ihn und schickte ihn zu Bett. – »Ich glaube, ich bin eingenickt,« sagte er. »Das Gespräch war übrigens sehr interessant.« – Aramis geleitete d'Artagnan in das für ihn bestimmte Schlafzimmer und schied mit einem herzlichen Kuß von ihm.
Kaum war in d'Artagnans Zimmer das Licht erloschen, so trat Aramis in das Zimmer des wackern Porthos, der schon im festen Schlafe lag. Der Prälat, der allen Lärm vermeiden wollte, rüttelte ihn an der Schulter, und der Herkules fuhr in die Höhe und brüllte mit Donnerstimme: »Was ist los?« – »Still! still!« beschwichtigte ihn Aramis. »Ich bin's. Sie müssen sogleich fort, Porthos.« – »Fort? Wohin denn?« – »Nach Paris!« – »O, pfui Teufel! das sind ja hundert Meilen.« – »Hundertundvier,« verbesserte der Bischof. »Morgen vormittag können Sie dort sein. Auf, auf! es ist keine Zeit zu verlieren.« – »Zum Kuckuck!« brummte Porthos, der sich schon wieder auf die Seite gelegt hatte. »Ist es denn durchaus notwendig?« – »Durchaus! durchaus! Machen Sie sich fertig!« sagte Aramis in jenem Tone, der keine Wahl läßt. »Und verhalten Sie sich mäuschenstill dabei, daß niemand wach wird!«
Das erste war, daß Porthos Schwert; Gürtel und Börse fallen ließ und ein lautes Gelächter anschlug. – »Leise, Porthos, leise!« flüsterte der Bischof aufgebracht.
»Richtig! Ich hatte es schon wieder vergessen,« antwortete Porthos. »Es ist sonderbar, gerade wenn man sich recht beeilen will, geht alles besonders langsam, und man macht nie mehr Lärm, als wenn man recht ruhig sein will. Aber die Sache scheint wirklich Eile zu haben.«
»Allerdings, wenn nicht ein großes Unglück geschehen soll. D'Artagnan hat Sie ausgefragt, nicht wahr?« – »Nicht daß ich wüßte.« – »Denken Sie nur mal recht nach. Hat er am Ende gar unsern Befestigungsplan zu sehen bekommen?« – »Gewiß, aber Ihre Schrift hatte ich ausradiert. Er kann nicht ahnen, daß Sie daran beteiligt sind.« – »Unser Freund kann aber sehr gut sehen,« sagte d'Herblay. »Es ist damit zu rechnen, daß alles entdeckt ist, und da gilt es, ein großes Unglück zu verhüten. Ich habe dafür gesorgt, daß d'Artagnan vor Tagesanbruch nicht fort kann. Aber Sie müssen auf der Stelle reiten. Wenn er um fünf Uhr auf den Beinen ist, können Sie schon 15 Meilen weit sein. Die ganze Strecke können Sie in 30 Stunden hinter sich haben.«
Wie der geschickteste Kammerdiener half er ihm beim Ankleiden, trieb ihn wieder und wieder zur Eile an und führte ihn in den Hof hinab, wo ein Pferd reisefertig dastand. Er sorgte dafür, daß kein Geräusch gemacht wurde, und hielt selbst dem Tier die Nüstern zu, damit es nicht wieherte. »Und nun, Porthos,« sagte er dann, »in einem Atem bis Paris! Keine Rast! Zu Pferde essen und trinken, keine Minute verlieren, und sollten Sie ein halb Dutzend Pferde totreiten! Dieses Schreiben geben Sie an Fouquet ab, und koste es, was es wolle, morgen mittag muß er es haben.« – »Er soll es haben.« – »Dann werden Sie Herzog und Pair werden.« – »Oho!« rief Porthos, und seine Augen funkelten. »Dann soll die Reise nur 24 Stunden dauern. Vorwärts!« – Er drückte dem Pferde die Sporen in den Leib und jagte davon.
D'Artagnan glaubte wunders wie schlau er wäre, als er um fünf Uhr aufstand. »Aramis hat gesagt, ich sollte um acht Uhr bereit sein,« dachte er bei sich. »Ich weiß, was das bedeutet. Ich werde ihn in aller Frühe überraschen.« Er trat ans Fenster. Der Morgen graute eben; allem Anschein nach schlief noch alles. D'Artagnan, der in Aramis' Schlafgemach getreten war, merkte jedoch, daß dieser sich nur schlafend stellte, denn er mußte Aramis zweimal an der Schulter rütteln. Er wußte aber von früher her, daß der Prälat einen sehr leisen Schlaf hatte und beim geringsten Geräusch, bei der leisesten Berührung zu erwachen pflegte. – »Ah, Sie sind's!« rief der Mann der Kirche. »Ich hatte über Nacht ganz vergessen, daß Sie bei mir sind. Es ist wohl noch sehr früh. Hatten wir uns nicht auf acht Uhr verabredet?« – »Das ist möglich, aber ich dachte, je früher desto besser,« antwortete der Gaskogner. »Ich bin nun einmal ans Frühaufstehen gewöhnt.« – »Dann lassen Sie mich wenigstens meine Morgenandacht halten.« – »Gut, ich gehe inzwischen zu Porthos. – »Ja, tun Sie das,« antwortete Aramis, ohne eine Miene zu verziehen.
Der Gaskogner entfernte sich, kam aber schon nach zwei Minuten wieder. – »Porthos ist nicht mehr auf seinem Zimmer,« sagte er, den Prälaten ansehend, den er jetzt in Gesellschaft zweier Ordensbrüder traf. – »Was Sie sagen?« rief er, mit meisterlich gespielter Verwunderung. »Wo mag er wohl sein? Haben Sie sich schon erkundigt?« – »Man hat mir gesagt, er sei ausgegangen.« – »Ah, er wird fortgeritten sein, um uns eine Ueberraschung zu machen. Am Kanal von Vannes gibt es viele Wildenten, da wird er ein paar zum Frühstück schießen. Reiten Sie ihm nach!« – »Das will ich tun,« sagte d'Artagnan. – Er ließ sich ein Pferd satteln und trieb sich zwei Stunden lang am Kanal herum, in der Hoffnung, die kolossale Gestalt seines Freundes zu entdecken; aber er fand keine Spur von ihm. Als er zurückkehrte, erwartete ihn Aramis. – »Es tut mir leid,« Freund,« rief er ihm zu, »daß Sie sich einen vergeblichen Weg gemacht haben. Ein Pfarrer war eben bei mir, der Porthos begegnet ist. Er hat ihn ersucht, uns mitzuteilen, daß er nach Belle-Ile hinübergefahren sei, weil er die Aufsicht doch nicht dem Architekten Gétard allein überlassen will.«
D'Artagnan nahm am Frühstück teil, aber eine fieberhafte Ungeduld ließ keinen rechten Appetit bei ihm aufkommen. Er entfernte sich mit dem Vorgeben, nun doch noch ein wenig auf die Jagd zu gehen, da er auf feinem Morgenritt wirklich schönes Federwild getroffen habe.« In Wahrheit aber ritt er zum Hafen, mietete eine Barke und fuhr schleunigst nach Belle-Ile. Vom Turm seines Hauses aus ließ Aramis vermittels eines Fernrohrs den Hafen beobachten, so daß d'Artagnans Abfahrt ihm nicht verborgen blieb. Der Gaskogner suchte nun auch in Belle-Ile vergebens nach dem Baron, und nun begann ihm ein Licht aufzugehen. Sofort fuhr er nach dem Festlande zurück und eilte nach Vannes, um seinem Freunde Aramis wegen des falschen Spiels heftige Vorwürfe zu machen. Als er im Hause des Prälaten ankam, übergab man ihm einen Brief, der folgendermaßen lautete:
»Lieber Freund! Dringende Geschäfte rufen mich in meine Diözese. Ich hoffte, Sie vor meiner Abreise noch einmal zu sehen. Aber Sie werden vermutlich ein paar Tage bei unserm Freunde Porthos in Belle-Ile bleiben wollen. Leben Sie also wohl. Es tut mir unendlich leid, daß ich das schöne Vergnügen Ihrer Gesellschaft nicht länger haben kann.«
»Alle Wetter!« rief d'Artagnan, »ich bin hinters Licht geführt worden. Ich Esel! Genarrt – genarrt wie ein Affe, der eine hohle Nuß bekommt!« – Er gab in seiner Wut dem süßlich grinsenden Kammerdiener eine Ohrfeige und stürmte von dannen. Auf der Postanstalt wählte er das beste Pferd aus.
9. Kapitel. Schachzüge
Dreißig Stunden nach den eben erzählten Ereignissen, fuhr ein Wagen, mit vier Pferden bespannt, im Hofe des Fouquetschen Palasts zu Saint-Mandé vor. Der Reisende nannte seinen Namen und wurde vom Diener sofort angemeldet, Fouquet öffnete alsbald sein Zimmer und erschien auf der Schwelle. – »O, armer Freund!« rief er. »In welchem Zustande –?« – »Ja, todmüde, wie Sie sehen!« antwortete Aramis keuchend. »Hauptsache, ich bin da!« – »Was aber ist die Ursache?« fragte Fouquet und zog ihn ins Zimmer. »Reden Sie!« – »Ist du Vallon angekommen?« – »Ja.« – »Und Sie haben meinen Brief erhalten?« – »Ja. Scheint ja bedenklich zu sein, zumal Sie nun selbst nachkommen.« – »Höchst bedenklich. Hat du Vallon Ihnen nichts gesagt, als er den Brief überbrachte?« – »Nein. Ich hörte einen Höllenlärm, eilte ans Fenster und sah einen Reiter, der einer Marmorsäule glich. Ich ging hinunter, er gab mir den Brief, und das Pferd brach tot unter ihm zusammen. Man hob den Reiter auf und trug ihn in ein Bett. Da liegt er noch und schnarcht wie ein Bär. Ich ließ ihm die Stiefel von den Füßen schneiden, denn man konnte sie ihm nicht ausziehen, so geschwollen waren seine Füße. Wir haben ihm Rotwein und Kraftbrühe eingeflößt, er ist darüber nicht munter geworden. Nochmals, was ist die Ursache dieser Anstrengung?«
»Sie haben den Chevalier d'Artagnan kennen gelernt, nicht wahr?« fragte der Bischof. – »Ja,« antwortete der Minister, »ein Mann, der Kopf und Herz auf dem rechten Fleck hat, obwohl er mit am Tode meiner Freunde Lyodot und d'Eymeris schuld war.« – »Haben Sie denn über diese Hinrichtung nachgedacht? Haben Sie eingesehen, daß darin ein scharfer Vorstoß gegen Ihre Oberherrlichkeit liegt?« fuhr d'Herblay fort. »Nochmals, dieser d'Artagnan – bei welcher Gelegenheit lernten Sie ihn kennen?« – »Er holte sich Geld auf eine Anweisung vom König.« – »Nun, sehen Sie, d'Artagnan ist nach Belle-Ile gefahren, verkleidet, mit dem Vorgeben, für jemand Salinen kaufen zu sollen. D'Artagnan hat keinen anderen Herrn als den König, er ist also ein Abgesandter Seiner Majestät. Und nun hat er Porthos – Verzeihung! den Baron du Vallon getroffen und weiß nun, daß Belle-Ile befestigt ist.«
»Und Sie glauben, der König habe ihn abgesandt?« fragte Fouquet sinnend. »Dieser d'Artagnan ist also in den Händen des Königs ein gefährliches Werkzeug?« – »Das gefährlichste, das es geben kann. Der mutigste, schlaueste und gewandteste Mann in ganz Frankreich.« – »Ich muß ihn um jeden Preis an mich fesseln.« – »Das wird Ihnen nicht gelingen. Dazu ist es jetzt zu spät. Er hatte sich mit dem Hofe überworfen, diese Gelegenheit haben wir vorübergelassen. Dann ging er nach England und erwarb sich durch die tollkühne Gefangennahme Monks ein Vermögen. Nun nahm ihn der König wieder in Dienst. Wir haben einstweilen nur einen Feind in ihm zu erblicken und seine Pläne zu vereiteln.«
»Und wie das?« fragte der Minister unruhig. »Lassen Sie uns das überlegen. Wir haben ja Zeit genug dazu. Ohne Zweifel haben Sie doch guten Vorsprung.« – »Zehn Stunden.« – »Nun, in zehn Stunden–« Allein Aramis schüttelte sein bleiches Haupt.
– »Sehen Sie die Wolken am Himmel, sehen Sie die Schwalben in der Luft; ich sage Ihnen, d'Artagnan ist schneller als diese!« – »Sie übertreiben.« – »Ich sage Ihnen, er hat etwas Übermenschliches; ich kenne ihn seit fünfunddreißig Jahren,« rief der Prälat. »Lassen Sie mich rechnen: den Baron du Vallon habe ich um zwei Uhr nachts abgeschickt. Wann kam er an?« – »Vor vier Stunden etwa.« – »Sie sehen, ich bin um vier Stunden schneller gereist als er. Porthos ist schwer und wird mehrere Pferde totgeritten haben. Ich habe Eilpostpferde genommen, aber ich habe die Gicht und bin steinleidend, da verträgt man's nicht mehr so gut. In Tours mußte ich aus dem Sattel heraus und einen Wagen mieten. Daher habe ich gegen Porthos nur vier Stunden gutmachen können. D'Artagnan wiegt keine dreihundert Pfund wie Porthos und ist nicht steinleidend wie ich. Wenn ich auch zehn Stunden Vorsprung vor ihm hatte, so wird er doch zwei Stunden nach mir ankommen.« – »Mein Gott, welch ein Mann!« – »Ja, ein Mann, den ich bewundere, weil er gut und edel ist, und weil er den Höhepunkt menschlicher Kraft und Gewandtheit darstellt. Aber bei aller Bewunderung ist er eben doch zu fürchten, denn ich sehe voraus, was er tun wird. Er wird zum König eilen und ihm sagen, was er in Belle-Ile gesehen hat. Kommen Sie ihm zuvor – das ist das einzige, was noch zu tun ist; fahren Sie schleunigst zum Louvre und –«
»Und?« stieß Fouquet hervor, von Aramis' Eifer mit fortgerissen. – »Und schenken Sie dem König Belle-Ile!« – Fouquet sank in einen Stuhl. »O, d'Herblay, d'Herblay!« rief er. So wäre alles fehlgeschlagen.« – »Hier hilft kein Verzweifeln!« rief der Prälat. »Hier gilt es allein, keinen Augenblick zu versäumen. Eilen Sie! D'Artagnan kommt von Minute zu Minute näher. Bedenken Sie, daß er nicht erst über Saint-Mandé zu reiten braucht, sondern geradeswegs zum Louvre galoppieren kann. Wir müssen also von dem Vorsprung, den wir haben, sogar noch eine Stunde abrechnen.« – »In fünfundzwanzig Minuten bin ich im Louvre!« rief Fouquet, riß die Fenster auf und schrie hinaus, man solle seine englischen Pferde anspannen. Fünf Minuten später war er unterwegs nach Paris. – Aramis ließ sich in ein Zimmer führen und sank völlig erschöpft auf ein Ruhebett.
*
Der König arbeitete mit Colbert. »Herr Intendant,« sagte er nachdenklich, »ich habe manchmal bei mir gedacht, die beiden Finanzpächter, deren Verurteilung Sie beantragten, sind vielleicht doch nicht so schuldig gewesen –« – »Sire, wir haben sie aus dem großen Haufen herausgerissen, und an dieser Rotte mußte einmal ein Exempel statuiert werden. Das war durchaus notwendig.« – »Es waren Fouquets beste Freunde, nicht wahr?« – »Ja, sie hätten für ihn ihr Leben hingegeben.« – »Und haben es nun ja auch hingegeben,« sagte der König. »Wieviel Geld mögen die beiden wohl beiseitegebracht haben?« – »Zehn Millionen – sechs sind konfisziert worden.« – »Und in meine Kasse geflossen?« – »Ja. Aber diese Konfiskation war nur eine Drohung für Herrn Fouquet, noch kein Schlag. Er hat eine Bande von Strauchdieben mobil gemacht, die die beiden Verurteilten der königlichen Gerechtigkeit entreißen sollten, und er wird, wenn es sich um seine Person handelt, eine Armee aufbieten, um sich der Strafe zu entziehen.«
– »Was denken Sie eigentlich über das Benehmen des Oberintendanten? Rund herausgesagt, Colbert!« – »Ich denke,« antwortete der Intendant, »Herr Fouquet geht geradezu darauf aus, die Macht Eurer Majestät zu verkleinern, Eure Majestät in den Hintergrund zu verdrängen und sich selbst zum allergewaltigsten Manne des Reichs aufzuschwingen. Noch mehr, Sire! er plant das nicht nur, er geht sogar schon daran, es auszuführen! Ich habe aus sicherer Quelle erfahren, daß er Belle-Ile befestigt, daß er dort Korsarenschiffe und Soldaten erhält. Und weshalb das? Offenbar doch, um sich im Notfalle gegen Eure Majestät verteidigen zu können.« – »Aber, Colbert, wenn dies der Fall ist, so muß Fouquet auf der Stelle verhaftet und unter Anklage des Majestätsverbrechens gestellt werden.«
»Sie können einstweilen nichts gegen Fouquet tun, Sire,« antwortete Colbert achselzuckend. »Als Finanzminister hat er das Parlament für sich; er hat durch seine Freigebigkeit und Gastfreundschaft die gesamte literarische Welt auf seiner Seite, und durch Geschenke hat er sich den ganzen Adel gewonnen.« – »Das heißt also, ich bin ohnmächtig gegen Fouquet?« rief der König. »Sie sind ein Ratgeber, der keinen Rat zu geben weiß, Colbert!« – »Sire, durch Geld ist Fouquet groß geworden, durch Geld kann er wieder gestürzt werden. Ruinieren Sie ihn! Majestät haben jetzt eben eine günstige Gelegenheit dazu.« – »Erklären Sie sich deutlicher!« – »Eurer Majestät Bruder vermählt sich in nächster Zeit. Fordern Sie also eine Million von Herrn Fouquet. Er kann ja den Leuten statt 5000 Livres 20 000 auszahlen, also wird er auch eine Million für Eure Majestät flüssig machen können.«
»Das will ich tun,« sagte der König. – In diesem Augenblick trat der Türhüter ein und meldete: »Herr Fouquet!« – Ludwig erblaßte, Colbert ließ die Feder fallen. – Der Minister trat ein und übersah mit dem Scharfblick des gewiegten Hofmannes sofort die Situation. In Colberts kleinen, zusammengekniffenen Augen, die vor Neid schillerten, in Ludwigs klaren, freimütigen Augen, die vor Zorn funkelten, las er die Gefahr, die ihm drohte. Der Minister trat näher. – »Sire,« begann er, das verlegene Schweigen des Königs benützend, »ich bin in großer Ungeduld zu Ihnen geeilt, um Ihnen eine erfreuliche Nachricht zu überbringen. Geruhen Majestät diese Arbeit eines Blickes zu würdigen.« Mit diesen Worten legte er ein Papier auf den Tisch, das der König langsam auseinanderfaltete.
»Das sind ja Pläne,« sagte Ludwig XIV. – »Eine neue Art der Fortifikation,« antwortete Fouquet, »die ich praktisch erprobt habe.« – »So? Sie beschäftigen sich also mit Taktik und Strategie?« rief Ludwig im Tone des Mißtrauens. – »Ich beschäftige mich mit allem, was dem Reiche Eurer Majestät förderlich werden kann,« antwortete Fouquet unbefangen. »Hier sehen Majestät die Ringmauern, die Forts, die Außenwerke –« – »Und was ist das hier ringsherum?« – »Das ist das Meer.« – »Also stellt dieser Plan eine Insel dar?« fragte der König. – »Es ist Belle-Ile, Majestät.« – Colbert fuhr bei Nennung dieses Namens heftig auf. Fouquet schien das gar nicht zu bemerken. –
»Wie?« rief Ludwig XIV. ungehalten, »Sie haben Belle-Ile befestigen lassen?« – »Jawohl, und lege hier Eurer Majestät die Rechnungen vor,« antwortete Fouquet. »Es sind 1 600 000 Frank dafür ausgegeben worden.«
– »Wozu das?« fragte Ludwig kalt. – »Das liegt auf der Hand. Majestät standen auf gespanntem Fuß mit England.« – »Aber seit Karls Thronbesteigung besteht ein Bündnis mit England.« – »Erst seit Monatsfrist,« versetzte Fouquet. »Die Befestigungsarbeiten sind aber schon vor einem halben Jahre begonnen worden.« – »Sind aber nun unnütz,« warf der König ein. – »Festungen sind nie unnütz, Majestät,« erwiderte der Minister. »Brauchen wir Belle-Ile nicht gegen die Engländer, so können wir's gegen die Holländer brauchen, mit denen es über kurz oder lang zu ernsten Differenzen kommen muß.«
Der König schwieg einen Augenblick, dann fragte er: »Sie sind ja wohl der Eigentümer von Belle-Ile?« – »Nein, die Insel gehört Eurer Majestät,« antwortete der Minister. – Colbert erschrak, als wenn sich ein Abgrund vor seinen Füßen aufgetan hätte. Der König konnte sich eines Gefühls der Bewunderung nicht erwehren, hatte doch Fouquet es trefflich verstanden, seinen Vorstoß gegen die königliche Oberherrschaft als gutgemeinte Wachsamkeit und als edelsinnige Aufopferung hinzustellen. – »Belle Ile war mein Besitz, und auf meine Kosten habe ich die Insel befestigen lassen. Ich mache sie Eurer Majestät zum Geschenk. Sie können nun auf diesem festen Platze eine zuverlässige Garnison halten.« – Colbert wäre auf dem spiegelglatten Fußboden fast gefallen und mußte sich an einem Stuhle festhalten. – »Sie haben mit dieser Arbeit einen großen Beweis von taktischer Geschicklichkeit geliefert, Herr Fouquet,« sagte der König huldreich. – »Ich habe einen sehr tüchtigen Ingenieur gehabt,« antwortete der Minister bescheiden. – »Wie heißt der Mann?« – »Baron du Vallon.« – »Ist mir nicht bekannt,« sagte Ludwig XIV. »Herr Colbert, es ist mir nicht lieb, daß mir die Namen solcher talentvollen Männer, die meinem Lande zur Zierde gereichen, unbekannt bleiben. Sie werden sich diesen Namen merken, Herr Colbert.«
Colbert verneigte sich; sein Gesicht war weißer als seine flandrischen Spitzenmanschetten. Der König wendete sich wieder an den Oberintendanten. »Sie müssen sehr reich sein, Herr Fouquet, daß Sie eine solche Befestigung von Ihrem Gelde anfertigen lassen konnten.« – »Eure Majestät sind reich,« antwortete der Minister diplomatisch. »Belle-Ile ist ja eine königliche Domäne.« – »Trotzdem aber fehlt es mir an Bargeld,« versetzte Ludwig. »Morgen wird mein Bruder sich mit Lady Henriette Stuart vermählen, das kostet Geld. Ich brauche dazu –« Er zögerte und drehte sich nach Colbert um. Ihn wollte er den Schlag führen lassen, und der Intendant setzte denn auch in triumphierenden Tone hinzu: »Eine Million.«
»Majestät,« entgegnete Fouquet in geringschätzigem Tone, »was wollen Sie mit einer Million anfangen?«
»Es scheint mir aber doch –,« begann Ludwig, doch der Minister unterbrach ihn mit den Worten: »Soviel gibt der kleinste deutsche Fürst bei seiner Vermählung aus. Majestät brauchen mindestens zwei Millionen. Eine halbe kosten ja allein die Pferde. Ich werde Eurer Majestät heute abend 1 600 000 Livres senden. Ich weiß,« fuhr er fort, »es fehlen dann noch 400 000. Aber dieser Herr,« und er deutete mit dem Daumen nach seinem Rivalen, »hat von mir 900 000 in der Kasse. Er hat vor acht Tagen 1 600 000 Livres erhalten. 100 000 hat er an die Garde bezahlt, 75 000 an die Hospitäler, 25 000 an die Schweizer, 30 000 an das Proviantamt, 60 000 an das Arsenal und 10 000 für kleine Ausgaben. Es sind also noch 900 000 übrig. Diese Summe werden Sie heute noch Seiner Majestät zukommen lassen, Herr Intendant.« – »Aber das macht ja eine halbe Million über zwei,« sagte der König. – »Ich weiß, Majestät,« antwortete Fouquet, »den Ueberschuß weisen Sie Ihrem königlichen Bruder zum Taschengeld an.« – Damit verneigte er sich und ging hinaus, ohne Colbert, der vor Aerger seine Spitzenmanschetten zerriß, eines Blickes zu würdigen. Fouquet war noch in der Tür, als ein Lakai hereintrat und meldete: »Ein Kurier aus der Bretagne!«
»D'Herblay hat Recht behalten,« murmelte der Minister. »Eine Stunde nach mir! Es war die höchste Zeit!«
D'Artagnan trat eilig ein, und über und über voll Staub und Straßenschmutz, mit glühendem Gesicht, mit von Schweiß zusammengeklebtem Haar, mit steifen Beinen und blutbespritzten Stiefeln. Fouquet begrüßte den Mann, der ihm, wäre er eine Stunde früher gekommen, den Tod gebracht hätte, mit seinem freundlichen Lächeln. Der Chevalier erwiderte den Gruß flüchtig und eilte zum König, der bei seinem Anblick Colbert entließ. – »Ein treuer Diener wie Sie, Chevalier, darf schon in solchem Aufzuge kommen,« begrüßte er ihn, indem er lächelnd auf das abgerissene Kostüm des Musketiers blickte. – »Vor allem mußte ich zu Ihnen, Sire. Umziehen kann ich mich nachher,« versetzte der Gaskogner. – »Sie bringen also wichtige Nachricht?« fragte der König. – »Sehr wichtige, Majestät,« antwortete der Chevalier. »In kurzen Worten: Belle-Ile ist befestigt, und zwar sehr gut, hat Außenwerke, Zitadellen und Forts. Im Hafen ankern drei Korsarenschiffe, und die Küstenbatterien harren nur noch der Kanonen.«
»Das alles weiß ich bereits,« erwiderte Ludwig XIV. – »Was? Majestät wissen das schon?« rief der Musketier erstaunt. – »Hier ist sogar der Plan der Befestigungen,« sagte der König, und d'Artagnan sah zu seiner Verblüffung jenen Grundriß, den Porthos ihm gezeigt hatte. Er runzelte die Stirn. »Ha!« stieß er hervor. »Majestät haben die Sache also nicht mir allein anvertraut, sondern noch einen andern Boten in die Bretagne geschickt? Nun, Majestät, es war wirklich nicht der Mühe wert, daß ich die Reise gemacht und mich dabei zwanzigmal der Gefahr ausgesetzt habe, mir sämtliche Knochen zu brechen, wenn ich hier bei meiner Rückkehr mit einer solchen Antwort empfangen werden soll. Sire, wenn man jemand nicht traut oder ihn für unfähig hält, so soll man ihm überhaupt erst gar keinen Auftrag erteilen.«
Der König sah ihn triumphierend an. »Ich bin nicht nur genau unterrichtet über Belle-Ile,« sagte er, »sondern die Insel ist sogar mein Eigentum.« – »Es ist gut, Sire,« versetzte der Haudegen, »ich verlange von Eurer Majestät nichts weiter – als meinen Abschied. Ich besitze zuviel Selbstgefühl, um das Brot Eurer Majestät zu essen, wenn ich es so schlecht verdiene. Ich bitte um den Abschied.« – »Sind Sie mir böse, Chevalier?« lachte der König. – »Potz Sporn und Degenknauf! ich habe wohl Ursache dazu,« rief der Musketier. »Ich komme zweiunddreißig Stunden nicht aus dem Sattel, reite Tag und Nacht so schnell wie der wilde Jäger, bin bei meiner Ankunft steif wie einer, der eine Nacht lang am Galgen gebaumelt hat – und stehe dennoch da als Schafskopf. Donnerwetter! Meinen Abschied, Sire – oder ich nehme ihn mir einfach.«
»Im Gegenteil, Chevalier,« antwortete Ludwig XIV. fröhlich und zog ein Dokument aus seinem Schreibtische, »hier ist Ihre Ernennung zum General-Kapitän der Musketiere. Sie haben's verdient, Herr Chevalier.« – D'Artagnan faltete das Papier auseinander und las es zweimal. Er wollte seinen Augen nicht trauen. – »Und dieses Patent ist Ihr Lohn für Ihre Reise nach Belle-Ile und für Ihr wackeres Auftreten bei der Hinrichtung auf dem Grèveplatze. Sie haben mir da einen trefflichen Dienst erwiesen.« – »Majestät haben das erfahren?« antwortete d'Artagnan. »O, da war ich nicht allein der Macher – da hatte ich einen Helfer – und zwar einen sehr guten.« – »Es war ein junger Mann, nicht wahr?« fragte der König. »Colbert hat mir auch über ihn viel Gutes berichtet.« – »Colbert? So!« brummte der Kapitän. »Das ist sein Glück. Hat auch nur Recht damit.« – »Ja, der junge Mann scheint sehr brav zu sein,« sagte der König.– »Brav, Majestät?« erwiderte d'Artagnan. »Das will ich meinen!« – »Also kennen Sie ihn schon länger?« – »Seit 25 Jahren, Sire.« – »Ei, er soll ja kaum 25 Jahre alt sein,« rief Ludwig XIV. – »Ich kenne ihn auch von der Geburt an. Der junge Mann ist der Sohn meines besten Freundes!« – »Der Graf von Bragelonne?« – »Jawohl, Sire! Er ist der Sohn des Grafen de la Fère, der dem König von England so tatkräftig geholfen hat. O, Bragelonne entstammt einem tapferen Geschlecht.«
»Der Graf de la Fère ist also ein wackerer Krieger?«
»Der Graf,« versetzte der Chevalier, »hat für Höchstdero seligen Vater öfter das Schwert gezogen, als Eure Majestät Tage in Ihrem Leben zählen.« – »Gut, Chevalier,« antwortete Ludwig und biß sich auf die Lippe. »Wollen Sie Ihren jungen Freund sehen?« Und er klingelte und rief dem Türhüter zu: »Graf von Bragelonne soll zu mir kommen.« – »Wie?« rief d'Artagnan. »Rudolf ist hier?« – »Ja, er ist mit der Garde des Prinzen auf Wache im Schlosse,« antwortete der König.
Im nächsten Augenblick trat Rudolf ein. Der Chevalier, ohne sich an die Anwesenheit des Königs zu kehren, lief auf ihn zu und drückte ihn an die Brust. Der junge Graf verneigte sich mit Anmut und Ehrfurcht vor der Majestät. – »Herr Graf,« sprach Ludwig, »ich habe den Prinzen von Condé gebeten, Sie mir abzutreten. Eben ist seine Antwort angekommen. Er ist damit einverstanden und Sie gehören seit diesem Morgen also mir an. Condé war ein guter Herr, und ich hoffe nur, Sie machen keinen schlechten Tausch.« – »O, sei nur getrost, Rudolf,« rief der Musketier dazwischen, »es ist gut auskommen mit dem König.« – »Majestät,« sagte Rudolf in der ihm eigenen herzgewinnenden Weise, »ich gehöre Ihnen nicht erst seit heute morgen an.«
»Ah, Sie spielen auf jenen Aufruhr am Grèveplatz an?« erwiderte der König. »Ja, da hielten Sie in der Tat zu mir.« – »Ich meine auch nicht diesen Tag, denn es würde mir schlecht anstehn, an einen so unbedeutenden Dienst zu erinnern; ich meine vielmehr einen Umstand, der in meinem Leben einen wichtigen Abschnitt darstellt und mich seit dem 16. Lebensjahre an Eure Majestät gebunden hat.« – »O, lassen Sie mich wissen, Graf –« – »Auf meinem ersten Kriegszug bei der Armee des Prinzen von Conds begleitete mich der Graf de la Fère bis nach Saint-Denis, und dort ließ er mich bei der Asche Ludwigs XIII. schwören, daß ich allzeit dem Königtum, das nun in der Person Eurer Majestät verkörpert sei, in Gedanken, Worten und Taten treu und eifrig dienen wolle! Ich leistete den Schwur, den Gott und die seligen Herrscher, Eurer Majestät Ahnen, empfangen haben. Seit zehn Jahren nun hatte ich nicht so oft, wie ich gewünscht hätte, Gelegenheit, danach zu handeln. Ich bin also schon lange Eurer Majestät Soldat; jetzt habe ich nicht den Herrn, sondern nur die Garnison gewechselt.« Er schwieg und verneigte sich, während Ludwig XIV. noch immer lauschte, als hörte er eine liebliche Melodie, welche seinem Ohre wohltat.
»Potz Sporn und Degenknauf!« rief der Musketier. »Das ist brav gesprochen!« – »Sie reden nur die Wahrheit, Vicomte,« sagte der König gerührt. »Ueberall, wo Sie waren, sind Sie für den König eingetreten. Sie sollen nun aber bei dem Garnisonwechsel eine Ihrer würdige Beförderung erhalten. Chevalier,« wendete er sich an d'Artagnan, »haben Sie mir noch etwas zu melden?« – »Jawohl, Sire – eine traurige Nachricht!« antwortete der Kapitän. »Als ich durch Blois kam, vernahm ich, daß Ihr Oheim, Gaston von Orleans, gestorben sei.« – »Monsieur, mein Oheim!« rief der König. »Und ich habe noch keine Nachricht erhalten!« – »Seien Sie deshalb nicht böse,« versetzte d'Artagnan, »die Kuriere von Blois können nicht so schnell reiten wie Höchstdero gehorsamster Diener. Der Bote wird erst in zwei Stunden hier sein, und man kann ihn dann noch nicht einmal der Saumseligkeit zeihen.« – »Mein Ohm Gaston!« murmelte Ludwig XIV. und preßte die Hand auf die Stirn. Aber man sah es ihm an, daß die Nachricht ihm nicht sonderlich naheging. Durch die Intrigen, die der Verstorbene seinerzeit gegen Ludwig XIII. angezettelt hatte, war er auch dem Sohne fremd und unsympathisch geblieben.
»Doch ich vergesse, Chevalier,« sagte der König mit einer huldreichen Handbewegung, »Sie haben 110 Meilen im Galopp zurückgelegt und bedürfen der Ruhe. Gehen Sie und sorgen Sie für einen meiner besten Soldaten. Wenn Sie ausgeruht haben, stellen Sie sich wieder zu meiner Verfügung.«
Dritter Teil. Lady Henriette Stuart
1. Kapitel. Protektion
Malicorne, der Verehrer des Fräuleins Aure von Montalais, der junge Mann, auf den die gute Frau von Saint-Rémy sehr schlecht zu sprechen war und von dem sie im ersten Kapitel unserer Erzählung in wenig schmeichelhafter Weise gesprochen hat, war der Sohn des Stadtsyndikus von Orléans. Malicorne, der Vater, hatte die Ehre, der Bankier und Geldleiher Seiner königlichen Hoheit des Prinzen von Condé zu sein, und diese Beziehungen des Vaters zu den höchsten Kreisen hatten in dem Sohne den Ehrgeiz entstehen lassen, in der vornehmen Welt eine Rolle zu spielen – ein Verlangen, das er mit zielbewußter Energie zur Wirklichkeit zu machen strebte. Dank einer immer vollen Börse stand er auf dem besten Fuße mit einem immer geldbedürftigen Adeligen, einem echten und rechten Windbeutel namens Manicamp, welcher aber bei aller Lüderlichkeit den Vorzug hatte, ein intimer Freund des Grafen von Guiche zu sein, welcher wiederum ein bevorzugter Günstling Philipps, des jungen Herzogs von Anjou, war. Dieser Philipp, der jüngere Bruder Ludwigs XIV., hatte nach dem Tode Gastons von Orléans dessen Titel und Würden geerbt, und da seine Vermählung mit Henriette Stuart, der Schwester des Königs von England, bevorstand, so war man bereits mit der Bildung eines prinzlichen Hofstaates beschäftigt. Malicorne war nun entschlossen, sich diese günstige Gelegenheit zur Erlangung einer Hofstelle nicht entgehen zu lassen. Sein erster Schritt war, daß er sich die dauernde Gunst seiner Angebeteten, des Fräuleins von Montalais, sicherte. Nach Gastons von Orléans Tode hatte das Fräulein keine Lust mehr, am Hofe der verwitweten Prinzessin zu bleiben, zumal dieselbe an einem schmutzigen Geize litt und das freudlose Dasein in ihrer Umgebung keinen Reiz für ein lebenslustiges Mädchen haben konnte. Die Montalais hatte es sich in den Kopf gesetzt, Ehrenfräulein bei der zukünftigen jungen Herzogin von Orléans, bei Henriette Stuart, zu werden, und Malicorne trat alsbald in Aktion, indem er seinem adeligen Freunde aus der Geldverlegenheit half und sich zum Lohn dafür ein Ehrenfräuleinpatent für die Montalais beschaffen ließ. Das kostete Herrn von Manicamp nur ein paar Worte an den Grafen von Guiche, und dieser hatte weiter nichts nötig, als Monsieur, dem Bruder des Königs, das Papier zur Unterschrift vorzulegen.
Kaum hatte aber die Montalais ihren Willen erreicht, so erinnerte sie sich ihrer Busenfreundin, der Luise von Lavallière, der Tochter der Frau von Saint-Rémy. Luise ging traurig umher und weinte schon jetzt bei dem Gedanken, allein in Blois zurückbleiben zu müssen. Kurz entschlossen, wandte die Montalais sich noch einmal an Malicorne und verlangte ein zweites Patent für ihre Freundin, mit dem Bemerken, daß sie selbst auf das ihrige verzichten wolle, wenn er nicht auch für Luise eines beschaffen könne. Malicorne, der um keinen Preis die Gunst der Montalais verscherzen wollte, da er sich mit dem festen Vorsatz trug, sie zu seiner Frau zu machen und durch die Ehe mit einer Adeligen sich selbst zu diesem Stande emporzuschwingen, machte gute Miene zum schlechten Spiele und griff ein zweitesmal in den Geldbeutel, um die Fürsprache seines Freundes Manicamp zu erkaufen.
Auf diese Weise geschah es nun, daß Luise von Lavallière von Blois nach der Residenz kam, wo sie eine so große Umwälzung hervorrufen sollte. Das arme Kind, das einstweilen noch unbefangen und heiter am Arme ihrer Mutter in dem stillen Schloßgarten von Blois einherging, hatte keine Ahnung, welche seltsame Zukunft ihr beschieden sei.
Die Montalais und Malicorne waren die beiden Mittelspersonen, durch welche Blois mit Orléans und wiederum Orléans mit Paris verknüpft war. Denn der junge Mann brachte stets interessante Neuigkeiten aus der Hauptstadt mit und tauschte dagegen die ergötzlichsten Anekdoten aus dem Leben der alten Herzogin ein, die er brühwarm seinem Freunde Manicamp weitererzählte. Und Manicamp hatte natürlich nichts Eiligeres zu tun, als alle diese Geschichten zum Totlachen dem Grafen von Guiche aufzutischen, der seinerseits sie dem jungen Prinzen zutrug. Der alte Malicorne, der Syndikus von Orléans, der täglich in seinem altmodischen Frack auf dem Katharinenplatze zu Orléans spazierenging, ließ es sich nicht träumen, daß alles schelmische Kichern, alles hämische Geflüster, alle kleinen Kabalen und Intrigen, die eine 45 Meilen lange Kette von Blois bis zum Palais-Royal bildeten, aus seiner Börse bezahlt wurden.
Malicorne, der Sohn, war mit seinem Freunde Manicamp einig geworden, auch die Lavallière sollte die Stelle eines Ehrenfräuleins bei der jungen Gemahlin Philipps von Orléans erhalten. Aber damit war Malicorne noch nicht zufrieden. Er hatte den Entschluß gefaßt, einfach selbst einmal zum Grafen von Guiche zu gehen und für seine eigene Person das Eisen zu schmieden. Gegen die stattliche Summe von 500 Pistolen, die er Manicamp in klingender Münze auf den Tisch zahlte, erhielt er von diesem das hierzu nötige Empfehlungsschreiben und ein Dokument, das dem Bruder des Königs nur zur Unterschrift vorgelegt zu werden brauchte. In froher Zuversicht machte sich der junge Mann auf den Weg; endlich sollte er nun das heißersehnte Ziel erreichen. Er hatte das Patent zu einer Hofstelle in der Tasche, es kostete dem Prinzen nur einen Federstrich, so war Malicornes Sehnsucht erfüllt.
Als Malicorne in Orléans eintraf, erfuhr er, daß der Graf von Guiche bereits nach Paris abgereist sei. Malicorne ruhte zwei Stunden und reiste dann weiter. Er kam in der Nacht zu Paris an und begab sich am andern Morgen zeitig in das Palais Grammont. Es war die höchste Zeit, denn der Graf wollte eben fort, um sich von Monsieur, dem Bruder des Königs, zu verabschieden, ehe er nach Havre reiste, wo die Blüte des französischen Adels Madame, die Braut Philipps, bei ihrer Ankunft aus England empfangen und nach Paris geleiten sollte. Malicorne berief sich auf seinen Freund Manicamp und wurde sogleich vorgelassen. Der Graf von Guiche stand im Schloßhofe und sah zu, wie seine Stallburschen und Kutscher Pferde und Wagen reisefertig machten. – »Manicamp?« rief der Graf. »Er ist willkommen! Her mit ihm!«
Malicorne trat näher. »Verzeihung, gnädigster Herr,« sagte er geschmeichelt, »es ist nur ein Abgesandter von ihm.« – »Warum kommt er denn nicht selbst?« fragte der Graf. »Er hat wohl wieder kein Geld? Was macht er denn mit dem vielen Gelde?« – Malicorne zuckte die Achseln. – »Also wird er wohl nicht mit nach Havre kommen?« fragte von Guiche weiter. »Das ist arg – alle Welt reist hin. Wo steckt er denn? Noch in Orléans? Und Sie, mein Herr,« fuhr er fort, Malicornes Rock betrachtend, »scheinen übrigens ein Mann von Geschmack zu sein; mit wem habe ich denn eigentlich die Ehre?« – »Ich heiße Malicorne.« – »Sie tragen im einen wunderschönen Rock, so fein wird in der Provinz nicht zugeschnitten.« – »Der Rock kommt allerdings direkt aus Paris, Herr Graf.« – »Das dachte ich mir – man sieht es gleich. Also was schreibt mir Manicamp?« fragte von Guiche, den Brief lesend. »Wie? Er will noch eine zweite Dame zum Ehrenfräulein machen? Wer war denn gleich das erste?« – »Fräulein von Montalais,« antwortete Malicorne. »Ein sehr hübsches Ehrenfräulein.« – »Ah, Sie kennen sie, Herr von Malicorne?«
– »Sie ist meine Braut – das heißt, wir sind so gut wie verlobt,« sagte der junge Mann lächelnd. – »So, so?« versetzte der Graf. »Gratuliere vielmals. Und wer soll das zweite Ehrenfräulein sein?« – »Fräulein von Labaume-Leblanc und von Lavallière.« – »Mir nicht bekannt,« sagte Guiche. »Na, wollen mit Monsieur darüber reden. Adelig ist das Fräulein doch?« – »Aus sehr gutem Hause. Sie ist Ehrenfräulein der verwitweten Herzogin.« – »Schön. Wollen Sie mich zu Monsieur begleiten?« – »Gewiß, wenn Sie mir diese Ehre erweisen wollen. Doch,« setzte er hinzu, als er sah, das Graf Guiche den Brief Manicamps in die Tasche steckte, »Sie haben noch nicht alles gelesen, gnädigster Herr. Es waren zwei Billette in dem Umschlag.« – »So?« antwortete der Graf. »Dann müssen wir noch einmal nachlesen. In der Tat.« Und er entfaltete das Papier. »Aha! Eine Anweisung auf eine Stelle in der Hofhaltung Monsieurs. Manicamp ist unersättlich. Scheint damit geradezu Schacher zu treiben.« – »Nein, Herr Graf, er will ein Geschenk damit machen.« – »Wem?« – »Mir,« sagte Malicorne. – »Haha! Sie müssen ein ganz ausgezeichneter Mensch sein und viele wertvollen Eigenschaften haben, daß Manicamp, dieser Egoist, Ihnen etwas schenken will. Aber nein, seien Sie aufrichtig, er macht es doch wohl nicht ganz umsonst. Ich erinnere mich übrigens, daß es in Orléans einen Mann, namens Malicorne gibt, der dem Prinzen von Condé Geld leiht. – »Das ist mein Vater, Herr Graf.« – »Der Prinz hat den Vater, und Manicamp, der gierige, hat den Sohn. Nehmen Sie sich in acht, er saugt Sie aus bis aufs Blut.« – »Der Unterschied ist nur, ich leihe ihm Geld ohne Zinsen.« – »Da sind Sie ja sozusagen ein Heiliger. Na, Sie sollen die Stelle erhalten, so wahr ich ein Graf Guiche bin.« Er schritt zur Türe und winkte Malicorne, ihm zu folgen.
Ein junger Mann trat herein, ein Kavalier von etwa 25 Jahren, mit blassem Gesicht, braunen Locken und stechenden Augen. – »Guten Morgen!« rief er dem Grafen zu. – »Sie hier, von Wardes?« rief Graf Guiche. »Reisefertig, wie ich sehe. Morgen wird kein vernünftiger Mensch mehr in Paris sein. Gestatten Sie, Herr Malicorne – Herr von Wardes.« Die beiden verneigten sich, und der Graf fuhr fort: »Sagen Sie mal, von Wardes, Sie wissen doch genau, wieviel Stellen am Hofe Monsieurs noch zu vergeben sind.« – »Warten Sie mal – ich glaube, die Stelle des Oberstallmeisters,« antwortete der junge Mann. – »O, so hoch versteigen sich meine Wünsche nicht,« warf Malicorne ein. – Von Wardes musterte ihn mit einem raschen, durchdringenden Blick. »Um diese Stelle bekleiden zu können,« sagte er, »muß man Herzog und Pair sein.« – »Ich trachte auch nur nach einem ganz bescheidenen Posten,« antwortete Malicorne. »Ich schätze mich nicht höher ein, als ich stehe.« – »Ohne Rang und Geburt,« fuhr Wardes fort, »kann man überhaupt nicht hoffen, eine Anstellung bei Monsieur zu erhalten.« – »Zum Teufel ja!« rief von Guiche, »die Etikette ist streng, daran hatte ich gar nicht gedacht.« – »O, das ist ja ein großes Malheur für mich,« sagte Malicorne. – »Dem aber hoffentlich abzuhelfen sein wird,« setzte Guiche hinzu. – »Sehr leicht, Herr,« rief Wardes, »man macht Sie einfach zum Edelmann. Kardinal Mazarin hat den ganzen Tag über nichts weiter gemacht.« – »Still, von Wardes,« unterbrach ihn der Graf. »Keinen unzeitigen Scherz! Allerdings ist der Adel käuflich, aber das ist für uns, die wir ihm durch Geburt angehören, ein Unglück, und Edelleute sollten nicht darüber lachen.«
»Herr Graf von Bragelonne!« meldete ein Diener.
»Ah, willkommen, lieber Rudolf!« rief der Günstling Monsieurs. »Auch gestiefelt und gespornt. Also soll's auch nach Havre gehn?« – Bragelonne trat hinzu und grüßte die jungen Leute mit Anmut. Von Wardes erwiderte seinen Gruß mit auffallender Kälte. Von Guiche stellte vor, und die Herren wechselten eine steife Verbeugung. Bragelonne und von Wardes schienen einander vom ersten Augenblick an unsympathisch. – »Sei Schiedsrichter zwischen mir und von Wardes, Rudolf,« sagte von Guiche. »Er behauptet, es würde Mißbrauch mit Titeln getrieben, und ich erkläre, Titel sind ganz unnütz.« – »In diesem Falle hast du recht,« antwortete Bragelonne. – »Aber auch ich habe recht,« warf von Wardes ein. »Ich behaupte, man tut in Frankreich alles, um die Edelleute zu demütigen.« – »Wer täte das?« versetzte Rudolf. – »Der König selbst. Er umgibt sich mit Leuten, die nicht einmal auf vier Generationen zurück die Ahnenprobe aushalten. Soll ich ein Beispiel nennen? Weißt du, von Guiche, wer zum Generalkapitän der Musketiere ernannt worden ist? Wer diese Stelle erhalten hat, die mehr wert ist als die Pairswürde und Anspruch auf den Marschallstab verleiht? Diese Stelle, die der König einem Günstling seines Oheims verweigert hat, ist einem Gaskogner, einem gewissen Chevalier d'Artagnan verliehen worden, der dreißig Jahre lang sein Schwert in den Antichambres herumgeschleppt hat.«
Rudolf wurde blutrot. »Erlauben Sie, daß ich Sie unterbreche, Herr von Wardes,« sagte er, sich zur Ruhe zwingend, »Sie scheinen den Mann, von dem Sie sprechen, nicht zu kennen.« – »Ich sollte den Chevalier d'Artagnan nicht kennen?« rief der junge Mann. »Mein Gott, wer kennt ihn nicht?« – »Nun, wer ihn kennt, mein Herr,« fuhr Rudolf fort, »der weiß, daß er an Mut und Edelsinn keinem König der Welt nachsteht, wenn er auch von Geburt kein so guter Edelmann ist wie der König. Doch das ist nicht sein Verschulden. Ich, mein Herr, kenne den Chevalier d'Artagnan seit meiner Geburt.« – Von Wardes wollte antworten, aber von Guiche unterbrach ihn, denn er merkte, daß das Gespräch auf dem Punkte stand, eine feindselige Wendung zu nehmen. – »Meine Herren,« sagte der Graf, »wir müssen uns jetzt trennen, denn ich muß zu Monsieur. Von Wardes, Sie kommen mit in den Louvre, Rudolf, du verwaltest inzwischen mein Haus und beaufsichtigst die Vorbereitungen zur Abreise. Ich vergaß,« setzte er hinzu, »mich nach dem Befinden des Grafen de la Fère zu erkundigen.« Bei diesen Worten beobachtete er scharf de Wardes Gesicht und sah in dessen Augen einen Blitz des Hasses aufflammen. – »Ich danke,« antwortete Rudolf, »der Graf befindet sich wohl.« – »Wir treffen uns also im Hofe des Palais-Royal,« sagte Guiche, Rudolf die Hand schüttelnd. »Folgen Sie mir, Malicorne!« – Bragelonne stutzte, als er diesen Namen hörte, doch konnte er sich nicht darauf besinnen, wo er ihn schon früher einmal vernommen habe.
Von Guiche begab sich mit seinen zwei Begleitern in das Palais-Royal, wo Monsieur wohnte. Malicorne blieb bescheiden zurück, er ahnte, daß die beiden Edelleute sich etwas zu sagen hatten. – »Sind Sie denn nicht bei Sinnen, von Wardes?« begann der Graf von Guiche, sobald sie ein paar Schritte gegangen waren, »Sie lassen in Rudolfs Gegenwart beleidigende Worte gegen d'Artagnan fallen. Warum hassen Sie ihn? Was hat er Ihnen getan?« – »Fragen Sie den Schatten meines Vaters,« versetzte Wardes düster. – »Ich muß mich wundern, Freund,« sprach Guiche, »d'Artagnan ist kein Mensch, der eine Rechnung unausgeglichen läßt. Ihr Vater war, soweit ich gehört habe, ein tapferer Mann, und es gibt keine Feindschaft, die nicht durch einen biedern Schwertstreich abgetan werden könnte.« – »Mein Vater hat seinen Haß auf mich übertragen. Als ich noch Kind war, lehrte er mich diesen d'Artagnan hassen. Es ist ein besonderes Vermächtnis, das er mir neben meinem Erbteil hinterlassen hat.« – »Und beschränkt sich dieser Haß auf d'Artagnan allein?« – »Er ist mit seinen Freunden zu innig verbunden, als daß das Uebermaß nicht auch auf sie sich erstrecken sollte. Das Maß des Hasses ist voll, und die andern werden sich über ihren Anteil nicht zu beklagen haben.« Er sprach diese Worte mit einem kalten Lächeln, und von Guiche, ihn betrachtend, erbebte unwillkürlich, von dunkeln Ahnungen berührt. – »Gegen Herrn von Bragelonne persönlich habe ich nichts,« setzte von Wardes hinzu. »Ich kenne ihn noch kaum.« – »Jedenfalls werden Sie nicht vergessen,« antwortete der Graf, »Rudolf ist mein bester Freund.« – Von Wardes verneigte sich.
Sie hatten das Palais-Royal erreicht. Von Guiche ließ seine beiden Begleiter an der großen Treppe zurück und ging geradeswegs zu Monsieur hinauf. Er fand den jungen Prinzen in Gesellschaft des Chevaliers von Lorraine, mit welchem Guiche ein wenig auf gespanntem Fuße stand. Philipp war damit beschäftigt, sich zu schminken, während Lorraine im Hintergrunde des Zimmers auf einer Chaiselongue lag. – »Ah, du bist's, Guiche,« rief der Prinz. »Komm her und sage mir die Wahrheit. Denke dir, der Chevalier hat mir wehgetan. Er behauptet, Lady Henriette sei als Frau hübscher wie ich als Mann. Sieh mich aufmerksam an, Guiche, und dann betrachte hier ihr Porträt. Beeile dich nicht, Guiche – laß dir Zeit.«
Der Graf schaute lange auf das allerliebste Miniaturgemälde, das Monsieur ihm reichte. Dann sagte er: »In der Tat, ein ganz reizendes Antlitz, Königliche Hoheit.« – »Und nun sieh mich an – so sieh mich doch an!« rief der junge Prinz, die Locken schüttelnd. – »Wundervoll, wundervoll!« wiederholte Guiche, noch immer im Anschauen des Bildes versunken. – »Man könnte glauben, du hättest das kleine Mädel noch nie gesehen,« sagte Philipp ungehalten. – »Ich habe sie gesehen, Hoheit, aber es sind nun fünf Jahre her, und zwischen einem zwölfjährigen Kinde und einer siebzehnjährigen Jungfrau ist ein großer Unterschied.« – »So sage doch wenigstens deine Meinung!« – »Hoheit können sich glücklich schätzen, eine so schöne Braut zu haben,« sagte Guiche. – »Ich will doch deine Meinung über mich hören,« erwiderte Philipp mit fast weiblichem Schmollen. – »Meine Meinung ist, Sie sind für einen Mann viel zu schön,« antwortete Guiche.
Chevalier von Lorraine brach in ein lautes Lachen aus. Der Prinz runzelte die Stirn. »Ich habe recht ungalante Freunde,« sagte er verdrießlich und fuhr fort sich zu schminken. Als er fertig war, betrachtete er sich sehr selbstgefällig im Spiegel. Offenbar war er mit seinem Aussehen sehr zufrieden. »Ich fürchtete schon,« sagte er zu Guiche, »du würdest ohne Abschied reisen. Du hast gewiß noch ein Anliegen vor dem Aufbruch. Um was handelt es sich?« – »Um ein Patent für ein Ehrenfräulein.« – »Ei, Guiche, du bist mir ein sauberer Gönner,« lachte der Prinz. »Wirst du dich denn immer nur für Plaudertaschen bei mir verwenden?« – »Ich bin nicht unmittelbar der Gönner der betreffenden Dame,« antwortete von Guiche. »Ein Freund von mir bewirbt sich in ihrem Namen.« – »So? Wie heißt denn dieser Schützling deines Freundes?« – »Fräulein von Labaume-Leblanc und von Lavallière, bereits Ehrendame bei Ihrer Hoheit der Herzogin-Witwe.« – »O, die hinkt ja,« rief Lorraine dazwischen. – »Was? Sie hinkt?« sagte Philipp. »Madame sollte so etwas vor Augen haben? Das wäre gefährlich für ihre Schwangerschaften.« – Chevalier von Lorraine lachte abermals laut auf. – »Chevalier,« sagte Graf von Guiche, »Sie handeln nicht eben freundlich. Ich komme mit einer Bitte, und Sie verderben es mir.« – »Pardon, Graf!« versetzte Lorraine, betroffen über den Ton, in dem Guiche diese Worte gesprochen hatte. »Ich kann mich ja auch irren. Jedenfalls verwechsle ich diese Dame mit einer andern.« – »Das ist auch in der Tat so,« sagte der Graf. – »Liegt dir denn sehr viel daran, lieber Guiche?« fragte Orléans. – »Sehr viel, gnädigster Prinz.« – »Dann ist es bewilligt – doch nun suche auch kein Patent mehr nach, es ist keine Stelle mehr frei.« – Er unterzeichnete das Papier, das der Graf vor ihn hinlegte.
Draußen eilte Malicorne erfreut auf den Grafen zu und nahm das Patent mit Worten des Dankes in Empfang. Allein er schien noch etwas zu erwarten. – »Geduld, Herr Malicorne,« sagte Guiche. »Der Chevalier von Lorraine war da, und ich hätte alles verdorben, wenn ich zuviel auf einmal verlangt hätte. Es muß für später bleiben. Schicken Sie mir Manicamp her! Uebrigens, ist es wahr, daß Fräulein von Lavallière hinkt?« – Als er diese Worte sprach, machte hinter ihm ein Pferd mit jähem Ruck halt. Guiche drehte sich um und erblickte Rudolf von Bragelonne, der die letzte Frage gehört hatte, und erblaßte. – »Warum wird hier von Luise gesprochen?« dachte der Vicomte bei sich. »Von Wardes lächelt spöttisch. Er soll sich nicht einfallen lassen, in meiner Gegenwart ein herabwürdigendes Wort über sie zu sagen.«
Ein Zug von Reitern, Wagen und Dienern war Rudolf gefolgt, und die mit flatternden Bändern, Schärpen und Federbüschen reich geschmückte Schar zog jetzt an den Fenstern des jungen Prinzen vorüber. Philipp erschien und wurde mit Jubel begrüßt. Gleich darauf war der Zug am Palais vorüber.
2. Kapitel. Der Empfang
Vier Tage später kam die glänzende Gesellschaft in Havre an. Es war fünf Uhr nachmittags, und man wußte noch nichts Genaues über die Ankunft der englischen Prinzessin. Manicamp aber war da und wartete auf Herrn von Guiche, der eben seine Dienerschaft auf die Suche nach Wohnungen ausschicken wollte, als sein lockerer Freund, ein rechter Hans-Dampf-in-allen-Gassen, zu ihm heranritt mit den Worten: »Gib dir keine Mühe, Guiche. Ich habe bereits ausgekundschaftet, daß sämtliche Häuser von Havre schon im voraus mit Beschlag belegt sind. Jedes einzelne Zimmer ist vermietet.« – »Alle Wetter! Wer hat sie gemietet?« – »Der Quartiermacher der Prinzessin, Lord Buckingham.« – »Vielleicht zehn, zwölf Häuser,« rief Guiche, »aber Havre hat deren hundert.« – »Und sie sind alle hundert vermietet,« antwortete Manicamp.
Es war Nacht geworden. Am Stadttore und auf dem Marktplatze wimmelte es von Fackeln, Pagen, Lakaien, Stallknechten, Pferden und Kutschen. Das Wasser des Kanals schimmerte rot von dem vielfältigen Fackellicht, und auf der anderen Seite des Hafendamms sah man Matrosen und Einwohner der Stadt, die sich nichts von dem Schauspiel entgehen lassen wollten.
»Was kann Lord Buckingham dazu bewogen haben,« fragte von Guiche, »eine solche Menge von Wohnungen zu mieten?« – Manicamp warf einen Blick auf Bragelonne und von Wardes, die neben Guiche hielten, neigte sich zum Ohre des Grafen und flüsterte: »Die Liebe.« – »Das verstehe ich nicht,« sagte der Graf achselzuckend. – »Man hält es für ausgemacht, Monsieur werde der unglücklichste Ehemann sein.« – »Wie, Herzog von Buckingham–?« – »Dieser Name bringt den Prinzen des Hauses Frankreich Unglück. Buckingham soll wahnsinnig in die junge Prinzessin verliebt sein. Er will nicht dulden, daß jemand anderes als er sich ihr nähere.« – »Ich danke dir, Manicamp,« antwortete Guiche. »Sorge dafür, daß diese Handlungsweise Buckinghams nicht ruchbar wird, während wir fort sind, sonst können vielleicht die Schwerter die Empfangsmusik spielen.« – »Jenun, was kümmert es uns,« meinte Manicamp, »ob es Monsieur ebenso ergehen wird wie dem verstorbenen König?
Buckingham-Vater für die Königin, Buckingham-Sohn für die Prinzessin, Gott für uns alle.« – »Still!« rief der Graf.
»Warum still?« fiel von Wardes ein. »Wir haben es gehört. Und es ist eine für die französische Nation sehr ehrenvolle Tatsache. Sind Sie nicht auch dieser Meinung, Graf von Bragelonne?« – »Was soll eine ehrenvolle Tatsache sein?« fragte Rudolf zerstreut. – »Daß die Engländer der Schönheit unserer Königinnen und Prinzessinnen in dieser Weise huldigen,« sagte von Wardes. – »Ich weiß nicht, wovon die Rede ist.« versetzte Rudolf. – »Buckingham-Vater mußte nach Paris kommen,« erklärte Wardes, »um Ludwig XIII. darauf aufmerksam zu machen, daß die Königin eine der schönsten Frauen bei Hofe sei; und nun soll Buckingham-Sohn dafür sorgen, daß der Schönheit einer Prinzessin von französischem Geblüt durch die Anbetung, die er ihr zollt, die gebührende Huldigung erwiesen werde. Engländern Liebe einzuflößen, wird künftighin als Maßstab für Schönheit gelten.«
»Ueber solche Dinge,« antwortete Bragelonne, »höre ich nicht gern scherzen. Wir Edelleute sind die Ehrenwächter der Königinnen und Prinzessinnen. Wenn wir schon über sie spotten, was sollen die Lakaien tun?« – »Oho, Herr Graf!« rief von Wardes. »Wie soll ich das deuten?« – »Wie Sie wollen, mein Herr,« versetzte Rudolf. – »Meine Herren,« rief Graf Guiche dazwischen, alt er sah, daß von Wardes Miene machte, auf Bragelonne loszureiten. »Keinen Streit auf offener Straße.«
»Ruht Euch erst aus, ehe Ihr Euch schlagt,« setzte Manicamp hinzu. »Ihr würdet sonst nichts Vernünftiges ausrichten.« – »Vorwärts, meine Herren!« rief Graf Guiche. »Ich werde dem stolzen Engländer doch einen Strich durch die Rechnung machen!« Und er ritt auf den Marktplatz. Der ganze Zug folgte ihm.
Am folgenden Tage wehte ein ziemlich scharfer Wind, und die See ging hoch. Von den Mastkörben der vor Anker liegenden Schiffe wurde scharfe Ausschau gehalten, und gegen elf Uhr vormittags erklang der Ruf: »Schiff in Sicht!« – Man erkannte ein mit vollen Segeln herannahendes Schiff, dem zwei andere in geringer Entfernung folgten. Bald ließ sich unterscheiden, daß die Fahrzeuge die englische Flagge führten, das vordere außerdem noch den Admiralswimpel. Dies also war das Schiff, auf dem die Prinzessin sich befand. Der ganze französische Adel versammelte sich nun am Hafen; das Volk füllte die Quais und die Hafendämme. Kurz vor dem Eingang zum Hafen gingen die Schiffe, die bei dem herrschenden Seegang nicht zu landen wagten, vor Anker und salutierten mit zwölf Kanonenschüssen, die vom Hafen erwidert wurden. Allein infolge des stürmischen Wetters getraute sich nun auch keines der Empfangsbote auf die See hinaus, und die allgemeine Begrüßungsfahrt des versammelten Adels, die geplant war, unterblieb zum großen Verdruß der anwesenden Edelleute, die viel darum gegeben hätten, ein günstigeres Wetter herbeizuzaubern.
»Rudolf,« sagte von Guiche, der um jeden Preis seinen Auftrag, die Prinzessin auf hoher See zu empfangen, ausführen wollte, »sollen wir, starke, energische Kriegsmänner, der rohen Kraft des Wassers und des Windes weichen? Das wäre doch schmachvoll.« – »Das ist auch meine Meinung,« antwortete Rudolf. – »Nun, wollen wir das Lotsenboot dort besteigen? Es scheint mir standfest genug. Bist du dabei, Wardes?« – »Nehmen Sie sich in acht,« warf Manicamp ein, »Sie ertrinken.« – »Sie erreichen bei diesem Gegenwind die Schiffe im ganzen Leben nicht,« setzte Wardes hinzu. – »Du willst also nicht mitfahren?« fragte Graf Guiche nochmals. – »Im Kampfe gegen Menschen setze ich mein Leben gern aufs Spiel« antwortete von Wardes, mit einem Seitenblick auf Bragelonne. »Aber mich mit Salzwasser zu messen, ist nicht nach meinem Geschmack.« – »Und ich würde meinen letzten saubern Rock dabei einbüßen«, meinte Manicamp. »Salzwasser richtet alles zugrunde.« – »Aber seht doch nur, dort drüben am Stern stehen die Prinzessinnen und schauen zu uns herüber!« rief von Guiche. – »Ein Grund mehr, vor ihren Augen kein lächerliches Bad zu nehmen!« versetzte Manicamp. – »Dann fahre ich allein,« entschied der Graf. – »Nicht doch,« rief Bragelonne. »Ich komme mit.« Er erkannte wirklich die Größe der Gefahr, in die er sich begeben wollte; aber er ließ sich zu dem Wagnis verleiten, weil von Wardes nicht den Mut dazu fand.
»Hollah, Lotse!« rief Graf Guiche dem Boote zu, das sich eben anschickte, die Fahrt zu wagen. »Wir wollen mit.« Er wickelte ein paar Silbermünzen in ein Stück Papier und warf es dem Patron zu. – »Sie scheinen keine Angst vor Salzwasser zu haben, junge Herren,« rief der Lotse zurück. – »Wir haben vor nichts Angst,« erwiderte der Graf. – »Na, dann nur zu!« sagte der Schiffer. Die beiden jungen Männer sprangen ins Boot. »In dieser Börse,« rief Guiche, sie den Matrosen zeigend, »sind noch zwanzig Pistolen. Sie sind euer, wenn wir das Admiralsschiff erreichen.« – Die Leute legten aus, und das Boot tanzte auf den Wellen.
Die Tausende von Menschen, die den Hafen umstanden, beobachteten voll Spannung den Fortgang der Barke. Sie schien einen Augenblick auf der Spitze der Wogen zu schweben, im nächsten Augenblick glitt sie in einen brausenden Abgrund; aber so schwer sie auch zu kämpfen hatte, sie kam vorwärts, sie arbeitete sich näher und näher an das englische Schiff heran, das nun auch zwei Schaluppen aussetzte, um ihr zu Hilfe zu kommen. Auf dem Heck des Admiralsschiffes standen unter einem Baldachin von Samt und Hermelin die verwitwete Königin Henriette-Marie und ihre Tochter Henriette-Anna, an ihrer Seite der Admiral, der junge Graf Norfolk. Sie sahen angstvoll nach dem mit dem wilden Element kämpfenden Boote aus. Die Matrosen, die Gewandtheit des Lotsen und die Kraft der Ruderer bewundernd, ließen ein Hurrah nach dem andern hören.
Einstimmiger Jubel empfing die beiden Edelleute. Graf Norfolk selbst ging ihnen entgegen und führte sie zu den Fürstinnen. Von Guiche stand nun vor der Braut, deren Bild er im Zimmer ihres künftigen Gemahls so aufmerksam betrachtet hatte. Er verglich das Original mit diesem Gemälde, und als er das etwas bleiche Gesicht, die lebhaft funkelnden Augen, das wunderschöne, kastanienbraune Haar und den frischen, etwas schmollenden Mund sah, da wurde er von der Schönheit dieser Erscheinung so tief ergriffen, daß er geschwankt haben würde, hätte Rudolf ihn nicht rasch und unmerklich gestützt. Der erstaunte Blick Bragelonnes brachte ihn zur Besinnung. Mit wenigen Worten erklärte er, was ihm aufgetragen worden sei, und begrüßte im Namen seines Herrn und seines Landes die Hoheiten und ihre Begleitung.
Rudolf wurde vorgestellt und mit großer Liebenswürdigkeit aufgenommen, wußte doch jedermann, welchen großen Anteil sein Vater an der Wiedereinsetzung Karls II. hatte. Da Rudolf sehr gut Englisch sprach, konnte er nun als Dolmetscher zwischen seinem Freunde und den britischen Kavalieren dienen. Unter diesen fiel ein junger Mann von schöner Erscheinung und überaus vornehmer Tracht besonders auf. Er trat zu den Prinzessinnen und sagte im Tone mühsam bekämpfter Ungeduld: »Königliche Hoheiten, es ist Zeit zu landen.« – »Gemach, Mylord von Buckingham,« antwortete der Admiral, »eine Landung ist jetzt noch unmöglich. Die See geht zu hoch. Vor vier Uhr wird der Wind nicht abflauen so daß wir also erst gegen Abend landen können.«
»Sie halten die Damen zurück, Admiral,« versetzte Buckingham, ohne seine Gereiztheit zu verbergen, »dazu haben Sie gar kein Recht. Die eine dieser Damen gehört Frankreich an, und Sie sehen, Frankreich ruft sie durch die Stimme seiner Abgesandten.« – »Es wird nicht die Absicht dieser Herren sein,« antwortete Norfolk, »das Leben der Prinzessinnen in Gefahr zu bringen.« – »Die Herren sind trotz des Windes glücklich an Bord gekommen,« entgegnete der Lord. »Die Gefahr wird für die Damen nicht größer sein, zumal man landwärts mit dem Winde fährt.« – Buckingham war offenbar eifersüchtig auf Norfolk und entbrannte vor Verlangen, die Prinzessin von dem Boden zu entführen, auf dem der Admiral Herrscher war. – »Mylord,« antwortete ihm der Seemann, »ich trage die Verantwortung, daß Madame, die königliche Braut, wohlbehalten nach Frankreich kommt. Ich habe versprochen, sie gesund hinüberzubringen, und dieses Versprechen werde ich halten.« – »Aber es ist doch –« begann Buckingham. – »Mylord,« fiel ihm Norfolk ins Wort, »gestatten Sie mir, daran zu erinnern, daß hier niemand zu befehlen hat als ich.« – »Mylord!« brauste Buckingham auf, »wissen Sie, was Sie da sagen?« – »Ich weiß es sehr wohl,« antwortete der Admiral. »und wiederhole es. Hier befehle nur ich, und jedermann hat mir zu gehorchen.« – Diese Worte sprach er mit edlem Ausdruck, und Buckingham bebte am ganzen Leibe. Das Blut schoß ihm in die Augen, und seine Hand fuhr nach dem Degen.
»Mylord,« rief jetzt die Königin, »erlauben Sie mir zu bemerken, daß ich ganz der Meinung des Admirals bin. Und wenn das Wetter auch nicht so nebelig und stürmisch wäre, so würden wir es doch dem Offizier, der uns sorgsam bis hierher gebracht hat, schuldig sein, ihm noch ein paar Stunden zu schenken, zumal er uns an der französischen Küste verlassen muß.« – Buckingham gab keine Antwort, sondern sah die Prinzessin an. – Madame aber achtete auf den Wortwechsel nicht; sie schien augenblicklich nur Augen für den Grafen von Guiche und Rudolf zu haben. Das war ein neuer Schlag für Buckingham, glaubte er doch in ihren Blicken ein tieferes Gefühl als bloße Neugierde zu erkennen. Er ließ die Hände sinken und ging mit einem Seufzer fort.
Bei Tische in der Kapitänskajüte harrte seiner eine neue Demütigung, denn Madame ließ von Guiche und von Bragelonne an ihrer Seite sitzen, und Buckingham sah sich an einen entfernten Platz verwiesen. Von Guiche, den sein Glück noch blässer machte, als seinen Nebenbuhler der Zorn, nahm fast zitternd seinen Sitz neben der Prinzessin ein, deren seidnes Gewand ihn leise berührte.
Nach der Mahlzeit eilte Buckingham auf die Prinzessin zu, um ihr die Hand zu reichen.
»Mylord,« sagte Graf von Guiche, »haben Sie die Güte, sich von jetzt ab nicht mehr zwischen Ihre königliche Hoheit und mich zu drängen. Von diesem Augenblick an gehört Lady Henriette Frankreich an, und wenn sie mir die Ehre erweist, meine Hand zu berühren, so berührt sie damit die Hand Monsieurs, ihres Gemahls.«
Rudolf beobachtete seinen Freund scharf. Er liebte ja selbst unglücklich und verstand alles. Er warf ihm einen vielsagenden Blick der Teilnahme zu.
Gegen zwei Uhr schlug das Wetter um; die Sonne kam zum Vorschein, der Wind legte sich, und das Meer wurde glatt wie ein Spiegel. Der Nebel zerriß gleich einem Schleier, der in kleinen Stücken davonfliegt. Das freundliche Gestade Frankreichs grüßte herüber mit seinen grünen Hügeln und weißen Häuschen.
3. Kapitel. Zwei Liebende
Der Befehl zum Landen wurde gegeben, und Buckingham atmete freudig auf. Doch alsbald sah er sich abermals um eine Hoffnung betrogen, denn die Königin-Witwe rief ihn zu sich. »Mylord,« sagte sie zu ihm, »Sie dürfen meine Tochter nicht an Land fahren lassen, ohne sich zu vergewissern, ob die Wohnungen in Ordnung sind. Fahren Sie also bitte voraus.« – Lord Buckingham errötete, aber es gab keine Widerrede. Er mußte darauf verzichten, die Prinzessin zu begleiten. Er warf einen Blick der Verzweiflung auf die Gruppe, die von Lady Henriette, dem Admiral und den beiden Franzosen gebildet wurde, trat an Bord und sprang so blindlings hinab in das kaum ausgesetzte Boot, daß er es fast zum Kentern gebracht hätte. – »Mylord scheint den Verstand verloren zu haben,« sagte Norfolk kalt. – »Das fürchte ich in der Tat,« antwortete Bragelonne.
Die Ruderer legten sich in die Riemen, das Boot fuhr davon. Aber Buckingham blieb aufrecht darin stehen und wandte kein Auge von dem Fahrzeug, das einige Minuten später mit der Prinzessin das Schiff verließ. Als Buckingham an Land war, stürmte er in die Stadt hinein. Er sah nicht nach den vielen Kähnen, die vom Ufer abstießen, um der Prinzessin entgegenzufahren, er hörte nicht auf die Kanonenschüsse, die zu ihrer Begrüßung abgefeuert wurden. Er lief auf den Marktplatz zum Rathause, um hier nach dem Rechten zu schauen. Da sah er zu seiner Bestürzung eine Anzahl von Zelten errichtet, auf denen die französische Flagge wehte und die im Halbkreis das Rathaus umschlossen. Pagen und Soldaten hielten davor Wache. Zwischen den luftigen Bauten aber sah man eine große Anzahl von Offizieren und Edelleuten hin und her schreiten oder plaudernd herumstehen. Buckingham trieb sein Pferd mitten hinein in die bunte Menge, und rasend vor Wut richtete er sich im Sattel empor. »Was hat das hier zu bedeuten?« schrie er, um sich schauend.
Ein Mann trat zu ihm heran. »Was gibt's?« fragte er ganz gelassen. »Wer macht hier solchen Lärm?« Buckingham betrachtete die lange, hagere Gestalt, die vor ihm stand, mit unverhohlener Geringschätzung. – »Wer sind Sie?« rief er. – »Wer sind denn Sie?« fragte der Mann mit der größten Ruhe. – »Ich bin Herzog von Buckingham,« war die Antwort, »ich habe alle Häuser um das Rathaus herum gemietet; die Häuser gehören also mir, und da ich sie gemietet habe, um ungehindert zum Rathause zu gelangen, so haben Sie kein Recht, mir den Weg zu versperren.« – »Es steht Ihnen ja frei, ins Rathaus zu gehen,« versetzte der andere. – »Ihre Schildwachen halten mich auf,« rief der Engländer. – »Weil Sie zu Pferde hin wollen, und der Befehl lautet, nur Fußgänger durchzulassen.«
»Hier hat niemand Befehle zu erteilen als ich,« rief Buckingham. – »Wieso?« lautete die gelassene Antwort. »Erklären Sie mir das, bitte.« – »Weil die Häuser und dieser ganze Platz mein ist!« – »Sie sind im Irrtum, mein Herr. Der Platz gehört dem König, wir sind Abgesandte des Königs, also gehört der Platz uns.« – »Mein Herr, ich habe Sie schon einmal gefragt, wer Sie sind!« schrie jetzt der Brite erbost. – »Ich heiße Manicamp,« antwortete der Franzose. – »Sie haben die Zelte da wegzuräumen, verstanden!« rief der Lord.
In diesem Augenblick kamen Graf Guiche und Rudolf von Bragelonne an. Sie hatten geahnt, daß Buckingham beim Anblick der Zelte, die seinen schönen Plan zunichte machen sollten, in Zorn geraten würde, und aus Furcht, daß ein ernster Streit die Folge sein könnte, hatten sie sich beeilt, den Rathausplatz zu erreichen. Gleichzeitig kam auch von Wardes hinzu, der im Rathause zu tun gehabt hatte.
»Mylord,« rief Graf Guiche, heranreitend, »belieben Sie sich an mich zu wenden. Auf meinen Befehl sind diese Zelte errichtet worden.« – »Ich habe bereits gesagt,« rief Buckingham, vor Wut bebend, »sie müssen weg!« – »Unmöglich,« antwortete von Guiche, indem er sich auf einen Blick Rudolfs hin zur Ruhe zwang. »Wir haben damit nur gegen Ihren eigenen Mißbrauch Front gemacht, Mylord. Sie kommen einfach hierher und legen die ganze Stadt in Beschlag, ohne sich darum zu kümmern, wo wir Franzosen Obdach finden können. Das ist nicht brüderlich gehandelt von dem Vertreter einer befreundeten Nation.« – »Die Erde gehört dem, der zuerst von ihr Besitz ergreift,« versetzte Buckingham. – »Nicht in Frankreich, Mylord.« – »Warum nicht in Frankreich?« – »Weil es das Land der Höflichkeit ist.«
»Was wollen Sie damit sagen?« brauste Buckingham auf. Sein Pferd bäumte sich unter dem Ruck seiner Faust, daß die Umstehenden erschrocken zurückwichen. Graf Guiche verzog keine Miene. »Ich will damit sagen,« versetzte er, »ich ließ diese Zelte für mich und meine Freunde, für die Abgesandten des Königs von Frankreich, errichten, als einziges Obdach, das Ihre Rücksichtslosigkeit uns gelassen hat. Wir werden darin wohnen, bis ein mächtigerer Wille als der Ihrige uns abruft.« – »Herr Graf, ich fordere Genugtuung!« schrie Buckingham und riß an seinem Degen.
Da legte sich Rudolfs Hand auf seine Schulter. – »Ein Wort, Mylord.« sagte Bragelonne ruhig. – »Zuerst will ich mein Recht!« rief der ungestüme Mann. – »Eben über diesen Punkt will ich mit Ihnen reden,« antwortete Rudolf. »Eine einzige Frage: Wer wird die Enkelin Heinrichs IV. heiraten, Sie oder der Herzog von Orléans?« – Buckingham trat verblüfft zurück. »Was soll das?« stammelte er. – »Antworten Sie mir, bitte, Mylord,« sagte der Vicomte gelassen. – »Wollen Sie Spott mit mir treiben?« murmelte der Brite. – »Nun, auch das ist eine Antwort, die mir genügt,« antwortete Rudolf. »Sie geben also zu, daß Sie die Prinzessin Stuart nicht heiraten werden.« – »Mich dünkt, das wissen Sie recht wohl, Graf.« – »Pardon, nach Ihrem Benehmen schien das nicht ganz klar zu sein.« –
»Zur Sache, Vicomte!« rief der Lord. »Was haben Sie mir zu sagen?« – Rudolf trat ganz dicht an ihn heran. »Ihr Zorn,« sprach er, »sieht ganz der Eifersucht ähnlich, wissen Sie das, Mylord? Solche Eifersucht auf eine Dame steht jedem schlecht an, der weder ihr Gemahl noch ihr Geliebter ist, um so mehr jedoch, wenn diese Dame eine Prinzessin ist.« – »Graf, wollen Sie Lady Henriette beleidigen?« stieß Buckingham hervor. – »Sie beleidigen sie, mein Herr,« versetzte Bragelonne unbeirrt. »Nehmen Sie sich in acht. Auf dem Admiralschiffe haben Sie schon großes Aergernis gegeben.« – »Herr! Sie führen eine Sprache, der man Einhalt tun muß!« murmelte Buckingham. – »Wägen Sie Ihre Worte, Mylord,« sagte Rudolf mit stolzem Ernst. »Ich bin von einem Geschlechte, das sich nicht Einhalt tun läßt, solange es auf dem rechten Wege ist. Sie aber sind von einem Geschlecht, dessen Leidenschaft den guten Franzosen verdächtig ist. Nochmals, nehmen Sie sich in acht, Mylord!«
»Wollen Sie mir etwa drohen?« – »Ich bin der Sohn des Grafen de la Fère und drohe nie, weil ich immer gleich dreinschlage. Wir wollen uns also verständigen. Bei dem ersten Worte über Ihre königliche Hoheit, das die Grenzen des Anstandes verletzt – o, bleiben Sie ruhig, Mylord, ich bin es ja auch.« – »Sie?!« – »Allerdings. Solange Madame auf englischem Boden war, schwieg ich. Jetzt steht sie auf französischem Boden, und wir sind im Namen des Prinzen hier, sie zu empfangen. Bei der ersten Schmach, die Sie in Ihrer sonderbaren Ergebenheit dem Hause Frankreich antun könnten, stehen mir zwei Wege offen: entweder ich verkündige öffentlich, von welchem Wahnwitz Sie besessen sind, und sorge dafür, daß Sie schimpfbedeckt nach England zurückgeschickt werden, oder aber ich stoße Ihnen in voller Versammlung den Dolch in die Kehle. Das letztere Mittel scheint mir das bessere, und ich werde es wohl anwenden.«
Buckinghams Gesicht wurde weiß wie die Spitzenkrause, die seinen Hals schmückte. »Herr von Bragelonne,« stammelte er, »sind das wirklich die Worte eines Edelmanns?« – »Ja, nur sind sie an einen Wahnsinnigen gerichtet,« antwortete Rudolf. »Genesen Sie, Mylord, und er wird anders zu Ihnen sprechen.« – »Herr von Bragelonne,« murmelte der Brite. »Sie sehen meinen Zustand – es bleibt mir nur eins –« – »Das wäre in der Tat ein großes Glück,« antwortete Rudolf mit seinem unerschütterlichen Gleichmut. »Dadurch würde mancher üblen Nachrede über die erlauchten Personen, die Sie kompromittieren, vorgebeugt.« – »Sie haben recht, Sie haben recht!« sagte der junge Mann außer sich. »Ja, ja, lieber sterben, als so leiden zu müssen!« – Er zog einen juwelengeschmückten Dolch hervor.
Rudolf stieß seine Hand zurück. – »Sind Sie von Sinnen, Mylord!« flüsterte er ihm zu. »Wenn Sie sich jetzt erstechen, machen Sie sich lächerlich und beflecken das königliche Brautkleid mit Blut.« – Buckingham stand ein Weilchen atemlos da, seine Lippen zuckten, auf seinen Wangen wechselten Blässe und Röte. Dann sagte er plötzlich: »Sie sind der edelste Charakter, den ich kenne, Bragelonne; Sie sind der würdige Sohn des vollendetsten Edelmannes unserer Zeit.« Er fiel dem Vicomte um den Hals.
Erstaunt über das unerwartete Ende dieser Unterredung, die die Umstehenden nicht verstanden hatten, über deren kritischen Inhalt aber niemand in Zweifel bleiben konnte, klatschte die Menge in die Hände, und tausendstimmiger Jubelruf erscholl. Engländer und Franzosen, die sich schon fast mit feindseligen Blicken gemustert hatten, schlossen Freundschaft.
Jetzt erschien der Zug der Prinzessin, welche ohne Bragelonnes beherzte Ermahnung über den ausgestreuten Blumen zwei Heerhaufen in blutigem Kampfe angetroffen haben würde. Die Menge bildete beim Anblick der Banner zu beiden Seiten des Marktplatzes Spalier.
Madame empfing auf ihrem Einzug in die Stadt einstimmige Glückwünsche. Von allseitiger Ehrerbietung begleitet, schritt sie einher wie eine Königin. Ihre Mutter zeigte den Franzosen, obwohl man sie dort zur Zeit ihres Unglücks sehr schlecht behandelt hatte, ein huldvolles Gesicht, war doch Frankreich ihre eigentliche Heimat.
Als der feierliche Empfang beendet war und ringsum nächtliche Ruhe herrschte, trat von Guiche in sein Zelt und ließ sich auf einen Schemel nieder. Sein Gesicht zeigte einen so tiefen Ausdruck des Schmerzes, daß Bragelonne kein Auge von ihm abwandte, bis er ihn seufzen hörte. Da ging Rudolf zu ihm heran. Der Graf stützte die Ellbogen auf die Knie und vergrub das Gesicht in den Händen.
»Du bist erschöpft, Freund,« sagte Bragelonne. »Der Tag war sehr anstrengend.« – »Ja, ich möchte schlafen,« antwortete Guiche. – »Soll ich dich allein lassen?« –
»Nein, ich habe mit dir zu reden.« – »Zuerst habe ich ein paar Fragen an dich zu richten,« sagte Rudolf, »dann erst werde ich mit mir reden lassen. Weißt du, weshalb Buckingham so wütend war?« – »Ich vermute es.« – »Er liebt die Prinzessin, nicht wahr?« fragte Rudolf. – »Wenigstens möchte man das glauben, wenn man ihn ansieht,« sagte Graf Guiche. – »Nun, es ist nichts daran,« warf Rudolf hin, mit einem scharfen Blicke auf seinen Freund. »Lord Buckingham ist nicht gefährlich.«
»Gefährlich?« antwortete der Graf zaudernd. »Mag sein, nein. Aber zudringlich – lästig. Hätte er nicht bald das ganze Fest verdorben? Wenn du nicht gewesen wärest, es hätte wahrlich blutige Köpfe gegeben. Was hast du zu ihm gesagt? Und glaubst du wirklich, er liebt sie nicht?«
Diese Worte sprach von Guiche mit einem seltsamen Nachdruck. – »Was ich zu ihm gesagt habe, lieber Freund,« antwortete Rudolf in eindringlichem Tone, »das will ich dir wiederholen. Höre mich an. Ich sagte folgendes: Herr, Sie werfen lüsterne, begehrliche Blicke auf die Schwester Ihres Königs; sie ist nicht Ihre Braut, sie ist nicht Ihre Geliebte, sie kann beides nicht sein. Sie beleidigen also diejenigen, die gekommen sind, das junge Mädchen dem Gatten zuzuführen. Ich bin sogar noch weitergegangen; ich sagte noch folgendes: Was würden Sie wohl denken, wenn einer von uns die Vermessenheit, die Treulosigkeit besäße, für eine unserm Herrn bestimmte Prinzessin andere Gefühle als reinste Ehrerbietung zu hegen?«
Der Graf erblaßte und zitterte plötzlich, so offenbar waren diese Worte auf ihn gemünzt. Er preßte die Hand auf die Stirn. – »Doch Gott sei Dank!« fuhr Rudolf fort, »die Franzosen, die man für leichtfertig und sittenlos hält, wissen in Fragen der Wohlanständigkeit stets sicher zu entscheiden. Wir Franzosen opfern dem Dienst unsers Königs nicht nur Gut und Leben, sondern auch unsere Leidenschaften. Wenn uns der böse Geist einmal einen Gedanken eingibt, der eine Sünde an unserm König wäre, so löschen wir diese Flamme, sei es auch mit unserm Blute. Auf diese Weise retten wir dreifach die Ehre: die des Vaterlandes, die des Königshauses und die eigene. So handeln wir, Herr Buckingham, und so muß jeder charaktervolle Mann handeln. Du siehst, Guiche, der Lord hat sich meinen Gründen gefügt.«
Der Graf, den Rudolfs Worte niedergedrückt hatten, richtete sich jetzt stolz auf; seine Augen flammten; er faßte Bragelonnes Hand und sagte mit gepreßter Stimme: »Brav gesprochen, Rudolf, habe Dank! und nun – laß mich allein. Ich bedarf der Ruhe. Mein Herz ist erschüttert, mein Geist beklommen. Wenn du morgen wiederkommst, werde ich ein anderer Mensch sein.« – Der Vicomte ging hinaus. – »Wie stark belagert ist das arme Mädchen,« dachte er bei sich. »Da ist das Fräulein von Montalais wahrlich keine sehr zuverlässige Besatzung!«
4. Kapitel. Freundschaft und Haß
Am folgenden Tage nahmen die Festlichkeiten mit königlichem Pomp ihren Fortgang. Die Reise nach Paris begann. Von Guiche hatte gehofft, man werde Buckingham mit dem Admiral nach England zurückschicken; doch wußte der Lord der Königin-Witwe einzureden, es sei unziemlich, eine englische Prinzessin ganz allein in Paris einziehen zu lassen. Der junge Herzog wählte sich unter den Engländern, die bis nach Havre mitgekommen waren, einen Hof von Offizieren und Edelleuten aus, und der Zug, den er nach Paris führte, glich fast einem Heere. Rudolf verstand es auch in der Folgezeit, seinen doppelten Einfluß auf Buckingham und auf Guiche vorteilhaft anzuwenden und beide in Schranken zu halten. Was den Briten betraf, so fühlte er sich seit jener inhaltsschweren Unterredung vor den Zelten zu Havre sehr zu dem jungen Vicomte hingezogen und sprach oft von ihm, von seinem Vater oder von d'Artagnan, ihrem gemeinsamen Freunde, den Buckingham ebenso bewunderte wie Rudolf.
Namentlich wenn von Wardes anwesend war, lenkte Rudolf das Gespräch auf den neuen Generalkapitän der Musketiere, und von Wardes, der den Vicomte um die Rolle beneidete, die er in der letzten Zeit bei seinem Gönner, dem Grafen von Guiche, spielte, machte dann kein Hehl aus seinem Haß und seiner Mißgunst. Eines Abends, als man in Nantes Rast machte, lehnten von Guiche und von Wardes an einer Barriere, während Buckingham und Rudolf plaudernd auf und ab gingen.
»Gestehe es, du bist krank,« sagte Wardes zum Grafen, »und dein Hofmeister kann dich nicht heilen.« – »Ich verstehe dich nicht,« versetzte Guiche. – »Tröste dich,« fuhr der junge Mann lauernd fort, »Madame wird nicht gleichgültig bleiben gegen deine Qualen. Sie nimmt schon jetzt so regen Anteil daran, daß sie sich kompromittiert. Du siehst es doch wohl selbst, daß sie dich ganz besonders sanft anschaut und einen ganz eigenartigen Ton anschlägt, wenn sie mit dir redet. Und alle Morgen klagt sie dir, sie habe schlecht geschlafen.« – Von Guiche machte eine unruhige Bewegung, obwohl die Worte seines falschen Freundes ihm schmeichelten. – »Hörst du, sie ruft dich,« setzte dieser hinzu. – Der Graf wendete sich nach der Seite, wo die Prinzessin im Gespräch mit Manicamp saß. Er vermochte nicht zu widerstehen und trat hinzu. – »Nun ja, geh nur,« sagte von Wardes, »dein Hofmeister sieht nicht hin.«
»Sie irren sich,« erklang jetzt Rudolfs Stimme, und er trat vor Wardes. »Der Hofmeister sieht es doch und hört auch, was Sie sagen.« – Der junge Mann fuhr auf und zog das Schwert halb aus der Scheide. – »Stecken Sie es nur ruhig wieder ein,« sagte Bragelonne. »Sie wissen, daß es vor Beendung unserer Reise zu keiner solchen Auseinandersetzung kommen darf. Aber mäßigen Sie Ihre Zunge. Warum wollen Sie in das Herz des Mannes, den Sie Freund nennen, alles Gift Ihres eigenen Herzens gießen? Sie sind in meinen Augen ein Elender und ein Verräter.« – »Herr!« rief Wardes. »Ich hatte also recht, als ich Sie einen Hofmeister titulierte. Der Ton, den Sie anschlagen, die Manier, der Sie sich befleißen, paßt für einen Jesuiten, aber nicht für einen Edelmann. Mir gegenüber aber legen Sie diesen Ton gefälligst ab. Sie ändern nichts daran, daß ich Herrn d'Artagnan hasse, weil er eine Niederträchtigkeit an meinem Vater begangen hat.« – »Sie lügen!« rief Bragelonne. – »Ha! Sie nennen mich einen Lügner und ziehen nicht das Schwert?« versetzte von Wardes. – »Weil ich mir vorgenommen habe, Sie erst dann zu töten, wenn wir diese Reise hinter uns haben,« antwortete Rudolf. – »Nehmen Sie sich in acht,« drohte Wardes, »wenn Sie mir nicht Genugtuung geben, so werde ich jedes Mittel ergreifen, mich zu rächen.«
»Oho!« ließ sich jetzt Lord Buckingham vernehmen, indem er hinzutrat, »diese Worte klingen ja fast nach Meuchelmord und ziemen sich nicht für einen Edelmann. Sie beleidigen meinen Freund und werden mir Rede stehen!« – Von Wardes drehte sich nach dem Herzog um.
»Es scheint doch aber,« versetzte er, »als ob ich Ihren Freund nicht beleidige, denn er hat ein Schwert an der Seite und läßt es unberührt.« – »Aber Sie beleidigen den Chevalier d'Artagnan,« rief Buckingham aufbrausend, »und der Chevalier ist der ehrenwerteste Kavalier, den ich kenne. Ich bin ihm persönlich verpflichtet, und es wird mich freuen, meine Dankesschuld durch einen derben Schwertstreich in Ihr falsches Angesicht abzutragen.«
Mit diesen Worten zog Buckingham den Degen und drang auf Wardes ein, aber Rudolf trat mit gezückter Klinge zwischen beide. »Halt, meine Herren!« rief er. »Das lohnt nicht der Mühe. Herr von Wardes schmäht den Chevalier und kennt ihn doch nicht einmal. Nein, Sie kennen ihn nicht, Herr! Sie wissen ja nicht einmal, wo er wohnt. Nun, ich will es Ihnen sagen. Chevalier d'Artagnan wohnt im Louvre, wenn er Dienst hat, und in der Lombardstraße, wenn er dienstfrei ist. Sie haben mit ihm abzurechnen, und wenn Sie ein Ehrenmann sind, so werden Sie ihn nach unserer Ankunft in Paris aufsuchen und zur Rede stellen, damit er Ihnen die Genugtuung gebe, die Sie von jedermann, nur nicht von ihm zu verlangen scheinen. Was gebärden Sie sich hier als Raufbold? Das schickt sich nicht für einen Edelmann; denn Sie wissen recht wohl, der König hat die Duelle streng verboten.«
»Eitle Entschuldigungen!« rief von Wardes. – »Was Sie da sagen, ist dummes Geschwätze, Herr,« versetzte der Vicomte. »Herr von Buckingham ist ein tapferer Mann, der sich in mehreren Feldzügen schon bewährt hat, und ich habe mich bei Lens, bei Blenau, bei den Dünen geschlagen und war dort hundert Schritte vor der Linie, während Sie, beiläufig gesagt, hundert Schritte dahinter waren. Dort unten, freilich, waren so viele Menschen, daß niemand auf Ihre Heldentaten achtgegeben hätte, deshalb strengten Sie sich wohl auch nicht an. Jetzt aber wollen Sie von sich reden machen, auf welche Art es immer sei. Dazu werde ich Ihnen nicht behilflich sein.«
Von Wardes stürzte mit gezücktem Schwert auf Rudolf los, der rasch zur Seite trat. – »Ich sage Ihnen, ich schlage mich jetzt nicht!« rief Bragelonne. »Wenn wir in Paris sind, führe ich Sie zu d'Artagnan, das verspreche ich Ihnen, und d'Artagnan wird den König um Erlaubnis bitten, Ihnen einen Schwertstreich zu versetzen. Wenn Sie den erhalten haben, werden Sie still sein.« – »Ha!« rief von Wardes, erbost über diese Gelassenheit. »Man sieht es, daß Sie ein Bastard sind, Herr von Bragelonne!«
Rudolf wurde totenbleich. Sein Auge flammte auf, so daß Wardes unwillkürlich zurückwich. – »Wohl, ich kenne nur den Namen meines Vaters,« stieß Rudolf hervor. »Aber der Graf de la Fère ist ein Mann von Ehre, und ich brauche nicht zu befürchten, daß auf meiner Geburt ein Makel läge. Daß ich den Namen meiner Mutter nicht kenne, ist für mich also nur ein Unglück, keine Schmach. Wenn Sie mir solch ein Unglück zum Vorwurf machen, so verstoßen Sie gegen die guten Sitten. Aber die Beleidigung ist ausgesprochen worden, und diesmal halte ich mich in der Tat für beleidigt. Machen wir also ein Ende!« – Und mit ausgestrecktem Schwerte trat er auf Wardes zu.
»Was tun Sie?« rief Buckingham. – »Seien Sie unbesorgt,« versetzte Rudolf kaltblütig. »Es wird nicht lange dauern.« – Von Wardes ging in Fechterstellung, die Klingen kreuzten sich. Aber von Wardes stürzte mit solcher Hast auf Bragelonne, daß Buckingham gleich nach den ersten Degenstößen wußte, auf wessen Seite der Vorteil lag und wer den Sieg davontragen würde. Rudolf schien nur zu spielen, er parierte mit der größten Ruhe, dann stieß er eine Finte und fing die Klinge seines Gegners so geschickt ab, daß von Wardes den Griff verlor und der Stahl im Bogen durch die Luft sauste. Rudolf warf darauf sein Schwert weg, packte den andern um den Leib und schleuderte ihn über die Barriere. Von Wardes erhob sich, leichenfahl im Gesicht. – »Wir sprechen uns noch,« keuchte er, hob sein Schwert auf und ging davon.
»Lieber Vicomte,« sagte Buckingham, »tragen Sie von jetzt ab einen Panzer. Der Mensch wird Sie morden.« – Rudolf zuckte mit unsäglicher Geringschätzung die Achseln. »Mein Vater,« antwortete er, »ist zwanzig Jahre lang von einem noch furchtbareren Feinde bedroht worden und lebt heute noch.« – »Ihr Vater hatte gute Freunde,« sagte der Brite. – »Ja, Freunde, wie es heute keine mehr gibt,« seufzte Bragelonne. – »O, sagen Sie das nicht in dem Augenblick, Vicomte, wo ich Ihnen meine Freundschaft anbiete,« erwiderte der Lord und schloß den jungen Mann in die Arme. »In meiner Familie,« setzte er hinzu, »opfert man sein Leben für die, die man der Freundschaft wert hält. Sie wissen das recht wohl, Herr von Bragelonne.« – »Ich weiß es,« nickte Rudolf.
*
Die Prinzessin erreichte wohlbehalten Paris. Ihr Weg glich einem Siegeszuge, denn überall machte ihre Schönheit den tiefsten Eindruck und gewann ihr alle Herzen im Fluge. Nicht nur die Edelherren waren begeistert von ihrem Liebreiz, auch die Edelfräulein priesen ohne Neid und in schwärmerischen Worten die Anmut und unnachahmliche Grazie Henriettens. Man bedauerte allgemein, daß die Reihe der Ehrendamen schon vollzählig sei, und beneidete die jungen Mädchen, denen es geglückt war, eine Stelle an ihrem Hofe zu erhalten.
Am Weichbilde von Paris hatte Monsieur, ihr künftiger Gemahl, sie empfangen, und die schwerfällige Reisekutsche war gegen eine prunkvolle Karosse vertauscht worden. Die Begleiter der Prinzessin wurden Monsieur vorgestellt, und alsbald fiel dem Prinzen das seltsame Benehmen Lord Buckinghams unangenehm auf. Chevalier von Lorraine, sein zweiter Günstling, ließ es sich, intrigant wie er war, nicht entgehen, den Stachel der Eifersucht in das Herz des Bräutigams zu senken. Orléans runzelte die Stirn, dann schüttelte er die Locken und sagte mit dem fast weibischen Schmollen, das ihm eigen war: »Weshalb soll ich mir wegen meiner Kusine das Herz schwer machen? Kenne ich sie denn nicht? Bin ich nicht mit ihr großgeworden? Habe ich sie nicht als Kind im Louvre gesehen?« – »Es ist ein Unterschied, Hoheit,« versetzte der Chevalier. »Damals war sie noch nicht so lebhaft – vor allem noch nicht so stolz – konnte sich auch nicht so vorteilhaft, so kokett kleiden wie heute. Besinnen Sie sich noch darauf, Monsieur, daß der König eines Abends nicht mit ihr tanzen wollte, weil er ihre Toilette abgeschmackt fand?« – Orléans wandte sich mißmutig ab, denn in dieser Erinnerung lag nichts eben Schmeichelhaftes für ihn.
Die Prinzessin und ihre Mutter wurden im Louvre einquartiert, in demselben Palast, wo sie während ihres Exils alle Bitternis des Elends durchgekostet hatten. Jetzt aber sah es anders darin aus, anders empfing man sie jetzt. Die Zimmer waren gesäubert, geheizt und aufs prachtvollste eingerichtet. Die Dienerschaft, die ihnen früher fast geringschätzig begegnet war, betätigte sich mit allem Eifer tiefster Ergebenheit, überall salutierten die Ehrenwachen, ein ganzer Troß von Hofleuten tummelte sich in den Antichambres. Schöne junge Damen warteten der königlichen Braut auf Schritt und Tritt auf, und auf demselben Tische, auf dem zur Zeit der Verbannung kaum ein Stückchen Brot gelegen hatte, wurde jetzt ein köstliches Mahl serviert, das ihnen zur ersten Erfrischung nach der langen Reise dienen sollte. Nachdem die Prinzessinnen von ihren Gemächern Besitz genommen hatten, war das Ehrengeleit entlassen.
5. Kapitel. Ein Wiedersehen
Rudolf von Bragelonne wollte seinen Vater aufsuchen, aber Athos war schon wieder nach Blois gereist. Auch d'Artagnan fand er nicht; der Chevalier war mit der Einrichtung eines neuen königlichen Militärinstituts beschäftigt. Graf Guiche hatte auch keine Zeit; denn er war fest entschlossen, den Kampf mit Buckingham um die Gunst Henriettens bis aufs äußerste auszufechten, und sollte er sich darüber ruinieren. Buckingham war aus diesem Grunde ebenfalls nicht zu sprechen; er verschwendete ein Vermögen, um so prunkvoll wie möglich aufzutreten und alle andern Kavaliere in den Schatten zu stellen. Da Bragelonne nun gar nicht wußte, was er mit seiner Zeit beginnen sollte, so schrieb er an Fräulein von Lavallière. Er schrieb ihr Briefe, erhielt aber keine Antwort.
Da meldete eines Morgens sein Diener »Herrn von Malicorne« an. »Soll warten,« versetzte Rudolf mürrisch. »Was will der Kerl von mir?« – »Der Herr kommt aus Blois,« antwortete der Diener. – »O, dann laß ihn gleich herein!« rief der Vicomte. – Malicorne, wie ein echter und rechter Kavalier von vornehmstem Geblüt aufgeputzt, trat herein, grüßte anmutig und begann: »Herr Graf von Bragelonne, ich habe Grüße von einer Dame zu überbringen.« – Rudolf errötete. – »Von einer Dame aus Blois?« fragte er. – »Ja, Herr Vicomte, von Fräulein Aure von Montalais.« – »Ah so, jetzt besinne ich mich,« rief Rudolf. »Was wünscht das Fräulein von mir?« – Malicorne zog vier Briefe aus der Tasche und gab sie dem Grafen. – »Meine Briefe!« rief dieser erblassend. »Und noch nicht geöffnet!« – »Herr Vicomte, sie haben die Person, an die sie gerichtet sind, nicht mehr in Blois erreicht. Fräulein von Montalais, die Ihre Schrift und Ihr Siegel erkannt hat, schickt sie Ihnen zurück.« – »Sehr liebenswürdig,« sagte Rudolf, »das war Fräulein Aure ja immer. Also ist Fräulein von Lavallière nicht mehr in Blois? Wo ist sie denn? In Paris?« – »Vielleicht sagt Ihnen dieser Brief das Nähere,« antwortete Malicorne, ein zweites Päckchen hervorziehend. – Rudolf erbrach das Siegel. Das Schreiben war von der Montalais und lautete: »Wenn Sie Fräulein Luise wiedersehen wollen, so seien Sie am Tage der Vermählungsfeier im Palais-Royal zu Paris.« – »Was bedeutet das?« rief der Vicomte. »Können Sie es mir sagen, Herr Malicorne?« – »Ich weiß nicht,« antwortete dieser mit diskretem Lächeln. »Fräulein von Montalais hat mir's streng verboten. Ich möchte Sie um eine Gefälligkeit bitten, Herr Graf.« – »Zum Lohn für diese Botschaft?« – »Ganz recht. Ich möchte gern die Vermählungsfeier sehen und habe keine Einlaßkarte. Könnten Sie mir eine verschaffen?« – »Sehr gern.«
So kam es, daß man am Tage der Vermählungsfeier, die in Gegenwart einer Anzahl streng ausgesuchter Höflinge stattfand, das bescheidene Antlitz des Herrn Malicorne darunter erblickte, sehr zur Verwunderung des Fräulein von Montalais, deren neugierige Augen jeden einzelnen der Anwesenden aufmerksam musterten.
Graf Guiche hatte sein prächtigstes Gewand angelegt, doch stand der schwermütige Ausdruck seines Gesichts im Widerspruch dazu; das gleiche konnte man von Buckingham sagen, der blaß wie ein Toter war. Der Prinz von Condé betrachtete mit Befremden diese beiden Bilder der Trostlosigkeit, die wie regungslose Säulen zu beiden Seiten der Kapelle standen.
Nach beendeter Trauung begaben sich der König und die Königin in den Prunksaal, wo sie sich Madame und ihr Gefolge vorstellen ließen. Man bemerkte, daß der König von der Schönheit seiner Schwägerin sehr angenehm überrascht war und ihr herzliche Komplimente sagte. Man bemerkte auch, daß Anna von Oesterreich einen langen träumerischen Blick auf den Herzog von Buckingham warf, worauf sie zu Frau von Motteville sagte: »Finden Sie Aehnlichkeit mit seinem Vater?« – Man bemerkte endlich, daß Monsieur seine Augen unstet umherschweifen ließ und sich nicht glücklich zu fühlen schien.
Eine Anzahl von jungen Mädchen trat nun in den Saal, geführt von Frau von Noailles, und jeder Kenner von Frauenschönheit mußte die Auswahl bewundern, die man unter den jugendfrischsten Aristokratinnen Frankreichs getroffen hatte. Die Vorstellung der Ehrendamen begann mit einer jungen Blondine von 21 Jahren. »Fräulein von Tonnay-Charente,« sagte die alte Frau von Noailles zu Monsieur. – »Diese scheint ganz passabel zu sein,« flüsterte Prinz von Condé Rudolf zu. »Ich bin neugierig, ob man geschmackvoll gewählt hat. Sehen Sie da! Schon wieder eine Schönheit.«
Frau von Noailles stellte vor: »Fräulein Aure von Montalais!« – Rudolfs Blick richtete sich auf die nächste Dame. »Großer Gott!« klang es leise von seinen Lippen. – »Was gibt es?« flüsterte Condé erstaunt. – »Nichts, Hoheit, nichts!« – »Ah, Sie bewundern die kleine Blondine, die nun an die Reihe kommt. Wunderhübsche Augen – ein bißchen mager, aber sehr anmutig.« – Und Frau von Noailles stellte vor: »Fräulein von Labaume-Leblanc und von Lavallière.« – Rudolf hatte das Gefühl, als legte sich eine Wolke über seine Augen. »Luise hier!« murmelte er. »Luise Ehrenfräulein bei der Prinzessin!« – Da begegnete sein Blick den funkelnden Augen der Montalais, die sich an seinem Erstaunen zu weiden schien. Luise ihrerseits stand wie geblendet da, ihr Busen hob sich stürmisch, und sie zog sich so rasch wie möglich aus der Nähe des herzoglichen Paares zurück.
Plötzlich stutzte Rudolf. Ganz in seiner Nähe war Luisens Name genannt. Er sah sich um und erblickte die Herren von Guiche, von Lorraine und von Wardes, die sich leise unterhielten. Es ist eine Kunst, die nur der gewandte Höfling vollkommen beherrscht, sich zu unterhalten, ohne die bei höfischen Zeremonien vorgeschriebene Haltung zu ändern. Während bei den Cercles nur die Majestäten sprechen dürfen und alle Anwesenden tiefstes Schweigen zu wahren haben, werden da oft unter abgesonderten Gruppen verstohlene Gespräche geführt, bei denen die Schmeichelei nicht immer die vorherrschende Note bildet.
Es war die Stimme von Wardes', die an Rudolfs Ohr schlug. »Was ist das für eine Montalais?« flüsterte er. »Was ist das für eine Lavallière? Was für eine Provinz haben wir da erhalten?« – »Die Montalais ist ein nettes Ding,« sagte Chevalier von Lorraine. »Sie wird uns viel Spaß machen. Die Lavallière ist bildschön, wenn sie auch hinkt.« – »Vorsicht, meine Herren!« murmelte Graf Guiche, der Rudolf bemerkt hatte. Von Wardes folgte dem Blick Guiches und erkannte Bragelonne. Ohne sich an Guiches Warnung zu kehren, fragte er: »Wer sind die Geliebten dieser beiden Damen?« – »Sie sind noch zu haben,« meinte Lorraine. »Wer sie will, hat sie.« – »Meine Herren, nehmen Sie sich doch in acht,« sprach Graf von Guiche. »Madame sieht nach uns.«
Rudolf zerknitterte vor Zorn seine Spitzenkrause. »Die arme Luise,« dachte er, »sie wird hier meines Schutzes bedürfen. Die Vorstellung war beendet. Der König verließ mit seiner Gattin und seiner Mutter den Saal. Chevalier von Lorraine nahm seinen Platz an der Seite Monsieurs wieder ein und während er ihn begleitete, flößte er ihm ein paar Tropfen jenes Giftes ein, das er in den letzten Stunden angesammelt hatte. Ein Teil der Gesellschaft war mit dem König hinausgegangen, aber diejenigen Herren, die sich gern das Ansehen der Unabhängigkeit gaben, blieben zurück und näherten sich nun den Damen. Prinz von Condé knüpfte ein Gespräch mit Fräulein von Tonnay-Charente an, Buckingham machte den Damen von Chalois und von Lafayette den Hof, welche sich der besonderen Gunst Madames erfreuten. Graf von Guiche sprach mit Madame von Valentinois, seiner Schwester, und mit den Fräulein von Acquay und von Chantillon.
Inmitten dieser plaudernden, lachenden, kokettierenden Gruppen suchte Rudolf Fräulein von Lavallière. Er begrüßte sie mit der größten Ehrerbietung. Luise verneigte sich errötend und wußte nicht, was sie sagen sollte. Doch die Montalais kam ihr zu Hilfe. – »Sie wünschen eine Erklärung, Herr Vicomte?« rief sie. »Sie begreifen nicht, wie es kommt, daß wir hier sind?« – »Allerdings,« antwortete Rudolf. »Fräulein von Lavallière Ehrenfräulein bei Madame? Und Sie auch? – meinen Glückwunsch dazu, meine Damen!« – »Sie sagen das nicht eben mit einer Gratulantenmiene,« schmollte Fräulein Aure. – »Herr von Bragelonne denkt vielleicht, dieser Platz sei über meinem Stande,« sagte Luise.
»Nicht doch, mein Fräulein!« rief Rudolf. »Daß ich das nicht denke, wissen Sie recht wohl. Mich würde es nicht befremden, wenn Sie den Platz einer Königin einnähmen. Mich wundert nur, daß ich es erst heute und ganz zufällig erfahren habe.« – »Das ist wahr,« sagte die Montalais rasch. »Aber das ist mein Werk. Er hat vier Briefe an dich geschrieben, Luise, aber da deine Mutter noch in Blois war und die Briefe ihr auf keinen Fall in die Hände geraten durften, ließ ich sie zurückgehen.« – »Wie? Und du hast dem Herrn Vicomte nichts mitgeteilt? Ich bat dich doch darum,« sagte Luise vorwurfsvoll. – »Mein Himmel! es hat ja auch soviel mit Toiletten und andern wichtigen Anschaffungen zu tun gegeben, daß ich wahrlich keine Zeit hatte, mir den Kopf mit dem Herrn Vicomte zu beschweren,« versetzte die Montalais ausgelassen. »Er weiß es jetzt und damit gut.« Und sich umdrehend, setzte sie hinzu: »Kommen Sie, Herr Malicorne! Geben Sie mir die Hand. Wir müssen die beiden Herrschaften hier ein Weilchen allein lassen.« – »Pardon, Fräulein Aure,« rief Rudolf mit einem Ernst, der zu ihrer Lustigkeit in scharfem Widerspruch stand, »darf ich wenigstens den Namen des Gönners erfahren, der Ihnen und Fräulein Luise diese Stelle verschafft hat.« – »Hier steht er,« war die Antwort. – Rudolf war ganz bestürzt; er wollte sich an Malicorne wenden, um näheres zu erfahren, aber die Montalais zog den jungen Mann rasch mit sich fort.
Fräulein von Lavallière machte eine Bewegung, als wollte sie ihrer Freundin folgen, doch Rudolf hielt sie zurück. »Ich bitte um ein Wort, Luise.« – »Aber wir sind allein,« antwortete Luise errötend. »Man wird uns suchen.« – »Seien Sie unbesorgt. Wir beide sind keine so wichtigen Personen, daß unsere Abwesenheit auffallen wird. Und Ihr Dienst beginnt erst morgen. Gönnen Sie mir einige Minuten!« – »Sie sind so ernst, Rudolf,« sagte Luise zaudernd. – »Weil die Umstände ernst sind, mein Fräulein. Hören Sie mich an! Sie wissen, Luise, ich habe Sie seit meiner Kindheit geliebt und Sie zur Teilhaberin all meines Kummers, all meiner Freuden gemacht. Sie erwiderten meine Freundschaft und brachten mir unbegrenztes Vertrauen entgegen? Warum haben Sie das jetzt nicht auch getan? Warum haben Sie mir dies verheimlicht? Ich war des Glaubens, Sie liebten mich und willigten in die Pläne, die ich zu unserm beiderseitigen Glück geschmiedet habe? Sie antworten nicht, Luise? Lieben Sie mich denn nicht mehr? Dann sagen Sie es mir! Denn ich habe die ganze Hoffnung meines Lebens auf Sie gesetzt. Und nun sehe ich Sie hier in der Atmosphäre des Hofes, wo alles Reine in kurzer Zeit verdorben wird vom Hauch des Lasters, wo die Jugend schnell altert, Keuschheit und Zartheit rasch entschwindet. Luise, schließen Sie die Ohren, um all die schmutzigen Worte nicht zu hören, die hier umherschwirren, schließen Sie die Augen, um die vielen bösen Beispiele nicht zu sehen, die hier jeder Tag mit sich bringt, schließen Sie die Lippen, um die vergiftete Luft nicht einzuatmen. O, Luise, ich liebe Sie mehr als je, nun ich Sie hier in Gefahr sehe! Ich bin entschlossen, Sie vor frechen Händen zu schützen, und an diesem Hofe, wo eine Prinzessin von leichtfertiger Natur, eine Freundin der Koketterie herrscht, hier dürfen Sie nicht lange bleiben. Wir müssen uns heiraten, Luise. Hier ist meine Hand, schlagen Sie ein!«
»Mein Gott!« rief Luise. »Aber Ihr Vater ...«
»Er läßt mir freie Wahl. Doch gut, ich will noch einmal mit ihm sprechen. Schon jetzt kann ich Ihnen versichern, mein Vater wird Ja sagen. O geben Sie mir Ihre Hand! Lassen Sie mich doch nicht glauben, ein einziger Schritt ins Königsschloß hätte genügt, Sie völlig umzuwandeln.«
Als Rudolf diese Worte gesprochen, wurde Luise plötzlich totenblaß, ohne Zweifel, weil sie fürchtete, der junge Mann werde zu heftig werden. Blitzschnell legte sie ihre kleinen Hände in die seinen, drückte sie rasch, entzog sie ihm dann ebenso schnell wieder und verschwand, ohne sich nach ihm umzusehen. Rudolf empfand einen leisen Schauer bei der Berührung dieser Hände. Er nahm den stillen Schwur wie ein feierliches Gelübde hin, das die Liebe der jungfräulichen Schamhaftigkeit abgerungen.
Er verließ das Palais-Royal, stieg zu Pferde und machte sich ohne Umstände auf den Weg nach Blois. Er legte die Strecke in achtzehn Stunden zurück. Athos saß in seinem Zimmer, als Rudolf, dem Grimaud voranging, hereintrat.
Auf den ersten Blick erkannte Athos, daß ein besonders wichtiges Anliegen seinen Sohn herführe. Er fragte danach. – »Ja, Vater,« antwortete der junge Mann, »und ich will ohne weiteres meine Sache vorbringen. Es handelt sich um Fräulein von Lavallière. Sie ist jetzt Ehrenfräulein bei Madame. Ich habe mich reiflich geprüft und alles wohl erwogen; ich kann, ich darf sie nicht auf diesem Posten lassen, wo ihr Ruf, vielleicht sogar ihre Tugend gefährdet ist. Ich möchte sie also heiraten und bitte um Ihre Einwilligung.«
Athos schwieg und sah seinen Sohn ernst und bekümmert an. – »Und hast du es wohl überlegt?« fragte er nach einer Pause. – »Ja, Vater.« – »Ich glaube, ich habe dir meine Meinung über diese Verbindung bereits gesagt.« – »Ich weiß,« versetzte Rudolf, »doch sagten Sie, wenn ich durchaus dabei beharrte –« – »Und das tust du?« – Bragelonne antwortete mit einem Ja, zu dem er alle Kraft aufbieten mußte, so schwer ward es ihm, gegen den geliebten Vater den Willen durchzusetzen. –
»Deine Liebe muß sehr groß sein,« fuhr Athos fort, »daß du trotz meiner Abneigung nicht von dem Mädchen läßt. Gut, meine persönlichen Anthipatien tun nichts zur Sache; es kommt nur auf deine Meinung dabei an Du bittest also um mein Jawort?« – »Ja, Vater, und um Fürsprache beim König. Schreiben Sie an Majestät und bitten Sie um Erlaubnis zu der Heirat, denn ich stehe ja im königlichen Dienst.« – »Ein guter Gedanke, Rudolf; denn du unterziehst dich dadurch einer doppelten Prüfung. Ich werde sogleich deinen Wunsch erfüllen.« Er trat ans Fenster und rief hinaus: »Grimaud! Meine Pferde!«
»Was bedeutet das, Vater?« – »Daß wir in zwei Stunden nach Paris reiten,« antwortete der Graf. »Ich will, statt zu schreiben, persönlich mit dem König sprechen. Wie ist Seine Majestät gegen dich gesinnt?« – »Er will mir wohl. Ich weiß es aus seinem eignen Munde.« – »Wann hat er dir das gesagt?« – »Erst gestern noch, auf eine Empfehlung des Chevaliers d'Artagnan hin. Majestät lobten mein Verhalten bei dem kleinen Aufruhr auf dem Grèveplatze. Doch, mein Vater! Seien Sie nicht so ernst, so förmlich zu mir, ich könnte es sonst doch noch bereuen, einem unwiderstehlichen Drange nachgegeben zu haben.« – »Das sagtest du schon einmal, Rudolf, ist aber nicht nötig. Du verlangst meine Einwilligung – ich gebe sie. Damit gut! Reden wir nicht mehr davon.«
Rudolf biß sich in die Lippen. Er fühlte, daß ihm das Blut in die Wangen stieg. – »Mein Vater, wir müssen davon reden. Vergessen Sie nicht, Ihr Sohn ist ein Mann.« – »Daß du mein Sohn bist, beweisest du keineswegs – nun, so beweise mir, daß du ein Mann bist,« antwortete der Graf de la Fère in strengem Tone. »Junge, ich bat dich zu warten. Ich hätte dir in den Reihen des erlauchten Adels eine Frau ausgesucht; ich wollte dich glänzen sehen im doppelten Licht des Reichtums und des Ruhmes. Den Adel des Geschlechts hast du – –«
»Vater,« unterbrach ihn Rudolf mit Ungestüm, »mir wurde es vor kurzem zum Vorwurf gemacht, daß ich meine Mutter nicht kenne –« – Athos fuhr auf, wie von einer Nadel getroffen. – »Was hast du geantwortet?« rief er. – »Ich zog das Schwert, schlug meinem Gegner den Degen aus der Hand, daß er über eine Barriere flog, und schickte ihn selber hinterher.« – »Und stachest ihn nicht nieder?« – »Seine Majestät hat die Duelle verboten, und ich war in diesem Augenblick des Königs Abgesandter.«
»Gut,« antwortete Athos. »Ein Grund mehr, nach Paris zu reisen und mit dem König zu sprechen. Er wird mir erlauben, gegen den, der diese Beleidigung ausgesprochen, das Schwert zu ziehen. Nenne mir seinen Namen.« – »Ich werde nicht dulden, daß Sie Ihr Leben aufs Spiel setzen.« – »Seinen Namen!« rief de la Fère. – »Vicomte von Wardes.« – »Den kenne ich. – Unsere Pferde stehn bereit – wir reisen auf der Stelle!«
6. Kapitel. Eifersucht
Anna von Oesterreich saß in ihrem Zimmer und schrieb, als ihr Sohn, Monsieur, der Herzog von Orléans, eintrat. Er war um seines hübschen Gesichts willen der Liebling der Mutter und von ihr fast noch mehr verwöhnt und verhätschelt worden als Ludwig, der ältere. Anna hätte sehr gern eine Tochter gehabt und fand in diesem weibisch veranlagten Sohn einen Ersatz dafür.
Philipp küßte seiner Mutter zerstreut die Hand und nahm Platz, ohne von ihr dazu aufgefordert zu sein. Das war ein Verstoß gegen die Etikette, den die sehr auf Konvenienz haltende Königin gewiß nicht ungerügt gelassen hätte; doch hielt sie ihn der offenbaren Zerstreuung ihres Sohnes zugute.
»Was fehlt dir, Philipp?« fragte sie befremdet. – »Vielerlei, Mama,« antwortete er in kläglichem Tone. Und er schien bereit, allem Verdruß, den er empfand, Luft zu machen; doch ganz plötzlich hielt er inne und schwieg seufzend. – »Nun, so sprich doch, Philipp,« sagte Anna. »Handelt es sich um Madame, deine Gemahlin? Dann tu dir keinen Zwang an. Ich bin deine Mutter, und sie ist meine Schwiegertochter. Ich werde dir mit Teilnahme zuhören.«
»Nun, Frau Mama, frei heraus – ist Ihnen selbst nichts aufgefallen?« fragte der Prinz. – »Was denn? du drückst dich sehr unklar aus –« – »Sie wissen, Frau Mama, ich wollte noch nicht heiraten und habe es nur mit Widerstreben getan –« – »Philipp, wie du das sagst! Mit was für einem Gesicht!« rief die Königin-Witwe. »Nimm dich in acht! Man wird glauben, du seiest mit deiner Ehe nicht zufrieden.« – »Bin ich auch nicht – mache gar kein Hehl daraus. Offen gesagt, Frau Mama, ich habe mir das Leben als Ehemann anders gedacht. Was denn? Meine Gemahlin gehört ja eigentlich gar nicht mir. Wann ist sie denn bei mir? Sie wird von allen möglichen Leuten besucht und in Anspruch genommen, schreibt nachmittags Briefe und gibt abends Bälle und Konzerte.«
»Also eifersüchtig, Philipp?« – »Gott bewahre, das überlasse ich andern. Aergerlich bin ich.« – »Was du da vorgebracht hast, das sind lauter harmlose Dinge, und solange du nichts Ernsthaftes –« – »Muß denn eine Frau gleich schuldig sein? Sie kann einem trotzdem schon das Leben schwer machen. Sie kann gewisse andere Herren in einer Weise bevorzugen, die selbst einen nichts weniger als eifersüchtigen Ehemann außer sich bringen kann.«
»Und wen bevorzugt Madame in solcher Weise?« fragte Anna. – Philipp kreuzte die Arme und sah seine Mutter mit einem Blicke an, als wenn er überzeugt sei, daß sie auf das, was er nun sagen werde, nichts zu antworten wissen würde. – »Den schönen Herzog von Buckingham,« sagte er. »Wenn Sie schon Madame in Schutz nehmen, werden Sie auch ihn verteidigen. Er ist in Madame verliebt.«
Anna von Oesterreich errötete und lächelte. Der Name Buckingham erweckte süße Erinnerungen in ihr. – »Buckingham,« wiederholte sie leise. – »Ja, ein richtiger Don Juan, wie mir scheint.« – »Die Buckinghams sind brav und gut,« erwiderte Anna. – »Ei, Frau Mama nehmen einen Galan in Schutz?« rief Philipp erbittert. – »Mein Sohn,« unterbrach ihn die Königin-Witwe mit Wärme. »Dieser Ausdruck ist deiner unwürdig. Deine Gemahlin kann keinen Galan haben, und ein Buckingham kann kein Galan sein. Er stammt aus einem makellosen Geschlecht.« – »Er ist ein Engländer,« erwiderte Philipp, »und die Engländer haben wenig Respekt vor fremdem Eigentum.« – Die Königin-Witwe errötete. – »Du sprichst ohne Ueberlegung,« fiel sie ihm ins Wort. – »Da ist nichts zu überlegen,« versetzte er. »Habe ich denn keine Augen?«
»Nun, was zeigen dir deine Augen?« – »Daß Buckingham nicht von der Seite meiner Frau weicht. Er macht ihr Geschenke, und sie nimmt sie an.« – »Nun, sie sind Landsleute, es ist nichts Schlimmes dabei,« antwortete die Königin-Witwe. »Deine Torheiten erinnern mich schmerzlich an deinen Vater – er hat mir auch oft wehgetan.« – »Buckingham, der Vater, war gewiß zurückhaltender als Buckingham, der Sohn,« sagte Philipp unbesonnen.
Anna von Oesterreich preßte die Hand auf die Brust. Nur mit Mühe faßte sie sich. »Nun, was willst du denn eigentlich von mir?« fragte sie. – »Mich beschweren – aufs nachdrücklichste,« antwortete Monsieur. »Ich werde mir von Buckingham nichts gefallen lassen und mich im Notfall an den König selbst wenden. Oder,« setzte er in einem Tone der Festigkeit hinzu, der sonst seiner weibischen Natur fremd war, »mir selbst mein Recht verschaffen.«
»Was verstehst du darunter?« fragte Anna. – »Ich will, daß Buckingham meine Frau in Ruhe läßt. Er muß fort aus Frankreich – und ich werde ihm das sagen lassen.« – »Das wirst du nicht tun, Philipp,« rief die Königin-Mutter. »Es wäre gegen das Gastrecht, und du würdest den König erzürnen. Ein unhöfliches Benehmen gegen Buckingham wäre eine Spitze gegen England selbst und könnte zum Zwiespalt führen. Und hier liegt außerdem eine faktische Beleidigung gar nicht vor. Es ist nichts als Eifersucht auf deiner Seite. Ich ermahne dich daher zur Geduld.«
»Ich habe keine Lust mehr, mich narren zu lassen,« rief Philipp und erhob sich. »Wenn Buckingham nicht mein Haus verläßt, so werde ich es ihm verbieten.« – Anna von Oesterreich erhob sich ebenfalls – steif und förmlich. – »Dann allerdings muß mit dem König darüber gesprochen werden,« sagte sie bewegt. – »Frau Mama!« rief Philipp. »Sprechen Sie doch jetzt mit mir als Mutter, nicht als Königin, denn ich spreche ja auch mit Ihnen als Sohn. Was soll ich denn tun?« – »Ueberlasse alles mir,« antwortete sie in wärmerem Tone. »Laß dir weder gegen deine Gemahlin, noch gegen den König, noch gegen Buckingham etwas merken. Sage dem Herzog, wenn du ihn siehst –« – »Wie soll ich ihn nicht sehen?« unterbrach sie der Sohn. »Er ist ja stets in den Zimmern meiner Frau –« – »Sage ihm nichts weiter,« fuhr die Königin fort, »als daß ich ihn um einen Besuch bitte.« – Philipp küßte seiner Mutter die Hand und ging.
Lord Buckingham folgte der Einladung der Königin-Mutter und ließ sich eine halbe Stunde später bei ihr melden. Die Königin stand auf und erwiderte mit huldvollem Lächeln die graziöse Begrüßung des Herzogs. Anna von Oesterreich war noch immer schön. Trotz ihres Alters erregte ihr blondes Haar und das frische Rot ihrer Lippen die Bewunderung aller, die sie sahen. In diesem Augenblick verlieh ihr die zärtliche Erinnerung, der sie sich überließ, einen besonderen Reiz, und sie schien noch so berückend, wie in den Tagen ihrer Jugend, als der junge, leidenschaftliche Vater dieses Buckingham vor ihr stand – jener Unglückliche, der nur für sie gelebt und mit ihrem Namen auf den Lippen gestorben war.
Sie warf auf den Herzog einen Blick, der zwischen dem einer liebenden Mutter und dem einer sich noch schön fühlenden Frau zu schwanken schien, und bat ihn auf englisch Platz zu nehmen. Es war eine große Zuvorkommenheit, daß die ältere Dame den jungen Kavalier in der Sprache seines Landes anredete. Buckingham wußte das und war durch diesen freundlichen Empfang tief ergriffen. »Mylord,« begann Anna von Oesterreich, »wie finden Sie Frankreich?« – »Ein schönes Land, Majestät.« – »Aber wie jeder Engländer ziehen Sie Ihr Vaterland vor?« fragte die Königin weiter. – »Mein Vaterland, ja,« antwortete der Herzog diplomatisch. »Aber wenn die Frage zwischen London und Paris liegt, so ist mir Paris lieber.« – »Ich habe gehört, Sie besitzen drüben schöne Güter und bewohnen einen prachtvollen Palast,« sagte Anna. – »Es ist meines Vaters Palast,« antwortete der Herzog, die Augen niederschlagend.
»Teure Erinnerungen müssen Sie an diesen Ort knüpfen,« sprach die Fürstin, selbst von solchen Erinnerungen berührt. »Da werden Sie gewiß Frankreich bald verlassen, um diesen Schätzen wieder nahe zu sein.« – Buckingham sah befremdet auf. – »Ich glaube im Gegenteil,« versetzte er rasch, »ich werde England verlassen, um dauernd in Frankreich zu wohnen.« – »Ah,« rief Anna, »so stehen Sie bei dem neuen König nicht in Gunst?« – »Im Gegenteil, der König schenkt mir unbegrenztes Wohlwollen.« – »Dann müssen Sie einen geheimen Grund haben,« sagte Anna.
»Nein,« erwiderte Buckingham lebhaft. »es ist gar nichts Geheimes dabei. Es gefällt mir in Frankreich – ich fühle mich wohl an diesem Hofe – man findet hier Geschmack und feine Sitte – und Genüsse, die es in meiner Heimat nicht gibt.« – »Aber ein Mann von Ihrem Range darf doch über die Genüsse nicht vergessen –« begann die Königin. – »Majestät scheinen zu viel Gewicht auf diesen Punkt zu legen,« unterbrach der Brite sie. – »Das Leben in der Heimat geht über alles, Herzog,« fuhr die Königin-Witwe fort, »ich bin lange von meinem Vaterlande fort, und doch ist kein Jahr verflossen, wo ich mich nicht danach gesehnt hätte.«
»Kein einziges?« erwiderte der Lord. »Auch keins von denen, wo Majestät die Königin der Schönheit waren – was Sie übrigens heute noch sind?« – »O, keine Schmeicheleien, Mylord,« rief Anna. »Ich bin eine alte Frau – ich könnte Ihre Mutter sein.« – Sie sagte diese Worte in seltsam warmem Tone. – »Ja, Mylord,« fuhr sie fort, »ich könnte Ihre Mutter sein, und deshalb gebe ich Ihnen einen guten Rat.«
»Nach London zurückzukehren?« rief er. – »Ja, Mylord,« antwortete sie. – Er faltete mit einem Ausdruck des Entsetzens die Hände. – »Wie, ich soll abreisen? Mich selbst verbannen?« rief er. – »Ei, möchte man doch fast glauben, Sie seien in Frankreich daheim!« sagte die Fürstin. – »Majestät, ein Liebender ist dort daheim, wo die Geliebte weilt.« – »»Kein Wort mehr, Mylord!«
fiel Anna ihm ins Wort. »Sie vergessen, mit wem Sie reden. Sie verraten sich!« – Buckingham sank aufs Knie. – »Ich habe nichts gesagt – ich weiß nichts,« stammelte er. »Und übrigens, wir reden ja unter vier Augen – es weiß ja niemand, daß Majestät mit mir darüber sprechen.« – »Doch, Mylord, man weiß es,« antwortete Anna. – »Wie?« rief der Herzog außer sich. »Wer hat mich denunziert? Madame, es gibt Geheimnisse, die denen, die sie aufdecken, das Leben kosten!« – »Wie töricht! Der, der Ihr Geheimnis entdeckt hat, ist Ihrem Arm entrückt: er ist mit allem Recht gewaffnet und obendrein ein Ehemann voller Eifersucht. Es ist mein Sohn, der Herzog von Orléans.«
Buckingham erblaßte. – »Majestät sind grausam,« stieß er hervor. – Die Königin ergriff seine Hand, »Villiers,« sagte sie mit Ungestüm, »was verlangen Sie? soll eine Mutter ihren Sohn opfern? soll eine Königin dulden, daß Schmach über ihr Haus kommt? Schlagen Sie sich das aus dem Sinn! Sie reden von den Verstorbenen; die waren wenigstens ehrerbietig und gehorsam – fügten sich geduldig in die Verbannung und nahmen die Verzweiflung mit sich wie einen Schatz, den sie in ihr Herz schlossen.«
Verstörten Antlitzes stand Buckingham auf. »Majestät haben recht,« versetzte er; »doch jene, von denen Sie reden, erhielten den Befehl der Verbannung aus einem geliebten Munde – man trieb sie nicht fort – man bat sie abzureisen.« – »Und wer treibt denn Sie fort? Ich rede hier ja nur für mich selbst. Ich verlange einen Gefallen, den Sie mir persönlich tun sollen. Ich möchte auch dies noch einem Ihres Namens zu verdanken haben.« – »Ich bin in Verzweiflung, Majestät – was Sie sagen, ist wohl ein Trost, doch er wird mir nicht genügen–« – »Freund,« erwiderte die Königin mit huldvollem Lächeln, »haben Sie Ihre Mutter gekannt?« – »Nur wenig,« antwortete er, »doch erinnere ich mich, daß die edle Dame mich mit Küssen bedeckte, wenn ich weinte.«
»Villiers,« flüsterte die Königin und schlang den Arm um den Hals des jungen Mannes, »ich fühle für Sie wie eine Mutter – und ich will nicht, daß Sie weinen.« – »Dank, gnädigste Frau,« antwortete er bewegt, »ich fühle, mein Herz hat noch für ein tieferes, sanfteres Gefühl als die Liebe Raum. Wann soll ich reisen?« – »Uebermorgen abend; es darf nicht auffallen,« antwortete sie, ihm die Hand drückend. »Kündigen Sie jedoch heute schon Ihren Entschluß an.« – »Und ich darf nie nach Frankreich zurückkehren?« – Anna schwieg einen Moment, dann rief sie heiter: »Nun, kommen Sie in zwei Jahren wieder. Ich lese trotz aller augenblicklichen Trauer in Ihrem Antlitz, daß die Gedanken, die Sie heute bestürmen, in sechs Monaten vergessen sein werden.« – »Die Zeit geht am Herzen eines Buckingham spurlos vorüber,« antwortete der Lord. – »Still, still!« fiel Anna ihm ins Wort und küßte ihn auf die Stirn. »Nicht weich werden – ich bin die Königin, Sie sind Untertan Karls II. Ihr Souverän erwartet Sie. Villiers, farewell!« – »For ever!« rief Buckingham und eilte, die Tränen verschluckend, hinaus. Anna preßte die Hand aufs Herz. – »Arme Königin!« flüsterte sie. »Jawohl, die Zeit geht für das hier drinnen spurlos vorüber. In einem Winkel des Herzens bleibt man immer zwanzig Jahre alt.«
7. Kapitel. Feindseligkeit
Am Abend desselben Tages, an welchem Lord Buckingham diese Unterredung mit der Königin-Witwe hatte, trafen die Grafen de la Fère und von Bragelonne in Paris ein. Rudolf ließ sofort für seinen Vater um eine Audienz beim König bitten. Majestät hatte eben die Spielpartie aufgehoben, um noch mit Fouquet und Colbert zu arbeiten. – »Ich habe noch eine Stunde für mich,« sagte der König. »Man lasse den Grafen de la Fère vor.«
Athos wurde mit jenem Wohlwollen empfangen, das Ludwig XIV. mit einem für seine Jugend überraschenden Takt zu äußern verstand. »Graf,« sagte er, »gestatten Sie mir zu hoffen, daß Sie etwas von mir zu erbitten haben.« – »Ich komme wirklich mit einer Bitte, Majestät,« antwortete Athos. »Doch nicht für mich, Sire, sondern für den Grafen von Bragelonne.« – »Das ist für mich dasselbe, als wenn es sich um Ihre eigene Person handelte,« sagte der König. »Sprechen Sie Herr Graf.« – »Mein Sohn wünscht sich zu vermählen. Er bittet um die Einwilligung Eurer Majestät.«
»Hat er ein reiches, standesgemäßes Fräulein ausgesucht?« fragte Ludwig XIV. – Athos zögerte. »Die Braut ist adelig,« antwortete er dann. »Doch nicht reich.« – »Das ist ein Uebel, dem wir abhelfen werden,« erwiderte der junge Monarch. – »Darum ist es mir nicht zu tun mit meiner Herkunft,« antwortete Athos fest. – »Nun, kein falsches Zartgefühl, Graf,« sagte der König. »Wie heißt die Braut?« – »Fräulein von Labaume-Leblanc und von Lavallière.« – »Den Namen kenne ich,« sagte Ludwig XIV. nachsinnend. »Ein Marquis von Lavallière – doch er ist tot, wie? Ganz recht, und die Witwe heiratete noch einmal – einen Herrn von Saint-Rémy. Nun, der verdirbt die Familie ein bißchen, aber Lavallière ist gut. Das Fräulein ist jetzt Ehrendame bei Madame, nicht wahr? Mich dünkt, Graf, die Dame ist nicht sehr hübsch.« – »Mein Sohn liebt sie,« antwortete Athos. – »Ich habe nichts Besonderes an ihr gefunden,« sagte der König. »Hübsches blondes Haar allerdings und schöne blaue Augen – aber sonst –«
Athos zuckte die Achseln. – »Sie setzen mich in Erstaunen, Graf,« fuhr die Majestät fort. »Sie bitten um die Einwilligung zu dieser Heirat, aber Ihnen selbst scheint nicht viel daran gelegen zu sein. Doch, doch! Ich täusche mich selten, so jung ich auch bin. Sie tun es mit offenbarem Widerstreben.« – »Ich will ganz offen reden, Sire,« antwortete Athos, sich verneigend. »Bragelonne erträumt sich von dieser Ehe ein Paradies, und sein Glück liegt auch mir am Herzen. Doch gestehe ich aufrichtig, ich glaube nicht recht an die Liebe des Fräuleins. Sie ist fast noch ein Kind. Sie ist nun am Hofe einer jungen schönen Prinzessin, da wird sie in ihrer Freude an dem Hofleben nicht viel Sinn für einen zärtlichen Liebhaber übrig haben. Kurz, ich fürchte, es wird eine Ehe, wie wir deren viele bei Hofe haben. Doch Bragelonne will es so, also möge es geschehen.«
»Nun, auch mir liegt das Glück des Grafen von Bragelonne am Herzen,« antwortete der König entschlossen, »und deshalb verweigere ich meine Einwilligung.« – »O, Sire! welch ein Schlag für Bragelonne!« – »Den Schlag werde ich ihm selbst geben. Uebrigens sage ich ja auch gar nicht, daß er das Fräulein von Lavallière nicht heiraten solle. Ich verlange nur, daß er warte. Ich gedenke ihn besonders auszuzeichnen, er soll sich dieser Gunst erst würdig zeigen. Und auch dem Fräulein muß man Zeit lassen, ihr Glück bei Hofe zu machen. Die beiden sind noch jung. Kurz und gut, ich will, daß sie warten. Hatten Sie mir sonst noch etwas zu sagen?«
»Nichts weiter, Sire – ich nehme meinen Urlaub, um meinem Sohne diesen Bescheid zu bringen.« – »Ersparen Sie sich diese unangenehme Botschaft. Sagen Sie ihm nur, ich würde morgen vormittag selbst mit ihm sprechen. Herr Graf, Sie werden heute abend an meiner Spielpartie teilnehmen.« – Athos ging mit einer Verneigung hinaus. Draußen erwartete ihn Bragelonne. – »O, Sie bringen mir keine gute Nachricht!« rief der junge Mann nach einem Blick auf das Gesicht seines Vaters. – »Majestät ist sehr gütig zu uns,« antwortete de la Fère. »Er will morgen selbst mit dir sprechen. Mehr kann ich dir vorerst nicht sagen.«
Rudolf schwieg bestürzt. Sie schritten nebeneinander die Treppe hinab. – »Da ich einmal hier bin,« sagte Athos, »so könnte ich meinem Freunde d'Artagnan guten Tag sagen. Führe mich nach seinem Zimmer, Rudolf.« – Sie wandten sich dem Flügel des Schlosses zu, wo der Kapitän der Musketiere wohnte, als ihnen ein Lakai in der Livree des Grafen von Guiche entgegentrat. Er reichte Rudolf einen Brief. – »Sie erlauben, lieber Vater,« sagte Bragelonne und öffnete das Schreiben. Von Guiche bat ihn, augenblicklich zu ihm zu kommen, es handle sich um eine sehr wichtige Angelegenheit. Kaum hatte er diesen Brief gelesen, so trat ein Diener in der Livree des Herzogs von Buckingham auf ihn zu und überreichte ihm ein Billet. – »Du bist ja beschäftigt wie ein kommandierender General, Rudolf,« rief Athos lachend. »Nun, ich verlasse dich. Ich werde den Weg zum Chevalier schon finden.« – »Ich sehe Sie morgen noch vor Ihrer Heimreise,« sagte Rudolf. Dann öffnete er das Schreiben des Engländers.
»Herr von Bragelonne,« schrieb der Herzog, »von allen Franzosen, die ich kennen gelernt habe, sind Sie mir der liebste. Ich werde Ihrer Freundschaft bedürfen. Ich erhalte eben eine in gutem Französisch geschriebene Nachricht, die ich als Engländer nicht recht zu verstehen fürchte. Der Schreiber ist ein Mann von gutem Namen. Kommen Sie, bitte, zu mir; Sie sind ja schon wieder von Blois zurück, wie ich höre. Ihr ergebener Villiers, Herzog von Buckingham.«
Rudolf ging zuerst zu Herrn von Guiche, den er in der Gesellschaft Manicamps und de Wardes' antraf. Er schüttelte seinem Freunde die Hand und warf einen Seitenblick auf die beiden jungen Männer, um zu erkunden, was in ihrem Geiste vorgehe. Manicamp betrachtete ein paar neue prächtige Möbel, und von Wardes stand regungslos da, kalt und undurchdringlich. Von Guiche ging mit Rudolf in ein Nebenzimmer. – »Wie geht es dir, Rudolf? Du siehst gut aus,« sagte er. – »Das wundert mich,« antwortete Bragelonne. »Denn ich bin nicht sehr lustig gestimmt.« – »Geht dir's wie mir? Unglück in der Liebe! Ach, Rudolf, mir geht es aber doch noch schlechter, denn ich bin nicht nur unglücklich, sondern muß auch noch lauter glückliche Menschen um mich her sehen. Rudolf,« rief der Graf, »vergebens habe ich gegen die Leidenschaft angekämpft, die du in mir entstehen sahest; umsonst habe ich mir den Abgrund vergegenwärtigt, in den ich zu stürzen bereit bin. Ich kann nicht zurück.« – »Und doch stehst du schon hart am Rande,« unterbrach Rudolf ihn. »Ein Schritt weiter – und es ist dein Tod.« – »Weiß ich – und dennoch!« – »Wie? Bildest du dir etwa ein, Madame liebe dich?« – »Ich bilde mir nichts ein – aber die Hoffnung! sie lebt doch einmal im Menschen; man fristet sein Dasein von ihr bis ins Grab hinein.« – »Aber, Freund, zugegeben, du erlangst dieses erhoffte Glück,« sagte Rudolf, »so bist du dann ja nur noch sicherer verloren, als wenn du es nicht erlangst.«
»Unterbrich mich nicht, Rudolf,« antwortete der junge Mann. »Du überzeugst mich doch nicht; ich sage dir im voraus, ich will mich nicht überzeugen lassen. Ich bin so weit gegangen, daß ich nicht mehr zurück kann. Ich habe so viel gelitten, daß ich den Tod als Wohltat begrüße. Ich liebe nicht nur bis zum Wahnsinn, ich bin auch eifersüchtig bis zur Raserei.« – »Sehr nett!« rief Rudolf mißvergnügt. – »Nett oder nicht nett, das ist einerlei,« fuhr von Guiche fort. »Madame vergnügt sich, eine Freude jagt die andere, und inmitten dieser Lustbarkeiten stellt sich der Schatten eines andern immer wieder zwischen sie und mich und verdunkelt mich mehr und mehr. In ihr Ohr dringt stets eine schmeichlerische Stimme die doch nicht die meine ist. Seit drei Tagen, Rudolf, schwindelt mir der Kopf, ich bin nicht mehr Herr meiner Sinne, mein Blut ist in Wallung, ich muß diesen Schatten verscheuchen, diese Stimme verstummen machen.«
»Du sprichst von Buckingham?« antwortete Rudolf. »So bist du es, der ihm geschrieben hat?« – »Woher weißt du das?« fragte Guiche erstaunt. – »Er ließ es mir sagen. Sieh her,« und Rudolf reichte seinem Freunde den Brief des Engländers. Der Graf las und sagte dann: »Daran erkennt man einen wackern Menschen.« – »Das ist der Herzog auch. Und ich hoffe nur, du hast ihm in ebenso höflicher Form geschrieben.« – »Ich habe ihn gebeten, mich morgen oder übermorgen – wann es ihm nun genehm ist – in Vincennes zu erwarten.« – »Bedenke, was du tust!« rief Rudolf warnend. – »Ich glaube, ich habe dir schon gesagt, daß ich alles überlegt habe,« versetzte Guiche ungeduldig. – »Der Herzog ist ein Fremder und in einer Mission hierher gekommen, die ihn unverletzlich macht. Und Vincennes liegt in der Nähe der Bastille.« – »Die Folgen nehme ich auf mich,« erwiderte der Graf. »Dem Herzog wird es ebenso erwünscht sein, wie mir, denn er muß mich nicht minder hassen als ich ihn.« – »Der Herzog hat mir geschrieben, er wolle mich sprechen,« antwortete Rudolf. »Er wird bei der Spielpartie des Königs zu finden sein. Wir wollen beide hingehen. Laß Herrn von Manicamp mitkommen.«
Sie gingen zu viert in den Hof hinab und fuhren im Wagen des Grafen zum Palais-Royal. Unterwegs sann Rudolf nach, auf welche Weise er eine Aussöhnung der beiden Feinde herbeiführen könnte. Bei dem Eintritt in den blendend erleuchteten Saal, der von erlauchten Herren und Damen erfüllt war, konnte Rudolf nicht umhin, einen Augenblick Herrn von Guiche zu verlassen, um Luise anzuschauen, die unter den andern Ehrenfräulein, einer scheuen Taube gleich, den von Diamanten und Gold erstrahlenden königlichen Cercle betrachtete. Die Umgebung stand, der König allein saß. Rudolf bemerkte Buckingham, der mit Fouquet sprach. Sie unterhielten sich ganz laut über Belle-Ile. – »Ich kann in diesem Moment nicht zu ihm,« flüsterte Bragelonne seinem Freunde zu. – »So passe den günstigsten Augenblick ab, doch mach' schnell, die Ungeduld verzehrt mich.« – »Siehe, der dort kann uns helfen,« sagte Rudolf und deutete auf den Chevalier d'Artagnan, der in seiner prächtigen Uniform als Generalkapitän der Musketiere in martialischer Haltung hereinkam. Rudolf trat sofort auf den Chevalier zu.
»Graf de la Fère hat Sie gesucht,« sagte er. – »Ich habe ihn eben verlassen,« antwortete der Chevalier. »Wir wissen, wo wir uns wiedertreffen können.« – Bei diesen Worten schweiften d'Artagnans Blicke rings im Saale umher; er schien jemand zu suchen. – »Sie können mir einen Dienst erweisen, Chevalier,« sagte Bragelonne. »Ich möchte ein paar Worte mit dem Herzog von Buckingham sprechen, der dort mit Herrn Fouquet spricht.« – »Ah, Fouquet ist da?« rief d'Artagnan. »Wir kennen uns – und er sieht eben auch nach mir. Gut, ich gehe gleich hin.«
D'Artagnan schritt geradeswegs auf die Gruppe zu und begrüßte die Herren mit kriegerischer Würde. – »Ah, guten Abend, Chevalier,« rief Fouquet. »Wir sprechen eben von Belle-Ile –« – »Herr Fouquet,« setzte Buckingham hinzu, »sagte mir, er habe diese schöne Besitzung dem König geschenkt. Kennen Sie Belle-Ile?« – »Ich bin ein einzigesmal dort gewesen,« antwortete d'Artagnan. – »Und wie lange hielten Sie sich auf?« fragte Fouquet. – »Einen einzigen Tag,« sagte der Kapitän. – »Und was haben Sie dort gesehen?« – »Was man bei so kurzem Aufenthalt eben sehen kann.« – »Ein Tag ist viel für einen Mann Ihres Scharfblicks,« antwortete Fouquet. – D'Artagnan verneigte sich. –
»Herr Minister,« sagte nun Lord Buckingham, »ich lasse Sie mit dem Chevalier allein – ein Freund winkt mir zu.« – Er verließ die Gruppe und ging zu Rudolf, der ihm entgegenkam, während von Guiche auf seinem Platze blieb. Die beiden jungen Männer befanden sich nun in dem freien Raume zwischen dem Spieltisch und der Galerie. In diesem Augenblick trat Monsieur zur Tür herein und geriet nun zwischen die beiden feindlichen Parteien. – »Mylord, sehr erwünscht,« sprach der Prinz ohne weiteres. »Was muß ich eben zu meiner Bestürzung hören?«
Buckingham erblaßte und trat unwillkürlich einen Schritt zurück. – »Eine Nachricht, die den ganzen Hof in Trauer versetzen wird,« fuhr Monsieur fort. – »Zu gütig, königliche Hoheit, sofern Sie damit auf meine Abreise anspielen,« antwortete der Brite. »Das kann doch nur für mich ein trauriges Ergebnis sein.« – Von Guiche erschrak. »Er reist ab,« murmelte er bei sich selbst. – Rudolf wechselte einen raschen Blick mit seinem Freunde. Monsieur fuhr fort: »Ich begreife, der König von Großbritannien kann einen Edelmann von Ihrem Wert nicht lange entbehren; aber auch wir sehen Sie nur mit Bedauern scheiden.« – »Gnädigster Herr,« unterbrach der Lord den Prinzen, »seien Sie versichert, ich verlasse den französischen Hof nur, weil –« – »Weil Sie zurückgerufen werden,« fiel der Herzog von Orléans ihm ins Wort, »ich weiß. Aber wenn Sie meinen, daß mein Wunsch einiges Gewicht bei Seiner Majestät Karl II. haben könnte, so will ich ihn gern bitten, daß er Sie uns noch ein kleines Weilchen hier lasse.« – »Ich habe gemessenen Befehl, Hoheit,« versetzte Buckingham. »Nur allzu lange schon bin ich hier geblieben.« – »Und wann reisen Sie ab?« fragte Philipp mit gut gespielter Teilnahme. – »Morgen, Hoheit.« – Monsieur antwortete mit einer Handbewegung, die zu sagen schien: »Nun, gegen einen so festen Entschluß läßt sich wohl nichts tun,« und schritt mit einer leichten Verneigung weiter.
Von der entgegengesetzten Seite trat Graf Guiche heran. Rudolf befürchtete, sein ungestümer Freund wolle seine Forderung selbst vorbringen, und schritt rasch dazwischen. – »Nein, Rudolf, nun ist ja alles erledigt,« sagte von Guiche und streckte dem Herzog von Buckingham die Hand hin. »Verzeihen Sie mir, Mylord, was ich Ihnen geschrieben habe. Ich war ein Tor.« – »In der Tat,« antwortete der Herzog mit schwermütigem Lächeln, »Sie können mir nun nicht mehr böse sein. Wir werden uns nicht wiedersehen.«
Rudolf fühlte, daß er bei dem Gespräch der beiden überflüssig sei, und trat zurück. Dadurch kam er in die Nähe des Marquis von Wardes, der mit Chevalier von Lorraine sprach. – »Ein kluger Rückzug,« sagte der Marquis spöttisch. »Der Herzog erspart sich auf diese Weise ein paar Schwertstreiche.« Und er lachte dazu. – Rudolf fühlte abermals jenen Zorn aufsteigen, der ihn fast beim bloßen Anblick des Herrn von Wardes ergriff. – »Mein Herr,« sagte er, »Sie wollen es also nicht unterlassen, Abwesende zu verunglimpfen? Gestern war's Chevalier d'Artagnan, heute ist's Herzog von Buckingham.« – »Der Herr Vicomte weiß recht wohl,« versetzte Wardes höhnisch, »daß ich manchmal auch Anwesende verunglimpfe.« – Sie standen voreinander und maßen sich mit funkelnden Blicken; der eine war auf dem Höhepunkt seines Hasses, der andere hatte seine Geduld erschöpft.
Eine höfliche Stimme hinter ihnen sprach die Worte: »Mich dünkt, man nannte meinen Namen.« – Wardes sah sich um und erblickte d'Artagnan, der ihn lächelnd begrüßte. »Herr von Wardes, ich habe mit Ihnen zu reden. Du kannst bleiben, lieber Rudolf,« setzte er hinzu, als Bragelonne diskret zurücktreten wollte. »Jedermann kann mit anhören, was ich diesem Herrn zu sagen habe.« – Sein Lächeln verschwand, sein Blick wurde kalt und hart wie eine Degenspitze. – »Ich stehe zu Diensten,« antwortete Wardes.
»Der Ort hier eignet sich nicht dazu,« fuhr der Chevalier fort. »Folgen Sie mir in meine Wohnung. Sie sind wahrscheinlich mit mehreren Freunden hier, nicht wahr? Bringen Sie sie mit. Komm, Rudolf – ich erwarte Sie, Herr von Wardes!« – Mit diesen Worten wandte er sich um und verließ den Saal zusammen mit Bragelonne. Sie traten beide in das Zimmer des Kapitäns und fanden dort den Grafen de la Fère. D'Artagnan hatte kaum Zeit, seinem Freunde zu sagen, daß Wardes zu ihm kommen werde, so öffnete sich die Tür, und der junge Mann trat ein, begleitet von den Herren von Guiche, von Buckingham, von Manicamp, und noch drei anderen Edelherren. Der Kapitän empfing seine Gäste mit allem Anstand, den er bei einem so unangenehmen Anlaß zu äußern vermochte. Er bat die Herren um Entschuldigung, daß er ihre Zeit in Anspruch nehme, und wandte sich dann sogleich an von Wardes. »Mein Herr,« begann er, »hier können wir ungehindert reden. Erfahren Sie denn, weshalb ich Sie um Ihren Besuch bat und die Herren hier mitkommen ließ. Ich habe von meinem Freunde, dem Grafen de la Fère erfahren, daß Sie in beleidigender Weise von mir gesprochen haben. Sie betrachten mich als Ihren Todfeind, weil ich der Todfeind Ihres Vaters gewesen. Ich fordere Sie hiermit auf, Ihre Beschuldigungen vorzubringen.«
»In Gegenwart dieser Herren?« versetzte von Wardes. – »Jawohl, vor diesen Zeugen! Sie sehen, ich habe solche gewählt, auf deren Urteil in Ehrensachen man sich verlassen kann.« – »Sie wissen mein Zartgefühl nicht zu schätzen,« antwortete Wardes. »Ich habe Sie beschuldigt, aber ich behielt die Dinge, deren ich Sie beschuldigte, für mich. Ich begnügte mich, meinen Haß in Gegenwart von Personen zur Schau zu tragen, für die es geradezu Pflicht war, es Ihnen wiederzusagen. Sie haben nun meine Diskretion außer acht gelassen, obwohl Ihnen daran gelegen sein mußte, daß alles in Ruhe abginge. Das spricht gegen Ihre gewohnte Klugheit, Herr Chevalier.«
»Mein Herr, ich habe Sie aufgefordert, Ihre Anklagen vorzubringen,« antwortete d'Artagnan. »Reden Sie, wir alle hören.« – »Nun, meinetwegen! Es handelt sich also,« begann von Wardes, »um ein Unrecht, nicht gegen mich, sondern gegen meinen Vater; aber gewisse Dinge bringt man nur mit Widerwillen zur Kenntnis anderer, zumal wenn es sich dabei um eine schmachvolle Tat eines sonst geachteten und achtbaren Mannes handelt.« – Die Zeugen dieser Szene sahen sich unruhig an; allein d'Artagnan verlor nicht im mindesten die Fassung. – »Hören Sie,« fuhr von Wardes fort, als der Chevalier ihn durch eine Handbewegung aufforderte weiterzusprechen. »Mein Vater liebte ein edelgeborenes Mädchen und wurde von ihr wiedergeliebt. Der Chevalier d'Artagnan fing Briefe ab, in denen sie sich mit ihrem Geliebten verabredete, traf dann in Verkleidung an dem bestimmten Ort ein und mißbrauchte die Dunkelheit, das Mädchen zu hintergehen.«
»Das ist wahr,« sagte der Kapitän. »Ich habe diese schlechte Tat begangen. Aber unparteiisch wie Sie sein wollen, Herr von Wardes, hätten Sie hinzufügen sollen, daß ich zu jener Zeit noch nicht 21 Jahre alt war. Es war ein Betrug, den ich mir zeitlebens zum Vorwurf gemacht habe. Ich bin älter und besonnener geworden, auch ehrenhafter, wie ich wohl sagen darf. Diese Jugendsünde ist durch lange Reue gebüßt worden. Es geschah im Jahre 1626, meine Herren, und damals, das werden Sie alle wissen, nahm es niemand mit der Liebe genau. Wir waren junge Soldaten, die fortwährend auf dem Kriegsfuß lebten, mit dem Tode Brüderschaft getrunken und im beständigen Kampfe alles Gefühl verloren hatten. Dennoch bereute ich die Tat und bereue sie noch heute.«
»Begreiflich,« versetzte Wardes. »War es doch auch ein Streich, der der Reue wert war. Sie haben die Dame ins Verderben gestürzt. Im Gefühl ihrer Schmach verließ sie Frankreich, und niemand hat erfahren, was aus ihr geworden ist.« – »O,« ließ Graf de la Fère sich vernehmen, indem er mit unheimlichem Lächeln den Arm gegen Wardes ausstreckte, »man hat es doch erfahren, ja, man hat sie gesehen und weiß, daß sie sich in England verheiratet hat. Das wußten Sie nicht, Herr von Wardes?« fragte Athos, als er den Ausruf des Erstaunens hörte, den der junge Mann laut werden ließ. »Sie sehen, wir sind besser unterrichtet. War Ihnen nicht bekannt, daß man sie Mylady nannte, ohne einen Namen beizufügen?«
– »Das wußte ich,« sagte Wardes. – »Mein Gott!« murmelte Buckingham. – »Die Dame hat dreimal versucht, Herrn d'Artagnan zu ermorden. Das war ihr Recht, ja doch, er hatte sie beleidigt. Aber unrecht von ihr war es, daß sie in England einen jungen Mann namens Felton, der in Diensten des Lord Winter stand, durch ihre Reize gefangennahm. Sie erblassen, Lord Buckingham, Zorn und Schmerz malen sich in Ihren Zügen. Sie können die Erzählung selbst beenden und Herrn von Wardes sagen, wer jenes Weib war, das dem Mörder Ihres Vaters das Messer in die Hand gab.«
Ein Schrei entfuhr allen Anwesenden. Lord Buckingham wischte den Schweiß von der Stirn. Ein langes Schweigen folgte. – »Sie sehen, Herr von Wardes,« ergriff nun d'Artagnan das Wort, »meine Tat hat keinen so unseligen, vernichtenden Einfluß auf diese Seele gehabt. Sie war bereits verdorben, verloren, als ich an die Reihe kam. Und nun, Herr von Wardes, habe ich Sie um Verzeihung gebeten; ich würde diese Bitte auch an Ihren Vater gerichtet haben, wenn ich ihn noch am Leben getroffen hätte, als ich nach Karls I. Tode nach Frankreich zurückkehrte. Ich hoffe, daß damit zwischen uns beiden alles abgetan ist und Sie mich fortan nicht mehr schmähen werden.« – Von Wardes verneigte sich, ein paar Worte murmelnd. – »Ich hoffe auch, Sie werden überhaupt gegen niemand mehr Verunglimpfungen äußern, wie es leider Ihre Manier ist. Denn wenn Sie solche Gewissensreinheit zur Schau tragen, daß Sie einem alten Soldaten nach 35 Jahren eine Jugendeselei vorwerfen, so sollten Sie es auch in andern Dingen mit Ehre und Gewissen genauer nehmen. Wie kommt es, daß Sie, der Sie hier ein so strenges Gerechtigkeitsgefühl an den Tag legten, Herrn Vicomte von Bragelonne vorgeworfen haben, er kenne seine Mutter nicht?«
Von Wardes biß sich auf die Lippe und ballte die Fäuste. Rudolf trat flammenden Auges vor und rief: »Herr Chevalier, erlauben Sie, das ist eine Sache, die nur mich angeht.« – »Unterbrich mich nicht, junger Mann,« versetzte der Kapitän, ihn mit dem Arme zurückschiebend. »Ich verhandle hier eine Angelegenheit, die mit dem Schwerte nicht beizulegen ist. Ich habe deshalb diese Ehrenmänner herkommen lassen, die alle mehr als einmal das Schwert gezogen haben. Ich wiederhole daher meine Frage. In welcher Absicht haben Sie, Herr von Wardes, diesen jungen Mann beleidigt, indem Sie seine Eltern schmähten?« – »Mich dünkt,« versetzte von Wardes, »Worte sind jedem frei, der bereit ist, für sie einzustehen mit allen einem Ehrenmann zu Gebote stehenden Mitteln.«
»Ei, sagen Sie mir doch, welche Mittel stehen denn einem Ehrenmann zu Gebote, solche Gemeinheiten zu unterstützen?« antwortete der Chevalier. »Wissen Sie, ein Ehrenmann bringt solche Gemeinheiten gar nicht erst über die Lippen. Es fehlt Ihnen nicht nur an der Fähigkeit, folgerichtig zu denken, sondern auch an Religion und an Ehre. Sie setzen durch Ihr schändliches Geschwätz das Leben mehrerer Männer aufs Spiel, ganz zu schweigen von Ihrem eigenen Leben, das mir allerdings sehr abenteuerlich zu sein scheint. Den Zweikampf hat seine Majestät durch ein sehr strenges Gesetz verboten, das wissen Sie doch. Sie werden sich also bei Herrn von Bragelonne förmlich entschuldigen und mit dem Ausdruck des Bedauerns Ihre unbedachten Worte zurücknehmen. Sie werden um Verzeihung bitten, wie ich es eben vor Ihrem kaum erst keimenden Schnurrbart getan habe.«
»Und wenn ich es nicht tue?« versetzte Wardes. – »Dann,« erwiderte d'Artagnan ruhig, »gehe ich zum König, bei dem ich sehr gut angeschrieben stehe und bitte ihn, diesen Haftbefehl zu unterzeichnen, den ich nur mit Ihrem Namen auszufüllen brauche.« Mit diesen Worten zog er eine der berüchtigten, »Lettres de cachet« hervor. »Ich werde zum König sagen: Sire, dieser Mann hat Herrn Vicomte von Bragelonne in der Person seiner Mutter schändlich beschimpft. Geruhen, Majestät, da Sie den Zweikampf verboten haben, den Beleidiger auf drei Jahre in die Bastille zu stecken.« – Von Wardes erblaßte, denn der bloße Name der Bastille hatte damals etwas Schreckenerregendes. Er trat auf Bragelonne zu und sagte: »Herr Graf, ich bitte Sie in der von Herrn d'Artagnan formulierten Weise um Entschuldigung – ich sehe mich dazu gezwungen.«
»Nein!« rief d'Artagnan. »Das ist nicht die richtige Form. Sie haben nicht zu sagen: ich sehe mich dazu gezwungen, sondern: ich fühle mich vor meinem Gewissen dazu verpflichtet. Glauben Sie mir, so klingt es besser und drückt auch Ihre Empfindungen besser aus.« – »Ich willige ein,« antwortete von Wardes. »Aber Sie werden zugeben, meine Herren, ein Schwertstreich von ehedem war besser als solche Vergewaltigung.« Darauf wiederholte er d'Artagnans Worte, sah sich nun im Kreise um und rief: »Ist das nun alles?« – »Alles,« antwortete der Chevalier. »Und man ist mit Ihnen zufrieden.« – »Sie sind als Friedensstifter indessen nicht sehr glücklich,« sagte der junge Mann schon wieder mit seinem spöttischen Lächeln. »Herr von Bragelonne und ich warden nur noch erbitterter als zuvor auseinandergehen.« – »Von mir aus nicht,« sagte Rudolf. »Ich hege nicht den mindesten Groll gegen Sie.« – Das war ein neuer Schlag für Wardes. Er sah sich verlegen um, aber niemand würdigte ihn eines Blickes. Die Herren nahmen höflich von dem Chevalier Abschied und gingen. Keiner sprach ein Wort an Wardes, der trotzig den Kopf zurückwarf und allein seines Weges ging.
8. Kapitel. Ein Besuch in der Bastille
Athos nahm kurz nach dieser Szene von d'Artagnan und Rudolf Abschied und trat die Heimkehr an. Als d'Artagnan ihm die Hand zum Abschied reichte, erklang hinter ihm die Frage: »Ich hätte mit Ihnen zu reden, Herr Chevalier.« – Der Kapitän sah sich um und erblickte ein kleines, unscheinbares Männchen, das bescheiden nähertrat. »Potzblitz!« rief er, »das ist Baisemeaux. Es ist wahr, ich hatte Ihnen geschrieben, es sei ein neuer Kostgänger abzuholen, aber es wird nichts draus. Athos, erlauben Sie, daß ich Ihnen Herrn Baisemeaux, den Gouverneur der Bastille vorstelle. Sie müssen sich übrigens kennen. Es ist ja Baisemeaux, mein Leibgardist, mit dem wir einst unter dem Kardinal manchen Streich ausgeführt haben.« – »Es ist mir erinnerlich,« sagte Athos. – »Das ist der Graf de la Fère,« flüsterte der Kapitän den Gouverneur ins Ohr. – »Ja, ja, einer der vier Famosen,« sagte Baisemeaux. – »Ganz recht! doch warum sind Sie selbst gekommen?« fragte der Chevalier, während Athos mit einem letzten Gruße hinwegritt. – »Weil ich mit Ihnen zu reden hatte. Also wird nichts aus der Verhaftung? Will der König die fragliche Person nicht einsperren lassen? Das ist sehr bedauerlich.«
»Wieso?« rief d'Artagnan lachend. – »Jenun, meine Gefangnen sind doch mein Einkommen,« antwortete der Gouverneur. – »Ei, Sie sagen das ja wie jemand, der nicht das Salz aufs Brot hat. Sie müssen doch ein sehr hübsches Sümmchen im Jahre herausschlagen. Doch kommen Sie mit auf mein Zimmer, dort reden wir in aller Ruhe.«
Baisemeaux folgte dem Chevalier. – »Nun, alter Freund,« fuhr d'Artagnan fort, als sie einander gegenübersaßen. »Ich wette doch, Sie ziehen aus den Täubchen, die Sie in dem allerliebsten Käfig der Bastille halten, jährlich Ihre 50 000 Livres. Man sieht es ja auch, Sie sind rund und wohlbeleibt wie ein Fäßchen.« – »Das ist alles gut und schön,« antwortete Baisemeaux kopfschüttelnd. »Sie vergessen nur die Hauptsache dabei. Sie haben Ihren schönen Posten vom König erhalten, ich aber verdanke meine Stelle den Herren von Tremblay und von Louvières.« – »Das heißt also, Sie haben sie nicht umsonst bekommen,« sagte der Kapitän. – Der Gouverneur nickte. »Ich habe an jeden 50 000 Livres zahlen müssen, und obendrein haben sie mir noch ganz unerhörte Bedingungen auferlegt. Ich mußte ihnen nämlich noch drei Jahre meines Einkommens verpfänden.« – »Also nochmals 150 000 Livres?« – »Zahlbar an drei genau festgesetzten Terminen.« – »Das ist ja schauderhaft,« sagte d'Artagnan. »Das ist ja unglaublich.« – »Ja, und wenn ich eine der Zahlungen nicht leiste, so fällt die Stelle an die beiden Herren zurück. Der König hat das selbst unterzeichnet.«
»Dann sind Sie freilich zu bedauern, Baisemeaux,« sagte der Chevalier. »Aber warum hat Mazarin Ihnen diese Gnade erwiesen, die doch eigentlich gar keine zu sein scheint. Es wäre leicht gewesen, sie Ihnen zu verweigern.« – »Er wurde durch meinen Gönner gewissermaßen dazu gezwungen.« – »Und wer ist dieser Gönner?« – »Ein Freund von Ihnen, Herr d'Herblay.« – »Aramis!« rief d'Artagnan. – »Ganz recht! Aramis. Als ich aus seinen Diensten treten wollte, legte er ein gutes Wort bei Tremblay und Louvières für mich ein und leistete außerdem Bürgschaft für die drei Zahlungen. Zu den ersten beiden Zahlungen hat er mir auch pünktlich die 50 000 Livres gegeben, aber nun ist der dritte Termin herangerückt, und wenn ich morgen nicht zahle, dann geht es mir zu guter Letzt doch noch an den Kragen. Ich habe dann drei Jahre umsonst gearbeitet. Und in dieser Not komme ich zu Ihnen. Sie kennen doch den Abbé d'Herblay. Ich habe ihn in seiner Wohnung gesucht; er ist nicht mehr da. Können Sie mir sagen, wo er sich jetzt aufhält?«
»So wissen Sie nicht, daß er Bischof von Vannes geworden ist?« antwortete d'Artagnan. – »Von Vannes in der Bretagne? O weh!« rief der kleine Mann und raufte sich die Haare aus. »Wie soll ich bis morgen nach Vannes und zurück? Ich bin ein verlorener Mann! Ich muß mich dem König zu Füßen werfen.« – »Werfen Sie noch nicht die Flinte ins Korn,« antwortete der Chevalier. »Gehen Sie zu Fouquet!« – »Was soll mir der?« versetzte der Gouverneur. – »Einfältiger! Vannes liegt in der Diözese Belle-Ile, und Belle-Ile gehört Herrn Fouquet. Der Minister hat Herrn d'Herblay zu diesem Bistum verholfen. Gehen Sie zu ihm und sagen Sie ihm, Sie wünschten den Bischof zu sprechen. Der Minister ist hier. Heute abend können Sie ihn allerdings nicht mehr erreichen, weil er beim König ist, aber morgen in aller Frühe wird er zu sprechen sein.« – »Ich werde hingehen. Wärmsten Dank für Ihren guten Rat!« antwortete der Gouverneur, sich verabschiedend. – »Eine sonderbare Geschichte!« sprach der Musketier zu sich selbst, »was für einen Zweck hat Aramis, indem er diesem Herrn Baisemeaux unter die Arme greift? Das muß ich zu erfahren suchen.«
D'Artagnan hatte den Gouverneur richtig beschieden; Fouquet war beim König und nahm an der Spielpartie teil. Monsieur, Buckingham und Graf von Guiche waren ebenfalls zugegen. Der Brite war zerstreut; doch achtete er nicht darauf, wieviel Geld er verlor, hatte er doch sein Herz verloren. Madame spielte mit dem König, und ihr Gatte sah ihr zu und freute sich über den beträchtlichen Gewinn, den sie bereits eingestrichen hatte. Sie schien sich weder um Guiche noch um Buckingham zu kümmern und an die bevorstehende Abreise des letzteren überhaupt nicht zu denken. Der feinfühlende, stolze Engländer empfand diese Kälte und sah nur selten zu ihr hinüber. Ihn erbitterte die Fröhlichkeit dieser Prinzessin, die doch genau wissen mußte, was in seinem Herzen vorging. Ja fast schien es, als ob sie ihrer Laune noch mehr als sonst die Zügel schießen lasse, um ihren Landsmann in letzter Stunde noch einmal nach Herzenslust zu peinigen. Der König, der sich über die besonderen Gründe ihrer Heiterkeit keine Gedanken machte, überließ sich ganz dem unaussprechlichen Reiz, den ihr Frohsinn auf ihn ausübte. Er fand sie bezaubernd schön, und es war nur begreiflich, daß er fehlerhaft spielte. Der Königin-Mutter und der Gattin Ludwigs entging es nicht, daß Madame mit wunderbarem Geschick die erste Rolle in der Umgebung des Königs an sich riß. Mit der Gebärde einer Siegerin triumphierte sie über ihren Erfolg und ließ keinen Zweifel darüber, daß sie willens sei, ihren Platz zu behaupten und jede Nebenbuhlerin – selbst die rechtmäßige Gattin – in Schatten zu stellen. Anna von Oesterreich, alt geworden in der Diplomatie, beugte sich alsbald vor ihr, allein Maria-Theresia, die Infantin von Spanien, schien nicht geneigt, die Macht der Engländerin anzuerkennen. Sie sah sich die Sache ein Weilchen mit an und erhob sich dann ziemlich brüskiert, erklärte das Spiel für beendet und zog sich in ihre Gemächer zurück. Den andern Damen blieb nichts weiter übrig, als ebenfalls zu gehen. Aber selbst hierbei fügte Lady Henriette ihren Triumphen nur noch einen neuen bei: Ludwig XIV. reichte ihr, ohne sich um seinen Bruder zu kümmern, galant den Arm und führte sie bis zur Tür des Salons. Mit einem Seufzer ließ er ihre Hand los – und dieser Seufzer war laut genug gewesen, um von den nächsten Damen und Höflingen gehört zu werden. Madame seufzte auch, aber ganz leise; doch war dieser leise Seufzer um so verhängnisvoller für die Ruhe des Königs.
Man sah darauf den König sehr zerstreut zurückkehren und erst aus seinen tiefen Gedanken erwachen, als Colbert, der Intendant, sich ihm näherte und leise ein paar Worte sprach. Der König sah auf, nickte und trat dann lächelnd zu dem Oberintendanten Fouquet, der sich mit Lord Buckingham unterhielt. – »Verzeihung, wenn ich Ihr Gespräch unterbreche,« sagte Ludwig, »aber ich bedarf Ihrer, Herr Fouquet.« – »Ich stehe meinem Könige stets zur Verfügung,« antwortete Fouquet. – »Auch Ihre Kasse?« fragte der König lachend. – »Die in erster Linie,« erwiderte der Minister gelassen.
»Nun, Herr Fouquet,« sagte der König, »ich beabsichtige in Fontainebleau ein großes Fest zu veranstalten, das vierzehn Tage dauern soll, und dazu brauche ich –« er stockte und warf einen Seitenblick auf Colbert – »dazu brauche ich vier Millionen.« – »Vier Millionen,« antwortete Fouquet und verneigte sich. Dabei preßte er die Finger so fest auf die Brust, daß die kostbare Spitze seines Jabots zerriß. »Und wann, Majestät?« – »Sobald als möglich.« – »Man braucht Zeit –« sagte Fouquet, und als er den triumphierenden Blick sah, der in Colberts Augen aufleuchtete, setzte er kalt hinzu, »um eine solche Summe abzuzählen. An je einem Tage kann nur eine Million gezählt werden.« – »Also vier Tage,« sagte Colbert. – »Meine Beamten tun Wunder, wenn es einen besonderen Dienst gilt,« antwortete Fouquet lächelnd. »Sie sollen das Geld in drei Tagen haben.« – Colbert erblaßte, Fouquet verneigte sich und schritt, den Tod im Herzen, hinaus.
Er befahl sofort seinen Wagen und fuhr in seinen Palast, wo Aramis ihn schon erwartete. Er saß im samtnen Schlafrock am Schreibtische, mit Briefen beschäftigt. Als er den Oberintendanten erblickte, ließ er die Feder fallen, stand auf und rief: »Sie haben wie immer verloren?« – »Mehr als immer,« war die Antwort. – »Aber Sie wissen den Verlust gut zu ertragen,« sagte Aramis. »War es heute so viel?« – Fouquet lächelte schmerzlich und ließ sich in einen Sessel fallen.
»Vier Millionen,« sagte er. – »Aber soviel können Sie doch nicht verspielt haben?« rief Aramis erstaunt, denn eine solche Summe zu hören, hatte er nicht erwartet. – »Doch. Colbert war mein Partner,« antwortete der Minister mit unheimlichem Lächeln.
»Jetzt verstehe ich,« sagte d'Herblay. »Und auf Colberts Rat hin verlangt der König diese Summe.« – »Mit höchsteigenem Munde hat er sie verlangt,« sprach der Oberintendant. »Mit einem holdseligen Lächeln, als ahnte er nicht im mindesten, daß er mich zugrunde richtet.« – »Eine große Summe, allerdings,« erwiderte d'Herblay. »Aber selbst eine Forderung von vier Millionen bringt Ihnen noch nicht den Untergang. Haben Sie zugesagt?« – »Was sollte ich anders tun?« sagte Fouquet. »Wenn ich das Geld nicht auftreibe, treibt Colbert es auf, und dann bin ich verloren. In drei Tagen soll's da sein. Majestät scheint es diesmal besonders eilig zu haben. Und ich weiß, es wird schwer halten, das Geld zusammenzubringen. Und gelingt es auch diesmal noch, woher das nächste Mal nehmen? Glauben Sie mir, es hat damit noch kein Ende. Wenn die Könige einmal das Geld gekostet haben, dann sind sie wie die Tiger, die Blut geleckt haben. Es wird eine Zeit kommen, wo ich sagen muß: Majestät, ich kann nicht mehr.«
Aramis zuckte die Achseln. »Not macht erfinderisch,« sagte er. »Wenn alles verloren scheint, wird etwas Unerwartetes aufgefunden werden, und Sie sind gerettet.« – »Und wer wird dieses Unerwartete auffinden?« – »Sie selbst!« antwortete Aramis, »oder ich. Haben Sie vergessen, was ich einst zu Ihnen sagte? Solange Sie Mut haben, können Sie unbesorgt sein. Ein Mann in Ihrer Stellung ist verloren, wenn er verloren sein will. Und Sie brauchen den Mut nicht sinken zu lassen.« – »Sie meinen, im entscheidenden Moment werden Sie mir zu Hilfe kommen?« fragte Fouquet. – »Ich werde dann nur meine Schuld bei Ihnen abtragen,« antwortete der Bischof. »Für heute allerdings muß ich selbst es bedauern, daß Sie schlecht bei Kasse sind, weil ich Sie um Geld bitten wollte.« – »Um wieviel?« – »Um 50 000 Livres.« – »O,« rief Fouquet beruhigt. »Soviel hat man doch immer. Ich wünsche, Colbert, der Schurke, wäre mit ebenso Wenigem zufrieden. Wann brauchen Sie das Geld?« – Morgen früh.« – »Gut, und –«
»Natürlich, Sie wollen wissen, wozu es verwendet werden soll,« sagte Aramis lächelnd. – »Nein, bitte sehr, es bedarf keiner näheren Erklärung,« antwortete der Minister. – »Morgen ist Zahlungstermin für einen unserer Schuldscheine,« erklärte der Bischof. »Das letzte Drittel der verbürgten 150 000 Livres für Herrn Baisemeaux, den Gouverneur der Bastille, ist fällig.« – »Ach richtig, ja! Wir haben für ihn gutgesagt, als wir ihm die Stelle verschafften. Der Mann hat uns eigentlich noch gar nichts genützt.« – »Kann es aber immer noch,« antwortete d'Herblay. »Ein Gouverneur der Bastille ist zu jeder Zeit eine sehr wertvolle Bekanntschaft. Wir haben Dichter, die uns preisen, Ingenieure, die für uns bauen, Zeitungsschreiber, die für uns Reklame machen, und wir haben auch unsern Gefängnisdirektor. Und, gnädigster Herr,« setzte er hinzu, »wir sind ja doch immer in der Gefahr, der Bastille einen Besuch machen zu müssen.« Dabei tat er seine blassen Lippen auf und zeigte dieselben schönen Zähne, die vor dreißig Jahre schon von Maria Michon bewundert worden waren.
Am nächsten Vormittag war Baisemeaux, der Gouverneur, bereit zur Ausfahrt, um den Minister Fouquet aufzusuchen, als ein Schließer zu ihm eintrat mit der Meldung, daß ein fremder Herr, der seinen Namen nicht nennen wolle, ihn zu sprechen wünsche. Von einer frohen Ahnung beseelt, befahl der Gouverneur, den Fremden einzulassen. Seine Hoffnung betrog ihn nicht: es war Aramis, der Chevalier d'Herblay, der Bischof von Vannes, und wenn er kam, das wußte Baisemeaux, dann kam auch das Geld mit ihm. »Wie freue ich mich, Eure Herrlichkeit zu sehen!« rief der Gouverneur und empfing ihn mit aller Höflichkeit, deren ein von Herzen dankbarer Mensch fähig ist. »Ach, gnädigster Herr, gnädigster Herr, Sie sind doch eben immer ein Mann von Wort!«
»In Geschäftssachen,« antwortete d'Herblay, »ist die Pünktlichkeit keine Tugend, sondern eine Pflicht. Sie waren aber doch wohl nicht ohne Besorgnis dieserhalb? Nun, ich wollte gestern schon kommen, aber ich war zu ermüdet, und deshalb komme ich nun heute so zeitig. Und ich tat auch wohl, mich zu beeilen, wie es scheint, denn Sie wollten eben ausfahren.« – »Ich muß gestehen –« stammelte Baisemeaux und suchte nach einem Vorwande, denn er wollte Aramis nicht wissen lassen, wohin er hatte fahren wollen, da erklang aus dem Hofe herauf eine Stimme: »Fährt der Herr Gouverneur noch zu Herrn Fouquet?« – Der Bischof von Vannes lächelte. »Wie? Zu Herrn Fouquet wollten Sie fahren? Wozu denn?« – »Jenun,« platzte Baisemeaux in seiner Verlegenheit heraus, »Herr d'Artagnan sagte mir, ich würde Sie dort treffen.« – »Wie? Herr d'Artagnan?« fragte Aramis. »So haben Sie mit diesem Herrn gesprochen? Sie trauen mir nicht, Herr Gouverneur?« – »O, nicht doch, nicht doch, gnädigster Herr!« rief Baisemeaux untröstlich. »Ich traf ihn zufällig, und da er ein Freund von Ihnen ist, erkundigte ich mich nebenher nach Ihrer Adresse. Wir sprachen im übrigen nur von meinen Geschäften, die, wie Sie wissen, sehr schlecht stehen.«
»Schon gut, schon gut,« versetzte der Bischof. »Sie zahlen ja nun das letzte Mal, dann beginnt eine bessere Zeit. Wie viele Gefangene haben Sie jetzt?« – »Sechzig.« – »Nun, das geht doch an.« – »Ach, gnädigster Herr,« seufzte der Gouverneur. »Früher gab es Jahre mit 200. Ja doch, jedem andern würden 60 Gefangene 150 Pistolen eintragen, aber ich füttere sie zu gut. Rechnen Sie doch, für einen Prinzen von Geblüt bekomme ich täglich 50 Livres –« – »Aber Sie haben jetzt keinen Prinzen von Geblüt hier, nicht wahr?« fragte Aramis. – »Leider nicht,« antwortete Baisemeaux mit einem aufrichtigen Seufzer. »Weiter, für jeden Marschall bekomme ich 36 Livres. Habe aber leider auch keinen Marschall. Dann kommen die Generalleutnants – mit Livres pro Tag. Deren habe ich zwei. Dann die Parlamentsräte mit 15 Livres. Deren sind vier da. Dann geht's aber auch gleich bis auf 10 Livres hinab für die Richter, Anwälte und Geistlichen. Sind ihrer sieben da.« – »Nun also, da müssen Sie doch ganz gut wirtschaften können,« sagte d'Herblay lächelnd. – »Ach mein Gott,« erwiderte Baisemeaux. »Ein einigermaßen guter Fisch kostet mich 4 bis 5 Livres, ein einigermaßen fettes Huhn anderthalb Livres. Ich mäste ja selbst Geflügel, aber das will doch auch gefüttert sein. Und das Korn ist teuer. Zumal wir hier ein wahres Heer von Ratten haben, gegen die gar nichts zu machen ist. Es gibt in der Bastille am Tage drei Mahlzeiten, denn die Gefangenen haben nichts zu tun, da ist Essen immer ein angenehmer Zeitvertreib. Infolgedessen kommt mich jeder, für den ich 10 Livres erhalte, allein schon auf 7 Livres 10 Sous zu stehen.«
»Haben Sie keine Gefangene unter 10 Livres?« fragte Aramis.« – »Doch. Die Advokaten und gewöhnlichen Bürgersleute. Es werden 5 Livres für sie gezahlt. Na ja, denen kann man natürlich nicht alle Tage Hühner und Fisch vorsetzen, sie kriegen dreimal wöchentlich ein gutes Essen. Wenn ein Fünfzehner mal sein Huhn nicht hat aufessen können, dann bekommt es der Fünfer, und das ist dann ein Schmaus für den armen Teufel. Man muß doch christliche Barmherzigkeit haben.«
»Und was wirft so einer zu 5 Livres für Sie ab?« – »Dreißig Sous, so wahr ich ehrlich bin. Aber bei denen, die mit 3 Livres taxiert sind, bei den Gerichtsschreibern und Leuten aus dem Volke, setze ich zu.« – »Hoffentlich lassen die Fünfer öfters was für sie übrig,« sagte der Bischof. – »O, was denken Sie?« antwortete Baisemeaux. »Die sind selbst froh, wenn sie satt werden. Nein! die Leute aus dem Volke und die Gerichtsschreiber mache ich dadurch glücklich, daß ich ihnen hin und wieder mal einen Rebhuhnflügel, einen Rehrücken, eine Gänsekeule vorsetze – nämlich die Ueberbleibsel der Vierundzwanziger. Das verschlingen sie dann, rufen überm Essen: Es lebe der König! und segnen die Bastille. Denn in der Freiheit haben sie solche Leckerbissen nicht kennen gelernt. Daher kommt es auch – was eine Ehre für die Bastille ist – daß mancher, der kaum herausgekommen ist, sich binnen kurzem wieder einsperren läßt. Warum auch nicht? Bei so vorzüglicher Küche?«
Aramis lächelte. – »Glauben Sie es nicht?« fuhr der Gouverneur fort. »Ich kann Ihnen das Register zeigen, Sie sollen sich mit eignen Augen überzeugen.« Mit diesen Worten trat er an einen Schrank und nahm ein großes Buch heraus. Er schlug es auf. »Sehen Sie hier,« sagte er. »Buchstabe M. Martinier, Januar 1659. – Martinier, März 1660. – Martinier, Juni 1661. Verhaftet wegen Druckschriften gegen Mazarin. Das ist ja nur ein Vorwand. Er hat sich selbst denunziert, um wieder hier zu dinieren.«
Der Bischof blätterte, wie es schien, gedankenlos in dem Register. »Seldon,« sagte er, innehaltend. »Der Name kommt mir bekannt vor. Sprachen Sie nicht einmal von einem jungen Manne –« – »Ganz recht! Das ist ein armer Student, der einen Spottvers auf die Jesuiten gedichtet hat.« – »Eine harte Strafe!« murmelte der Bischof. – »Sie verwendeten sich damals schon für ihn, gnädigster Herr,« antwortete der Gouverneur, »und seitdem halte ich ihn, Ihnen zu gefallen, wie einen Fünfzehner,« – »Also wie etwa diesen hier,« sagte Aramis und hielt bei einem Namen inne, der kurz vor Martinier verzeichnet stand. »Ist das übrigens ein Italiener, dieser Marchiali?« fragte er und deutete mit dem Finger auf das Blatt.
»Still!« rief Baisemeaux ängstlich. – »Warum?« versetzte Aramis, und seine weiße Hand ballte sich unwillkürlich. – »Ich glaube, ich habe Ihnen das schon einmal gesagt,« flüsterte der Gouverneur. – »Nein,« antwortete der Bischof, »ich höre den Namen zum ersten Male. Wohl ein alter Sünder, wie?« – »Im Gegenteil, ein ganz junger Mensch.« – »Dann ist sein Verbrechen also sehr groß. Hat er gemordet? Brand gestiftet?« – »Nein, nein, es ist doch der Jüngling, der die Kühnheit besitzt, eine Aehnlichkeit zu haben mit –« – »Ach, ja doch, ja doch,« unterbrach ihn Aramis. »Jetzt erinnere ich mich. Sie haben mir das schon vorm Jahre mal erzählt. Das Verbrechen schien mir aber unbedeutend, oder vielmehr kann doch der arme Kerl eigentlich nichts dafür. Er sitzt in der Bertaudière, nicht wahr, so heißt doch wohl der Turm –« – »Der Turm, den Sie dort linker Hand von uns sehen. Ja, dort sitzt er im zweiten Stock.«
»Und im ersten Stock sitzt der Dichter jenes Spottverses auf die Jesuiten, wenn ich nicht irre,« fuhr Aramis fort. »Ja, ja, lieber Baisemeaux, von diesem Poeten haben Sie mir alles erzählt, aber wenn die Rede auf den Herrn vom zweiten Stock kommt, dann sagen Sie: Pst! pst! Als ob das ein so furchtbares Staatsgeheimnis wäre.« – »Das ist es auch, gnädigster Herr.« – »Ei was, die große Aehnlichkeit besteht sicherlich nur in Ihrer Phantasie,« sagte der Bischof. »Ich habe doch schon mehrmals junge Leute gesehen, die diese Aehnlichkeit auch hatten –« – »Ja,« fiel der Gouverneur ihm ins Wort, »aber zwischen Aehnlichkeit und Aehnlichkeit ist ein Unterschied. Diese hier ist gar zu frappant. Ueberzeugen Sie sich nur einmal selbst davon.«
»Ich bin nicht neugierig,« erwiderte Aramis, anscheinend gleichgültig. »Und dann – ich glaube, ich werde den Eindruck nie wieder los, wenn ich erst mal solch einen Unglücklichen zwischen Kerkermauern gesehen habe.« – »Ah bah,« versetzte Baisemeaux, »er ist guter Dinge. Hat sich in sein Schicksal gefügt, denn er weiß, daß er zu immerwährender Gefangenschaft verurteilt ist.« – »Aber warum das?« – »Potzblitz, sein Verbrechen währt, solange er lebt, also muß er auch bestraft sein,
solange er lebt; denn sie begreifen, falls er nicht etwa die Blattern bekommt, was nicht anzunehmen ist, wird diese Ähnlichkeit –« – »Und so soll dieser Unglückliche nie das Ende seiner Leiden erleben?« – »Seiner Leiden? Es werden 15 Livres täglich für ihn bezahlt, und ein Fünfzehner hat keine Leiden,« antwortete der Gouverneur. »Sehen Sie ihn sich nur mal an! Er ist von Geburt nicht zu einem so vornehmen Tische geboren, wie er ihn hier führen kann.« – »Nun, da Sie soviel davon hermachen, so wollen wir ihn uns mal ansehen,« sagte Aramis, anscheinend noch immer mit Widerstreben.
Der Gouverneur rief einen Schließer, der ihnen voranging. Sie schritten über den Hof und betraten den Turm, den Baisemeaux bezeichnet hatte. Aramis war weder ein Träumer noch ein gefühlvoller Mensch; er war vielmehr kalt und herzlos. Doch als er jetzt die abgetretenen Steinstufen hinanstieg, als ihn die Luft dieser finstern, tränenfeuchten Mauern umschloß, da war ihm seltsam zumute, traurig senkte er den Kopf, und seine Augen verschleierten sich. Er sprach kein Wort mehr, bis der Gouverneur eine Tür ausschließen ließ.
»Wir sind im ersten Stock,« sagte er. – »Es ist mir recht,« sprach Aramis leise. »Machen wir bei diesem den Anfang.«
Sie traten ein und sahen einen jungen Menschen von 18 Jahren und fast noch knabenhaftem Aussehen vor sich. Er hob den Kopf und sprang auf, als er den Gouverneur erblickte. – »Meine Mutter! Meine Mutter!« rief er, die Hände faltend und mit so herzzerreißender Stimme, daß Aramis erbebte. – »Ich bringe Ihnen ein Extragericht, lieber Freund,« sagte der Gouverneur lächelnd, »und Konfekt zum Nachtische.« –
»O, mein Herr,« rief der junge Mann, »kommen Sie ein ganzes Jahr lang nicht her, geben Sie mir ein ganzes Jahr lang nichts als Wasser und Brot, aber versprechen Sie mir, daß ich nach diesem Jahre die Freiheit wiedererlangen werde – daß ich meine Mutter wiedersehen werde!« – »Lieber Freund,« erwiderte Baisemeaux, »Ihre Mutter ist arm – Sie haben es hier besser.« – »Besser? Man hat es am besten nur in der Freiheit! Und warum entzieht man der Armen die einzige Stütze?« – »Lieber Freund,« antwortete der Gouverneur, »Sie wissen, daß das nicht meine Sache ist – von mir hängt nur Ihre Verpflegung ab, und über die können Sie sich nicht beklagen.« – »O, mein Gott!« schrie der Jüngling, taumelte und stürzte rücklings auf den Boden. – »Gehen wir!« flüsterte Aramis, »ich werde für den armen Menschen um Begnadigung bitten.« – »Und wenn Sie die Begnadigung nicht erlangen,« sagte der Gouverneur, »bitten Sie wenigstens darum, daß man ihn auf zehn Livres setze, damit ist dann uns beiden, mir und ihm, geholfen.«
Sie gingen weiter, und Aramis fühlte, daß er, um keinen Verdacht zu erwecken, alle Kraft und Geistesgegenwart zusammennehmen müsse. Baisemeaux blieb stehen und schloß die Tür auf. Man sah in dem Lichtschein, der zu dem vergitterten Fenster hereinfiel, einen schönen jungen Mann von mittlerer Größe, mit kurzgeschnittenem Haar und einem Flaum auf Kinn und Oberlippe. Er saß aus einem Schemel. Sein Rock war aus schwarzem Samt, und er trug ein überaus feines schneeweißes Battisthemd.
Als der Gouverneur eintrat, wendete er sich um, stand auf und grüßte höflich. Sein Blick fiel auf Aramis, und der Bischof erblaßte, von Schauder erfaßt, der Hut entsank seiner Hand. Er hatte das Gefühl, als ob ein Schlag ihn streifte. Baisemeaux war frei von allen derartigen Gefühlen. – »Sie sehen recht wohl aus,« redete er den Häftling an. »Es geht Ihnen gut?« – »Sehr gut, ich danke,« antwortete der Jüngling. – Der Klang dieser Stimme erschütterte Aramis; er tat einen Schritt nach vorn, mit weitgeöffneten Augen und zitternden Lippen. Als Baisemeaux sich nach ihm umdrehte, konnte er nur mit Mühe die Spuren seiner Erregung verbergen.
»Da sehen Sie's,« sagte der Gouverneur zu d'Herblay. »Sie glauben nicht, daß er sich wohl fühle. Nicht wahr,« wandte er sich wieder an den Gefangenen. »Sie haben nie zu klagen?« – »Nie.« – »Und langweilen sich auch nie?« fragte Aramis. – »Nie.« – »Dagegen ist nichts einzuwenden,« sagte Aramis zu dem Gouverneur. »Wollen Sie noch ein paar Fragen an ihn richten? Dann, bitte, fragen Sie zunächst einmal, ob ihm bekannt ist, weshalb er hier ist.« – Der Gouverneur tat die Frage, und der junge Mann antwortete ruhig: »Nein, ich weiß es nicht.« – »Aber das ist doch nicht möglich,« rief d'Herblay, indem er sich von seinem Gefühl hinreißen ließ. »Sie müssen doch außer sich sein vor Grimm, daß Sie nicht einmal den Grund Ihrer Gefangenschaft kennen.« – »In der ersten Zeit war ich es auch,« antwortete der junge Mann ruhig. – »Und jetzt sind Sie's nicht mehr?« – »Ich habe mich eines Bessern besonnen.« – »Inwiefern?« – »Ich sage mir jetzt; wenn auch die Menschen mich strafen, Gott kann mich nicht strafen, weil ich nichts verbrochen habe.« – »Gleichviel, eine Strafe bleibt es doch,« rief Aramis. – »Ich weiß nicht; aber ich denke und fühle jetzt eben ganz anders als vor sieben Jahren.« antwortete der Gefangene. – »Seltsam! Wenn man Sie so reden hört, möchte man glauben, der Kerker sei Ihnen lieb geworden.« – »Ich ertrage meine Haft mit Geduld,« war die Antwort. – »In der sichern Erwartung, einmal frei zu werden?« – »Erwartung? O nein! Aber Hoffnung trotz allem noch, wenn sie auch mit jedem Tage mehr schwindet.«
»Wie alt sind Sie?« – »Ich weiß es nicht.« – »Wie heißen Sie?« – »Ich habe den Namen vergessen, den man mir gegeben hat.« – »Haben Sie Ihre Eltern gekannt?« – »Nein.« – »Aber doch Ihre Pflegeeltern?« – »Sie nannten mich nie ihren Sohn.« – »Hatten Sie sonst jemand lieb, ehe Sie hierher kamen?« – »Meine Amme, meine Blumen, meinen Diener.« – »Sie haben Amme und Diener wohl sehr vermißt?« – »Ich habe viel geweint, als sie starben.« – »Sind die beiden inzwischen gestorben oder bevor Sie herkamen?« – »Beide am Tage meiner Gefangennahme.« – »Beide am gleichen Tage?« – »Zu gleicher Zeit.« – »Wie geschah Ihre Verhaftung?« – »Ein Mann holte mich ab, hieß mich in einen Wagen steigen und brachte mich hierher.« – »Würden Sie diesen Mann wiedererkennen?« – »Er war maskiert.«
»Seltsame Geschichte, nicht wahr?« raunte Baisemeaux dem Bischof zu. – Aramis wagte kaum zu atmen. »Ja, sehr seltsam,« murmelte er. – »Aber das sonderbarste ist, daß er noch nie zuvor so viel aus seinem Leben erzählt hat wie eben jetzt Ihnen,« setzte der Gouverneur hinzu. – »Vielleicht, weil Sie ihn nie ausgefragt haben,« meinte Aramis. – »Mag sein,« antwortete Baisemeaux, »ich bin grundsätzlich nicht neugierig.«
»Erinnern Sie sich,« fragte der Bischof, »eines Besuchs von einem fremden Herrn oder einer Dame?« – »Eine Dame war dreimal hier und stellte die gleichen Fragen an mich wie Sie vorhin; nämlich, ob ich mich wohl fühlte und ob ich mich nicht langweilte.« – »Und wenn sie ging?« – »Dann drückte sie mich ans Herz und küßte mich.« – »Würden Sie diese Dame wiedererkennen, wenn der Zufall Sie mit ihr zusammenführte?« – »Ganz gewiß.« – Aramis lächelte unwillkürlich; dann schien er alles zu wissen, was er hatte hören wollen, und wandte sich an den Gouverneur. »Wollen wir gehen?« – »Wenn es Ihnen gefällig ist,« antwortete Baisemeaux. Und sie verließen den Kerker. Der junge Mann grüßte höflich und setzte sich ruhig wieder auf seinen Schemel.
»Nun, was sagen Sie dazu?« fragte der Gouverneur draußen. – »Ich habe das Geheimnis entdeckt,« antwortete der Bischof. »In diesem Hause ist ein Mord begangen worden. Der Diener und die Amme sind an einem Tage und zu gleicher Zeit gestorben. Verstehen Sie? Vergiftet ohne Zweifel.« – »Das kann schon sein.« – »Vielleicht hat jener Knabe die Verbrecher gesehen, und man fürchtet, er könnte schwatzen.« – »Teufel, wenn ich das wüßte –« murmelte der Gouverneur. – »Was würden Sie dann tun?« – »Doppelt wachsam sein.« – »Er sieht nicht danach aus, als sänne er auf Flucht.« – »Man kann nie wissen.« – »Bekommt er Bücher?« – »Nein, das ist streng verboten, Mazarin hat das Verbot eigenhändig geschrieben. Sie können es sehen, wenn wir wieder unten sind. Es ist in dem Erlaß eine Stelle ausgestrichen. Mazarin hatte nämlich zuerst geschrieben, es sollten täglich 50 Livres für ihn bezahlt werden.« – »Also so viel wie für einen Prinzen von Geblüt.« – »Aber nachher hat der Kardinal wohl gesehen, daß er sich irrte, die Null ausgestrichen und vor die 5 eine 1 gesetzt. Doch Sie sagen ja gar nichts über die Ähnlichkeit.«
»Aus dem einfachen Grunde, weil sie überhaupt nicht vorhanden ist,« antwortete d'Herblay. »Und wäre sie vorhanden, so würden Sie gut tun, gar nicht davon zu reden. Ludwig XIV. würde sicherlich sehr böse werden, wenn er erführe, daß einer seiner Untertanen sich erkühne, ihm wie ein Zwillingsbruder ähnlich zu sein.« – »Das ist wahr,« versetzte Baisemeaux erschrocken, »aber ich habe es ja auch nur gesagt, weil ich auf Ihre Diskretion rechne.« – »Seien Sie ohne Sorge,« antwortete Aramis, »und nun noch die Notiz von Mazarin!« – Sie waren in Baisemeaux' Wohnung zurückgekehrt. Der Gouverneur suchte ein Buch hervor, blätterte darin, schlug den Buchstaben M auf und ließ den Bischof folgende in Mazarins Handschrift eingetragene Bemerkung lesen:
»Keinerlei Lektüre – feinste Wäsche – eleganteste Kleidung. Nicht spazieren gehen lassen – immer den gleichen Kerkermeister – und kein Umgang mit andern. Musikalische Instrumente sind gestattet. Für alle Bequemlichkeit ist zu sorgen. 15 Livres tägliches Kostgeld. Herr Beaisemeaux kann mehr fordern, wenn das nicht ausreicht.« – »Sieh da,« rief der Gouverneur. »Das hatte ich ganz vergessen. Ich werde sogleich mehr fordern.«
Aramis klappte das Buch zu. »Ja, es ist Mazarins Handschrift,« sagte er. »Ich kenne sie. Und nun, lieber Baisemeaux, sind unsere Geschäfte erledigt. In diesem Beutel ist Ihr Geld. Stellen Sie mir eine ganz einfache Quittung aus, und zwar über die nun erhaltene Gesamtsumme von 150 000 Livres.« – »Ich habe Ihnen aber schon zwei Quittungen gegeben,« sagte Baisemeaux schüchtern. – »Hier sind sie,« antwortete d'Herblay, »und ich zerreiße sie vor Ihren Augen.« – Der Gouverneur schrieb den Empfangsschein, und Aramis steckte ihn in die Tasche, scheinbar, ohne ihn gelesen zu haben. Dann wandte er sich zum Gehen. – »Nicht wahr, sagte er auf der Schwelle, »Sie sind mir nicht böse, wenn ich Ihnen einen Gefangenen entführe? Ich meine natürlich, indem ich seine Begnadigung erwirke,« setzte er hinzu, als er das ängstliche Gesicht des Gouverneurs sah. »Der arme Seldon, der Poet jenes Spottverses, tut mir so leid.« – »Das ist Ihre Sache,« antwortete Baisemeaux. »Ich weiß, Ihr Arm reicht weit, und Ihre Hand ist stark.«
9. Kapitel. Neue Eifersucht
Seit Buckinghams Abreise glaubte Guiche, die Welt gehöre nur ihm allein. Monsieur, von der Eifersucht erlöst, gewährte in seinem Hause ein so freies Leben, daß die Ungenügsamsten damit zufrieden sein konnten. Auch der König, der an der Gesellschaft der koketten Prinzessin Gefallen fand, trug das Seine dazu bei, die Lustbarkeit zu steigern. So verstrich kein Tag ohne eine Festlichkeit am Hofe Monsieurs. Ueberdies rückte nun das große Fest immer näher, das in Fontainebleau veranstaltet werden sollte, und die Damen hatten alle Hände voll zu tun, um das Programm durch neue Nummern zu bereichern, ihre Toiletten zu entwerfen und deren Herstellung zu überwachen.
Madame gab sich diesem geräuschvollen Leben mit aller ihr eigenen Ungezwungenheit hin, und da Graf von Guiche in Sachen der Toilette und in allem, was Zerstreuung und glänzenden Zeitvertreib anbetraf, ein Meister war, unerschöpflich an immer neuen Ideen und unfehlbar im Geschmack, so war es nur natürlich, daß sie zur Zeit ihn ganz offenkundig bevorzugte. Nur wenn der König selbst zugegen war, mußte Guiche zurückstehn, allein Ludwig XIV. machte ihm keine Konkurrenz. Obwohl überaus galant und in alle Frauen verliebt – sogar in seine eigene – war er doch sehr zurückhaltend, solange er mit seinem Urteil noch nicht im klaren war. Er behandelte alle Damen mit gleicher Höflichkeit, und noch konnte keine sich rühmen, von ihm vor den andern ausgezeichnet worden zu sein. Man konnte voraussehen, daß, wenn er eine zu seiner Geliebten erklärte, diese eine zu unumschränkter Herrschaft gelangen würde; aber noch geschah nichts dergleichen. Der eigentliche König dieses galantes Hofes war also – wenn auch zu seinem Unglück nur auf kurze Zeit – der Graf von Guiche.
Das fiel natürlich auf, und es war selbstverständlich, daß Chevalier von Lorraine, der stets auf Kriegsfuß mit Guiche stand, weil er sein erfolgreichster Nebenbuhler in der Gunst Monsieurs war, diesen Anlaß benutzte, eine Intrige gegen den Grafen anzuzetteln. Das beste Mittel, seinen Zweck rasch zu erreichen, war für den Chevalier, sich zu entfernen und ein paar Tage lang nicht bei Hofe zu erscheinen. Monsieur war seit kurzem fast stündlich mit dem Chevalier zusammen gewesen und vermißte ihn nun. Da er ihn nirgends fand, machte er sich auf die Suche nach seinem andern Freunde, dem Grafen von Guiche. Der kam endlich, blieb aber nur ein paar Minuten, weil er begreiflicherweise die Gesellschaft Madames vorzog. So war denn Monsieur wieder allein und langweilte sich zum Sterben. Er war der unglücklichste Mensch von der Welt und kam in dieser Stimmung auf den Einfall, mal zu seiner Frau zu gehen.
Dort fand er eine überaus lustige Gesellschaft von lachenden, plaudernden Herren und Damen. Madame selbst saß auf einem Sofa, und Guiche kniete vor ihr und breitete Perlen und Edelsteine aus, zwischen denen die Prinzessin mit ihren weißen Fingern die schönsten herauszusuchen schien. In einer Ecke saß ein Gitarrenspieler und klimperte eine niedliche Weise herunter.
Monsieur war sehr ärgerlich, daß man sich hier so köstlich amüsierte, während er vor Langeweile vergehen mußte. Er rief im Tone kindischen Neides: »Hier geht's ja lustig her, und ich blase da drüben Trübsal!« – Guiche sprang auf, der Gitarrespieler hielt inne, Malicorne versteckte sich hinter der Montalais, Manicamp warf sich in die Brust. Madame allein blieb ganz ruhig und rief ihrem Gatten zu: »Das ist doch die Stunde, wo Sie Toilette zu machen pflegen.« – »Und wo man hier Tollheiten treibt!« rief der Prinz zurück. – Diese übelgewählten Worte waren das Signal zu allgemeiner Flucht. Die Damen stoben auseinander wie eine Schar aufgescheuchter Vogel; die Herren schlichen beiseite. Nur von Guiche blieb zurück. Er und die Prinzessin hielten wacker den Angriff des mißvergnügten Gatten aus.
»Warum flieht alles, wenn ich mich sehen lasse?« rief Monsieur ungehalten. – »Aus Respekt vorm Herrn des Hauses,« antwortete Madame mit leisem Spott. Dabei machte sie ein so schelmisches Gesicht, daß Monsieur nichts weiter tun konnte, als ein recht dummes Gesicht zu machen. Er fühlte wohl auch das Lächerliche seiner Lage und warf nun einen so grimmigen Blick auf Guiche, daß dieser es doch für geraten hielt, mit einer höfischen Verneigung hinauszugehen.
»Was soll das nun heißen, Madame?« begehrte der Prinz auf, als er mit seiner Gemahlin allein war. »Das ist ja, als wenn ich gar nicht hergehörte!« – Madame ließ ihre Perlen fallen, lachte nicht mehr, schien aber auch nicht geneigt, eine Antwort zu geben. – Monsieur drehte sich um und stürmte zornig hinaus. – Draußen stieß er fast mit Fräulein von Montalais zusammen. Sie machte eine tiefe Verbeugung. – »Warum sind Sie alle fortgelaufen?« rief Philipp. »Hier wird gescherzt, gelacht, musiziert, und wenn ich herkomme, um mich auch ein bißchen zu erheitern, entfernt man sich. Geschieht denn hier etwas Unziemliches, wenn ich nicht da bin?« – »Gnädigster Herr, hier geschieht alle Tage dasselbe,« antwortete das Ehrenfräulein. – »Wie? Man lacht und musiziert hier alle Tage?« – »Alle Tage ist hier dieselbe Gesellschaft, die Königliche Hoheit eben gesehen haben.«
»Was, alle Tage Gitarre?« – »Dieses Instrument ist jetzt Mode, und wir Frauen würden uns ohne Musik langweilen.« – »Und die Männer?« – »Was denn für Männer?« fragte die Montalais mit jener Unschuld, die sie so trefflich zu heucheln wußte. – »Nun, Malicorne, Manicamp und Graf Guiche – und wie sie alle heißen mögen.« – »Sie gehören alle zur Hofhaltung Eurer Hoheit.« – »Sie haben recht, Fräulein,« antwortete der Prinz, kehrte in sein Zimmer zurück und warf sich in einen Sessel. Ganz gegen seine Gewohnheit sah er nicht in den Spiegel; er wußte, daß er jetzt häßlich aussehen würde.
»Wo ist Chevalier von Lorraine?« rief er. – »Nicht zu finden.« – »Immer dieselbe Antwort!« brummte Philipp, und sein Zorn ward so groß, daß er mit dem Fuße gegen ein Ziertischchen stieß, das umfiel und in Stücke brach. Darauf ging er mit der größten Kaltblütigkeit in die Galerie und warf eine Emaillevase, eine Kanne aus Porphyr und einen Kandelaber aus Bronze um. Der Lärm rief die ganze Dienerschaft zusammen. – »Was befehlen Hoheit?« fragte der Kammerherr vom Dienst. – »Nichts,« versetzte Philipp. »Ich mache mir nur selbst Musik.« – Der Kammerherr war willens, den Arzt rufen zu lassen, als sich Malicorne melden ließ mit dem Bescheid, er habe den Chevalier von Lorraine gefunden.
Der Herzog von Orléans konnte seine Freude nicht unterdrücken, als er den Chevalier erblickte. »Ha, das ist schön! Warum blieben Sie mir fern!« rief er aus. »Warum verschwanden Sie?« – »Ich war hier unnütz, Hoheit,« antwortete der Günstling. – »Aber wieso denn?« – »Hoheit haben Leute um sich, die Ihnen besser zusagen und mit denen ich es nicht aufnehmen kann. Deshalb zog ich mich zurück.« – »Schon wieder eifersüchtig auf Guiche?« rief Philipp. – »Hoheit wissen doch,« versetzte Lorraine, »Graf Guiche gehört zu meinen besten Freunden.« – »Ich will aber wissen, weshalb du verschwandest?« beharrte der Prinz. – »Ich will es sagen,« antwortete der Höfling, »aber Sie dürfen es mir nicht übelnehmen. Ich hatte das Gefühl, als ob ich Madame im Wege sei. Sie ist vielleicht neidisch auf die Gunst, die Eure Hoheit mir widmen. Auch spricht sie nie mehr mit mir, seit Guiche, der ihr besser zu gefallen scheint, zu jeder Stunde Zutritt zu ihr hat.«
»Zu jeder Stunde?« rief der Herzog ernst und errötete.
»Was willst du damit sagen?« – »Ich sage nichts mehr, denn ich errege Ihr Mißfallen,« antwortete Lorraine mit einer steifen Verbeugung. – »Ich wünsche es, sprechen Sie!« rief Orléans ungeduldig. – »Hoheit behandeln mich ja wie einen Angeklagten, den man verhört,« erwiderte der Chevalier. »Nun ja, es behagte mir nicht, daß Graf von Guiche mir vorgezogen wurde, nicht nur von Ihnen, sondern vor allem auch von Madame. Das nennen Hoheit nun Eifersucht? Mag sein; aber sind denn Hoheit nicht eifersüchtig – Pardon! würden Hoheit nicht eifersüchtig sein, wenn Sie sähen, daß eine bestimmte männliche Person sich beständig in der Nähe Ihrer Frau befindet, zu jeder Zeit dort willkommen ist, immer sein Plätzchen frei hat. Doch das gehört freilich nicht hierher,« brach Lorraine ab.
»Es ist mir gleichgültig, ob Graf von Guiche sich mit besonderm Eifer um die Person meiner Gemahlin bemüht,« warf der Prinz hin, und dennoch nahm er den Kopf zwischen beide Hände und wühlte mit den Fingern in den Locken herum. – »Selbstverständlich,« sagte Lorraine. »Sie lieben Ihre Gattin, und da ich weiß, daß Ihre Liebe immer nur einem Gegenstand gilt, so hielt ich den Zeitpunkt gekommen, meiner Wege zu gehen. Denn Ihre Gemahlin wird es dahin bringen, daß Sie ihr zu Gefallen eben auch den Grafen von Guiche vorziehen. Und ein geringschätziger Blick von Ihnen, Hoheit, wäre mein Tod. Deshalb wollte ich das Feld meiden, trotz aller aufrichtigen Freundschaft und Bewunderung, die ich für Sie hege.«
»Lorraine,« rief Philipp, »wir haben schon einmal über die Narretei Buckinghams in diesem Tone gesprochen. Buckingham war ein Narr – du öffnetest mir die Augen, was ihn anbetrifft. Wird jetzt von Guiche dasselbe geredet wie vorher von Buckingham?« – »Hoheit, es wäre hundertmal besser gewesen, mich in meiner Einsamkeit zu lassen, als daß Sie nun aus meinem Bedenken einen Argwohn gegen Madame schöpfen – man würde ihr damit nur Unrecht tun. Ich würde an Ihrer Stelle, Königliche Hoheit, diese lustige Gesellschaft gewähren lassen, dann kommen alle Gerüchte, sofern solche im Umlauf sind, ganz von selbst zum Schweigen.«
Der Herzog schüttelte den Kopf. »Ich werde es mir überlegen,« murmelte er.
Die Stunde des Diners war gekommen, und Philipp schickte zu seiner Gemahlin, erhielt jedoch den Bescheid, die Herzogin wolle nicht bei der Tafel erscheinen, sondern in ihren Gemächern speisen. – »Dann speisen wir allein,« sagte Orleans. »Es ist meine Schuld, ich habe heute vormittag den Eifersüchtigen gespielt.« – »Wir waren sonst zu dritt,« warf Lorraine hin. – »Ja, Guiche fehlt, aber er wird nicht lange schmollen,« sagte Philipp mißmutig. – »Gnädigster Herr, es tut mir leid, Sie zum Unwillen gereizt zu haben. Ich will es wieder gutmachen,« sprach der Chevalier, »und selbst Vermittler sein, indem ich Guiche herhole.« – »Mir sehr lieb, geh nur!« rief der Herzog.
Lorraine hatte überall bei Hofe gute Freunde, und er fand ohne Schwierigkeiten einen Diener, der es übernahm, sich zu erkundigen, ob Graf von Guiche bei Madame sei. Nach fünf Minuten war er wieder beim Herzog. »Guiche ist leider nicht zu finden,« sagte er. »Entflohen, wie es scheint, unsichtbar.« – »Ha! Der Auftritt heute morgen wird ihn kopfscheu gemacht haben. Sicherlich ist er sofort mit Extrapost auf seine Güter gereist. Der arme Graf! Na, da essen wir eben zu zweit.«
»Ich habe eine neue Idee,« sagte Lorraine mit gut gespielter Verstellung. »Gnädigster Herr, Madame ist böse auf Sie. Wie wäre es, wenn Sie, da Madame nicht zu Ihnen kommen will, zu Madame gingen? Suchen Sie sie auf und speisen Sie mit ihr. Besonders jetzt, wo Sie diesen goldgestickten Frack anhaben, der Ihnen entzückend steht.« – »Hm, wäre am Ende gar nicht schlecht. Ja! ich will gehen.« – Und Philipp von Orléans machte sich auf den Weg zu den Gemächern seiner Gemahlin. Unterwegs flüsterte Lorraine dem getreuen Kammerdiener zu: »Stelle Leute vor die kleine Tür, daß niemand nach dorthin entweichen kann. Mach schnell!« Und als der Türhüter den Herzog bei Madame melden wollte, trat Lorraine rasch vor und sagte: »Bleibe jeder, wo er ist! Königliche Hoheit wollen überraschen.«
Monsieur trat ein wie jemand, der eine Freude bereiten will. Er blieb wie versteinert auf der Schwelle stehen. Madame drehte sich im Tanze am Arme des Grafen von Guiche. Die Montalais sah bewundernd zu, Fräulein von Lavallière saß still in einer Ecke. Man hatte anscheinend das Diner über das Tanzen vergessen. Als Monsieur eintrat, hielt das Paar mit jähem Ruck inne. Der Chevalier lächelte mit dem Ausdruck aufrichtiger Bewunderung. Der Prinz aber erblaßte, sein Mund verzog sich zitternd, seine Hände ballten sich.
»Entzückend!« sagte er mit tonloser Stimme. »Ich erwartete, Madame unpäßlich zu finden. Wie freut es mich, daß dies nicht der Fall ist. Mein Haus ist ja vielmehr das lustigste von der Welt. Warum laden Sie mich nicht ein, Madame, wenn es bei Ihnen so hoch hergeht?
Ich bin ein sehr verlassener Prinz.« – Guiche hatte inzwischen die Fassung wiedererlangt. »Gnädigster Herr,« sagte er mit dem stolzen Ausdruck, der ihn so gut kleidete, »Sie wissen, mein ganzes Leben ist Ihrem Dienst geweiht, ich bin jederzeit willens, es für Sie zu opfern. Heute aber gilt es nur zu tanzen, und deshalb tanze ich.«
»Sehr richtig,« versetzte Philipp kalt. »Aber von Madame ist es nicht recht, mir meine Freunde zu entführen. Madame, Guiche gehört mir, nicht Ihnen. Wenn Sie nicht mit mir speisen wollen, Madame, so speisen Sie mit Ihren Damen. Wenn ich aber ohne Sie speisen muß, so will ich wenigstens meine Kavaliere dabei haben.« – Madame fühlte, daß in diesen Worten eine Zurechtweisung lag und antwortete: »Fürwahr, ich wußte nicht, daß am französischen Hofe die Frauen wie in der Türkei gehalten werden, wo Männern der Zutritt verboten ist. Doch wenn es sein muß, ich halte es aus. Genieren Sie sich nicht, Monsieur, wenn Sie etwa noch eiserne Gitter vor die Fenster legen wollen.«
Der Prinz geriet von neuem in Zorn. »Da sehe ich, wie ich in meinem eigenen Hause geachtet werde,« rief er aus. Und er wendete sich so rasch zum Gehen, daß er Madame fast gestoßen hätte. Er eilte in sein Zimmer zurück, Lorraine folgte ihm. – »Gib mir deinen Rat!« rief der Prinz. »Es kann nicht so bleiben. Das sind ja unausstehliche Zustände.« – »Allerdings,« seufzte der Chevalier. »Man glaubte Ruhe zu haben, als man Buckingham los war –« – »Und nun wird es nur noch schlimmer,« setzte Orléans hinzu. »Buckingham wäre nie so weit gegangen. Das dulde ich nicht länger. Ich werde auch keine Rücksicht nehmen, wenn man mit mir keine nimmt.«
Und er eilte hinaus und fragte, ob die Königin-Mutter aus der Kapelle zurück sei. Anna von Oesterreich wußte noch nichts von der Wendung, die die Dinge in den letzten Stunden genommen hatten; sie freute sich vielmehr über das Glück, das am Hofe ihres jüngeren Sohnes zu herrschen schien, und war stolz auf ihre beiden Söhne, auf den König, der sich, seit er selbständig regierte, trefflich bewährt hatte, und auf Philipp, der in Lady Henriette eine glänzende Partie gemacht zu haben schien. Da trat nun plötzlich Philipp vor sie hin mit dem Ausruf: »Mutter, so kann es nicht länger bleiben!«
Anna von Oesterreich sah ihn mit ihren schönen Augen an und fragte mit der ihr eigenen Sanftmut: »Wovon sprichst du denn?« – »Von meiner Frau!« – »Wie? hat Buckingham etwa geschrieben?« – »Nein, von Buckingham ist nicht die Rede. An seine Stelle ist schon wieder ein anderer getreten. Graf von Guiche.« – Die Königin-Mutter schlug in die Hände und lachte. – »Philipp, deine Eifersucht ist keine Schwäche mehr,« sagte sie, »sie artet zur Krankheit aus.« – »Gleichviel, Frau Mama, ich leide darunter,« antwortete Philipp. – »Und erwartest, man solle ein Uebel beseitigen, das nur in deiner Einbildung vorhanden ist?« versetzte die Königin-Mutter. – »Ich sehe, Sie wiederholen über diesen nur, was Sie über jenen sagten,« meinte Orleans ärgerlich. – »Weil du dich gegen diesen ebenso töricht benimmst, wie gegen jenen, mein Sohn,« erwiderte Anna. »Doch gut, du bist mein Sohn, ich bin dir mütterliche Nachsicht und Hilfe schuldig. Mit deiner Gattin kann ich nicht gut darüber sprechen, denn junge
Frauen sind sehr feinfühlend und halten selbst einen leisen Wink schon für einen schweren Vorwurf.« – »Was also wollen Sie tun, Frau Mama?« rief Philipp. »Sie fürchten, zuweit zu gehen, wo doch Madame sich nicht drum sorgt, ob sie zuweit geht! Und geht sie nicht zuweit, wenn sie sich bei mir wegen Unpäßlichkeit entschuldigen läßt und zur selben Stunde in ihren Gemächern mit dem Grafen von Guiche Tänze aufführt?«
Anna von Oesterreich runzelte die Stirn. – »Das ist allerdings unbesonnen,« räumte sie ein. – »Kurz und gut, ich verlange, daß Guiche mein Haus verläßt!« rief der Herzog. »Ich werde das vom König fordern, und wenn der König nicht auf mich hört und von Guiche sich weigert zu gehen, so werde ich ihn in meiner Badewanne ertränken lassen.« – Der Prinz erwartete, seine Mutter würde über diese Drohung heftig erschrecken; sie blieb aber ganz ruhig und antwortete: »Tu das, mein Sohn.«
»Ich sehe schon, niemand nimmt sich meiner an,« rief Philipp weinerlich, denn er war von weibischer Schwäche. »Selbst meine Mutier hält es mit meinen Feinden.« – »Du ließest mich vorhin nicht ausreden,« unterbrach ihn Anna. »Ich meinte, ich kann wohl nicht mit deiner Gattin sprechen, aber mit dem König kann ich über den Punkt in aller Ruhe einmal verhandeln. Ich erwarte Seine Majestät hier. Es ist die Stunde, zu der er sonst kommt. Er kann jeden Augenblick da sein.«
Als sie dies sprach, hörte man Schritte an der Tür. Philipp erschrak, wurde zaghaft und schlüpfte rasch zu einer Seitentür hinaus. Die Königin-Mutter fing an zu lachen und lachte noch, als Ludwig XIV. eintrat. Es war seine Gewohnheit, sich alle Morgen nach ihrem Befinden zu erkundigen. Gleichzeitig wollte er ihr ankündigen, daß alle Vorbereitungen, den Hof nach Fontainebleau zu verlegen, getroffen seien. Anna von Oesterreich ergriff seine Hand. »Weißt du,« sagte sie, »ich bin doch stolz darauf, eine Spanierin zu sein. Die Spanierinnen scheinen immer noch besser als die Engländerinnen. Auch du hast eine Spanierin zur Gemahlin und bist doch schon einige Zeit verheiratet, ohne daß du dich bei mir jemals beklagt hättest. Dein Bruder aber ist erst seit vierzehn Tagen Ehemann und beschwert sich schon zum zweiten Male über Madame.«
»Immer noch über Buckingham?« fragte Ludwig lächelnd. – »Nein, diesmal über den Grafen von Guiche.« – »Ei, so ist Madame eine Kokette – mein armer Bruder!« – »Lache nicht! Er ist außer sich. Er will Guiche ertränken lassen.« – »Das ist etwas stark,« sagte Ludwig. »Da müssen wir eingreifen. Nun, ich bin allen dreien wohlgesinnt, meinem Bruder, seiner Gattin und feinem Freunde – oder ihrem Freunde, wenn Sie wollen. Ich will versuchen, ob ich es einrenken kann. Freilich, in solchen Dingen hat selbst die königliche Gewalt ihre Grenzen. Eine Frau bessern? – O! mit einem Manne kann man's allenfalls versuchen. Den Grafen will ich mit einem Worte kirren – aber Madame! Das ist schwieriger. Doch wir haben heute abend Balletprobe, da werde ich ihr zwischen einer Tour die Leviten verlesen. Ich werde ihr eine kleine Kapuzinerpredigt halten.« – »Nun, hoffentlich hast du Glück,« sagte Anna von Oesterreich.
»Da fällt mir noch etwas anderes ein,« fuhr der König fort. »Es wäre vielleicht besser, wenn ich Madame auf ihrem Zimmer besuchte.« – »Das gibt der Sache aber ein etwas förmliches Ansehen,« meinte die Königin-Witwe. – »Das wohl, aber wer eine Predigt halten will, den kleidet ja das Förmliche, und ein bißchen Feierlichkeit fördert den Erfolg. Ja, ich will zu ihr gehen. Mutter, ich küsse Ihnen die Hände – diese schönsten Hände von Frankreich!« – »Nun, stelle nur den Frieden im Hause wieder her.« – »Ich bediene mich ja keines Abgesandten – das heißt, ich werde meinen Zweck erreichen,« antwortete Ludwig XIV. lächelnd und ging hinaus. Und noch immer lächelnd, klopfte er unterwegs ein wenig Puderstaub von der Goldborde seines Gewandes.
10. Kapitel. Ein gefährlicher Nebenbuhler
Anna von Oesterreich hatte recht: das Erscheinen des Königs bei Madame gab den Dingen nach allem, was vorgefallen war, einen feierlichen Zug. Es war im Jahre 1662 keine Kleinigkeit, wenn Monsieur über Madame Klage führte und der König sich in Privatangelegenheiten seines Bruders mischte. Daher sah man denn auch plötzlich die Höflinge ganz auffällig sich von Guiche fern halten, und der Graf, ebenfalls von Schrecken erfaßt, begab sich schleunigst in seine Wohnung.
Der König trat bei der jungen Herzogin mit freundlichem Gruß ein. Die Ehrendamen verneigten sich fast bis zur Erde. Der König sah sich um und musterte mit einem raschen Blick die ganze Reihe von errötenden Schönheiten, die am Eingang zu den Gemächern Spalier bildeten.
Er begab sich in das Innenkabinett, wo seine Schwägerin in halb liegender Stellung auf weichen Kissen ruhte. Sie stand auf, machte eine Verbeugung und dankte mit ein paar befangenen Worten für die Ehre dieses Besuches. Dann setzte sie sich wieder, von lieblicher Röte übergossen.
»Liebe Schwägerin,« begann Ludwig, »ich möchte fragen, zu welcher Zeit Ihnen heute abend die Ballettprobe genehm wäre.« – »Ah, Majestät,« antwortete die Prinzessin und schüttelte ihre Locken, »ich wollte mich eben bei Ihnen entschuldigen lassen, ich fühle mich nicht Wohl und werde nicht erscheinen.« – »Nicht wohl?« rief Ludwig. »Ei, so will ich die Aerzte rufen lassen.« – »Die vermögen nichts gegen meine Krankheit,« erwiderte Lady Henriette. »Mir tut nur eins not: ich muß nach England zurück.« – »Ist das Ihr Ernst?« versetzte der König betroffen. – »Ja. Es tut mir sehr leid, es sagen zu müssen; aber ich fühle mich am Hofe Eurer Majestät unglücklich. Ich will zu meiner Familie zurück. O, Sire,« rief sie aus, als sie sah, daß Ludwig sie unterbrechen wollte, »ich bin an Leiden gewöhnt. Schon in frühester Jugend bin ich schlecht behandelt und gedemütigt worden – sagen Sie nicht, das sei übertrieben! Aber damals konnte ich dem unglücklichen Geschick die Schuld geben. Doch jetzt befinde ich mich wieder auf den Stufen eines Thrones, mein Bruder ist wieder König, und durch die Verbindung mit einem französischen Prinzen glaubte ich noch einen Schritt höher zu steigen und auch mein Lebensglück zu finden. Aber ich habe nur einen Mann gefunden, der mich unterjochen, mich zur Sklavin herabdrücken will – und das empört mich. Nun kommen Sie zu mir, Sire! Doch sicher nicht, mich zur Balletprobe einzuladen.
Sie wissen alles, was geschehen ist, und wollen dem, was Ihr Bruder an mir getan hat, gar noch königlichen Nachdruck verleihen? O, Sire, ich bitte um die Erlaubnis, nach England zurückzukehren!«
Der König war durch diesen unerwarteten Angriff nicht nur in Verlegenheit gesetzt, sondern völlig entwaffnet. »O, Schwägerin!« rief er, kaum wissend, was er sagen sollte, »Sie nach England zurückzulassen, das ist ja ganz unmöglich. Bedenken Sie das doch! Was hat man Ihnen denn getan?« – Madame lächelte matt; sie wußte, daß sie gesiegt hatte; war doch der König gekommen, um zu fragen: »Was haben Sie meinem Bruder getan?« und nun fragte er statt dessen: »Was hat man Ihnen getan?«
»Was man mir getan hat?« versetzte sie. »Das kann nur eine Frau nachfühlen. Man hat mich weinen gemacht.« Und mit ihren schneeweißen Fingerchen deutete sie auf ihre Augen, die eben noch frohlockend gestrahlt hatten und jetzt sich schon wieder von Tränen trübten. – »Schwägerin, ich bitte Siel« rief der König, sprang hinzu und ergriff diese Hand, die sie ihm zitternd überließ. – »Was man mir getan hat?« fuhr Madame fort. »Zuerst hat man einen Freund meines Bruders, den Lord Buckingham, aus meiner Nähe verjagt – jawohl, verjagt, leugnen Sie es nicht! Er war ein Landsmann, er kannte mich, kannte meine Liebhabereien, wir haben so manche Fahrt zusammen auf den Gewässern von St. James gemacht.« – »Aber bedenken Sie doch, Madame, Villiers war in Sie verliebt!« wandte der König ein. »Was schadet das?« versetzte sie naiv. »Würden Sie zufrieden sein, wenn bloß ein Untertan Sie liebte?« – Sie lächelte dabei so zärtlich, daß dem König das Herz höher schlug. – »Und diesen Landsmann,« fuhr sie fort, »hat man vertrieben, man hat ihm die Tür gewiesen, wie einem schnöden Handelsmann, wie einem gemeinen Abenteurer. Das ist des galantesten Hofes nicht würdig.« »Schwägerin, ich bin daran nicht schuld,« beteuerte Ludwig. »Mir gefiel Buckingham sehr gut.« – »Ah, Sie sind nicht schuld daran?« rief Henriette. »Das freut mich! Nun weiß ich doch, auf wessen Betreiben es geschah. Ich glaubte nun Ruhe zu haben – doch nein, Monsieur findet einen neuen Vorwand.« – »Und an Buckinghams Stelle tritt ein anderer,« setzte der König scherzend hinzu. »Das ist ja auch ganz natürlich. Sie sind schön, Madame; man wird Sie immer lieben.«
»Gut, ich will eine Einöde um mich her schaffen,« versetzte sie. »Darauf allein ist es ja abgesehen. Doch nein, ich werde nach London zurückkehren, dort denkt man nicht so kleinlich; dort kann ich meine Freunde um mich versammeln, ohne daß sie gleich für Liebhaber gehalten werden. O pfui, wie schnöde! Ich hielt Monsieur für einen Kavalier, aber durch diese Verdächtigung hat er sehr in meinen Augen verloren. Er ist ein Tyrann!« – »O, nicht doch,« antwortete Ludwig. »Der einzige Fehler meines Bruders ist, er liebt Sie!« – »Er und mich lieben! Haha!« Sie lachte laut auf. »Monsieur wird nie ein Weib lieben. Er liebt nur sich selbst.«
»Nun, dann werden Sie aber doch zugeben, daß von Guiche Sie liebt,« sagte nun der König, der auf diesen Einwand der Prinzessin allerdings nichts zu erwidern wußte. – »Ist mir ganz neu,« versetzte sie. – »Aber das müssen Sie doch sehen; ein Verliebter verrät sich.« – »Von Guiche hat das bis jetzt noch nicht getan.« – »Schwägerin – Schwägerin, Sie verteidigen ihn noch!«
»Ich? Ihn verteidigen? Das fehlte noch, daß auch Sie mich verdächtigen, Sie, der König!« rief sie aus.
»Nicht doch! Werden Sie nicht wieder traurig,« entgegnete Ludwig lebhaft. »Ich beschwöre Sie, bleiben Sie ruhig.« – Sie weinte schon wieder, große Tränen fielen auf ihre Hand, und diesmal beugte sich die Majestät herab und sog eine dieser flüssigen Perlen mit den Lippen auf. Sie sah ihn dabei so zärtlich an, daß ihm weich ums Herz wurde. »Sie fühlen also nichts für Herrn von Guiche?« fragte er in unruhigerem Tone, als sich für einen Vermittler geziemte. – »Nein, gar nichts.« – »Und ich kann meinen Bruder beruhigen?« – »Ihn? O, nichts wird ihn beruhigen. Er ist gar nicht eifersüchtig, man hat ihn nur aufgehetzt, und Monsieur ist von unruhigem Temperament.« – »Das kann man wohl sein, wenn Sie im Spiele sind,« antwortete der König und hielt noch immer ihre Hand.
Als Madame nach langer Pause endlich diese Hand langsam zurückzog, hielt sie darin die Palme des Sieges.
»Madame, ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen,« sagte der König. »Statt sich auf einen nicht recht schicklichen Umgang zu beschränken, statt uns durch Ihre Zurückgezogenheit zu beunruhigen, sollen Sie sich uns recht oft zeigen, sollen Sie täglich mit uns zusammen sein. Ich weiß, Graf Guiche ist ein liebenswürdiger Mensch, aber wenn wir auch nicht so geistreich sind wie er –« – »O, Sire,« unterbrach sie ihn, »Sie spielen den Bescheidenen.« – »Nein, selbst ein König kann einsehen, daß er sich hier und dort weniger Hoffnung machen darf zu gefallen, als mancher seiner Kavaliere.« – »Das glauben Sie selbst nicht,« rief sie dazwischen. – »Gleichviel! Sie sollen nicht die Zeit mit fremden Herren zubringen, sondern in unserer Gesellschaft. Sie sind die Sonne unsers Hofes. Alles Licht kommt von Ihnen.«
»Majestät,« antwortete Henriette ernst und setzte ihrem Triumph stolz die Krone auf, »ein Umstand nur läßt mich zweifeln, ein Umstand, den auch Sie nicht beseitigen können – die Erinnerung an das Vergangene.«
»Wie meinen Sie das? Ich verstehe Sie nicht recht,« entgegnete der König, der jedoch nur zu wohl verstanden hatte. – »Sire, ich habe das Unglück gehabt,« fuhr die Herzogin fort, »Ihnen so lange zu mißfallen, daß ich fast das Recht habe, mich heute zu fragen, wie Sie mich zur Schwägerin annehmen konnten.« – »Madame, unser Bündnis beginnt heute,« rief der König mit ungeheuchelter Wärme. »Lassen wir die Vergangenheit, wir haben es nur mit der Gegenwart zu tun. Und die Gegenwart sind Sie!« – »Es wird dennoch ein unzuverlässiges Bündnis,« wandte sie ein. – »Soll ich schwören?« rief der König. – »O, einen ehrlichen Schwur weise ich nicht zurück,« antwortete sie, und der König kniete nieder und ergriff ihre Hand. Mit einem unbeschreiblich süßen Lächeln reichte sie ihm beide Hände, die Ludwig an die glühende Stirn drückte. Dann sprang er auf und eilte hinaus. Die Höflinge bemerkten, daß er rote Wangen hatte, und schlossen daraus, die Unterredung habe einen etwas stürmischen Verlauf genommen. Nur Herr von Lorraine sagte: »Meine Herren, wenn der König zornig ist, wird er blaß.«
Als Ludwig die junge Herzogin verließ, befand er sich in einer Aufregung, die er sich selbst nicht erklären konnte. Er stand mit einem Male ganz in ihrem Banne, bezaubert von ihrer Schönheit, von ihrer Anmut und von der koketten Geschmeidigkeit ihrer Worte. Dabei verhehlte er sich jedoch nicht, daß ihre Ehe mit seinem Bruder für ihn ein unübersteigliches Hindernis sei. Was die Prinzessin anbetrifft, so war sie als gefallsüchtige Natur, nachdem sie von Buckingham und von Guiche vergöttert worden war, ohne weiteres bereit, ihrem Ehrgeiz auf seinem erfolgreichen Wege zum höchsten Ziele freien Lauf zu lassen. Von dem immer noch streng denkenden englischen Lord zu dem skrupellosen französischen Grafen war schon ein Fortschritt gewesen. Hätte sie nun gegen die Bewunderung, die der König ihr zollte, unempfindlich bleiben sollen? War doch Ludwig XIV. nicht nur die erste Person seines Landes, sondern wirklich auch einer der schönsten, geistreichsten Männer seiner Zeit.
Der König zeigte seinem Bruder alsbald an, der Friede sei wiederhergestellt, Madame verdiene die aufrichtigste Hochachtung und Zuneigung und sei nur etwas stolz und leicht verletzlich, so daß man sie mit Schonung behandeln müsse. Das bedeutete für Philipp nichts weiter als eine Zurechtweisung. Man hatte also nicht ihm, sondern seiner Frau recht gegeben. Er antwortete dem König, daß nicht sie, sondern er sich beleidigt fühlen könne. – Der König versetzte in gereiztem Tone: »Madame ist, Gott sei Dank, über jeden Tadel erhaben.« – »Ueber den anderer, das gebe ich zu,« antwortete Orléans. »aber nicht über den meinigen.« – »Bruder,« sagte der König, dem eine innere Stimme zuflüsterte, daß Monsieur nicht ganz im Unrecht sei, »ich habe mich davon überzeugt, daß deine Klagen grundlos waren. Was sonst etwa noch in dieser Sache zu tun ist, das wird von mir aus geschehen.« – Diese Worte enthielten zugleich einen Befehl und einen Trost; Philipp fühlte das und ging.
Zur selben Zeit stattete Chevalier von Lorraine dem Grafen von Guiche einen Besuch ab. Er gab sich das Ansehen, als wolle er den Grafen über die Stimmung Monsieurs beruhigen. In Wahrheit befürchtete er, Guiche würde plötzlich abreisen, und wollte ihn nur zurückhalten, da er noch immer glaubte, das Renkontre vom Vormittag würde verhängnisvolle Folgen für Guiche haben, und natürlich verhindern wollte, daß der Graf sich ihnen entzöge. Von Guiche war nur zu sehr geneigt, den tröstlichen Worten des Chevaliers Glauben zu schenken, da sie seinen innersten Wünschen zuvorkamen. Abreisen zu müssen, wäre ja für ihn ein Stich ins Herz gewesen. – »Monsieur hat über die Dinerszene nur gelacht,« sprach Lorraine, »Majestät hat auch gelacht, und da Madame die einzige war, die nicht lachte, so ist Majestät zu ihr gegangen und hat ihr gut zugeredet. Am Programm des Tages wird nichts geändert, das ist der beste Beweis dafür, daß alles beim alten bleibt. Die Ballettprobe fällt nicht aus.«
»Wie? sie soll heute abend stattfinden?« rief der Graf. »Wissen Sie das gewiß? Sie raten mir also –? – »Ich rate Ihnen, ganz ruhig hier zu bleiben,« antwortete Lorraine. – In diesem Augenblick trat Rudolf ein. »Und ich,« rief er sogleich mit finsterer Miene, »rate Ihnen das Gegenteil. Werfen Sie sich aufs Pferd und reiten Sie auf Ihre Güter. Und dann können Sie den Rat des Chevaliers befolgen und ganz ruhig dort bleiben.« – »Aber warum sollte der Herr Graf abreisen?« fragte Lorraine, den Erstaunten spielend. – »Weil alle Welt bei Hofe von einem stürmischen Auftritt zwischen Monsieur und Herrn von Guiche spricht,« antwortete Rudolf. »Und weil ein solcher Auftritt schlimme Folgen haben kann. Ich weiß, Monsieur hat gedroht, und Madame hat geweint.« – »Madame hat geweint!« rief Guiche, die Hände faltend, – »Das ist das Neueste, was ich höre,« rief Lorraine. »Herr Vicomte, da sind Sie ja besser unterrichtet als ich.« – »Und deshalb eben gebe ich Herrn von Guiche den Rat abzureisen. Er muß fort. Um des Königs willen! Denn der König hat sich dieser Sache angenommen.«
»Bah, der König ist dem Herrn Grafen sehr zugetan,« wandte der Chevalier ein. »Und überdies würde eine Abreise einem Bekenntnis der Schuld gleichkommen.«
»Man kann auch reisen aus Verdruß, aus Kränkung,« entgegnete Bragelonne. »Und wenn wir beide versichern, daß wir alles getan haben, Herrn von Guiche zurückzuhalten – Sie wenigstens können das ja mit bestem Gewissen sagen – dann wird man uns glauben, daß Graf Guiche sich verletzt gefühlt habe, weil er sich unschuldig wisse und sich trotzdem aber eine Verantwortung nicht erlauben dürfe. Seine freiwillige Verbannung wird überdies nur von kurzer Dauer sein, er kann zurückkehren, wann er will, und wird dann allseitig freudiges Entgegenkommen finden. Eine üble Laune des Königs aber kann ein Ungewitter herbeiführen, für dessen Folgen niemand einstehen kann.«
»Lieber Freund,« beendete nun Guiche selbst den Streit, »es ist bei mir fest beschlossen: ich bleibe!« – »Dann wehe dir, Guiche!« antwortete Rudolf. »Ich habe meine Pflicht getan.« – »Rudolf, heute abend ist Ballettprobe–« – »Liegt dir daran so viel?« – »Das nicht! ich meine damit nur, ein Hof, an dem so flott getanzt wird, ist nicht zu inneren Kriegen gerüstet.« – »Ich habe nichts mehr zu sagen,« erwiderte Bragelonne achselzuckend.– »Sie glauben gut unterrichtet zu sein, Herr Vicomte,« sagte Lorraine, »aber wie wollen Sie es besser wissen als ich, der ich doch zu den vertrautesten Freunden Monsieurs gehöre?« – »Vor dieser Erklärung strecke ich das Gewehr,« antwortete Rudolf. »Sie müssen es besser wissen, das sehe ich ein. Und da ein Edelmann nichts anderes sagen kann, als was er weiß, und nicht anders sprechen kann, als wie er denkt, so erkläre ich mich für überwunden und räume Ihnen das Feld. Guiche, ob es nun gut oder böse abläuft, in jedem Falle dürfen Sie auf mich zählen. Adieu!«
Die Ballettprobe fand am Abend statt. Ludwig XIV. ließ die Herren und Damen, denen man Rollen bei der geplanten Tanzveranstaltung überwiesen hatte, in ihren verschiedenen Charakterkostümen Revue passieren. Monsieur allein hatte kein Kostüm angelegt. Er war noch in so verdrießlicher Stimmung, daß selbst eine Anprobe neuer kostbarer Gewänder an diesem Tage keinen Reiz für ihn hatte. Ludwig dagegen schien in bester Laune: er äußerte lachenden Mundes Beifall oder Tadel, lachenden Mundes machte er Glückliche und Unglückliche. Plötzlich fiel sein Blick auf den Grafen von Guiche, der in der Tracht eines Königs des Lenzes erschien. Ludwigs Lippen preßten sich zusammen – das Lachen verschwand, die heitere Stirn zog sich in Falten. – »Meine Herren und Damen!« rief er, sich abwendend. »Ich erhalte eben die Nachricht, daß zur Abreise nach Fontainebleau alles bereit ist. Morgen bricht der Hof auf. Sie alle sind eingeladen, mir zu folgen.« – Nach diesen Worten drehte er sich plötzlich um und trat einen Schritt auf Herrn von Guiche zu. – »Sieh da, Herr Graf,« rief er laut. »Ich hatte Sie noch nicht bemerkt. Es ist jetzt die Zeit der zweiten Aussaat. Ihre Pächter in der Normandie werden sich freuen, wenn Sie sich dort mal ein wenig um den Betrieb kümmern.« – Darauf wendete er dem Unglücklichen wieder den Rücken zu.
Von Guiche taumelte. Dann raffte er sich gewaltsam auf und trat auf den König zu. Hochaufgerichtet stand er vor ihm und begegnete stolz dem Blicke der Majestät. – »Habe ich recht verstanden?« stieß er hervor. – Ludwig sah über die Schulter mit jenem kalten, festen Ausdruck, der wie ein unbiegsames Schwert den in Ungnade Gefallenen ins Herz drang. »Ich sprach von Ihren Gütern,« wiederholte er langsam und scharf. – Dem Grafen trat der Schweiß auf die Stirn, der Hut entsank seinen zitternden Fingern. Er sah sich starren Auges um und erblickte Madame. Die Prinzessin plauderte lächelnd mit Frau von Noailles. Sie schien gar nichts gehört zu haben. Die Gesellschaft zerstreute sich – Guiche blieb allein zurück.
Als er über den Korridor schritt, trat Rudolf zu ihm. – »Nun, hatte ich recht?« fragte er. – »Du hattest recht,« stammelte der Graf tonlos. – »Und sie?« fragte Bragelonne. – »Sie! Sie!« rief der Unglückliche und hob die geballte Faust. »Sie lacht dazu!«
Vierter Teil. Die Lavallière
1. Kapitel. Noch immer eifersüchtig
Seit vier Tagen befand sich der königliche Hof in Fontainebleau. Die prachtvollen Gärten boten einen feenhaften Anblick, und namentlich in der Nacht verbreiteten die von Colbert unter großem Kostenaufwand geschaffenen Beleuchtungseffekte märchenhaften Glanz über den herrlichen Park. Fouquet hatte die vier Millionen abgeliefert, von denen nun Colbert dieses Fest bezahlte. Aber er bemerkte bald zu seinem Entsetzen, daß das Geld ebenso rasch verpuffte, wie die Feuerwerkskörper, die allabendlich abgebrannt wurden. Jeder der unglaublich farbenschönen Raketenregen kam auf 100 000 Livres zu stehen, jede Beleuchtung der Wasserkunst kostete 30 000, und die Kleider für die Waldgötter, die Nymphen und Dryaden, die in den Balletten auftraten, waren ebenfalls sehr teuer. Kurz und gut, Colbert bemerkte, daß trotz aller Sparsamkeit die Ebbe in seiner Kasse nahe bevorstand.
Madame war die Königin aller Feste. Sie empfing mit unnachahmlicher Anmut die verschiedenen Deputationen von Abgesandten fremdartiger oder längst ausgestorbener Völkerschaften: die Skythen, die Hyperboräer, die Kaukasier und Patagonier. Sie war die Diana jeder einzelnen Jagd und fand an jedem Tage Gelegenheit, ihren Witz und ihre Unerschöpflichkeit an entzückenden Gedanken zu zeigen. Sie nahm die Huldigungen in Empfang, die ihr von allen Seiten dargebracht wurden, und man verglich den König mit dem Sonnengott und sie mit Phoebe. Von Monsieur war bei allem gar nicht die Rede, ganz als ob der König nicht mit Maria-Theresia von Spanien, sondern mit Lady Henriette von England vermählt gewesen sei.
Das freudetrunkene Paar drückte sich verstohlen die Hände und genoß in langen Zügen den durch Jugend, Schönheit, Macht und Liebe versüßten Trank des Glücks. Niemand konnte mehr im Zweifel darüber sein, daß Madame die erste Dame des Hofes geworden war. Man nannte sie ganz leise die Königin. Das hatte zur Folge, daß Monsieur, statt die zweite Person des Reiches zu sein, auf den dritten Platz gedrängt worden war. Und er mußte erkennen, daß es nach der Verbannung seines zweiten Feindes, des Grafen von Guiche, abermals schlimmer geworden war. Dem Grafen hatte er wenigstens Furcht einjagen können – jetzt aber stand ihm der König selbst im Wege. Und was konnte er gegen diesen tun? Ueberdies kam Madame an jedem Abend völlig erschöpft von den vielen Lustbarkeiten des Tages in ihre Gemächer und war für ihn auch dann nicht mehr zu sprechen.
Eines Tages war Monsieur spät aufgestanden, kleidete sich sehr sorgfältig an und nahm sich vor, mit Madame und seinem Hofstaat nach Moret zu fahren, um dort zu soupieren. Er begab sich in den Pavillon seiner Gemahlin und entdeckte zu seiner Verwunderung, daß die gesamte Dienerschaft verschwunden war. Nur eine Näherin fand er, die ihm berichtete, Madame sei mit allem Gefolge ins Bad gefahren. – »Das ist eine gute Idee,« dachte Monsieur. »Es ist eine drückende Hitze, ich will auch ein Bad nehmen.« – Aber als er nun ein Pferd verlangte, erfuhr er, daß weder Pferde noch Stallknechte da seien; es war alles ausgeflogen.
In höchst verdrießlicher Stimmung machte er sich – Muttersöhnchen, das er war – abermals auf den Weg zur Frau Mama. Im Begriff einzutreten, sah er, daß Ludwigs Gattin, Maria-Theresia von Spanien, bei Anna von Oesterreich war. Monsieur, der bereits die Portiere in die Höhe gehoben hatte, trat leise zurück und wollte nun mit anhören, was die beiden Frauen sprachen. Aber leider führten sie ihre Unterhaltung in spanischer Sprache, und der Prinz konnte nur aus dem Tonfall der Worte entnehmen, daß die junge Königin sich beklagte. Auch hörte er sie weinen. Er zweifelte nicht daran, daß sie Beschwerde über den König führte, der nur auf Vergnügungen bedacht war, an denen sie keinen Teil hatte.
Anna von Oesterreich tröstete ihre Schwiegertochter, doch schien diese sich nicht trösten zu lassen. Monsieur hörte, daß sie sich zum Gehen anschickte, und da er sich nicht beim Horchen überraschen lassen wollte, so trat er jetzt ein. Bei seinem Anblick trocknete die junge Königin sich rasch die Augen und setzte eine gleichgültige Miene auf. Monsieur bewahrte trotz aller Verstimmung den Takt des Hofmannes und belästigte die Damen nicht durch Fragen nach der Ursache ihrer Betrübnis.
»Verzeihung,« begann er, »ich glaubte, Madame hier zu finden.« – »Madame ist im Bade,« antwortete Anna von Oesterreich. – »Und der König?« fragte Monsieur in einem Tone, bei dem seine Mutter unwillkürlich erbebte. – »Ist auch im Bade,« sagte Maria-Theresia, »mitsamt dem ganzen Hofe.« – »Außer Ihnen, Majestät,« sagte Philipp. – »O, ich bin ein Schrecken für alle, die sich vergnügen,« murmelte die Infantin von Spanien. – »Ich scheinbar auch,« ergänzte Orléans.
Anna von Oesterreich gab ihrer Schwiegertochter einen Wink, und die Königin zog sich zurück. »Nun, was gibt es denn wieder?« wandte sie sich an ihren Sohn. – »Wissen Sie es nicht schon von meiner Schwägerin?« versetzte der Herzog. »Sie hat Ihnen doch eben ihr Leid geklagt.« – »Mein Gott, sie ist kindisch eifersüchtig,« antwortete Anna. – »Ich auch, Frau Mama,« sagte Philipp. »Jawohl! Der König fährt mit meiner Frau zum Bade, und seine Frau läßt er zu Hause. Und meine Frau geht mit und sagt mir nicht einmal was davon. Da soll ich nun wohl nicht einmal drüber böse sein?« – »Lieber Philipp, du übertreibst,« erwiderte die Fürstin. Du hast Buckingham vertrieben, du hast Guiche verbannen lassen, möchtest du nun vielleicht gar den König vom Hofe verjagen?« – »Das maße ich mir nicht an,« entgegnete er. »Aber ich kann meiner Wege gehen.« – »Wie? Eifersüchtig auf den König – auf den eigenen Bruder?« – »Ja, Mama! Eifersüchtig auf den König! eifersüchtig auf den Bruder! Eifersüchtig, eifersüchtig!« – »Wahrhaftig, Philipp,« antwortete sie mit erkünsteltem Unwillen, »ich muß glauben, du hast es drauf abgesehen, mir die Ruhe zu rauben. Ich muß dich dir selbst überlassen; denn gegen solche hirnverbrannten Ideen habe ich keine Waffen.« Damit ging sie hinaus.
Monsieur stand verblüfft da, dann erwachte sein Zorn; er eilte in seine Zimmer, zertrümmerte das beste Porzellan und legte sich dann gestiefelt und gespornt ins Bett.
Die Hofgesellschaft kehrte vom Bade zurück. Der prächtige Zug bewegte sich die Allee entlang, über der das Laub der zu beiden Seiten stehenden Bäume sich zu einem grünen Dach vereinte. Madame war schöner als je; der Aufenthalt im Wasser hatte sie erfrischt. Ihr noch feuchtes, rabenschwarzes Haar wallte auf den Nacken hernieder, und aus ihren schönen Augen strahlten Frohsinn und Gesundheit. Sie ritt einen andalusischen Zelter, dessen langer Schweif den Boden fegte. Man erzählte sich, daß Majestät sie in den Sattel gehoben und sie dabei den Arm um seinen Nacken geschlungen habe. Jetzt ritt der König an ihrer Seite und wich keinen Augenblick von ihr. Sie waren in ein sehr lebhaftes Gespräch vertieft, von dem jedoch die in gemessener Entfernung folgenden Kavaliere und Damen nichts verstanden. Nur hin und wieder schlug ein halb ersticktes Lachen oder ein leiser Schrei der Freude an die trotzdem neugierig gespitzten Ohren.
In das Schloß zurückgekehrt, begab sich Madame sogleich zu Monsieur, und der König wollte zu seiner Gattin. Aber sie ließ ihn nicht vor, und er mußte sich mit seiner Mutter begnügen, die ihm nun über ihre Unterredungen mit Maria-Theresia und mit Monsieur berichtete. In verdrießlicher Stimmung ging er auf sein Privatzimmer; dort brachte man ihm einen Brief. Er öffnete den Umschlag und las: »Kommen Sie geschwind, ich habe Ihnen tausend Dinge zu sagen. Ihre Schwägerin.«
In fünf Minuten war er bei Madame. Allein sie hatte, um jedes Aufsehen zu vermeiden, ihre Wohnung verlassen und war mit ihrem Gefolge in den Garten gegangen, unter dem Vorwande, eine Jagd auf Nachtschmetterlinge halten zu lassen. Sie saß in der Mitte eines großen Rasenplatzes auf einer Bank, von der aus man alles übersehen konnte, auch selbst von allen Seiten sichtbar war, jedoch keine Lauscher zu fürchten hatte. Sie wählte diesen Platz mit Absicht und erwartete hier den König, der, anscheinend von der Schönheit des Abends verlockt, das Schloß verließ und sich beim Anblick der fröhlichen Gesellschaft sofort nach dieser Seite des Gartens wendete. Darin konnte selbst das argwöhnischste Auge keine Verabredung vermuten.
»Mein Billett hat Sie überrascht, Sire?« begann die Prinzessin. – »Erschreckt sogar,« antwortete der König. »Aber ich habe Ihnen noch etwas viel Wichtigeres zu sagen.« – »Als ich Ihnen?« unterbrach ihn Henriette. »Unmöglich! Denken Sie sich, mein Mann hat mich heute abend nicht vorgelassen.« – »Meine Frau mich auch nicht,« sagte Ludwig. »Statt ihrer empfing mich meine Mutter mit einer großen Gardinenpredigt. Der langen Rede kurzer Sinn ist: Monsieur ist jetzt eifersüchtig auf mich.« – »Wir haben doch gar keine Veranlassung gegeben,« antwortete die Herzogin. »Ich wenigstens nicht.« – »Monsieur bezichtigt Sie der Koketterie. Er scheint obendrein noch ungerecht zu sein,« sagte Ludwig. »Nun will er sich nicht mehr beruhigen lassen.« – »Er hätte besser getan, sich gar nicht erst zu beunruhigen,« sagte Madame. »Eine böse Welt, daß nicht einmal Bruder und Schwester miteinander umgehen können, ohne Verdacht zu erregen. Wir tun doch nichts Böses und haben auch gar nicht die Absicht.«
Sie warf dabei dem König den ihr eigenen halb unschuldigen, halb verführerischen Blick zu, der selbst den kältesten Mann bezaubert haben würde.
»Für mich sind Sie ein Bruder,« fuhr sie fort; »wenn ich Ihre Hand halte, empfinde ich dabei nicht wie eine Liebende, sondern eben nur –« – »O, schweigen Sie!« rief Ludwig, »Sie foltern mich unbarmherzig.« – »Wieso denn?« fragte sie harmlos. – »Sie sagen es ja gerade heraus, daß Sie nichts für mich fühlen. Glauben Sie, ich sei von Marmelstein wie Sie? O, Henriette! Alle unsere Gespräche, die heimlichen Blicke, der oft getauschte Händedruck – das alles sollte –« – »Vorsicht,« warnte Madame, »Ihr Hofmeister Saint-Aignan sieht auf uns.«
»Ja doch!« rief Ludwig zornig. »Nie Freiheit, nie Aufrichtigkeit! Man glaubt, man hat einen Freund, und es ist ein Spion – man glaubt, man hat eine Freundin, und es ist nur eine Schwester.« – »Aber Monsieur ist doch eifersüchtig!« lispelte sie und sah ihn mit einem glühenden Blicke an. »Gegen Sie freilich hegt niemand Argwohn. Die Ruhe Ihres Hauses wird nicht gestört.« – »Ich sagte Ihnen doch schon, meine Frau ist auch eifersüchtig!« rief Ludwig. »Ich werde das Vergnügen haben, fortwährend schmollende Lippen und rotgeweinte Augen zu sehen.« – »Arme Majestät!« sagte Henriette und streichelte die Hand des Königs.
Sie schwiegen beide. Ihre Haare berührten sich, ihr Atem verschmolz zu einem, ihre Hände hielten sich fest. So vergingen fünf Minuten. Lady Henriette sah Ludwig in die Augen und erblickte im Innersten seines Herzens die Liebe, gleichwie ein Taucher die Perle in der Tiefe des Meeres wahrnimmt.
»Es gibt nur zwei Wege,« sagte sie leise. »Entweder ich kehre nach England zurück –« – »Das ist unmöglich, nennen Sie den zweiten!« fiel Ludwig ihr ins Wort. – »Oder,« fuhr sie fort, »man führt den Eifersüchtigen irre. Man tut so, als ob man einer andern den Hof machte.« – »Das ist ein sinnreiches Mittel, Henriette,« antwortete Ludwig, »und ich soll nun also unter den Damen Ihres Hofes eine auswählen, die wir als Scheinpüppchen gut verwenden können? Wie denken Sie über Fräulein von Tonnay-Charente?« – »Sie ist ein wenig zu blond,« antwortete die Prinzessin und nannte damit den einzigen Fehler, den man an der sonst so vollkommenen Schönheit der späteren Madame von Montespan finden konnte.
»Ei, so wählen Sie selbst die Dame,« sagte Ludwig, »aber treffen Sie eine gute Wahl, damit ich meine Rolle auch einigermaßen glaubhaft spielen kann, damit ich nicht, während ich jene andere ansehen soll, doch nur nach Ihnen schaue, nicht zu Ihnen spreche, wenn ich mit jener reden soll, kurz damit ich nicht mit Herz, Mund und Augen doch nach wie vor an Ihnen allein hänge!« – Diese Worte entströmten wie eine Liebesflut den Lippen des jungen Königs, und die Prinzessin errötete wonnetrunken und fand keine Antwort; ihr Durst nach Huldigungen war befriedigt.
»Ich werde nicht nach Ihrem Wunsche wählen,« sagte Madame nach langem Schweigen; »denn aller Weihrauch, den Sie auf dem Altar einer andern Göttin opfern, würde mich eifersüchtig machen. Ich werde daher mit Ihrer Erlaubnis diejenige unter meinen Damen wählen, die mir am wenigsten geeignet erscheint, Eure Majestät zu zerstreuen und einen Schatten auf mein Bild zu werfen. Sehen Sie dort drüben am Rande des Gebüsches die einzelne Dame sitzen, die allein sich nicht an der Jagd beteiligt?« – »Ganz recht, es ist die Lavallière,« antwortete Ludwig, »und sie jagt nicht mit, weil sie lahmt. Aber Sie wollen mir doch nicht dieses Mädchen bestimmen, Henriette? Sie ist eine langweilige Person. Nein, nein, Henriette!« – Madame blieb unerbittlich. – »Sie hinkt, aber es ist kaum bemerklich,« sprach sie. »Sie schweigt fast immer, aber wenn sie spricht, zeigt sie die wunderschönsten Zähne, und sie ist sanft wie ein Lamm und wird sich's gefallen lassen, von ihrem Könige getäuscht zu werden. Und wir werden endlich Ruhe haben.«
»Aber man wird sagen, ich habe einen sehr schlechten Geschmack!« rief Ludwig verdrießlich. »Das ist nicht sehr schmeichelhaft für mich.« – »Ei, alles was der König berührt, verwandelt sich in Gold,« antwortete Madame. »Man kommt. Majestät! Bieten Sie alle Vorsicht und Klugheit auf.« – »Nun, wenn es denn sein muß!« seufzte Ludwig. »Ich werde noch heute abend mit meiner Rolle beginnen.« – »Gemach!« versetzte Henriette. »Man würde nicht an die Echtheit des Gefühls glauben, wenn es so rasch aufloderte. Ein König sinkt nicht in einer Stunde von einer Henriette Stuart zu einer Lavallière herab. Jede Sache will ihre Vorbereitung, ihre Einleitung haben. Doch da kommen meine Damen mit den Schmetterlingen, die sie erbeutet haben. Wir müssen uns trennen.« – Sie reichte dem König die Hand und ging der heraneilenden Gruppe von Damen und Herren entgegen.
2. Kapitel. Das Spiel mit dem Feuer
Der Abend, an welchem das mit so großer Sorgfalt vorbereitete Ballett aufgeführt werden sollte, war herangekommen. Die Tribünen waren errichtet, die Schaubühne erstrahlte im Glänze von tausend Lampen, und jenseits des an diese Arena grenzenden Teichs war ein Feuerwerk aufgestellt, prächtiger als alle, die man bisher veranstaltet hatte. Am wolkenlosen Himmel strahlten die Sterne, als wenn die Natur selbst an diesem sonderbaren Einfall des Fürsten Gefallen gefunden hätte. Die Zuschauer fanden sich ein; der Platz der Königinnen, eine mit Samt, Seide und Brokat ausgeschlagene Loge, wurde von Anna von Oesterreich und Maria-Theresia eingenommen: die Sitzreihen füllten sich mit einem Kranze von Herren und Damen in Galatoiletten. Das Spiel begann.
Man sah zuerst auf der mit einigen Gebüschen verzierten Szene Waldgötter hin und her tanzen. Dann erschienen Dryaden – Feen des Waldes, auf die die Faune Jagd machten. Dann erschien, von allgemeinem Jubel begrüßt, der König als Gott des Frühlings, in einer über und über mit Blumen geschmückten Tunika, die seine wohlgeformte Gestalt erkennen ließen. Sein Bein – das zierlichste am Hofe – zeigte sich sehr vorteilhaft in rosaseidnem Strumpfe, und sein zarter Fuß trug einen lilafarbnen mit ein paar Blättern und Blüten befetzten Schuh.
Dann kam die Prinzessin auf die Bühne, schön wie eine Venus, in einen Schleier von Spitzen und zartem Mull gehüllt – eine wandelnde Wolke, auf der das Licht der Lampen perlmutterartige Reflexe hervorrief. Der Beifall wurde so laut, daß man die Musik nicht mehr hörte.
Der Hofmeister des Königs, Saint-Aignan, benutzte den Jubel, den Madames Auftreten hervorrief, um sich Ludwig zu nähern. – »Majestät,« flüsterte er, »ein fatales Versehen! Wir haben vergessen, in der Musik die Stelle zu streichen, die den Tanz des Grafen von Guiche begleitet. Und sie muß doch nun wegfallen. Was machen wir da? was machen wir da?« – »Sehr unangenehm!« antwortete Ludwig. »Es darf keine Stockung eintreten. Fünf Minuten ohne Musik ist langweilig – das kann uns den ganzen Erfolg verderben.« – »Majestät, darf ich darauf aufmerksam machen, daß Graf Guiche da ist?« wagte Saint-Aignan zu bemerken. – »Was? er ist hier?« fragte der König. – »Im Kostüm seiner Rolle,« antwortete Saint-Aignan. »Geruhen Majestät nach rechts zu schauen.«
Ludwig XIV. drehte sich um und erblickte den Grafen, der, in seinem prächtigen Kleide als Bote des Lenzes, hinter einem Gebüsche stand, bereit, aufzutreten, sobald die Takte seines Tanzes begannen. Der König war nicht minder erstaunt als der Herzog von Orléans, der von seinem Platz aus Guiche sehen konnte, und als Lady Henriette, die auf einer Rasenbank saß und mit unverhohlener Freude die schöne Gestalt ihres verbannten Verehrers musterte. Von Guiche näherte sich, verneigte sich vor dem König und sagte leise: »Verzeihung, Majestät, Ihr demütigster Untertan kommt, Ihnen einen Dienst zu erweisen, leichterer Art als so mancher, den er Ihnen schon auf dem Felde des Ruhms erweisen durfte.
Die schönste Szene des Balletts würde verloren gehen, wenn der Tanz des Frühlingsboten fehlen müßte. Ich wollte nicht, daß der Erfolg der von Eurer Majestät so glücklich entworfenen Aufführung durch meine Schuld vereitelt würde; deshalb verließ ich meine Güter und eilte hierher.«
»Ohne meine Aufforderung?« sprach der König; doch in einem Tone, der erkennen ließ, daß die wohlgesetzte Schmeichelei des Grafen ihn ebenso erfreute wie sein kühnes Handeln. »Gut! Tanzen Sie, das weitere werden wir nachher sehen.«
Die Musik intonierte die Takte, und der Frühlingsbote zeigte sich dem Publikum, von Händeklatschen empfangen. Doch das galt ihm gleich – sein Blick haftete an der Göttin des Balletts, und ihr Auge schien zu sprechen: »Bravo, Herr Graf! Und da man einmal eifersüchtig ist, so kann der Argwohn getrost auch noch auf Sie fallen. Wer gegen zwei Nebenbuhler mißtrauisch ist, hat eigentlich gar kein Mißtrauen.«
Das Ballett nahm seinen Fortgang.
Als die Aufführung beendet war und die vornehme Gesellschaft sich zerstreute, um in einzelnen Gruppen über das Gesehene und Geschehene zu plaudern, fanden sich zu einer dieser Gruppen die drei Freundinnen Montalais, Tonnay-Charente und Lavallière zusammen. Ihr Dienst war beendet, und sie konnten ein paar Stunden ungestört im Garten lustwandeln.
»Nun, wie hat das alles euch gefallen?« rief die Montalais, deren Wangen noch rosig erglühten. – »Mir gar nicht,« antwortete die Lavallière. – »Ach, du bist unausstehlich,« rief Fräulein Aure. »Ich bin hierhergekommen, um zu scherzen, und du steckst gleich wieder dein Nonnenantlitz auf.« – »Ich habe auch keine Lust, ernst zu sein,« sagte die Tonnay-Charente. »Es ist lustig gewesen, die ganze Geschichte mit dem König und dem Grafen von Guiche. Ich könnte ihn lieben! Sie nicht, Fräulein Luise?« – »Das gehört ja gar nicht hierher,« antwortete Luise. »Wir haben uns vorgenommen, diese Nacht in angenehmer Weise zuzubringen, ohne von Sicherheitswachen oder männlicher Begleitung behelligt zu sein. Das Wetter ist prachtvoll, und der Mond umspinnt die Baumwipfel mit Silberduft. Da ist es eine Freude, in Freiheit zu lustwandeln. Kommen Sie dort unter die hohen Bäume.« – »Ja, ehe wir gestört werden,« sagte die Tonnay-Charente, »denn vom Schlosse her kommen schon Lichter. Wahrscheinlich wollen sich noch andere die schöne Nacht in gleicher Weise zunutze machen.«
Sie hoben mit zierlichem Anstande ihre langen seidenen Kleider und eilten leichten Schrittes über den Rasen hin, bis sie im Schatten der dichten Gebüsche angelangt waren. Hier war es still und einsam, und nur leise klang das Summen der vorm Schlosse sich vergnügenden Menge, klangen die Töne der noch immer spielenden Musikanten herüber.
Die drei Mädchen gingen langsam und nicht ohne Scheu durch das Dunkel des Waldes, bis sie einen hohen Baum, die sogenannte Königseiche, erreicht hatten, wo aufgehäuftes Moos eine rohe Bank bildete, deren Lehne der gewaltige Stamm des Baumes selbst abgab.
»Wie schön ist es,« begann die Montalais, »daß man mal ein paar ganz freie Stunden hat! Daß man mal ganz offen und alles Zwanges ledig miteinander schwatzen kann!« – »Ja,« sagte die Tonnay-Charente, »so prunkvoll ein Königshof auch ist, hinter jeder Sammetfalte steckt doch eine Lüge.« – »Ich lüge nie,« sprach die Lavallière, »wenn ich nicht die Wahrheit sagen kann, so schweige ich.« – »Dann werden Sie nicht lange in Gunst sein, liebe Luise,« sagte die Montalais. »Denn hier ist es nicht wie in Blois, wo wir die alte Herzogin getrost mal auslachen durften.« – »Sie werden sich hoffentlich hier wohler fühlen,« sagte die Tonnay-Charente. »Wir haben hier doch eine Fülle von angenehmen Kavalieren, mit denen man über die gewagtesten Dinge geschmackvoll plaudern kann.«
»Was ist das für ein Geräusch?« fragte die Lavallière, erschreckend. – »Vermutlich ein Reh, das durchs Gebüsch streicht,« antwortete die Montalais sorglos. – »Wenn es nur nicht ein Mann war!« flüsterte die Tonnay-Charente. – »Ach gehen Sie, Athenais,« versetzte Fräulein Aure. »Das wäre Ihnen ja doch viel lieber. Zum Beispiel Herr von Montespan –« –»Ich finde den Grafen von Guiche schöner,« meinte Athenais. – »O, sprechen Sie nicht von dem armen Grafen,« sagte Luise. »Er kann mir leid tun. Madame macht sich ein Vergnügen, ihn zu quälen. Sie weiß nicht, was Liebe ist. Sie spielt mit diesem Gefühl, wie ein Kind mit dem Feuer spielt, ohne zu wissen, daß ein Funke einen Palast in Brand stecken kann. Sie will ihr ganzes Leben nur mit Freude ausfüllen, und dazu ist ihr jedes Mittel recht. Und wenn Graf Guiche sie noch zehnmal so innig liebt, sie wird ihn nie lieben.«
»Seien Sie froh, daß nur unsere Ohren das hören, liebe Luise,« antwortete die Tonnay-Charente. »Uebrigens muß ich Madame in Schutz nehmen. Man muß eine gewisse Herrschaft über seine Gefühle behalten und sich auch von der Liebe nicht völlig unterjochen lasten, nur dann bleibt man Königin. Solange man jung ist, darf man sich lieben und anbeten lassen, ohne selbst allzu sehr wiederzulieben. Wenn man alt und nicht mehr schön ist, dann mag das Herz, das zärtliche Gefühl, die Wärme von innen die Mängel des Aeußeren zu ersetzen suchen.« – »Sehr gut, Athenais!« rief die Montalais. »Sie werden es noch zu etwas bringen.« – »Das nennt man kokett sein,« fuhr die künftige Madame von Montespan fort, »in Wahrheit ist es nur Lebensklugheit. Aber ich gestehe, es gehört eine gewisse Begabung dazu, diese seine Mischung von Sprödigkeit und Gewährung richtig zu treffen, Huldigungen auszuteilen und doch keine Lücke in dem festen Panzer des Herzens zu zeigen, unüberwindlich zu bleiben und doch alle Männer an sich zu fesseln. Wer die Kunst besitzt, hat den Marschallstab der weiblichen Herrscherin.« – »O, wie klug Sie sind!« rief Fräulein Aure. – »Abscheulich!« flüsterte die Lavallière. »Sie sprechen, als hätten Sie nichts von allem dem, was uns zu Menschen macht! Und es ist doch eine so schöne Welt!«
»Wahrlich, eine schöne Welt!« versetzte die Tonnay-Charente, ein wenig pikiert, »wo der Mann die Frau durch Schmeicheleien kirrt und, sobald sie gefallen ist, mit Hohn von sich stößt.« – »Warum muß sie denn fallen?« antwortete Luise. – »Eine neue Theorie!« rief Athenais. »Wie wollen Sie sich dagegen schützen, besiegt zu werden, wenn Sie sich einmal von der Liebe fortreißen lassen?«
»O, Sie wissen nicht, was ein liebendes Herz ist!« sagte Luise und schlug die schönen blauen Augen zum Himmel auf. »Ein liebendes Herz hat ja viel mehr Macht als all Ihre Koketterie. Den Wahn, von Koketten angebetet zu werden, lasse man den alten Gecken. Ein echter und rechter Mann glaubt nur an echte und rechte Liebe – und er liebt, wenn er sich geliebt weiß. Sinnenrausch, Verblendung, Tollheit – dazu kann eine Kokette den Mann fortreißen; aber Liebe wird sie ihm nie einflößen. Aber nicht von einer Seite darf das Opfer kommen, es muß eine völlige Hingebung zweier Seelen sein, die ineinanderfließen, ganz eins zu werden streben.«
»O, der glückliche Rudolf von Bragelonne!« sagte Athenais spitz. »Er kann stolz sein, daß er so geliebt wird!« – Und sie schlug ein lautes Gelächter an, in das Montalais einstimmte. – »Bragelonne und glücklich?« sagte diese. »Er liebt sie schon seit zwölf Jahren und ist heute noch keinen Schritt weiter als am ersten Tage.« – »Dann ist Ihre Liebe nichts weiter als eine Unterabteilung der Koketterie, liebe Luise,« sprach Athenais. »Sie üben diese Koketterie nur aus, ohne zu ahnen, daß es eine solche ist. Es ist bei Ihnen dasselbe Manöver wie bei mir: ein zweckloses Anfachen der Leidenschaften.«
»Was du nur redest, Aurel« rief die Lavallière. »Vor zwölf Jahren war ich fünf Jahre alt. Die Hingebung eines Kindes kann dem Mädchen nicht angerechnet werden.« – »Jetzt aber bist du 17 Jahre,« antwortete Aure. »Nehmen wir also nur drei Jahre an, so bist du doch aber diese drei Jahre lang systematisch grausam gegen den Grafen von Bragelonne gewesen.« – »Was soll ich dagegen sagen?« erwiderte Luise kleinlaut. »Vielleicht glaube ich nur zu lieben – liebe aber in Wahrheit nicht – ich weiß es selbst nicht – vielleicht ist meine Zeit noch nicht gekommen.«
»Luise, Luise!« rief die Montalais, »dann sei wenigstens nicht länger grausam gegen den armen Vicomte! Wenn du ihn nicht liebst, so sage es ihm offen.« – »Und dabei bedauerten Sie doch eben noch so warmherzig den Grafen von Guiche?« setzte die Tonnay-Charente hinzu. »Sie haben mit ihm also mehr Mitleid als mit Bragelonne?« – »Verspotten Sie mich nur,« antwortete die Lavallière, »Sie verstehen mich ja doch nicht!« – »Wie? Tränen, Luise?« sagte die Montalais. »Nicht doch, wir scherzen ja nur. Sieh Athenais an – sie macht Herrn von Montespan Hoffnungen und liebt ihn doch nicht. Sieh mich an! Ich lache über Malicorne und reiche ihm doch die Hand zum Kusse. Und doch sind wir nicht viel älter als du. O, wir haben alle drei eine große Zukunft.«
»Wie närrisch ihr seid!« rief die Lavalliere. – »Da haben Sie ein wahres Wort gesprochen!« lachte die Tonnay-Charente. »Und so lieben Sie Herrn von Bragelonne nicht?« – »Sie ist sich noch nicht klar darüber,« sagte die Montalais. »Aber wenn sie ihn frei gibt, dann kann ich Ihnen nur raten, liebe Athenais, sehen Sie ihn sich einmal näher an. Er ist ein stattlicher Kavalier.« – »O, er kann sich doch mit Herrn von Guiche nicht messen,« meinte Athenais. – »Herr von Guiche wird bald wieder in Ungnade fallen, verlassen Sie sich darauf,« antwortete Fräulein Aure. – »Nun, dann haben wir noch den Herrn von Saint-Aignan, der ist auch etwas wert, nicht wahr, liebe Lavallière?«
»Warum fragen Sie mich danach?« erwiderte diese. »Mir sind alle gleich.« – »Wie? so hat Ihnen in der glänzenden Versammlung, die wir heute sahen, keiner besonders gefallen?« fragte Athenais. – »Das sage ich nicht,« entgegnete Luise. – »Dann lassen Sie hören, wer Ihr Ideal ist.« – »Wahrhaftig, ich begreife Sie nicht!« rief die Lavallière, in die Enge getrieben. »Wie kann man von den Herren Bragelonne, Guiche, Aignan, oder wie sie heißen mögen, sprechen, wenn man den König gesehen hat!«
Diese Worte, die sie offenbar in der Uebereilung aussprach, riefen bei ihren Freundinnen einen wahren Sturm der Ueberraschung hervor. – »Der König! Der König!« riefen beide wie aus einem Munde. – Die Lavallière erschrak nun selbst über die Unbedachtsamkeit, neigte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht. – »Das muß man sagen, Geschmack haben Sie,« sprach die Tonnay-Charente. »Mit dem König läßt sich schlechterdings keiner vergleichen. Aber Sie sehen da ein bißchen zu weit, liebe Luise. »Der König steht jenseits der Kavaliere, auf die uns armen Mädchen die Augen zu richten vergönnt ist.« – »Warum soll ich nicht die Sonne anschauen dürfen?« versetzte die Lavallière schwärmerisch. »Ist es doch meine Sache, ob meine Augen geblendet werden!«
Als Luise diese Worte gesprochen, erklang ein Rascheln und Knistern in dem Gebüsch neben den Damen; sie schreckten auf und ergriffen rasch die Flucht; glaubten sie doch, ein Wildschwein oder gar ein Wolf habe sich in ihre Nähe geschlichen. Sie liefen auf der ersten besten Allee entlang, die aus dem Walde herausführte, und blieben erst stehen, als sie die nächste Rasenfläche erreicht hatten. Hier schmiegten sie sich aneinander und schöpften Atem. Die Lavallière war ganz erschöpft. Sie hatte sich nur mit größter Anstrengung an der Seite ihrer leichtfüßigeren Freundinnen halten können; jetzt vermochte sie nicht weiterzugehen. Aure und Athenais wollten sie führen, denn sie erkannten jetzt an einigen durch die Gesträuche schimmernden Lichtern die Richtung, in der das Schloß lag.
»Wir sind noch glücklich davongekommen,« sagte die Montalais. – »Ach, Freundinnen,« antwortete Luise, »ich fürchte, es war noch etwas Schlimmeres als ein Wolf. O, wie konnte ich nur so sprechen!« Sie ließ den Kopf sinken, ihre Knie wankten, die Kräfte verließen sie. Bewußtlos fiel sie auf den Rasen.
Die drei fliehenden Mädchen hatten die Königseiche kaum verlassen, als zwei Männer aus dem Gebüsch, in dem sie es hatten rascheln hören, hervortraten. – »Majestät,« sagte der eine von ihnen, »nun haben wir sie vertrieben.« – »Wir müssen sie einholen, Saint-Aignan,« sagte der zweite, kein anderer als Ludwig XIV. – »Und ich glaube, sie werden sich gern einholen lassen, wenn sie nur erst merken, daß wir keine wilden Tiere sind,« antwortete der Hofmeister. – »Wieso meinst du –?« – »Nun, die eine hat Eure Majestät nach ihrem Geschmack gefunden, die andere mich,« erwiderte Saint-Aignan. »Wir müssen auskundschaften, wer diese drei Nymphen gewesen sind.« – »O, die eine wenigstens werde ich sofort an der Stimme wiedererkennen,« sagte der König. »Die Holde, die von mir sprach, hatte ein seltsam schönes, weiches und warmes Organ.«
»Die Stimme allein macht es nicht, Majestät,« sagte der Hofmeister. »Oder wollen Sie über die bloßen Klänge dieser Stimme schon die kleine Schwärmerei vergessen, zu deren Vertrauten Sie mich eben zu machen geruhten? Schöne Augen sind doch mehr wert als eine schöne Stimme – und die Augen der kleinen Lavallière –!« – »Du bist ein schrecklicher Schwätzer, Saint-Aignan,« sagte der König mit gut gespieltem Verdruß. »Wehe dir aber, wenn du plauderst! Wenn ich erfahre, daß morgen schon alle Welt um meine Absichten auf die Lavallière weiß, dann werde auch ich wissen, wer mich verraten hat, denn niemand als dir habe ich etwas davon gesagt.«
»O, welche Heftigkeit, Sire!« – »Du begreifst doch, ich möchte das arme Kind nicht kompromittieren. Versprich mir also –« – »Mein Wort darauf!« – »Gut,« dachte Ludwig, »morgen weiß es der ganze Hof, daß ich heute nacht der Lavallière nachgelaufen bin. Und nun,« setzte er laut hinzu, »laß uns ein wenig Jagd auf diese Schönen machen. Ich muß gestehen, dieses naive Geständnis, diese ganz uneigennützige Vergötterung von seiten eines Mädchens, das vielleicht von mir niemals beachtet werden wird, mit einem Wort, das Geheimnisvolle dieses Abenteuers reizt mich, und wenn ich es nicht auf die Lavallière abgesehen hätte –« – »O, deshalb hätten Majestät immer noch zu einem kleinen Abstecher in der Liebe Zeit genug; man sagt, die Lavallière sei sehr spröde.« – »Du reizest mich noch mehr, Saint-Aignan. Ich würde sie gern finden!« rief der König. – Er log: es lag ihm nichts daran, aber er hatte eine Rolle zu spielen.
Sie eilten über den Rasen. Da schlugen plötzlich Hilferufe an ihr Ohr. Sie liefen nun schnell der Stelle zu und fanden drei Damen, von denen eine am Wege stand und rief, während die zweite neben der am Boden liegenden dritten kniete. Der König trat ohne Umstände herzu. – »Was gibt es, meine Damen?« rief er. – »O Gott, Seine Majestät!« rief die Montalais und ließ in ihrer Bestürzung den Kopf der Lavallière fallen, die nun vollends auf den Rasen sank. – »Ja, ich bin es, und ich will Ihnen helfen. Was ist Ihrer Freundin geschehen?« antwortete Ludwig. »Wer ist sie?« – »Das Fräulein von Lavallière, Sire. Sie ist in Ohnmacht gefallen.« – »Das arme Kind!« rief der König. »Saint-Aignan, eilen Sie, einen Arzt zu holen. Doch nein, ich will selbst gehen. Bleiben Sie so lange bei den Damen!« Der König sprach diese Worte zwar mit großer Besorgnis und entfernte sich auch in großer Hast, doch hatte Saint-Aignan dennoch das Gefühl, als käme ihm diese Teilnahme nicht von Herzen. Ton und Gebärde erschienen ihm kalt.
Saint-Aignan wartete nicht, sondern rief einige Parkhüter herbei, die die Ohnmächtige trugen. Sie kam jedoch schon unterwegs zur Besinnung und konnte den Weg zum Schlosse zu Fuße vollenden. Inzwischen eilte der König, froh, einen Anlaß zu einem Besuche zu haben, in die Gemächer der Herzogin von Orléans.
»Sire, das sieht nicht nach Gleichgültigkeit aus,« sagte Madame scherzend. – »Wir haben einen Vertrag abgeschlossen, der meine Kräfte übersteigt,« antwortete Ludwig. »Haben Sie schon von dem Unfall gehört? Doch nein, ich komme ja eben her, es Ihnen zu erzählen. Das Fräulein von Lavallière, unsere Marionette, wenn ich so sagen darf, hat im Park einen Ohnmachtsanfall erlitten.« – »Das arme Kind,« sagte die Herzogin. »Wie ist es zugegangen? Und Sie wollen eine feurige Liebe zu diesem Mädchen zur Schau tragen und sind bei mir, während sie ohnmächtig ist.« – »Sie denken an alles, Henriette,« antwortete der König, »Sie haben mehr Talent als ich, eine Rolle zu spielen. Gut, ich verlasse Sie, um mich persönlich davon zu überzeugen, ob es der Kranken besser geht.«
Unterwegs begegnete der König dem Grafen von Saint-Aignan. – »Sire,« rief der Hofmeister, »denken Sie doch nur, die drei Damen, die wir getroffen haben, waren unsere drei Schwätzerinnen. Ich habe die Stimme derjenigen erkannt, die sich so lebhaft für meine Person interessierte. Es ist das Fräulein von Tonnay-Charente.« – »Entschieden eine Eroberung, Graf,« antwortete die Majestät. »Mich beschäftigt jetzt aber nur die Ohnmächtige. Wie geht es ihr? Führen Sie mich in das Zimmer, in das Sie sie gebracht haben.« – »Majestät werden Ihre Bewunderin auch leicht an der Stimme wiedererkennen,« sagte Saint-Aignan mit vielsagendem Lächeln.
Wenige Minuten später trat Ludwig XIV. bei Fräulein Luise von Lavallière ein. Sie ruhte in einem Armstuhle am offenen Fenster und atmete die würzige Nachtluft. Durch die zerdrückten Spitzen ihres Hemdes schimmerte das zarte Rosa des Busens; die blonden Locken fielen entfesselt auf die Schultern. In ihren schmachtenden Augen standen Tränen. Die Blässe ihres Gesichts hatte einen unbeschreiblichen Reiz, und etwas Rührendes, Edles lag in der Haltung ihrer regungslosen Arme, ihres anscheinend noch leblosen Körpers. Der König trat ein, ohne daß sie ihn zunächst bemerkte, und betrachtete das liebliche Gesicht, auf das der milde Schein des Mondes fiel. – »Mein Gott,« sagte er, »sie ist wohl tot?« – »Nein, Majestät,« flüsterte die Montalais, »sie befindet sich vielmehr besser. Luise, Seine Majestät geruhen, sich nach deinem Befinden zu erkundigen.«
»Der König!« rief die Lavallière und richtete sich plötzlich auf, von jäher Nöte übergossen. »Der König fragt nach mir? Der König ist selbst gekommen?« – »O, diese Stimme!« flüsterte Ludwig seinem Hofmeister zu, der mit dem Kopf nickte. – »Majestät haben recht,« sagte der Graf leise, »es ist die Sonnenverehrerin.« – »Still!« gebot der König und trat auf Luise zu. »Sie sind nicht wohl. Fräulein?« Soeben sah ich Sie in Ohnmacht. Wie ist das gekommen?« – »Majestät, ich weiß es selbst nicht,« stammelte die Lavallière. – »Sie sind gewiß zu weit gelaufen und müde geworden,« sagte Ludwig. – »Nein, Majestät, wir haben ja ganz still unter der Königseiche gesessen,« warf die Montalais ein. »Wir plauderten miteinander, da glaubten wir, einen Wolf oder sonst ein Tier im Gebüsch hinter uns zu hören, und das hat uns allen einen heftigen Schreck verursacht.«
»O, Fräulein,« rief der König mit einer Teilnahme, die er nicht mehr zu verbergen vermochte, »fürchten Sie nichts: es war nur ein zweibeiniger Wolf.« – »Ein Mann?« fragte die Lavallière. »O, mein Gott, so hat man gehört, was ich gesprochen habe.« – »Und schadet das denn etwas?« antwortete der König. »Haben Sie etwas gesagt, das niemand hören durfte?« – Luise verbarg den Kopf in den Händen. »O, mein Gott!« stammelte sie. »wer war es denn, der uns belauschte?« – »Ich,« antwortete der König und ergriff ihre Hand. »Fürchten Sie nichts von mir!«
Die Lavallière stieß einen lauten Schrei aus. Abermals schwanden ihre Kräfte, und sie wäre ohnmächtig auf den Boden gefallen, wenn der König nicht aufgesprungen wäre und sie in die Arme genommen hätte. Die beiden andern Mädchen, die Montalais und die Tonnay-Charente, waren selbst so bestürzt über die Lösung des Rätsels, daß sie nicht zuzugreifen wagten.
Ludwig XIV kniete auf dem Teppich und hielt Luise umfangen. Ihr entfesselter Busen lag vor seinem Blicke bloß, ihr Kopf ruhte auf seiner Schulter, ihre Locken fielen über seine Brust. Er vernahm das stürmische Klopfen ihres Herzens. Tief ergriffen, war er selbst nahe daran, die Besinnung zu verlieren, in so heftiger Wallung strömte ihm das Blut zu Kopfe, als er diese schöne jugendliche Gestalt so eng umschlungen hielt. Da sprang endlich die Montalais beherzt hinzu und hob Luise auf.
»Meiner Treu, das ist ein Ereignis!« rief Saint-Aignan. »Ich muß der erste sein, der das weitererzählt.«
Der König trat mit bebenden Lippen und geballter Faust auf ihn. »Graf!« flüsterte er, »kein Wort darüber!« – Aber die arme Majestät vergaß, daß sie vor einer Stunde noch dem Grafen denselben Befehl gegeben hatte, freilich in ganz entgegengesetzter Absicht – nämlich mit dem Wunsche, er möchte trotzdem indiskret sein. Der zweite Befehl wurde nun infolgedessen auch nicht ernst genommen.
Eine halbe Stunde später wußte denn auch ganz Fontainebleau, daß die Montalais, Tonnay-Charente und Lavallière bei einem intimen Gespräch, in welchem die letztere ihre Liebe zum König ausgeplaudert hatte, von diesem selbst belauscht worden waren, und daß der König gleich darauf gar noch die ohnmächtige Lavallière fast fünf Minuten lang in den Armen gehalten. Das war natürlich ein großes Ereignis, und alle Welt schwur darauf, Majestät liebe die Lavallière. Die Königin-Mutter hatte nichts Eiligeres zu tun, als die Nachricht ihrem zweiten Sohne zu überbringen, mit dem Bemerken, er brauche nicht mehr eifersüchtig zu sein. Den gleichen Trost spendete sie ihrer Schwiegertochter, der Infantin von Spanien. – Philipp von Orléans frohlockte und suchte seine Gemahlin auf. Madame wußte nicht recht, was sie davon halten sollte, nahm jedoch in der festen Ueberzeugung, es sei dabei manches stark übertrieben, und eine Lavallière könne ihr das Herz des Königs nicht streitig machen, die Nachricht zunächst ein wenig skeptisch auf. – »Ei,« sagte sie, »die Lavallière soll doch verlobt sein?« – »Ganz recht, mit dem Grafen von Bragelonne,« antwortete Philipp, »aber das Merkwürdige ist ja eben, daß der König selbst sich gegen dieses Verhältnis erklärt hat, indem er sein Einverständnis zur Eheschließung verweigert hat.« – »Was sie sagen?« rief Madame, ein wenig betroffen. »Nun, so müssen die Liebenden warten, bis Majestät andern Sinnes wird. Das Paar ist jung, sie haben beide noch Zeit. Und dieses offenherzige Bekenntnis, das die Lavallière unter der Königseiche sprach – wann hat sie es denn eigentlich abgelegt?« – »Etwa vor zwei Stunden.« – Nun stutzte Madame ernstlich. »Wie?« murmelte sie wie zu sich selbst, »der König war seitdem schon wieder bei mir und hat mir gar nichts davon gesagt.« – »Begreiflich!« lachte Orléans, »hat er doch befohlen, nichts auszuplaudern. Es sollte alles ganz geheim gehalten werden.« – Die Prinzessin fühlte sich verletzt. Unbedingt mußte sie sofort mit dem König selbst sprechen. Sobald sie allein war, sandte sie ihm ein Billett, und Majestät erschien, denn obwohl sich in wenigen Stunden eine so große Wandlung mit ihm vollzogen hatte, daß er für die Prinzessin nichts mehr empfand, so zeigte er sich doch noch immer liebenswürdig und zuvorkommend.
Da er das Gespräch nicht auf Fräulein von Lavallière lenkte, so fragte Madame nach dem Befinden ihrer Ehrendame. – »Immer noch schlecht,« antwortete Ludwig anscheinend gleichgültig. – »Das Gerücht, das wir unter die Leute bringen wollten,« sagte sie, »hat sich sehr rasch verbreitet.« – »Fast rascher, als wir wünschten,« antwortete der König zerstreut. – Madame schwieg und wartete, ob er etwas von dem Abenteuer unter der Königseiche erzählen würde; aber er sprach kein Wort davon. Madame kam auch nicht darauf zu sprechen, so daß, als der König Abschied nahm, beiderseits jede vertrauliche Mitteilung unterblieben war.
Kaum war der König gegangen, so beschied sie Saint-Aignan zu sich, und von ihm erfuhr sie nun alles bis auf die kleinsten Einzelheiten; denn er wünschte sich nichts Besseres, als die Anekdote einem Mitglieds der königlichen Familie zu erzählen. – »Und glauben Sie denn, Herr Graf,« fragte sie, »das Geständnis der Lavallière habe einen tiefen Eindruck auf den König gemacht?« – »Sie hat ihn mit der Sonne verglichen,« antwortete er, »und das ist sehr schmeichelhaft.« – »Der König läßt sich durch solche Schmeicheleien nicht fangen,« meinte sie. – »Der König ist ebensosehr Mensch wie Sonne,« sagte der Hofmeister, »und ich habe es eben mitangesehen, wie er die Lavallière im Arm gehalten hat. Ihr Busen ruhte an seiner Brust, ihre Locken fielen über seine Schulter, ja ihre Wange ruhte an der des Königs.« – Madame stieß ein krampfhaftes Gelächter aus. »Ich danke Ihnen, Graf!« rief sie, »Sie sind ein scharmanter Erzähler.«
3. Kapitel. Unter der Königseiche
Madame rief am folgenden Abend Athenais von Tonnay-Charente zu sich. »Führen Sie mich doch einmal zu jener Königseiche, liebe Athenais,« sagte sie. »Ich möchte doch gar zu gern den Schauplatz dieses romantischen Abenteuers, in das Sie ja auch verwickelt sind, mit eigenen Augen sehen. Glauben Sie wirklich, der König habe alles gehört, was Sie gesprochen haben?«
»Jedenfalls hat er alles gehört, was die Lavallière gesprochen hat,« antwortete Athenais boshaft; denn sie durchschaute das Spiel der eifersüchtigen Herzogin. – »Ich würde gern einmal eine Probe anstellen, ob wirklich dort die Akustik so gut ist,« lachte Madame. Aber ihr Lachen klang doch recht gezwungen, wie der Ton einer Trompete, die einen Sprung hat. »Zeigen Sie mir diese famose Eiche.«
Athenais führte die Herzogin. – »Hier ist es, Königliche Hoheit.« – »Nun wollen wir doch gleich einmal hören, ob man wirklich verstehen kann –« – »Still!« flüsterte Athenais und hielt Madame mit einer Heftigkeit zurück, die gegen die Etikette war. »Hören Sie wohl? Hören Sie nun, daß man alles versteht?« – »In der Tat, es spricht jemand,« flüsterte Madame. Sie hielt den Atem an und vernahm nun die folgenden, von einer wohlklingenden Stimme gesprochenen Worte: »Ich sage dir, Rudolf, ich liebe sie rasend, ich werde sie lieben, koste es mich auch das Leben!«
Die Prinzessin fühlte sich von einem Schauer der Freude durchbebt, als sie diese Stimme hörte; ihre Augen blitzten. Sie zog ihre Begleiterin ein Stück weit zurück, bis man nichts mehr hören konnte. »Warten Sie hier, Athenais,« befahl sie leise, »und geben Sie acht, daß niemand uns überrascht. Ich glaube nämlich, in diesem Gespräch dort drüben ist von Ihnen die Rede. Da will ich einmal horchen. Wenn wir beide zusammen hier bleiben, könnten wir entdeckt werden. Erwarten Sie mich am Saum des Waldes.« Und da die Tonnay-Charente zögerte, setzte sie schroff hinzu: »Gehen Sie!« – Athenais raffte ihr seidenes Kleid und entfernte sich langsam. Die Herzogin kehrte zu dem Gebüsch zurück, in dessen tiefem Schatten sie sich verbarg. – »Ich bin doch begierig, zu hören,« dachte sie. »was Graf von Guiche, dieser verliebte Narr, Herrn Rudolf von Bragelonne von mir zu sagen hat.«
Nach einem kurzen Schweigen ergriff Rudolf das Wort. Er lehnte am Stamme, während sein Freund auf der Bank von Moos saß. – »Lieber Junge,« sprach Bragelonne, »deine Liebe ist dein Unglück. Sie wächst über dich selbst hinaus. Du gehörst dir nicht mehr selbst; der Wahnsinn schlägt über deinem Haupte zusammen wie eine Flut, die dich verschlingt, wie ein Feuer, das dich verzehrt. Und das schlimmste ist, deine Liebe ist so groß, daß sie nicht mehr zu verbergen ist. Alle Welt sieht sie dir an. Du kannst kein Geheimnis mehr daraus machen. Deine Rückkehr ist eine entsetzliche Unbesonnenheit gewesen. Wenn du nicht in letzter Stunde noch dich gewaltsam aufraffst, so steht die Katastrophe nahe bevor; und daß sie ein dir verhängnisvolles Ende nehmen muß, darüber bist du dir wohl nicht im Zweifel. Wer soll dich retten? Sie etwa? Auch sie kann dich von der Anklage dieser sträflichen Liebe, mag sie selbst auch sie nicht geteilt haben, nicht erretten.«
»Mag es so kommen,« antwortete der Graf. »Was ist der Tod? Ich lebe ja jetzt schon nicht mehr; denn ich lebe nur durch sie. Ich bin kein Mensch mehr; meine Kräfte sind erschöpft, meine letzten Entschlüsse sind verschwunden – ich gebe den Kampf auf. Sieh, als ich in dem Ballett trotz der königlichen Verbannung erschien, da dachte ich: du wagst dein Leben, es ist so nicht mehr viel wert. Und sie empfing mich freundlich; ich lebte auf in neuer Hoffnung. Was ist daraus geworden? Nicht ein Wort hat sie mit mir gesprochen – nicht einen Blick hat sie mir nachher noch vergönnt. Als der Tanz beendet war, hatte auch meine Person wieder ausgespielt. Zuerst habe ich mit mir selber gekämpft, dann habe ich gegen Buckingham gekämpft – mit dem König aber kann ich es nicht aufnehmen. Und selbst wenn der König zurücktritt, wo ist die Gewähr, daß ich glücklich würde? Sie ist ja gefühllos.«
»Du kannst ihr keinen Vorwurf machen,« erwiderte Bragelonne, »es ist ihr Temperament: ein wenig leichtfertig und wetterwendisch. Ich gebe zu, wer sein Herz noch nicht vergeben hat, kann sie nicht ansehen, ohne sie zu lieben, denn sie ist schön. Aber du solltest in ihr doch den Rang ihres Gemahls achten und vor allem auf deine eigene Selbstachtung und Sicherheit bedacht sein.« – »O, sprich nicht soviel Gutes von ihr,« fiel Guiche ihm ins Wort. »Ich kenne sie besser: sie ist nicht leichtsinnig, sondern frivol, nicht wetterwendisch, sondern charakterlos. Kurz, sie ist eine raffinierte Kokette ohne Herz. Sie könnte mit kaltem Blute ihr Opfer sterben sehen. O. Rudolf, ich habe Mut und kenne keine Furcht; ich liebe alle Gefahren leidenschaftlich – aber hier ist eine Gefahr, die meine Kraft und meinen Mut übersteigt. Und dennoch will ich noch über sie triumphieren. Ich werde vor sie hintreten und ihr zurufen: Ich liebte Sie bis zum Wahnsinn, ich warf mich vor Ihnen in den Staub, aber Sie haben mich in herzloser Laune und in kalter Grausamkeit mit den Füßen getreten. Ob Sie auch eine Prinzessin von königlichem Blute sind, Sie sind der Liebe eines Ehrenmannes nicht wert. Meine Liebe war eine Torheit, für die ich mir selbst die Todesstrafe auferlege, aber ich werde sterben mit dem Gefühl des Hasses wider Sie! Ich verlasse mein Vaterland, in der Fremde wird vielleicht ein Ungar, ein Kroate oder ein Türke die Barmherzigkeit haben, mir eine Kugel in die Brust zu jagen.«
Von Guiche verstummte. Das Gebüsch teilte sich – eine weibliche Gestalt, bleich, doch mit königlicher Haltung erschien vor den jungen Männern. Sie erkannten Lady Henriette. Der Graf sprang auf und stand da wie versteinert. Rudolf war keines Wortes fähig. – »Herr von Bragelonne,« sagte die Herzogin mit leise bebender Stimme, »haben Sie die Güte, sich umzuschauen, ob meine Damen in der Nähe sind. Sie, Graf Guiche, bleiben hier. Ich bin ermüdet. Geben Sie mir Ihren Arm.« – Bragelonne ging wie ein Träumender.
Von Guiche stand hochaufgerichtet vor Henriette, die diese Worte in kaltem, strengem Tone gesprochen hatte. Dann verneigte er sich mit der Grazie, die ein Hofmann noch auf dem Schafott bewahren würde, und reichte Henriette den Arm. Sie waren allein – rings um sie her lag der dunkle, schweigende Wald. Madame führte den Grafen von dem indiskreten Baume fort, der so vieles gehört und wiedergesagt hatte, bis sie eine Lichtung erreichten. – »Ich gehe hierher mit Ihnen.« sagte sie, »weil dort, wo wir zuerst standen, alles zu hören war.«
»Hoheit, wollen Sie damit sagen –?« – »Daß ich alles gehört habe, was Sie sprachen, ja!« – »O, mein Gott, das hat noch gefehlt,« stieß Guiche hervor. – »Und Sie beurteilen mich im Ernst so schlecht?« fragte sie. – Guiche senkte den Kopf und schwieg. – »Gut,« fuhr sie fort, »diese Aufrichtigkeit ist mir lieber als eine Schmeichelei. Ich bin für Sie also eine verachtungswürdige Kokette –« – »Verachtungswürdig?« rief der Graf. »Sie? O, nein, das kann ich nicht gesagt haben. Ich kann nicht verachtungswürdig genannt haben, was mir das Kostbarste auf Erden ist.«
»Ein Weib, das ruhig zusieht, wie ein Mann an dem von ihr angezündeten Feuer umkommt, ist verachtungswürdig,« antwortete Henriette. »Nun, Herr Graf. Sie sollen nicht durch mich ums Leben kommen. Ich will anders gegen Sie sein. Aufrichtig bin ich schon immer gewesen, ich will nun auch wahr sein. Und deshalb, Herr Graf, bitte ich Sie, lieben Sie mich nicht mehr und vergessen Sie, daß ich jemals einen Blick, ein Wort mit Ihnen getauscht habe. Verzeihen Sie mir meine Koketterie, und ich will Ihnen verzeihen, daß Sie mich sogar frivol und charakterlos genannt haben. Lassen Sie die Todesgedanken und erhalten Sie Ihrer Familie, dem König und den Damen einen Kavalier, der von allen geachtet und von vielen geliebt wird.« – Sie sprach diese letzten Worte in einem so zärtlichen Tone, daß dem armen Guiche das Herz zerspringen wollte. – »Madame, Madame!« rief er. – »Wenn Sie meine Bitte erfüllt haben,« fuhr die Herzogin fort, »dann wird an die Stelle dieser Liebe aufrichtige Freundschaft treten. Wenn Sie mir diese bieten, so werde ich sie von ganzem Herzen aufnehmen.«
Dem Grafen rann kalter Schweiß von der Stirn; er hatte den Tod im Herzen, ein Schauer durchbebte ihn; er biß sich auf die Lippe und murmelte tonlos: »Das kann nie geschehen. Aus Freundschaft kann wohl Liebe werden – doch aus Liebe, aus wahrer Liebe wird nimmermehr Freundschaft! Madame, Sie können mich verstoßen, Sie können mich verfluchen – Sie werden recht daran tun, denn ich habe Sie beleidigt. Aber es geschah aus Liebe. Ich will den Tod erleiden, aber sterbend noch werde ich Sie lieben.«
»Dann,« antwortete sie mit heiterem Lächeln, »ist das Uebel unheilbar und muß mit schmerzstillenden Mitteln behandelt werden. Geben Sie mir Ihre Hand! O, wie kalt ist sie.« – Von Guiche kniete ungestüm nieder und preßte die Lippen nicht auf eine, sondern auf beide Hände der Prinzessin. Sie zog ihn zu sich empor. – »Da es nicht anders sein kann,« flüsterte sie, »so lieben Sie mich nur!« – Guiche zitterte am ganzen Körper, und die Prinzessin fühlte dieses Beben und erkannte daran, wie tief seine Liebe war. – »Ihren Arm, Graf!« sagte sie. »Lassen Sie uns nach Hause gehen.« – »Königliche Hoheit,« stammelte der Graf, »haben ein drittes Mittel gefunden, mich zu töten.« – »Aber es ist glücklicherweise das langwierigste,« antwortete sie.
4. Kapitel. Das Geheimnis der Jesuiten
An einer anderen Stelle des königlichen Gartens sah man den Oberintendanten Fouquet an der Seite des Bischofs von Vannes. Der Minister musterte die festlichen Vorkehrungen, die man von seinem Gelde hergerichtet hatte, und suchte mit den Blicken in der Schar von Höflingen und Edelherren, die plaudernd umherstanden, den Mann, mit dem er sich in der letzten Zeit so viel zu beschäftigen hatte, Colbert, den emsigen Minierer, der sich's in den Kopf gesetzt hatte, Fouquets Größe zu untergraben. – »Da ist er,« sagte er zu seinem Begleiter. »Man beweihräuchert ihn von allen Seiten, sehen Sie nur! Er ist wirklich schon eine Macht.« – Colbert näherte sich, von einer ganzen Schar von Höflingen umringt, deren jeder ihm etwas Schmeichelhaftes zu sagen hatte. Fouquet begrüßte ihn mit etwas spöttischer Miene. – »Nun, gnädigster Herr,« sagte Colbert, »gefällt Ihnen, was wir hier zustande gebracht haben?«
»Sehr gut,« antwortete Fouquet trocken. – »Wie nachsichtig,« versetzte der Intendant spitz. »Wir Leute des Königs sind arm. Fontainebleau kann sich nicht mit Vaux vergleichen. Wir haben getan, was wir mit unsern geringen Hilfsmitteln vermochten. Aber von Ihrer Prachtliebe läßt es sich wohl erwarten, daß Sie dem König zu Ehren ein Fest in Ihren eigenen Gärten veranstalten werden – in jenen Gärten, die Ihnen jährlich sechs Millionen kosten.« – »Sieben,« berichtigte Fouquet. »Und glauben Sie, Majestät würde meine Einladung annehmen?« – »Daran zweifle ich nicht,« antwortete Colbert. »Ja, ich würde dafür einstehen?« – »Sehr gütig,« erwiderte Fouquet. »Wenn ich auf Sie zählen kann, so werde ich es mir überlegen.« – »Ueberlegen, wenn der König –?« unterbrach ihn Colbert. – »Jawohl, ich will überlegen, für welchen Tag ich am besten den König einladen könnte,« sagte Fouquet. »Meine Herren, ich möchte gleich auch Sie alle einladen,« setzte er hinzu und sah sich lächelnd rings um, »aber Sie wissen, wo Majestät zu Gaste ist, da ist er der Herr. Sie müssen also die Einladung vom König selbst erwarten.« – Er grüßte und entfernte sich.
»Eitler Prahler!« murmelte Colbert hinter ihm her. »Du nimmst es an und weißt doch, daß es dich zehn Millionen kosten wird.« – »Ich bin ruiniert!« sagte Fouquet im Weggehen. – »Sie sind gerettet,« antwortete Aramis ruhig.
Fouquet ließ sich beim König melden. – »Fouquet?« rief Ludwig. »Ich habe ihm geschrieben, er solle früh in Fontainebleau sein, und jetzt ist es zwei Uhr morgens. Das nenne ich Eifer! Er soll kommen.« – Fouquet trat ein, und Ludwig stand auf, ihn zu empfangen. – »Guten Abend, Herr Fouquet,« sagte er mit huldvollem Lächeln, »freut mich, daß Sie so pünktlich sind. Sie können doch aber meine Botschaft erst spät erhalten haben.« – »Um neun Uhr abends,« antwortete der Minister. – »Sie haben in diesen Tagen viel gearbeitet, Herr Fouquet,« sagte der König. »Man hat mir versichert, Sie hätten in der letzten Zeit so viel gearbeitet, daß Sie wochenlang nicht aus Ihrem Kabinett gekommen seien.« – »Allerdings, Sire,« erwiderte Fouquet, sich verneigend. »Ich arbeitete in Ihrem Dienst, und da ich nach so langer Zeit wieder vor Sie trete, Majestät, darf ich wohl um eine Gunst bitten, die von Ihnen bewilligt worden ist, um eine Audienz für meinen Begleiter, den Bischof von Vannes. Eure Majestät haben geruht, ihn auf meine Empfehlung hin vor drei Monaten zum Bischof zu ernennen.« – »Das ist möglich,« antwortete der König, der unterzeichnet hatte, ohne zu lesen. »Ist er da?« – »Ja, Majestät, Bischof d'Herblay wartet draußen.«
»D'Herblay?« murmelte Ludwig XIV., als erinnere er sich, diesen Namen früher einmal gehört zu haben. »Lassen Sie ihn hereinkommen.« – Fouquet gab dem Türsteher einen Wink, und Aramis trat ein. Der König ließ ihn die Begrüßungsworte sprechen und heftete währenddem einen langen Blick auf das charakteristische Gesicht, das niemand, der es einmal gesehen, vergessen konnte. – »Sie sind Bischof von Vannes?« fragte Ludwig XIV. – »Ja, Sire.« – »Vannes liegt in der Bretagne, und nahe am Meer?« – »Einige Meilen von Belle-Ile,« antwortete Aramis, sich abermals verneigend. – »Man sagt, Herr Fouquet habe dort ein schönes Schloß.« – »Ja, so sagt man,« erwiderte Aramis mit einem gleichgültigen Blick auf den Minister. – »Sagt man? Wie? So haben Sie selbst wohl Belle-Ile noch gar nicht gesehen?« – »O, wir armen Diener der Kirche,« sagte Aramis, »bleiben, wo wir wohnen.« – »Bringt Vannes so wenig ein?« fragte Ludwig. – »6000 Livres, Majestät.« – »Aber Sie sind doch wohl vermögend?« – »Ich besitze nichts, Sire. Doch Herr Fouquet bezahlt für einen Kirchenstuhl jährlich 12 000 Livres an mich.«
»Ich werde an Sie denken. Herr d'Herblay,« sagte der König. – Aramis verneigte sich; denn er wußte, daß die Audienz beendet war. Der König verneigte sich ebenfalls.
Mit seiner schlichten Landpfarrermiene ging Aramis hinaus.
»Ein merkwürdiges Gesicht,« murmelte der König, ihm nachsehend. »Herr Fouquet,« wandte er sich an den Minister, »wir haben in diesen Tagen viel ausgegeben. Werden Sie nicht böse sein?« – »Majestät haben noch zwanzig Jugendjahre vor sich,« antwortete der Oberintendant, »und dürfen in diesen zwanzig Jahren noch eine Milliarde ausgeben.« – »Nun, in den nächsten zwei Monaten werde ich Sie nicht mehr in Anspruch nehmen,« sagte der König. – »Ich werde die Zeit benützen, für Sie zu sparen,« entgegnete der Minister. »Majestät haben übrigens auch an Herrn Colbert und mir zwei schätzenswerte Diener.« – Dieses dem Feinde gespendete Lob flößte dem König Bewunderung ein. Er streckte die Waffen vor dieser Klugheit und diesem Edelmut. – »Sie loben Herrn Colbert?« fragte er, nur mit Mühe sein Erstaunen verbergend. – »Gewiß. Herr Colbert hat hier alles trefflich angeordnet.« erwiderte Fouquet, »und verdient auch das Lob Eurer Majestät.«
Herr Fouquet verstand es meisterhaft, in den Ton dieser Worte ein gewisses Etwas zu legen, das absprechend klang. Ludwig hatte für solche Feinheiten ein ebenso feines Gefühl und erkannte, daß nach Fouquets Meinung die Festlichkeiten in Fontainebleau noch glänzender hätten sein können. Er empfand nun etwas von jenem Aerger des Provinzlers, der in prächtigen Kleidern nach Paris kommt und wenig beachtet wird. Die zurückhaltende, feine Aeußerung Fouquets flößte dem König noch mehr Respekt vor dem Charakter und den Fähigkeiten dieses Mannes ein. Als Ludwig XIV. sich in dieser Nacht das ganze Fest noch einmal vergegenwärtigte, fand er nachträglich auch einiges auszustellen. Fouquet aber hatte durch seine Höflichkeit und sein Lob Colbert mehr geschadet, als dieser durch seine Heimtücke dem Finanzminister bisher je hatte schaden können.
Aramis begab sich nach der Audienz in den Gasthof von Fontainebleau, der den Namen »Zum schönen Pfau« führte. Dort waren an diesem Tage – ein seltenes Ereignis für die Herberge – sieben Reisende eingekehrt, wobei die Dienerschaft der Herren gar nicht mitgezählt ist: ein Brigadier von der deutschen Armee, namens Wostpur, mit einem Sekretär, einem Arzt, drei Bedienten und sieben Pferden – ein spanischer Kardinal namens Herrebia mit zwei Neffen, zwei Sekretären, einem Diener und zwölf Pferden; ein reicher Kaufmann aus Bremen mit einem Diener und zwei Pferden; ein venetianischer Senator mit Frau und Tochter, der sich Signor Marini nannte; ein schottischer Laird mit sieben Hochländern und dem stolzen Namen Mac Cumnor; und ein Oesterreicher aus Wien, den man nur den »Herrn Rat« nannte; endlich eine Dame, welche ebenfalls keinen Familiennamen nannte, sondern nur als »die flämische Dame« einkehrte. Obwohl alle diese Reisenden an ein und demselben Tage ankamen, entstand im Gasthof keine Verwirrung, denn die Zimmer waren schon seit einer Woche bestellt und instand gesetzt.
Als sie sich auf ihre Stuben verteilt hatten, langte vor dem Gasthof eine Sänfte an, aus der man einen Franziskanermönch, der schwerkrank zu sein schien, heraushob. Für ihn war ein kleines Zimmer, ganz abseits von den andern gelegen, bereitgehalten worden. Man brachte ihn dorthin. Er ließ sich in einen Lehnstuhl setzen und rief den Wirt herbei.
»Guter Mann,« sagte er zu ihm, »schicken Sie die Leute da nicht weg, ohne ihnen eine Kleinigkeit für ihren guten Willen zu verabreichen. Ich bin ein armer Bettelmönch, der nichts übrig hat. Hätten sie mich aber nicht, halbverschmachtet wie ich war, von der Straße aufgehoben und hierher gebracht, so läge ich jetzt vielleicht tot im Graben.« – Der Wirt machte große Augen, dann verneigte er sich, ohne etwas zu antworten, sehr ehrerbietig vor dem armen Pilger und ging mit den Bauern hinaus, die sich nicht wenig darüber wunderten, daß der Besitzer des Hauses einem armen Bettelmönch so große Achtung erwies.
Der Franziskaner strich mit der vom Fieber ausgedörrten Hand über die gelbliche Stirn. In seinen Augen glühte ein unheimliches Feuer, das, dem Erlöschen nahe, noch einmal in aller Kraft aufzuflackern schien. Er zog ein Pack Papiere aus der Kutte und wühlte darin herum. Aber bald sank er matt zurück; stöhnend sah er sich um. Die Tür öffnete sich, er verbarg seine Dokumente und wandte sich mit einem Stöhnen dem Eintretenden zu. – »Sie sind der Arzt Grisart?« fragte er. »Kommen Sie her. Es ist keine Zeit zu verlieren. Befühlen Sie meinen Puls und geben Sie Ihr Urteil ab.« – »Der Wirt hat mir versichert, ich hätte es hier mit einem Jünger Jesu zu tun,« antwortete der Arzt. – »Dem ist so,« erwiderte der Mönch. »Sagen Sie mir also die Wahrheit.« – Der Arzt ergriff die welke Hand des Greises. – »Ein böses Fieber,« murmelte er. – »Herr Doktor,« versetzte der Franziskaner schroff, »keine Ausflüchte! Sie stehen vor einem Meister, vor einem Jesuit im elften Grade. Ich will wissen, wie es mit mir steht.« – »Nun denn, Ihr Zustand ist hoffnungslos,« war die Antwort des Arztes. »Sie haben noch zwei Stunden zu leben.«
»Zwei Stunden?« rief der Kranke. »In zwei Stunden läßt sich viel tun. Ich werde sie zum Ruhme des Ordens ausnützen und einen Würdigen zu meinem Nachfolger bestimmen. Gehen Sie, Herr Doktor, ich danke Ihnen. Schicken Sie mir den Wirt herein!« – Der Wirt kam. – »In Ihrem Hause weilen acht Personen, mit denen ich sprechen muß. Lassen Sie zuerst den deutschen Baron, Herrn von Wostpur, zu mir kommen. Sagen Sie ihm, der Erwartete sei angekommen.« – Gleich darauf hörte man schnelle Schritte auf dem Korridor. Der Baron trat ein, hocherhobenen Hauptes, als wenn er mit seinem Federbusch die Decke hätte einstoßen wollen. Er sah sich in dem kleinen, schmucklosen Zimmer um und fragte erstaunt: »Wer hat mich rufen lassen?«
»Ich,« antwortete der Franziskaner. – Der Baron näherte sich dem Platze des Greises und wollte sprechen. Der Mönch winkte mit der Hand. »Sie sind hierhergekommen,« sprach er, »einer Unterredung wegen. Sie hoffen, zum General des Jesuitenordens gewählt zu werden?« – »Ich hoffe es.« – »Und Sie wissen, was von dem Manne gefordert wird, der auf diese hohe Würde Anspruch macht, der durch diese Würde zum Herrn über die Könige der Erde, zum Bruder des Papstes werden will?« – »Wer sind Sie?« fragte der Baron mit einem hochmütigen Blick auf den armen Franziskaner. »Wie kommen Sie dazu, ein Verhör mit mir anzustellen?«
Statt aller Antwort drehte der unscheinbare Mönch einen Ring, den er am Finger trug, herum, so daß ein bis dahin verborgener Stein sichtbar wurde. Er zeigte ihn dem Deutschen, der erbleichte und zurücktrat. Er hatte das Merkzeichen des Jesuitengenerals erkannt, des Obersten dieses über die ganze Erde verbreiteten, damals allgewaltigen Ordens.
»Sie sind es, hochwürdiger Herr!« rief der Baron. »Und Sie wohnen in diesem erbärmlichen Zimmer? Und Sie sind hier, um selbst Ihren Nachfolger zu bestimmen?«
»Keine unnützen Worte, die Zeit ist kostbar,« antwortete der General. »Erfüllen Sie rasch die Hauptbedingung: offenbaren Sie dem Orden ein Geheimnis von solcher Tragweite, daß der Orden auf grund desselben sich einen der großen Höfe Europas für alle Zeit dienstbar machen kann. Sie haben in Ihrem schriftlichen Gesuch versichert, ein solches Geheimnis zu besitzen. Reden Sie!« – »Ich verfüge über eine Truppe von 50 000 Mann, die an der Donau lagert; meine Offiziere sind gewonnen. In acht Tagen kann ich den Kaiser von Oesterreich stürzen, der, wie Ihnen bekannt ist, gegen den Orden arbeitet, und kann einen dem Orden ergebenen Prinzen an seine Stelle setzen.« – »Ist das alles?« versetzte der Franziskaner. – »Mein Plan birgt eine Umwälzung ganz Europas in sich,« erwiderte der Deutsche. – »Herr Baron, Sie werden Antwort erhalten. Einstweilen haben Sie binnen einer Viertelstunde von Fontainebleau abzureisen.« – Wostpur verneigte sich und ging.
»Das ist ein Komplott, aber kein Geheimnis,« murmelte der Mönch. »Und Europas Zukunft hängt nicht mehr vom Hause Oesterreichs ab.« Mit diesen Worten nahm er einen Notstift und strich den Namen des Barons von der Liste der Kandidaten. Abermals wurde der Wirt gerufen. – »Ich möchte den Kardinal Herrebia sprechen,« sagte der Kranke, und der Wirt ging und holte den Spanier, der bleich und unruhig hereintrat. – »Ich werde hierher gebeten,« sprach er und raffte seinen Purpur zusammen, um mit der unscheinbaren Kutte des Franziskaners nicht in Berührung zu kommen. »Was kann ich für Euch tun, armer Bruder?«
Der Ring des Generals verfehlte auch bei ihm seine Wirkung nicht. – »Und nun erfüllen Sie die Bedingung,« sagte der Franziskaner. »Schnell, wir haben nicht viel Zeit, denn ich bin todkrank. Ihr Geheimnis! – Sie können spanisch sprechen.« – »Sie wissen, hochwürdiger Herr,« begann der Kardinal in reinstem Kastilianisch, »als der König von Frankreich die Infantin von Spanien heiratete, mußten Maria-Theresia und ihr Gemahl auf jede Apanage von seiten Spaniens ausdrücklich verzichten. Daraus folgt, daß der Friede und das freundschaftliche Zusammengehen beider Reiche von der Beobachtung dieser Klausel des Ehekontrakts abhängt. Ein Mann, der in die Zukunft zusehen vermag, könnte eine ungeheure Katastrophe verhüten und die kommenden Ereignisse zum größten Vorteil des Ordens ausnützen. Mir ist genau bekannt, daß der König von Frankreich beim ersten einigermaßen brauchbaren Anlaß, zum Beispiel beim Tode des Königs von Spanien oder des Bruders der Infantin mit den Waffen in der Hand das Erbteil der Maria-Theresia einfordern wird. Ludwigs XIV. Feldzugsplan befindet sich in meinen Händen.« – »Von wessen Hand geschrieben?« fragte der General. – »Von der meinen,« antwortete Herrebia.
»Haben Sie nichts mehr zu sagen?« fragte der General weiter. – »Ich glaube doch sehr viel gesagt zu haben,« erwiderte der Kardinal. – »Gewiß, Sie haben dem Orden einen Dienst erwiesen,« antwortete der Franziskaner.
»Wie sind Sie in den Besitz der genauen Kunde gelangt?« – »Die untere Dienerschaft des Königs von Frankreich steht in meinem Solde,« versetzte der Kastilianer. – »Sehr sinnreich,« sagte der General, »Sie werden Antwort erhalten. Reisen Sie binnen einer Viertelstunde von Fontainebleau ab.«
Als der Kardinal gegangen war, machte der Franziskaner ein Kreuz vor seinen Namen und befahl dem Wirt, den venetianischen Kaufmann zu schicken. Sein Geheimnis war: der Papst fürchte, daß der Orden, der sich immer weiter ausdehnte, zu mächtig werden könne, und sänne infolgedessen darauf, alle Höfe Europas zur Austreibung des Jesuiten-Ordens aus ihren Reichen zu bestimmen. Der Venetianer nannte auch diejenigen Politiker, die dem Papst dabei am eifrigsten Hilfe leisteten, und er bezeichnete sogar sie Insel, die als Verbannungsort der Obersten des Ordens ins Auge gefaßt worden sei. Seine Mitteilung war kein geringer Dienst, doch schien der General auch ihr keine allzu weittragende Bedeutung beizumessen.
»Diese Leute,« sprach er bei sich selbst, als der Venetianer gegangen war, »sind allesamt Spione oder Sbirren, aber keiner eignet sich zum General, sie haben ein Komplott, aber kein Geheimnis entdeckt. Es ist uns nicht um Krieg und Vernichtung zu tun, sondern durch geheimnisvolles Wissen, durch geistige Ueberlegenheit wollen wir unsere Macht behaupten. Nein, noch ist der Mann nicht gefunden, der nach mir herrschen soll. Und mein Ende ist nahe – die zwei Stunden sind bald vorüber – die Uhr bald abgelaufen.«
Während er diesen Gedanken nachhing, öffnete sich die Tür, und Aramis trat ein, näherte sich dem Bett und bekreuzte sich. »Hochwürdiger Herr General,« begann er und zeigte sich damit als den ersten, der, ohne den Ring gesehen zu haben, die wahre Würde des armen Mönchs erkannte, »verzeihen Sie, daß ich unaufgefordert vor Sie trete. Ihr Zustand läßt mich befürchten, daß der Tod Sie ereilen möchte, ehe die Reihe an mich kommt, denn ich bin der letzte auf Ihrer Liste.« – »Sie sind der Chevalier d'Herblay, auch Aramis genannt, Bischof von Vannes?« – »Ja, hochwürdiger Vater.« – »Sie treten als Mitbewerber auf?« fuhr der General fort, »nun, was haben Sie mir zu sagen?«
»Ein Geheimnis von so großer Wichtigkeit teilt man nicht mündlich mit,« antwortete Aramis. »Wir sind allein, aber die Luft kann eine einzige kleine Schallwelle an ein aufmerksames Ohr tragen, und ein einmal mitgeteilter Gedanke ist nicht mehr Eigentum dessen, der ihn gefaßt hat. Ich habe mein Geheimnis niedergeschrieben.«
»Aber mich dünkt,« versetzte der Franziskaner, »die Schrift ist noch gefährlicher als die Sprache.« – »Hochwürdiger Herr, in diesem Umschlag,« antwortete der Bischof von Vannes, »werden Sie eine Schrift finden, die nur uns beiden verständlich ist. Es sind jene Zeichen, die Ihr verstorbener Sekretär Juan Jujan benützte.« – »Und die sind Ihnen bekannt?« fragte der General betroffen. – »Ihr Sekretär hatte sie von mir,« erwiderte Aramis und verneigte sich.
» Ecce homo,« murmelte der Franziskaner und öffnete das Kuvert, das d'Herblay ihm reichte. Er las mit fliegender Hast, dann ergriff er die Hand des Prälaten. – »Durch wen ist Ihnen dies Geheimnis zuteil geworden?« fragte er. – »Durch Frau von Chevreuse, die Freundin der Königin-Mutter.« – »Und diese Frau von Chevreuse?« – »Ist tot.« – »Wußte sonst noch jemand darum?« – »Nur ein Mann und eine Frau aus dem Volke, die ihn aufgezogen hatten. Aber sie sind auch tot.« – »Und nun sind Sie der einzige, der darum weiß? Seit wie langer Zeit besitzen Sie das Geheimnis?« – »Seit fünfzehn Jahren.« – »Und haben es bewahrt?« – »Es hätte mich das Leben gekostet.« – »Und Sie vertrauen es nun dem Orden an, ohne auf Belohnung zu rechnen, ohne ehrgeizige Absichten?« – »Nein, mit ehrgeizigen Absichten und mit der Hoffnung auf Belohnung,« erwiderte Aramis. »Sie kennen mich jetzt, hochwürdiger Vater. Werden Sie mich zu dem machen, was ich sein, was ich werden muß?« – »Ja, ich mache dich zu meinem Nachfolger!« rief der Franziskaner, und mit diesen Worten zog er den Ring ab und schob ihn dem Bischof auf den Finger. »Krank an Körper, aber gesund an Geist, gebe ich freiwillig und aus eigenem Antrieb und aufrichtigster Ueberzeugung diesen Ring, das Zeichen der Allgewalt, Ihnen, Herr d'Herblay, Bischof von Vannes, und ernenne Sie zu meinem Nachfolger, zum General des Ordens Jesu.«
Aramis erblaßte; sein höchster Ehrgeiz war befriedigt. – »Mit diesem Zeichen,« fuhr der Franziskaner fort, »stürzen Sie um und bauen Sie auf. In hoc signo vinces! Hören Sie, noch vieles ist zu sagen, und meine Kraft erlischt. Der Papst hat gegen den Orden konspiriert, er muß sterben.« – »Er wird sterben,« antwortete Aramis. – »Sechs Malteserritter – ihre Namen finden Sie unter diesen Papieren – haben durch Indiskretion eines Jüngers des elften Grades die dritten Mysterien entdeckt. Es muß ermittelt werden, in welcher Weise diese Leute ihre Mitwisserschaft ausgebeutet haben. Der Unbesonnene erhält eine Rüge.« – »Es soll geschehen.« – »Drei unzuverlässige Jünger sind verurteilt zur Verbannung nach Tibet, wo sie sterben sollen. Hier sind ihre Namen.« – »Das Urteil wird vollzogen werden.« – »In Antwerpen lebt eine Nichte Ravaillacs, die gewisse, den Orden kompromittierende Papiere besitzt. Sie erhält seit Jahren ein Schweigegeld von fünfzigtausend Livres. Das ist eine lästige Ausgabe – der Orden ist nicht reich. Man soll die Papiere gegen eine einmalige Abfindungssumme sich herausgeben lassen, oder das Schweigegeld einfach nicht mehr zahlen.« – »Ich werde das Nötige anordnen.« – »Von Lima wird ein Schiff erwartet. Es ist angeblich mit Schokolade, in Wahrheit aber mit Gold befrachtet. Jeder Goldbarren ist unter einer Schicht Schokolade verborgen. Das Schiff ist Eigentum des Ordens und 17 Millionen wert. Hier sind die Ladungsbriefe. Lassen Sie es in den Hafen von Bayonne einlaufen.«
Der Franziskaner hielt inne. Er konnte nicht mehr sprechen. Das Blut drang ihm aus Mund und Nase. Er sank zurück und war tot. Der Arzt eilte herbei. – »Herr Grisart,« sagte Aramis, auf ein Glas deutend, »Ihre Medizin hat gewirkt. Reinigen Sie das Glas. Von dem, was Sie auf Befehl des Großen Rats hineingetan haben, darf keine Spur zurückbleiben.« Dann steckte er die Papiere des Toten zu sich und entfernte sich rasch.
Er begab sich in den Palast Fouquets. Der Minister arbeitete am Schreibtisch. Er legte die Feder nieder und wandte dem Bischof ein trauriges Antlitz zu.
»Schon wieder schwermütig, Herr Oberintendant?« rief Aramis. – »Es geht doch alles, wie wir es wünschen.« – »Das könnte ich nicht behaupten,« antwortete der Minister, »aber Ihr nimmer rastender Geist, Herr d'Herblay, findet immer neue Mittel und Wege, den Zusammenbruch aufzuhalten. Nur fürchte ich, er ist nicht mehr lange aufzuhalten.« – »Immer neue Mittel und Wege, sehr richtig,« sagte der Bischof zuversichtlich, »und ich habe auch jetzt wieder ein neues. Haben Sie schon einmal an die kleine Lavallière gedacht?« – Fouquet sah mit skeptischem Lächeln auf. – »Im Ernst, Herr Oberintendant,« fuhr Aramis fort, »das kleine Fräulein ist sehr gern gesehen beim König, wie man sagt. Sie müssen sich um ihre Gunst bewerben. Sie wissen doch ganz genau, wieviel es wert ist, bei Frauen gut angeschrieben zu sein.«
»Und Sie meinen – –?« fragte Fouquet. – »Ich meine, rundheraus gesagt, Sie müssen der Kleinen eine richtige Liebeserklärung machen. Schreiben Sie ihr! Nach meiner Meinung ist das Interesse des Königs für die Lavallière nur ein Deckmantel, hinter dem er seine Liebe zu Madame verbergen will. Aber eben darum muß die Lavallière in das Geheimnis dieser beiden Liebenden eingeweiht sein, und ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was ein gescheiter Mann mit einem solchen kompromittierenden Geheimnis anfangen kann. Die Lavallière ist arm, sie hat noch keine große Stellung bei Hofe – nun, Sie werden ihr Geld und Stellung verschaffen und sich auf diese Weise eine neue wertvolle Helferin erwerben. Wollen Sie einen Brief an sie schreiben?«
Fouquet nickte zerstreut; anscheinend legte er der Sache keine große Bedeutung bei; allein gewöhnt, die Ratschläge d'Herblays zu befolgen, ergriff er die Feder und sagte: »So diktieren Sie. Mir ist der Kopf so schwer, daß ich die richtige Form nicht finden würde.« – Aramis diktierte: »Mein Fräulein! Ich habe Sie gesehen und, was Sie nicht wundern wird, schön gefunden. Aber es fehlt Ihnen noch die Ihrer würdige Stellung; Sie verkümmern bei Hofe. Die Liebe eines hochgestellten Mannes kann Ihnen, sofern Sie Ehrgeiz haben, förderlich sein. So lege ich Ihnen meine Liebe zu Füßen. Wenn Sie sie erwidern, werde ich Ihnen meine Dankbarkeit erweisen, indem ich Sie auf immer frei und unabhängig mache.« – Der Minister sah auf. – »Unterzeichnen Sie!« sprach Aramis. – »Ist das durchaus notwendig?« fragte Fouquet. – »Ihre Unterschrift unter diesem Briefe ist eine Million wert, vergessen Sie das nicht, Herr Oberintendant.« – Fouquet setzte seinen Namen darunter. – »Und nun schicken Sie ihn durch einen zuverlässigen Boten an die Adressatin,« schloß der Bischof. – »Es mag geschehen,« sprach der Minister, »aber wenn Sie meinen, daß mir die Gunst einer Lavallière helfen könnte, so teile ich diese Zuversicht nicht. Ich sage Ihnen, wenn der König die Einladung, zu der Colbert mich zwingt, annimmt, so bin ich verloren. Nur das Geld gibt mir Macht über den König, und das Geld wird bald verbraucht sein.«
»Es wird sich Neues finden,« antwortete d'Herblay.
»Wo? das möchte ich wissen,« seufzte der Minister.
»Ich werde Ihnen sechs Millionen geben – wenn es sein muß, sogar zehn.« – »In der Tat, d'Herblay. Sie setzen mich in Erstaunen,« versetzte Fouquet. »Sie erlauben mir doch, daß ich diese Worte ein wenig skeptisch auffasse? Oder sollte ich mich in Ihnen irren? Sollten Sie etwas anderes sein, als mir bekannt ist? Sollten Sie geheime Absichten verfolgen?«
»Ich verfolge nur die Absicht,« antwortete der Bischof, »auf dem Thron von Frankreich einen König zu haben, der ein Freund des Herrn Fouquet ist.« – »Das wird der König nie sein,« erwiderte der Oberintendant. – » Der König nicht,« sprach Aramis. Fouquet stutzte. »Ich verstehe Sie nicht,« murmelte er.
»Kann nicht auch ein anderer als Ludwig XIV. König sein?« setzte der Prälat hinzu. – »Sie sind von Sinnen!« rief Fouquet. »Kein anderer als Ludwig XIV. kann König sein. Ich wüßte wenigstens keinen andern, es sei denn Monsieur.« – »Aber ich weiß einen andern,« entgegnete der Bischof. »Und mein König wird auch Ihr König sein. Also seien Sie unbesorgt.«
»Herr d'Herblay, Sie sagen das in einem Tone, der mich mit Schauder erfüllt,« sagte Fouquet. »Sie machen mir ja förmlich Angst.« – Aramis lächelte. – »Und nun lachen Sie gar noch?« – »Sie werden auch lachen – aber vorläufig muß ich es allein,« antwortete Aramis. »Fürchten Sie nichts. Wenn es Zeit ist, werde ich mein Geheimnis offenbaren. Der Tag wird kommen, wo Ihnen die Schuppen von den Augen fallen werden. Zehnmal schon sind Sie dem Abgrund entronnen, in den Sie ohne meine führende Hand gestürzt wären. Sie sind vom General-Prokurator zum Intendanten, vom Intendanten zum Oberintendanten aufgerückt, und Sie werden von diesem Range noch zu dem eines » Maire du palais« gelangen.«
»Sie haben noch nie so zu mir gesprochen – Sie haben sich noch nie so zuversichtlich, das heißt, so verwegen, gezeigt,« rief Fouquet. – »Man kann vermessen sein, wenn man mächtig ist!« antwortete Aramis. – »Sie haben mir zehn Millionen geboten, Sie haben von der Entthronung und Einsetzung von Königen gesprochen –« – »Man kann davon sprechen, wenn man selbst über den Thronen und Königen dieser Welt steht,« versetzte Aramis. – »Dann sind Sie ja allmächtig,« stammelte Fouquet. – »Ich habe es Ihnen schon einmal gesagt und wiederhole es,« antwortete der neue Jesuitengeneral mit leuchtenden Augen und triumphierender Miene.
5. Kapitel. Pariert
Fräulein Aure von Montalais ging mit ihrer Freundin Luise, der sie sich jetzt wieder mit ganz besonderm Eifer widmete, im Park spazieren. »Gott sei Dank, daß man wieder eine freie Stunde hat!« sagte sie. »Seit gestern steht jedermann auf der Lauer, und ein Kreis von Aufpassern und Spionen umgibt uns, als wenn wir die gefährlichsten Hochverräter wären.« – Luise schlug die Augen nieder und schwieg. Sie handelte wie im Traume. Zuviel war in den letzten Stunden auf sie eingestürmt, als daß sie darüber schon mit sich selbst ins klare hätte kommen können. – »Nur meine unbedachtsame
Aeußerung ist an allem schuld,« sagte sie nach einer Weile. »Darüber hält sich nun alle Welt auf.« – »Ja, und alle Welt schmückt dieses Ereignis mit immer neuen Phantasieblüten aus. Du hast die Ehre, daß der ganze Hof sich mit deiner Person beschäftigt,« fuhr die Montalais fort. »Was jedoch deine Lage wiederum ein wenig kritisch macht. Sprich, war es dir wirklich Ernst mit dem, was du gesagt hast?«
»Ich würde alles drum geben, wenn ich vergessen könnte, was ich gesagt habe,« antwortete Luise, »wenn ich es ungesagt machen könnte. Aber wie kannst du daran zweifeln, daß mir's mit meinen Worten heiliger Ernst gewesen sei?« – »Liebst du denn nicht den Vicomte von Bragelonne?« rief die Montalais, und diese Frage war wie das erste Wurfgeschoß, das eine feindliche Armee in eine belagerte Stadt schleudert. – »Ob ich Rudolf liebe? meinen Bruder, meinen Jugendgespielen?« – »Du entschlüpfst mir nicht,« versetzte die Montalais. »Ich frage nicht, ob du Rudolf, deinen Jugendgespielen liebst, sondern ob du Rudolf, deinen Verlobten, liebst.«
»O, mein Gott, liebe Montalais, wie genau du es nimmst!« entgegnete Luise. – »Antworte mir nur auf meine Frage!« beharrte Aure. – »Du fragst nicht wie eine Freundin, aber ich werde dir wie eine Freundin antworten,« erwiderte die Lavallière. »Mein Herz ist schwer zugänglich, und ein sprödes Schloß liegt vor meinen weiblichen Gefühlen. Kein Mensch hat je in die Tiefe meines Gemüts geschaut.«
»Das weiß ich,« versetzte die Montalais. »Wenn ich hineinschauen könnte, so würde ich vielleicht also zu dir sprechen: Luise, du bist zu beneiden; Herr von Bragelonne ist ein liebenswürdiger Mensch und eine gute Partie für ein armes Mädchen, denn sein Vater wird ihm eine Rente von 15 000 Livres hinterlassen. Sieh nicht nach rechts und nicht nach links. Geh mit deinem Vicomte geradeswegs zum Traualtar.« – »Und für diesen Rat würde ich dir danken,« antwortete Luise, »obgleich er mir nicht gut erscheint. Aber es freut mich, daß du so sprichst, wie du es meinst.« – »Und nimm noch folgenden Rat, liebe Luise,« fuhr die Montalais fort, »es ist sehr gefährlich, tagelang sich von der Gesellschaft der andern auszuschließen, einsame Wege im Garten aufzusuchen und Buchstaben in den Sand zu schreiben, die weit eher dem L als dem B gleichen. Es ist sehr bedenklich, sich abenteuerliche Grillen in den Kopf zu setzen. Es gibt ein Märchen von einem armen, trübseligen Mädchen, das bildete sich ein, ein Prinz liebe sie; aber der Prinz liebte eine weit vornehmere Dame und benutzte das arme Kind nur zum Deckmantel, um die wahre Liebe zu verbergen. Denke dir, liebe Luise, wie tödlich für dieses arme Mädchen die Enttäuschung gewesen sein muß. Es war zuerst von allen umschwärmt, dann von allen verspottet, dann starb es in der Einsamkeit.«
Luise wurde bleich wie Leinwand und zitterte heftig.
»Still!« flüsterte sie, »es kommt jemand.« – »In der Tat,« sagte die Montalais, »wer mag das sein? Alle Welt ist mit dem König in der Messe oder mit Monsieur im Bade. Luise, es ist Rudolf! Er kommt wie gerufen, er soll Schiedsrichter zwischen uns sein.« – »O, Montalais, Montalais!« rief Luise, »sage ihm um Gotteswillen nichts! Du warst grausam, sei nicht noch unerbittlich!«
»O, Herr Vicomte!« rief Aure dem jungen Manne zu, »Sie sind wahrlich schön wie Amadis. Und wie dieser auch gestiefelt und gespornt!« – »Weil ich abreise,« antwortete Bragelonne, sich vor den Damen verneigend. – Luise erschrak. »Sie reisen ab? Wohin denn?« rief sie. – »Liebe Luise,« sprach Rudolf, »ich gehe auf Befehl des Königs nach England.« – »Auf Befehl des Königs!« rief die Montalais, und beide Mädchen wechselten einen Blick der Verwunderung, den Bragelonne wohl bemerkte, aber nicht verstand. – »Majestät hat sich daran erinnert, daß der Graf de la Fère bei Karl II. gut angeschrieben steht,« sagte der Vicomte. »Heute morgen rief der König mich zu sich, als er mich erblickte, und befahl mir, zu Herrn Fouquet zu gehen, von dem ich Briefe an den König von England in Empfang nehmen sollte. Diese Briefe habe ich persönlich zu überbringen.«
»Mein Gott!« murmelte Luise, von unklaren Ahnungen erfaßt. – »So schnell schickt man Sie fort?« sagte die Montalais. »Das hat ja mit einem Male große Eile.« – »Ja, in der Tat, man hat mir schleunigen Aufbruch dringend ans Herz gelegt,« antwortete Rudolf. »Deshalb habe ich Sie aufgesucht, denn ich konnte nicht warten, bis wir uns im Schlosse wiedersehen. Luise!« sprach er und ergriff ihre Hand. »O, Ihre Hand ist eisig kalt« – »Es ist nichts,« murmelte sie. – »Die Kälte erstreckt sich nicht bis auf Ihr Herz, nicht wahr?« fuhr er fort. – »O, Sie wissen ja,« brachte sie mühsam hervor, »mein Herz kann gegen einen Freund wie Sie nie kalt sein.« – »Ich danke Ihnen, Luise,« sagte der Vicomte. »Ich kenne ja Ihr Herz und Ihr Gemüt und weiß, daß die darin wohnende Zärtlichkeit nicht nach der Berührung der Hand beurteilt werden
kann. Luise, Sie wissen, ich liebe Sie innig, und mein Leben ist Ihnen geweiht. Es ist freilich abgeschmackt, mit Kummer von Ihnen zu gehen, allein trotzdem fällt mir der Abschied doch sehr schwer.«
»Werden Sie denn lange fortbleiben?« fragte Luise mühsam. – »Nein, wahrscheinlich nur vierzehn Tage. Doch es ist seltsam,« sagte Rudolf, »ich habe oft Abschied von Ihnen genommen, um auf gefahrvolle Unternehmungen auszuziehen. Doch da ging ich freudigen Herzens und träumte von meinem Glück, galt es auch, den Kugeln der Wallonen die Stirn, den Hellebarden der Spanier die Brust zu bieten. Heute gehe ich auf eine ganz ungefährliche Reise, und sogar mit der Hoffnung, die Gunst eines Königs zu gewinnen; und doch bin ich niedergeschlagen, mutlos, von unsagbarem Kummer erfüllt. Ich weiß nicht, weshalb – mir ist, als ließe ich etwas zurück, das ich nie wiederfinden werde!«
Luise zerfloß in Tränen und sank ihrer Freundin in die Arme. Auch der Montalais, die doch nicht zu den zartesten Naturen gehörte, traten die Tränen in die Augen. Rudolf kniete nieder und bedeckte Luisens Hand mit Küssen; man sah, er legte sein ganzes Herz in diese Liebkosung. Dann stand er rasch auf und ging. Wenige Minuten später hörte man auf der Landstraße die Hufschläge eines galoppierenden Pferdes.
An diesem Abend war bei Madame große Gesellschaft. Gegen acht Uhr stellten die Gäste sich ein. Da ihre Soireen immer einen ganz besonderen Reiz hatten, so fehlte niemand. Eine große Schar von Edelherren, Poeten, Gelehrten und geistreichen Männern und Frauen war man gewohnt bei ihr zu sehen. An diesem Abend versprach man sich, nachdem des Königs Abenteuer mit der Lavallière, einem Ehrenfräulein Madames, bekannt geworden war, noch ganz besondere Überraschungen.
Monsieur erschien in Gesellschaft des Herrn von Guiche. Als letzter stellte der König sich ein, in Begleitung seines Hofmeisters, des Grafen von Saint-Aignan Madame stand auf, um ihn zu begrüßen, warf aber im selben Moment einen Seitenblick auf Fräulein von Lavallière, die zwischen der Montalais und der Tonnay-Charente in der Reihe der Ehrendamen saß. Alle Häupter neigten sich vor Seiner Majestät, bei dessen Eintritt sich jedoch – da man ihn heute in fast unköniglicher Haltung, zwanglos und fröhlich, kommen sah – alsbald eine heitere Stimmung verbreitete. Der König nahm Platz, und der Kreis schloß sich um ihn her. Er ließ seine Blicke in der Runde schweifen, und Madame fand es unerhört, daß er sich nicht genierte, die Lavallière besonders lange aufmerksam zu betrachten. Um ihn abzulenken, bestürmte sie ihn mit Fragen, verstand doch niemand das Ausfragen besser als sie.
»Madame fragen zu viel,« antwortete schließlich der König und versuchte umsonst die Kälte seiner Worte durch ein liebenswürdiges Lächeln zu verbergen. »Ich muß Sie an Saint-Aignan verweisen, der kann besser erzählen als ich.« – »Ei, was soll ich erzählen?« rief Saint-Aignan, der nur auf einen Anlaß gewartet hatte, seiner Schwatzhaftigkeit Genüge zu tun. »Vielleicht die Geschichte von den drei Schäferinnen, die mir neulich eine indiskrete Dryade erzählte?« – Bei diesen Worten warf er einen Blick auf die drei Ehrendamen, von denen in den letzten Stunden soviel die Rede gewesen war, und die ganze Gesellschaft rückte mit einem Murmeln der Befriedigung noch enger zusammen. Man erwartete nun bestimmt die heiß ersehnte Sensation.
Saint-Aignan war als seiner Gesellschafter und gewandter Erzähler bekannt. Das tiefe Schweigen, das ringsum herrschte, die vielen Blicke, die er voll Spannung auf sich gerichtet sah, brachten ihn daher nicht aus der Fassung. Er begann: »Königliche Hoheit, die Dyraden wohnen in Bäumen des Waldes und ziehen besonders schöne und alte Bäume vor.« – Alle Zuhörer wußten, daß dies eine Anspielung auf die Königseiche war, und manches Herz klopfte laut vor Neugierde und Unruhe. »Da es in Fontainebleau sehr schöne Bäume gibt,« fuhr Saint-Aignan fort, »namentlich einige prachtvolle Eichen, so wird man mir glauben, wenn ich beteuere, daß es in Fontainebleau auch Dryaden gibt. Folgendes nun erzählte mir die Dryade des Parks von Fontainebleau. In dieser schönen, uns allen so lieben Ortschaft wohnen zwei Schäfer, von denen der eine Tirsis heißt. Er ist jung und schön, und seine Tugenden und Vorzüge machen ihn zum ersten, zum König der Schäfer. Seine Kraft ist so groß wie sein Mut. Er ist der Gewandteste auf der Jagd und der Weiseste im Rat. Natürlich erfreut sich der König der Schäfer hoher Gunst bei den Schönen seines Landes. Wer Tirsis gesehen und gehört hat, muß ihn lieben. Wer ihn liebt und von ihm wiedergeliebt wird, der hat das Glück gefunden. Tirsis hatte einen Gefährten, welcher sein untertänigster Diener war. Er hieß Amyntas. Von ihm ist wenig zu sagen. Neben Tirsis verblaßt er vollständig. Er ist keines Vergleiches mit ihm würdig. Er verlangt nichts anderes als einen Platz zu den Füßen des schönen Tirsis. Sein höchstes Glück ist, wenn Tirsis sich manchmal an ihn wendet und ihn zum Vertrauten seiner Herzensgeheimnisse macht. Er ist etwas älter als Tirsis und nicht ganz von der Natur vernachlässigt. Er sucht nicht zu glänzen, aber es verlangt ihn nach Liebe, und diese würde ihm gewiß zuteil werden, wenn man ihn richtig beurteilte.«
Diese Phrase galt dem Fräulein von Tonnay-Charente, dem der Graf bei diesen Worten einen eindringlichen Blick zuwarf, aber die Dame hielt diesen Angriff ganz ruhig aus. Lauter Beifall erklang; man rief dem Erzähler zu fortzufahren, und der König gab selbst durch Kopfnicken das Signal dazu.
»Eines Abends lustwandelte Tirsis mit Amyntas im Walde, und beide traten in ein tiefes Gebüsch, um hier einander ihr Liebesleid zu klagen. Da vernahmen sie plötzlich Stimmen.« – »Ha, jetzt, wird's interessant!« flüsterte jemand, und Madame warf, gleich einem General, der wachsam auf seine Armee aufpaßt, einen zurechtweisenden Blick auf die Montalais und die Tonnay-Charente, die sich nicht zu beherrschen wußten.
»Diese lieblichen Stimmen,« erzählte der Graf weiter, »gehörten einigen Schäferinnen an, die sich ebenfalls im kühlen Walde ergingen und einen entlegenen Platz aufgesucht hatten, um ihre Gedanken über das Schäferdasein auszutauschen. Die Dryade hat mir versichert, alle drei seien sehr hübsch gewesen. Sie hat mir auch ihre Namen genannt: Phyllis, Amaryllis und Galathee. Sie plauderten also –«
»O, Herr Graf,« unterbrach ihn Madame lachend, »erzählen Sie hübsch der Reihe nach! Erst die Porträts der drei Schönen.« – Saint Aignan warf einen Blick auf den König, und Ludwig, der selbst schon ein wenig unruhig zu werden begann, fürchtete das gleiche von der Herzogin und glaubte, eine so gefährliche Fragestellerin nicht noch zur Neugier reizen zu sollen. Er gab durch ein Kopfnicken sein Einverständnis zur ausführlichen Beschreibung der drei Schäferinnen.
»Phyllis also,« erzählte Saint-Aignan weiter, »ist weder brünett noch blond, weder groß noch klein, weder kalt noch schwärmerisch. Aber sie ist geistreich wie eine Prinzessin und kokett wie eine Teufelin. Ihr Gesicht ist sehr anziehend. Sie gleicht einem Vogel, der beständig zwitschernd gern von einer Blume zur andern flattert und allen Vogelstellern trotzt, welche das Netz nach ihm stellen.«
Diese Schilderung war so ähnlich, daß aller Augen sich sogleich auf Fräulein von Montalais richteten; diese aber machte ein ganz unbefangenes Gesicht und hörte mit der größten Seelenruhe zu. – »Ich gehe zu Amaryllis über,« fuhr der Erzähler fort. »Sie ist die älteste der drei Schäferinnen, hat jedoch noch nicht die zwanzig erreicht. Sie ist groß, hat üppiges Haar, das sie in griechischer Art trägt, einen majestätischen Gang und würdevolle Manieren. Sie gleicht daher mehr einer Göttin als einer Sterblichen. Sie ist eine Diana, die ihre Pfeile ins Herz aller armen Schäfer schießt, welche in den Bereich ihrer Augen und ihres Bogens kommen.« Die Tonnay-Charente, die bisher ein wenig finster dreingeschaut hatte, lächelte jetzt heiter. –
»O, diese böse Schäferin!« rief Madame. »Wird nicht einmal eines der Geschosse, die sie unbarmherzig nach rechts und links abschießt, auf sie selbst zurückfliegen?« – »Das hoffen alle Schäfer,« antwortete Saint-Aignan. – »Und ganz besonders der Schäfer Amyntas, nicht wahr?« fragte Madame. – »Amyntas,« erwiderte Saint-Aignan und setzte seine bescheidenste Miene auf, »ist so schüchtern, daß niemand erfahren hat, ob er eine solche Hoffnung wirklich hegt. Er verbirgt sie in seines Herzens tiefster Tiefe.«
»Und Galathee?« fragte Madame, »ich bin auf dieses letzte Porträt besonders gespannt.« – »Galathee,« begann der Erzähler, »hat eine Haut, weiß wie Milch, ein Blondhaar, zart und sein wie Gold, Augen, rein und klar wie das Blau des Himmels. Wem sie ihr Herz schenkt, der ist glücklich zu preisen. Ihre jungfräuliche Liebe macht ihn zum Gott.« – Niemand zollte dieser Schilderung Beifall; Madame schwieg kalt, und die ganze Gesellschaft schien von diesem frostigen Gefühl angesteckt zu werden. Saint-Aignan hatte sein ganzes Erzählertalent aufgeboten und war sehr enttäuscht, als das rauschende Händeklatschen, das er erwartet hatte, sich nicht einstellte.
»Nun, Majestät,« unterbrach Henriette endlich die Pause, »was sagen Sie zu diesen drei Porträts?« – »Amaryllis könnte mir gefallen,« antwortete Ludwig.
»Mir ist Phyllis lieber,« sagte Monsieur, »sie scheint mir ein wenig burschikos. Das habe ich gern.« – Ein allgemeines Gelächter erscholl. Die Montalais errötete bis über die Ohren.
»Nun, und was erzählten sich die Schäferinnen?« fragte Madame, ehe noch jemand etwas über das Porträt der Galathee sagen konnte. – »Die Schäferinnen gestanden sich Herzensgeheimnisse,« fuhr Saint-Aignan fort. »Sie sagten, die Liebe sei ein gefährlich Ding, aber ohne Liebe zu leben, sei dem Tode gleich zu erachten. Und daraus folgerten sie, daß man lieben müsse. Eine Schäferin erklärte sich entschieden gegen jede Liebe, konnte dabei aber doch nicht verhehlen, daß auch sie das Bild eines Schäfers im Herzen trüge.« – »Das Bild des Tirsis?« fragte die Madame. – »Nein, Hoheit, des Amyntas,« antwortete Saint-Aignan. »Allein die sanfte Galathee mit den Märchenaugen antwortete, man könne doch unmöglich Amyntas lieben oder Tityrus oder Alphesibeus, oder wie sie heißen mochten, solange es einen Tirsis gebe. Tirsis verdunkle alle Männer, gleichwie die Eiche alle Bäume überrage. Und sie entwarf nun von Tirsis eine Schilderung, daß er, der dabei selbst im verborgenen zuhörte, sich geschmeichelt fühlte bei all seiner Größe. So waren denn Tirsis und Amyntas von Galathee und Phillis ausgezeichnet worden, das Geheimnis zweier Herzen hatte sich im Schatten der Nacht verraten. Das ist es, was die Dryade mir erzählt hat. Ich habe es nur nacherzählt.«
»Und Sie sind nun fertig, nicht wahr, Herr von Saint-Aignan?« fragte Madame mit einem Lächeln, das den König zittern machte. »Sie haben indessen einen Fehler begangen, daß Sie nur auf eine Dryade gehört haben, Sie hätten sich auch noch bei der Najade von Fontainebleau erkundigen sollen. Sie ist ebenso schwatzhaft und sogar noch besser unterrichtet als jene.« – »Eine Najade!« riefen mehrere Stimmen, begierig auf die Fortsetzung der Geschichte. – »Sie haust ganz in der Nähe der Königseiche in einem hübschen, kleinen Quell, der dort zwischen Vergißmeinnicht und Schlüsselblumen sprudelt,« fuhr Madame fort, scheinbar ohne zu bemerken, wie unruhig und erwartungsvoll der König sie ansah. »Hören Sie, was diese Najade mir erzählt hat, als ich gestern abend dort vorüberging. ›Stellen Sie sich vor, meine liebe Prinzessin,‹ sagte sie, denn wir beide sind gute Bekannte, ›was für ein ergötzliches Schauspiel ich gestern abend beobachten konnte. Zwei neugierige Schäfer, die wohl auf Liebesabenteuer ausgingen, haben sich nämlich von drei lustigen Schäferinnen auf ganz scharmante Weise nasführen lassen.‹«
Diese Worte trieben dem König das Blut in die Wangen, während man die Lavallière leichenblaß werden sah. Madame erzählte weiter: »›Diese zwei Schäfer,‹ fuhr meine Najade fort, ›folgten den drei Schäferinnen, und diese hatten es wohl bemerkt, und man kann es ihnen nicht verübeln, wenn sie beschlossen, sich einen Spaß mit ihnen zu machen. Sie setzten sich unter die Königseiche, und da sie die Horcher so nahe wußten, daß ihnen kein Wort entgehen konnte, machten sie ihnen nun die feurigsten Liebeserklärungen. Alle Männer sind von sich selbst eingenommen. Sentimentale Schäfer am meisten. Die Worte, die die Horcher vernahmen, waren daher ihren Ohren eine überaus süße Melodie.«
Man hörte Kichern und Lachen; der König erhob sich; ein Blitz sprühte aus seinen Augen. – »Meiner Treu, ein köstlicher Scherzi« rief er, »und sehr amüsant erzählt! Aber haben Sie die Sprache der Najade auch richtig verstanden?« – »Ich ließ sie ihre Erzählung vor einigen Damen meines Gefolges wiederholen,« antwortete Madame. »Sie werden bestätigen, daß meine Wiedergabe sich genau mit den Worten der Göttin deckt. Nicht wahr, Fräulein von Montalais, es ist so gewesen?« – »Jawohl, Madame,« antwortete Aure ohne Zaudern. – »War es so, Fräulein von Tonnay-Charente?« fragte Madam«. – »Es ist die reine Wahrheit,« erwiderte Athenais.
– »Und Fräulein von Lavallière wird es auch bestätigen,« sagte die Herzogin.
Das arme Kind fühlte den forschenden Blick des Königs auf sich gerichtet; sie wagte weder zu leugnen noch zu lügen; sie nickte flüchtig, aber ein eisiger Schauer, schmerzlicher als der Hauch des Todes, durchbebte sie. Gegen dieses dreifache Zeugnis wußte der König nichts zu sagen; Saint-Aignan stammelte mit erzwungener Heiterkeit: »Ein famoser Spaß! Und auch ganz hübsch gespielt von diesen drei Schäferinnen.« – »Die gerechte Strafe für die Neugierde,« sagte der König mit heiserer Stimme. »Wer möchte sich nach einer solchen Zurechtweisung, wie sie Tirsis und Amyntas erfahren haben, noch für die Herzensgeheimnisse von Schäferinnen interessieren? Ich gewiß nicht mehr, meine Herren!«
»Ei, Graf!« rief Monsieur, sich mit lautem Lachen an Guiche wendend, »du sagst ja gar nichts. Bedauerst du etwa die Herren Tirsis und Amyntas?« – »Ja, ich bedaure sie von ganzem Herzen,« antwortete der Graf ernst. »Die Liebe ist ein so süßer Wahn, daß, um ihn betrogen zu werden, schlimmer ist als der Verlust des Lebens. Wenn die beiden Schäfer, die sich geliebt glaubten und an diesem Glauben ihr Glück fanden, nun einsehen müssen, daß es nur Spott war, dann halte ich Tirsis und Amyntas für die unglücklichsten Männer, die ich kenne.«
»Graf, Sie haben recht,« sagte der König. »Der Tod ist eine gar harte Strafe für ein bißchen Neugierde.« – Bei diesen Worten heftete er einen vernichtenden Blick auf Luise von Lavallière, die einer Ohnmacht nahe war. Ludwig, der sonst sehr lange an den Gesellschaften bei Madame teilnahm, empfahl sich, um in seine Gemächer zurückzukehren. Madame frohlockte über ihren Triumph.
Saint-Aignan folgte dem König; er war, als er ging, ebenso niedergeschlagen, wie er heiter gewesen war, als er kam. Aber das Fräulein von Tonnay-Charente, auf das der Graf einen nicht minder majestätischen Blick warf, als Ludwig auf Luise geworfen, war nicht so zartfühlend wie die Lavallière und blieb ganz gelassen.
6. Kapitel. Ein Strich durch die Rechnung
Der König kehrte rasch in seine Gemächer zurück. Vielleicht ging er so schnell, um nicht zu wanken. Niemand war im Zweifel darüber, was ihn bewog, die Gesellschaft so plötzlich zu verlassen. Madame war darüber nicht betrübt. Sie glaubte dem König gezeigt zu haben, daß er eine ihm ebenbürtige fürstliche Person lieben könne, ohne Skandal befürchten zu müssen; ja er war dann des Einverständnisses, der Verschwiegenheit, der Ehrerbietung aller gewiß. Sobald er sich aber auf einen gemeinen Liebeshandel einlasse, so stoße er sogleich auf scharfen Tadel, selbst bei seinen geringsten Untertanen, und bringe sich selbst um den Nimbus der Unverletzlichkeit. Bei Ludwig aber war die Eigenliebe noch größer als die Liebe, und indem Madame ihn beschämt hatte, war es ihr gelungen, sich wirksam für die durch Ludwig erlittene Zurücksetzung zu rächen.
Dennoch faßte sie die Dinge keineswegs tragisch auf. Leichtfertig wie sie war, kannte sie keine tiefen Leidenschaften, weder im Guten noch im Bösen. Sie war jung und schön, geistig regsam und kokett und ließ sich nur durch ihre Laune, ihre Phantasie und ihren Ehrgeiz leiten. Sie beurteilte den König nach sich selbst und meinte, er würde, wenn er die augenblickliche Verstimmung überwunden habe, über die Lavallière lachen und einsehen, daß die Prinzessin unendlich hoch über diesem unscheinbaren Mädchen stände und es eine Torheit gewesen sei, das Ehrenfräulein der Herzogin vorziehen zu wollen.
Sie irrte sich in ihrem Urteil über den König. Ludwig war weit tiefer und schmerzlicher verwundet, als sie glaubte. Wenn ihm ein ähnlicher Schlag aus dem Volk heraus, in Gestalt eines Aufruhrs, versetzt worden wäre, dann hätte er sich mit aller Kraft dagegen verwahrt. Aber gegen Frauen konnte er nicht kämpfen, an Frauen konnte er sich nicht vergreifen. Es war wohl eine entsetzliche Schmach für einen König, von einem Provinzfräulein angeführt worden zu sein, aber durch jede Maßnahme, die auch nur eine Spur von Zorn verraten hätte, würde die Schmach nur noch größer geworden sein. Ja, er durfte sich nicht einmal ungehalten zeigen, um keinen neuen Grund zum Lachen zu geben. In aller Stille mußte die Blamage hinuntergeschluckt werden, und unveränderte Leutseligkeit, selbst gegen die Missetäterinnen, war das einzige Mittel, über seinen Groll hinwegzutäuschen.
Wenn die Prinzessin die Anstifterin des ganzen Vorfalls gewesen wäre, so hätte sie recht gehabt. Das gab der König zu. Hatte er sich ihr nicht mit süßen Liebesworten genähert? War sie nicht nur seiner verführerischen Stimme gefolgt, indem sie ihn liebte? Und nun sah sie sich durch eine Untreue belohnt, die um so demütigender war, als sie wegen einer tief unter ihr stehenden Nebenbuhlerin erleiden mußte. Hatte sie aber keinen Teil an der Täuschung, dann hatte der König auch keinen Grund, ihr zu zürnen.
Das naive Bekenntnis der Lavallière hatte dem königlichen Herzen unendlich wohlgetan; er hatte an diese unschuldige, uneigennützige, reine Liebe geglaubt. Seine Seele, selbst noch naiv und jugendlich, war dieser andern Seele, die sich ihm offenbarte, entgegengeflogen. Und nun sollte es Lug und Trug gewesen sein: ein Fastnachtsscherz, eine Fopperei. Ein anspruchsloses Mädchen aus der Provinz, dem man im Grunde alles: Schönheit, Geburt, Geist, absprechen konnte, hatte den König genarrt – den König, der wie ein asiatischer Sultan nur mit den Augen zu suchen, nur die Hand auszustrecken, nur sein Taschentuch fallen zu lassen brauchte.
Und dieser König hatte sich 24 Stunden lang nur mit diesem Mädchen beschäftigt, ihr Bild im Herzen getragen und, nur an sie denkend, nach ihr schmachtend, die vielen schönen Frauen nicht beachtet, die seinen Hof belebten. In der Tat, es war zu viel! Und doch, es ließ sich gar nichts tun. Es blieb nichts weiter übrig, als die Sache auf sich beruhen zu lassen.
Als Ludwig zu diesem für seine gekränkte Eitelkeit schmerzhaften Ergebnis seiner Betrachtungen gelangte, trat ein Lakai herein und überreichte ein offenbar von Frauenhand geschriebenes Billett. – »An Seine Majestät,« sagte er. – »Von wem?« fragte der König. – »Das weiß ich nicht. Es ist mir von einem Hausoffizier übergeben worden,« war die Antwort. – Der König trat an den Leuchter, und im Schein der Wachskerzen öffnete er das Briefchen und las: »Sire, verzeihen Sie meine Zudringlichkeit, verzeihen Sie mir vor allem, daß ich gewisse Vorschriften außer acht lasse, aber ich kann nicht anders. Ich bin von Schmerz und innerm Kampfe erschöpft und bitte Eure Majestät um die Gnade einer Audienz, in welcher ich meinem König die volle Wahrheit sagen werde. Luise von Lavallière.«
Der König glaubte zu träumen. Aber ein unsagbar frohes, wonniges Gefühl wallte plötzlich über ihn hin, als wenn ihn der Hauch des Frühlings gestreift hätte. Er rief Saint-Aignan, der im Nebenzimmer seiner Befehle harrte. »Graf, nimm deinen Mantel und begleite mich!« gebot er, ohne sich zu besinnen. »Weißt du, wo die Ehrenfräulein der Herzogin von Orléans wohnen?« – »Gewiß.« – »Kennst du jemand, der uns Zutritt verschaffen kann?« – »Ja, ich kenne einen jungen Mann, der mit einem Fräulein sehr gut bekannt ist.« – »Mit der Tonnay-Charente?« – »Nein, leider nur mit der Montalais.« – »Wie heißt er?« – »Malicorne.« – »Ein häßlicher Name. Und meinst du, daß er uns helfen kann?« – »Ich denke, ja.« – »So laß uns gehen.«
Am Fuße der Treppe, die zu dem Zwischenstock führte, wo die Ehrendamen logierten, blieb Saint-Aignan stehen und ließ durch einen vorübergehenden Lakai Herrn Malicorne rufen. Er erschien nach zehn Minuten, der König zog sich in den dunkelsten Teil des Korridors zurück. Als Saint-Aignan seinen Wunsch zu erkennen gab, antwortete Malicorne ausweichend. – »Einlaß in die Wohnung der Ehrendamen?« sagte er, »das geht nicht gut, Herr Graf. Da muß man doch wissen, in welcher Absicht Sie hinein wollen.« – »Das kann ich Ihnen leider nicht mitteilen, lieber Herr Malicorne. Sie müssen mir also schon so über den Weg trauen – wir kennen uns ja doch.« – »Wenn schon, Herr Graf, und es wäre vielleicht nicht so bedenklich, wenn noch alle Ehrendamen hier wären, aber Madame hat die andern alle wieder in ihre Privatzimmer zurückkehren lassen und in diesem nur die Fräulein von Lavallière und von Montalais zurückbehalten. Sie begreifen – ich könnte nur zwei Herren Einlaß gewähren: dem Grafen von Bragelonne und dem König selbst.«
»So lassen Sie den König ein, ich befehle es Ihnen,« sagte Ludwig XIV., indem er vortrat und den Mantel auseinanderschlug. »Das Fräulein von Montalais wird zu Ihnen herunterkommen, während wir zu Fräulein von Lavallière gehen, denn ihr allein gilt unser Besuch.« – »Seine Majestät!« stammelte Malicorne, indem er dem Monarchen zu Füßen fiel. – »Ja, der König, der Ihnen sowohl für Ihren Widerstand wie für Ihre Nachgiebigkeit Dank weiß. Stehen Sie auf und lassen Sie uns ein.« – »Wie Majestät befehlen,« sagte Malicorne und schritt die Treppe voran.
»Rufen Sie Fräulein von Montalais heraus,« sagte der König, oben angelangt. »Sie darf nicht wissen, daß ich hier bin, verstanden?« – Malicorne verneigte sich. Aber während Malicorne öffnete und eintrat, besann sich Ludwig eines andern und erschien gleichzeitig mit ihm in dem Zimmer. Die Lavallière ruhte in einem Lehnstuhl, die Montalais stand vor einem Spiegel und kämmte sich das Haar. Als die Männer eintraten, stieß sie einen Schrei aus und entfloh. – Malicorne ging ihr nach. Saint-Aignan trat in eine Ecke des Gemachs; der König schritt auf Luise zu. Sie richtete sich wie ein galvanisierter Leichnam in die Höhe und sank gleich darauf in den Stuhl zurück.
»Sie wünschen eine Audienz, mein Fräulein,« begann Ludwig XIV., »ich bin bereit, Sie anzuhören.« – Die Lavallière erhob sich abermals. Zitternd stand sie vor dem König. Sie vermochte nur die Worte zu stammeln: »Majestät, verzeihen Sie mir!« – »Was soll ich Ihnen denn verzeihen?« fragte Ludwig. – »O, ich habe einen großen Fehler begangen, ja ein schweres Verbrechen: ich habe Eure Majestät beleidigt,« sagte Luise.
»Nicht im geringsten,« antwortete der König. – »Sire, ich bitte Sie inständigst, lassen Sie mich durch diesen furchtbaren Ernst nicht Ihren gerechten Zorn fühlen! Ich fühle es, ich habe Sie beleidigt, aber ich muß Ihnen erklären, daß dies ganz gegen meinen Willen geschehen ist.« – »Inwiefern haben Sie mich beleidigt, Fräulein?« versetzte Ludwig XIV., »ich sehe es nicht ein. Etwa durch jenen mädchenhaften Scherz? Was ist dabei, wenn sich ein junges Mädchen über einen leichtgläubigen jungen Mann lustig macht? Jede andere an Ihrer Stelle hätte ebenso gehandelt.«
»O, Eure Majestät geben mir mit diesen Worten den Todesstoß!« – »Ist das alles, was Sie mir zu sagen hatten?« fragte der König, indem er einen Schritt zurücktrat. – Die Lavallière aber folgte ihm und sah ihn mit ihren großen, verweinten Augen an. – »Majestät haben alles gehört, was ich unter der Königseiche gesprochen habe?« stammelte sie. – »Kein Wort ist mir entgangen,« antwortete Ludwig. – »Und haben Majestät wirklich auch nur auf einen Augenblick geglaubt, ich hätte Ihre Leichtgläubigkeit mißbrauchen wollen? Können Majestät sich nicht denken, daß ein armes Mädchen, wie ich, bisweilen gezwungen sein kann, sich stumm dem Willen anderer zu beugen?«
»Ich verstehe nicht,« erwiderte der König, »wie jemand, der den Mut hat, sich so frei zu äußern, wie Sie es unter der Königseiche taten, nachher sich von andern ducken lassen soll.« – »Aber die Drohung, Majestät –«
»Drohung?« rief Ludwig. »Wer hat Ihnen gedroht? wer hat es gewagt?« – »Jemand, der das Recht dazu hat. Verzeihen Sie, Sire, es gibt in Ihrer Umgebung hochstehende Personen, die sich für befugt halten, ein Mädchen ohne Zukunft und Vermögen, das nichts hat als ihren guten Namen, zugrunde zu richten.«
»Mein Fräulein,« antwortete der König streng, »ich liebe es nicht, daß man sich entschuldigt durch Verdächtigung anderer. Sie hätten es leicht, sich zu rechtfertigen. Es tut mir weh, daß Sie zu Vorwürfen und Anschuldigungen greifen.« – »Majestät schenken mir also keinen Glauben?« rief Luise. – Der König schwieg. Sie schlug die Hände zusammen. »Sie glauben mir nicht!« rief sie. »Sie glauben nur, ich hätte mich erdreistet, diesen lächerlichen Scherz zu treiben! Sie halten mich dieser schändlichen Frechheit fähig!« – »Es war weder lächerlich noch schändlich,« antwortete Ludwig. »Es war harmlos und spaßhaft, weiter nichts. Was ist denn natürlicher? Der König horcht; er will sich vielleicht auf Ihre Kosten einen Scherz machen. Also rasch den Spieß herumgedreht! Rasch die Fabel erdichtet, ich liebte ihn; der König ist ja naiv und außerdem so sehr von sich selbst eingenommen, daß er es glauben wird. Und dann erzählen wir die Geschichte aller Welt und lachen uns satt.«
»O, das zu denken, ist entsetzlich!« rief die Lavallière. »Sire, kein Wort mehr, ich bitte Sie! sehen Sie nicht, daß Sie mich zu Tode martern?« Sie sank auf die Knie nieder und faltete die Hände. »Sire, ich ziehe die Schmach der Lüge vor! Wenn ich Ihnen Vernunft und Ehre opfere, werden Sie dann an die Aufrichtigkeit meiner Gefühle glauben? Was Madame Ihnen heute abend erzählt hat, war eine Lüge. Was ich unter der Königseiche gesagt habe, war die Wahrheit. Und wenn ich vor Scham sterben müßte an dieser Stelle, wo meine Knie festgewurzelt sind, so werde ich doch, solange ich Atem habe, wieder und wieder bekennen: Ich liebe Sie! Ich liebe Sie so, wie ich es sagte! Ich liebe Sie, Sire, seit jenem Tage, da ich Sie in Blois zum ersten Male sah, seit jenem Tage, da Ihr leuchtender Blick wie Sonnenschein in meine Einsamkeit fiel. Ich weiß, es ist ein Majestätsverbrechen, wenn ein armes Mädchen wie ich den König liebt und es zu ihm sagt. Bestrafen Sie mich für meine Verwegenheit – verachten Sie mich wegen meiner Schamlosigkeit – aber sagen Sie nicht, ich hätte Sie verspottet, ich hätte meinen Scherz mit Ihnen getrieben. Ich bin aus einem Geschlecht, das dem Königtum stets ergeben war – und ich liebe meinen König – ich liebe ihn! O, ich kann nicht mehr.«
Ihre Kräfte waren erschöpft, ihre Stimme erlosch, sie sank ohnmächtig zu Boden. Den König hatte ihr leidenschaftliches Geständnis tief ergriffen. Jetzt nahm er die Ohnmächtige in die Arme, hielt sie fest umfangen und drückte sie an sein Herz. Aber die Lavallière gab kein Lebenszeichen von sich – ihr Kopf sank auf seine Schulter.
Erschrocken rief der König seinen Hofmeister. Der Graf war diskret in seinem Winkel geblieben und eilte nun herbei. Er brachte die Bewußtlose in ihren Lehnstuhl und bespritzte sie mit aromatischem Wasser. »Kommen Sie doch wieder zu sich, mein Fräulein!« rief er, »es ist ja alles gut, der König glaubt Ihnen! Er verzeiht Ihnen. Aber wenn Sie so lange ohnmächtig bleiben, das fällt dem König auf die Nerven, und Majestät hat ein sehr feines Gefühl. Fräulein, Fräulein, so hören Sie doch! Sie müssen wirklich wieder zu sich kommen – es ist die höchste Zeit – mein Gott, wie fatal – nehmen Sie sich doch ein bißchen zusammen!«
Aber Saint-Aignan redete umsonst; der König wußte ein besseres Belebungsmittel. Er kniete nieder und heftete glühende Küsse auf die Hand Luisens. Endlich schlug sie die Augen auf, sah den König schmachtend an und flüsterte: »Haben Eure Majestät mir wirklich verziehen?« – Der König konnte vor Bewegung nicht antworten. – »Und nun, Sire,« fuhr die Lavallière fort, »habe ich mich – so hoffe ich wenigstens – vor Ihnen gerechtfertigt. Gestatten Sie mir jetzt, mich in ein Kloster zurückzuziehen. Dort will ich mein Leben lang meinen König segnen und bis an meinen Tod Gott für diesen Tag des Glückes danken.« – »Nein, nein, Sie bleiben hier,« rief Ludwig. »Danken Sie Gott, ja! aber lieben Sie auch Ihren König, lieben Sie Ludwig, der Ihr Leben verschönern will – Ludwig, der, das schwört er Ihnen, Sie wiederliebt!«
Und seine Küsse wurden so glühend, daß Saint-Aignan es für geraten hielt, sich wieder in seine Ecke zurückzuziehen. – »O, Majestät,« flüsterte die Lavallière, von der Inbrunst des Königs entflammt, »soll ich denn meine Aufrichtigkeit bereuen? Soll ich denn glauben, Majestät verachteten mich?« – »Mein Fräulein,« antwortete Ludwig, »nichts auf der Welt liebe und ehre ich mehr als Sie, das schwöre ich Ihnen bei Gott! Niemand soll hinfort Ihnen gleich geachtet werden. Meine stürmischen Küsse waren nur der Ausdruck meiner Liebe – aber ich kann Ihnen beweisen, daß ich Sie nicht nur liebe, sondern auch über alles hochschätze. Sie stehen unter meinem Schutze. Sagen Sie niemand, welche Schmerzen ich Ihnen bereitet habe, und verzeihen Sie auch den andern die trüben Stunden, die Sie erlitten. Künftighin werden Sie so hoch über allen andern stehen, daß Sie niemand mehr zu fürchten brauchen.«
Er rief Saint-Aignan, verneigte sich vor Luise und sagte noch: »Ich schicke Ihnen Ihre Freundin sogleich zurück. Leben Sie wohl, mein Fräulein, und vergessen Sie mich nicht in Ihrem Gebet.« – »O, Sire,« antwortete die Lavallière, »Sie wohnen zusammen mit Gott in meinem Herzen.« – Diese letzten Worte erfüllten den König mit einem Gefühl hoher Freude und Wonne. Er kehrte mit seinem Hofmeister in seine Zimmer zurück. – Madame hatte diese Wendung nicht vorausgesehen: die Dryade und Najade wußten nichts davon.
Der folgende Tag war düster und schwül. Dennoch befahl der König, die Spazierfahrt nicht ausfallen zu lassen, und die Blicke aller Damen und Herren, die daran teilzunehmen hatten, richteten sich voll Besorgnis zum Himmel empor. Schon schwebte ein leichter Nebel auf den Gipfeln der Bäume, und die Sonne vermochte den dicken Wolkenschleier nicht zu durchdringen. Ludwig sah zum Fenster hinaus und versprach sich nichts Gutes von diesem Wetter; aber was ihn bewog, trotzdem die Ausfahrt nicht abzubestellen, das war das erhoffte Zusammentreffen mit der Lavallière, und er wollte es selbst dem Himmel nicht gestatten, ihm einen Strich durch seine Liebessehnsucht zu machen.
Ludwig ging wie sonst zur Messe, aber er vergaß an diesem Tage über ein gewisses erschaffenes Wesen den Schöpfer und zählte ungeduldig die Minuten, die ihn noch von dem Wiedersehen trennten. Von dem Auftritt, der am verflossenen Tage zwischen Ludwig und der Lavallière stattgefunden, hatte niemand etwas erfahren. Saint-Aignan erkannte den tiefen Ernst dieser Liebschaft und wußte, daß in diesem Falle seine Mitwissenschaft ein kostbarer Besitz sei. Die Montalais hätte gern geplaudert – schwatzhaft wie sie war – aber Malicorne hatte es ihr auf die Seele gebunden zu schweigen, wenn anders sie nicht sich und ihn ins Verderben stürzen wollte.
Ludwig war so glücklich, daß er der Herzogin von Orléans nicht grollen konnte. Er konnte sich ja auch im Grunde über ihre Täuschung nicht beklagen; denn ohne diese würde er keinen Brief von der Lavallière erhalten und sich nicht mit ihr ausgesprochen haben. Er war so zufrieden mit der Lösung der Dinge, daß in seinem Herzen kein Raum für Unmut war.
Da die Spazierfahrt erst gegen zwölf Uhr stattfand, so verblieben dem König noch ein paar Stunden, die er der Arbeit mit Colbert und Fouquet widmen wollte. Aramis, der sich in der Gesellschaft des Oberintendanten befand, mischte sich unter die Höflinge, die auf den Korridoren hin und her schritten.
»Sire,« sprach Fouquet, als die Arbeit beendet war und er sich verabschiedete, »Sie überhäufen mich seit einigen Tagen mit Anzeichen der Gnade. Gewiß haben Majestät besonderen Anlaß, mir ein so huldvolles Lächeln zu gönnen.« – »Sie stellen Mutmaßungen an?«
erwiderte Ludwig. »Sie irren sich; ich bin vielmehr ärgerlich auf Sie. Jawohl, im Ernst!« – »Majestät erschrecken mich. Ich wüßte nicht, was ich getan –« –»Ich hörte von einem großen Fest, das Sie in Vaux geben wollen.« – Fouquet lächelte wie ein Kranker bei dem ersten Schauer eines vergessenen und wiederkehrenden Fiebers. – »Und zu diesem Fest haben Sie mich noch nicht eingeladen,« setzte Ludwig hinzu.
»Sire,« antwortete der Minister, »ich hatte gar nicht mehr an dieses Fest gedacht. Auch konnte ich ja nicht hoffen, daß Eure Majestät geruhen würde, aus Ihrer erhabenen Sphäre herabzusteigen und mein Haus mit Ihrer Königlichen Gegenwart zu beehren. Ich erwähnte deshalb das Fest nicht, weil noch gar nichts entschieden war und ich von Eurer Majestät eine ablehnende Antwort fürchtete. Und dennoch hegte ich den lebhaften Wunsch –«
»Daß Ihre Einladung huldreich aufgenommen würde, nicht wahr?« antwortete Ludwig. »Verständigen wir uns! Sie wünschen mich einzuladen, ich wünsche eingeladen zu werden. Laden Sie mich also ein, und ich werde erscheinen.« – »Wie? Majestät geruhen, meine Einladung anzunehmen?« stammelte der Minister. – »Ich glaube sogar noch mehr zu tun,« versetzte der König lachend, »mich dünkt, ich lade mich selbst ein.« – »Innigsten Dank, mein König,« antwortete Fouquet mit einer tiefen Verneigung, scheinbar frohlockend über diese Huld, die nach seiner Meinung doch sein Tod war. »Sie machen mich zum glücklichsten Menschen der Welt. Geruhen Majestät den Tag zu bestimmen.« – »Heute über einen Monat. Und bis dahin wünsche ich Sie recht viel um mich zu sehen.« – »Sire, ich habe die Ehre, heute an Ihrer Spazierfahrt teilzunehmen.« – »Schon, Herr Fouquet. Dort kommen bereits die Damen.«
Der König eilte mit von liebendem Verlangen beflügeltem Schritt hinaus.
Die Wagen fuhren vor, die Reitpferde stampften auf dem Pflaster des Schloßhofes. Der König ging hinunter und begrüßte seine Gattin, die eben mit Madame in einen Wagen stieg. Sein Gruß fiel ein wenig zerstreut aus, denn er erblickte die Lavallière, die mit drei anderen Ehrenfräulein in einer Kalesche Platz nahm. Die Königin befahl den Vorreitern die Richtung nach Apremont einzuschlagen. Der König schwang sich in den Sattel und blieb ein Weilchen neben dem Wagen der Prinzessinnen.
Die Hitze war drückend, das Wetter sah noch immer drohend aus, aber da der König daran keinen Anstoß nahm, so wagte niemand, eine Befürchtung zu äußern. Madame war in guter Stimmung; denn sie fühlte, daß der König nicht seiner Gattin wegen neben ihrem Wagen ritt. Sie glaubte daher, ihn durch ihr Manöver vom verflossenen Abend wieder an sich gefesselt zu haben. Allein schon nach einer Viertelstunde empfahl sich der König mit einer anmutigen Verneigung, hielt das Pferd an und ließ die Wagen und Reiter an sich vorbeidefilieren. Erst als der Wagen der Lavallière vorüberkam, ritt er weiter. Er begrüßte die Damen und hielt sich an ihrer Seite, als plötzlich die ganze Wagenreihe halt machte. Der König fragte nach der Ursache und erfuhr, Madame habe Halt befohlen; sie wünsche zu Fuß weiterzugehen. Wahrscheinlich hoffte Madame, der König würde es verschmähen, zu Fuße neben den Ehrendamen herzugehen.
Man befand sich mitten im Walde, an einem Kreuzungspunkte, von dem drei schöne schattige Alleen abzweigten. Maria-Theresia verließ den Wagen und gab damit für alle andern das Zeichen auszusteigen. Sie nahm den Arm ihrer Ehrendame, warf einen verdrießlichen Seitenblick auf den König und schlug einen Seitenweg ein, der zu beiden Seiten von dichtem Laub eingefaßt war. Nach der Königin stieg Madame aus und sah alsbald den Grafen von Guiche am Wagenschlag, der sich verneigte und ihr den Arm anbot. Monsieur hatte es vorgezogen, ins Bad zu gehen, und, in der festen Ueberzeugung, keinen Grund zur Eifersucht zu haben, Herrn von Guiche beurlaubt.
Es fanden sich noch mehrere Gruppen von Herren und Damen zusammen, die sich nun rings über die lauschigen Wege des Parks verstreuten. Der König war an der Seite der Lavallière geblieben. Als der Kutschenschlag geöffnet wurde, stieg er vom Pferde und bot Luise die Hand. Die Montalais und die Tonnay-Charente entfernten sich sofort mit einer tiefen Verbeugung und begnügten sich mit der Gesellschaft der Herren Malicorne und Saint-Aignan.
Das Gewitter kam näher; doch da der König es nicht sah, glaubte niemand das Recht zu haben, es zu sehen. Ludwig reichte der Lavallière den Arm und zog sie auf einem der Waldwege mit sich fort. Da er sah, daß der größte Teil der Gesellschaft Miene machte, ihm zu folgen, so schlug er ohne Zaudern einen schmalen Seitenpfad ein, wo ihm niemand mehr das Geleit zu geben wagte.
Nicht weit von diesem Paar schritten zwei Männer durch den Wald. Sie schienen sich ebenfalls um das drohende Gewitter nicht zu kümmern, denn sie waren in ein offenbar sehr angelegentliches Gespräch vertieft. Plötzlich zuckte ein Blitz durch die Luft, und der Donner rollte dumpf über den Wald hin. »Das Gewitter ist da, lieber d'Herblay!« rief der eine der beiden Männer. »Wollen wir zu den Kutschen zurückeilen?« – Aramis blickte umher. »O, es wird nicht so schlimm werden. Herr Oberintendant,« sagte er, »ich weiß eine Grotte in der Nähe, die uns Schutz gewährt. Folgen Sie mir.«
Fouquet eilte hinter ihm her. Dicke Tropfen fielen schon raschelnd in das Laub. – »Sie haben den König vor der Abfahrt noch gesprochen?« fragte der Bischof. »Wie fanden Sie ihn?« – »Sehr huldvoll. Er hat sich zu meinem Feste eingeladen, mit einer Dringlichkeit, in der ich Colberts Werk erkannt habe. Es soll in einem Monat stattfinden. Es wird mich mehrere Millionen kosten.« – »Sagen wir neun,« antwortete d'Herblay. »Sechs versprach ich Ihnen – drei können Sie selbst beschaffen.« – »Ich verstehe Sie nicht,« erwiderte der Oberintendant, »vor einigen Tagen noch konnten Sie nicht einmal die 50.000 Livres an Baisemeaux aus Ihrer Tasche bezahlen, und jetzt bieten Sie mir sechs Millionen.«
»Weil ich vor einigen Tagen so arm war wie Hiob, jetzt aber reicher bin als der König.« – »Ich weiß, Sie werden Ihr Wort halten und Ihr Geheimnis nicht brechen,« versetzte der Minister, »reden wir also nicht mehr davon.«
In diesem Augenblick geschah ein heftiger Donnerschlag. – »Ich sagte es ja,« rief Fouquet, »zurück zu den Kutschen!« – »Dazu ist es zu spät,« antwortete Aramis. »Mit wenigen Schritten sind wir bei der Grotte.« – Eine Regenflut prasselte auf das Laubdach des Waldes herab, und rasch begannen die Tropfen durchzusickern.
»Hier ist die Grotte,« sagte der Bischof. »Doch still, ich höre Stimmen.« – »Nur hinein in den Schlupfwinkel, sagte Fouquet, bückte sich und trat in die kleine Steinhöhle, die, halb verborgen, im Gesträuch sich öffnete, »wer zuerst kommt, hat das Anrecht.«
»Wahrhaftig,« murmelte Aramis, »dort kommt ein Herr und eine Dame – aber sie wissen nichts von dem Vorhandensein unserer Grotte, denn der Herr späht nur nach einem dichten Baum aus. Meiner Treu, Herr Fouquet, es ist der König mit Fräulein von Lavallière.«
»Verstecken Sie sich,« flüsterte der Minister, »vielleicht fügt es der Zufall, daß sie in unserer Nähe stehenbleiben. Es wäre immerhin interessant zu hören, was Seine Majestät der kleinen Luise zu sagen hat.«
In der Tat machte Ludwig unter einer dicken, breitästigen Eiche unmittelbar neben der Grotte halt, in der Fouquet und Aramis Schutz gesucht hatten. Er hielt den Arm der Lavallière unter dem seinigen und beschützte sie mit seinem breiten Hute, obwohl große Tropfen sein Haar benetzten. – »Mein Fräulein,« sagte er, »ich bedaure aufrichtig, Sie von der Gesellschaft fortgeführt zu haben. Sie sind bereits durchnäßt. Ist Ihnen kalt? Sie zittern –« – »Aus Furcht, Sire, meine Abwesenheit könnte übel gedeutet werden.« – »Ich würde Ihnen den Vorschlag machen, zu den Kutschen zurückzukehren, doch urteilen Sie selbst; ob es in diesem Augenblick möglich ist, auch nur einen Schritt zu tun. Und wie sollte man es zu Ihrem Nachteil auslegen, daß Sie bei mir sind? Bin ich nicht der König von Frankreich und der erste Kavalier des Reiches?« – »Gewiß, Sire,« sagte die Lavallière, »und es ist eine große Ehre für mich. Ich fürchte auch nicht um meinetwillen die üble Nachrede, sondern nur Ihretwillen –« – »Ich verstehe Sie nicht,« sagte der König lächelnd. – »Haben denn Majestät schon vergessen, was sich gestern bei Madame ereignet hat?« – »O, erinnern Sie mich nicht daran! Doch ja, erinnern Sie mich, denn dies war die Ursache, weshalb Sie mir schrieben, und für diesen Brief danke ich Ihnen immer wieder.«
Die Lavallière lächelte. – »O, Sire,« sagte sie dann, »es regnet in Strömen, und Sie stehen entblößten Hauptes da.« – »Sprechen wir doch nur von Ihnen, mein Fräulein,« entgegnete Ludwig. – »O, ich bin ein Mädchen vom Lande und an jedes Wetter gewöhnt,« versetzte Luise, »auch kann es meinen Kleidern, wie Majestät sehen, nicht viel Schaden zufügen.« – »In der Tat, Fräulein, ich habe schon bemerkt, daß Sie alles Ihrer Person, nicht Ihren Toiletten verdanken. Sie sind gar nicht kokett, und das gefällt mir vor allem an Ihnen.« – »Ich bin nicht reich,« antwortete Luise offenherzig. – »Also lieben Sie doch das Schöne?« fragte Ludwig. – »Ich finde nur das Erreichbare schön,« antwortete sie. »Alles, was für mich zu hoch ist –«
»Nichts soll für Sie zu hoch sein,« sagte der König. »Ich werde dafür sorgen, daß Sie an meinem Hofe eine Ihnen gebührende Stellung einnehmen.« – »O, Sire, lassen Sie doch alles wie es ist,« antwortete die Lavallière. »Meine Wünsche waren erfüllt, als mir die Ehre zuteil wurde, in der Hofhaltung Ihrer Königlichen Hoheit der Herzogin von Orléans aufgenommen zu werden. Lasten Sie mich in meiner Mittelmäßigkeit! Nehmen Sie nicht meinen Gefühlen das freudige Bewußtsein der Uneigennützigkeit!« – »Welche herrliche, edle Sprache!« rief der König.
»Das ist wahr,« flüsterte Aramis dem Oberintendanten zu, »er ist nicht daran gewöhnt.« – »Es ist oft eine schlaue Berechnung, sich vor einem König uneigennützig zu zeigen,« meinte Fouquet. – »Das dachte ich eben auch,« sagte Aramis. »Wollen Sie nicht uneigennützig sein und dem König Ihren Platz anbieten?« – »Ich will im Gegenteil weiter zuhören,« antwortete der Minister.
Luise seufzte tief. – »Fräulein, so schwere Gedanken? Was kann Sie betrüben,« fragte der König, »da Sie doch unter meinem Schutze stehen?« – »Ich will es Ihnen sagen, Majestät,« sagte sie, ihre schönen blauen Augen zu ihm aufschlagend. »Sie gehören nicht sich selbst, Sie sind vermählt, Sire; jedes Gefühl, das Eure Majestät mir schenken, entziehen Sie der Königin, die Sie mit leicht begreiflicher Innigkeit liebt. Da sie das Glück gehabt hat, einen solchen Gemahl zu gewinnen, so bittet sie den Himmel mit Tränen, daß er nur ihr gehören möge. O, es wäre ein großes Unrecht, der Königin Ursache zur Eifersucht zu geben – verzeihen Sie mir dieses Wort, Majestät. Mein Gott, ich weiß, es ist unmöglich oder sollte es doch sein, daß die größte Königin der Welt auf ein armes Mädchen, wie ich bin, eifersüchtig wäre. Aber die Königin hat das Herz einer Frau, und böse Zungen können ihr Argwohn zutragen. Sire denken Sie an die Königin, nicht an mich!«
»Mein Fräulein, Sie verwandeln durch diese Worte meine Achtung in Bewunderung!« rief der König. – »Majestät legen in meine Worte einen Sinn, der nicht darin ist. Sie halten mich für besser, als ich bin. Sie machen mich größer, als Gott mich gemacht hat. Erbarmen Sie sich, Sire! Wenn ich den König nicht für den edelherzigsten Mann hielte, so würde ich glauben, er treibe Spott mit mir, daß er so zu mir spricht.« – »Ich bin ein unglücklicher Fürst,« sagte der König in aufrichtiger Betrübnis, »ich habe nicht einmal die Macht, die Person, die mir das Teuerste auf Erden ist, die mit ihrem Zweifel mir das Herz bricht, von der Wahrheit meiner Worte zu überzeugen.«
»Sire,« sagte Luise, den König sanft von sich wehrend, »ich glaube, der Regen läßt nach, das Gewitter hat sich verzogen. Noch einmal, Sire,« setzte sie hinzu und bewog Ludwig durch einen Druck der Hand, mit ihr fortzugehen, »bedenken Sie, welchen Unannehmlichkeiten Sie sich meinetwegen aussetzen wollen! Man sucht Sie jetzt schon. Die Königin wird besorgt sein – und Madame!« Und sie verstummte, als sei es vor Furcht.
Der König stutzte. »Was ist es mit Madame?« fragte er. – Luisens sonst schüchtern ausweichender Blick begegnete dem des Königs. – »Madame ist ebenfalls eifersüchtig,« stammelte sie. – »Madame hat kein Recht zur Eifersucht,« versetzte der König. »Sie ist ja sozusagen eine Schwester von mir.« – »Sire, es geziemt sich nicht für mich,« erwiderte Luise, »in die Geheimnisse Ihres Herzens zu dringen.« – »Wie? Sie glauben also auch –?« rief der König. – »Ich glaube, daß Madame eifersüchtig ist, ja,« antwortete die Lavallière. – »Hat Madame Sie das fühlen lassen?« rief Ludwig. »Hat Madame Sie vielleicht durch die Ihnen erwiesene Behandlung –« – »Keineswegs, ich bin ja viel zu unbedeutend,« erwiderte Luise. »Doch, man kommt, Sire – es regnet nicht mehr.«
»Was liegt daran, mein Fräulein?« rief Ludwig. »Mag kommen, wer will! Wer darf es wagen, daran Anstoß zu nehmen, daß ich dem Fräulein von Lavallière Gesellschaft geleistet habe? Ich habe, indem ich Sie schützte, nur meine Pflicht als Kavalier getan. Wehe dem, der die seinige vergessen hat und an dem Verhalten des Königs Kritik üben will!«
Man sah in der Tat einige neugierige Köpfe in der Allee erscheinen. Der junge König und das Fräulein von Lavallière wurden bemerkt, die Höflinge nahmen den Hut ab, zum Zeichen, daß sie den König erkannt hatten. Ludwig kehrte sich nicht daran, sondern führte Luise mitten durch die Schar der Herren und Damen zum Wagen zurück. Er hielt sogar, da noch immer einige Tropfen fielen, den Hut schützend über ihr Haupt, und alle sahen, daß sein eigenes Haar ganz naß geworden war. Die Königin und die Herzogin von Orléans bemerkten diese übertriebene Höflichkeit, und Madame vergaß darüber so sehr alle Etikette, daß sie ihre Schwägerin mit dem Ellbogen anstieß und flüsterte: »Sehen Sie doch nur!« – Die Königin schloß die Augen, legte die Hand über das Gesicht und verschwand rasch im Wagen. Madame stieg zu ihr.
Der König war neben dem Wagen der Ehrenfräulein stehengeblieben, bis die Lavallière Platz genommen hatte, dann schwang er sich aufs Pferd und ritt neben ihr her. – Jetzt erst verließen Fouquet und Aramis die Grotte. – »Sie liebt ihn leidenschaftlich,« sagte der Bischof, »und was noch schlimmer ist, er liebt sie. Sicherlich wird diese kleine Person den ersten Platz im Herzen des Königs einnehmen, und wir haben einen großen Fehler gemacht, Herr Fouquet!« – »Sie meinen den Liebesbrief, den ich an die Lavallière geschrieben habe?« antwortete der Minister. »Ich dachte auch daran«
– »Sie müssen ihn um jeden Preis zurückholen,« sagte d'Herblay.– Fouquet nickte. Er war zu lange Zeit an den Intrigen des Hofes beteiligt gewesen, um die Gefahr geringzuschätzen, in die ihn ein indiskreter Gebrauch dieses Briefes, seit der König um die Liebe der Lavallière warb, stürzen konnte. Sobald die Gesellschaft in den Palast zurückgekehrt war, suchte Fouquet daher um eine Unterredung mit Fräulein von Lavallière nach und wurde von ihr mit jener Unbeholfenheit empfangen, die sie als Provinzdame noch nicht völlig abgelegt hatte. Sie war noch zu sehr Neuling im Hofleben, und der plötzliche Glanz der königlichen Gunst verwirrte sie vollends. Fouquet wußte als durchgebildeter Menschenkenner und vollendeter Kavalier den rechten Ton zu treffen, stellte sehr geschickt seine Fragen und erfuhr auf diese Weise, ohne sich selbst eine Blöße zu geben, daß die Lavallière den von ihm geschriebenen Brief gar nicht erhalten hatte. Das war zunächst beruhigend für ihn, aber die Frage, wohin der Brief geraten sei, drängte sich doch dazwischen und stimmte den Minister sehr bedenklich. Nach Hause gekommen, teilte er Aramis das Ergebnis der Unterredung mit. D'Herblay machte ein saures Gesicht und mochte nicht recht an die Ehrlichkeit der Lavallière glauben. Man ließ den Diener kommen, dem der Brief zur Bestellung übergeben worden war. Der Diener, ein Mann mit schlau blinzelnden Augen, dünnen Lippen und gekrümmtem Rücken, beteuerte, den Brief, wie ihm befohlen, im Zimmer der Lavallière an einer bestimmten Stelle niedergelegt zu haben, und erklärte, es wäre nur die eine Möglichkeit vorhanden, daß das Fräulein ihn bis jetzt dort noch nicht gefunden hätte. Er machte sich anheischig, ihn zurückzubringen, und Fouquet, der fest an die Treue des Alten glaubte, schickte ihn fort. Man wollte ja auch jedes Aufsehen vermeiden und der ganzen Angelegenheit nach außen hin keine große Wichtigkeit beilegen. Fouquet und Aramis warteten, aber der Diener kam nicht wieder. Als sie nach ihm forschten, stellte es sich heraus, daß er entflohen war.
»Nun denn, das Unglück ist geschehen,« sagte Aramis, »warten wir ab, was daraus wird. Wir haben immer noch Mittel genug, uns zu verteidigen. Das Fatalste ist, der Brief war nicht datiert.« – »Vor allen Dingen müssen wir den verräterischen Diener wiederfinden,« sagte Fouquet. – »O, den werden Sie nicht wiederfinden,« antwortete der Bischof. »Wenn er Ihnen wert war, so legen Sie nur Trauer um ihn an.«
7. Kapitel. Die neue Gottheit des Hofes
Anna von Oesterreich war seit einigen Tagen leidend und sank vom Höhepunkt ihrer Schönheit herab mit jener Schnelligkeit, mit der bei allen Frauen, die ein stürmisches Leben hinter sich haben, die weiblichen Reize verblassen. Die bedenklichen Aeußerungen des Arztes waren ihr weit weniger schmerzlich als die unerbittliche Kälte der Höflinge, die sich von ihr zurückzuziehen begannen, gleich den Ratten, die das im Sturme leck gewordene Schiff verlassen. Auch der König vernachlässigte sie jetzt; früher war er alle Morgen eine volle Stunde bei ihr gewesen; dann hatte er sein Bleiben auf eine halbe Stunde beschränkt, und jetzt fing er an, die Besuche allmählich ganz fallen zu lassen. Man sah sich in der Messe oder
bei der Prinzessin, in deren Salon seit einiger Zeit die größten Réunions stattfanden. Anna hatte versucht, diese Gesellschaften in ihre Gemächer zu verlegen, aber sie mußte vor der jungen Herzogin die Waffen strecken. Nun machte sie verzweifelte Anstrengungen, sich auf der Höhe zu erhalten, und sie benutzte eine Zeitlang die Königin als Vermittlerin, allein die stets betrübte Gemahlin Ludwigs, die sich verlassen wie eine Witwe fühlte, hatte keine Energie zu einem Kampfe mit den höfischen Intrigen. Die Königin-Mutter mußte auf andere Mittel sinnen. Sie hatte in ihrem Leben viele Ränke gesponnen, zumal in jener Zeit, wo sie eine Freundin hatte, die fast noch ungestümer, noch feuriger war als sie. Diese Freundin war dann verbannt worden, und nun hatte sie sich jahrelang mit Frau von Motteville oder mit der Molena, ihrer spanischen Amme, begnügen müssen. Aber keine von beiden hatte ihr auch nur im entferntesten jene Freundin ersetzen können, Madame von Chevreuse, die Meisterin der Intrige. Und wenn sie jetzt an diese geistvolle Frau dachte, die nie um das rechte Mittel verlegen war, dann schien es, als wenn sie vor ihr stände und ihr mit ihrem charakteristischen feinen Lächeln einen Rat erteilte: »Alle diese Leute am Hofe brauchen Geld, um ihre Genußsucht zu befriedigen. Nur mit Geld können Sie sie an sich fesseln.« – Und Anna von Oesterreich handelte dementsprechend; sie verteilte Geschenke an die Personen, deren Einfluß sie sich sichern wollte, sie hatte die schönsten Juwelen von ganz Frankreich, und namentlich ihre Perlen waren so groß, daß sie dem König, sobald er sie sah, einen Seufzer entlockten, weil, mit ihnen verglichen, die Perlen seiner Krone nur Hirsekörner waren. Diese Schmucksachen machte nun Anna von Oesterreich zum Gegenstand von Lotterien, die in ihren Salons ausgespielt wurden, und es gelang ihr auch, sich auf diese Weise einen großen Kreis von Getreuen zu verschaffen und vor allem die Freundschaft Madames zu erringen, die an diesen vorzeitigen Erbschaften Geschmack fand.
Eines Abends bildeten zwei kostbare Armbänder den Gegenstand der Verlosung. Diese Schmucksachen waren weniger durch die darin verarbeiteten Juwelen, als vielmehr durch die antike Arbeit selbst wertvoll, denn es waren einzigartige Kabinettstücke einer vor mehreren Jahrhunderten üblichen Kunst und als Rarität von ganz unschätzbarer Kostbarkeit. Die Liste der zur Lotterie zugelassenen Personen war nach der strengsten Etikette aufgesetzt worden und wurde, als nach Erscheinen des Königs die Gesellschaft vollzählig war, unter großer Spannung verlesen. Es waren dreihundert Gäste bei der Königin-Witwe, und jedermann fragte sich, ob er mit zu den Bevorzugten gehören werde. Als die Verlesung beendet war, wandte Madame sich an Anna von Oesterreich.
»Wie?« flüsterte sie, »die neue Gottheit des Hofs, die kleine Lavallière, haben Sie ausgelassen? Das ist schade. Wenn sie das Glück gehabt hätte, die Armbänder zu gewinnen, so hätte sie sie versteigern und aus dem Erlös eine Aussteuer kaufen können, denn sie darf noch nicht heiraten, weil sie ihrem Gemahl keine Morgengabe mitbringen kann.« – »Die Arme!« entgegnete Anna von Oesterreich, »hat sie denn keine Kleider?« – »Ich glaube nicht,« versetzte Lady Henriette. »Wenigstens hat sie jetzt dasselbe Kleid an wie heute morgen auf der Promenade, wo es nur dank der Sorgfalt des Königs, der sie vor dem Regen schützte, sauber geblieben ist.«
Man sah den König vor Unwillen erröten, als er erkannte, daß die Lavallière von der Teilnahme am Spiel ausgeschlossen worden war. Luise bekundete weder durch eine Bewegung noch durch den Ausdruck ihres Gesichts, daß sie sich verletzt fühlte. Sie fühlte jedoch freudige Bewegung, als sie den Blick des Königs mit unverhohlener Innigkeit auf sich gerichtet sah. Unter den Vergessenen befanden sich auch die Montalais und Herr Malicorne, die sich gegenseitig über ihr Mißgeschick zu trösten suchten.
Nun wurden die Lose verteilt; der König bekam das seine zuerst, dann die Königin, dann die Königin-Mutter, Monsieur, Madame und nach der königlichen Familie die Herren und Damen vom Adel gemäß der Abkunft und Rangabstufung. Die Königin-Witwe öffnete darauf einen Lederbeutel, in welchem sich zweihundert Kugeln aus Perlmutter mit eingravierten Ziffern befanden, und die Verlosung begann. Die Gewinnnummer fiel auf den König. Die ganze Gesellschaft bejubelte dieses erfreuliche Ergebnis, wenngleich sich niemand des Eindrucks erwehrte, daß die ganze Sache von vornherein abgekartet gewesen sei. Das war auch wirklich der Fall; Anna von Oesterreich rechnete darauf, daß der König die Armbänder Madame schenken werde; sie hoffte sich auf diese Weise die dauernde Gunst sowohl ihres Sohnes als ihrer Schwägerin zu sichern. Mitten unter den beglückwünschenden Zurufen der Versammlung nahm der König die Armbänder in Empfang.
»Sie sind also sehr wertvoll, diese Dingerchen?« fragte er, sie betrachtend. – »Sehen Sie sich nur einmal die Diamanten an,« erwiderte Anna von Oesterreich.– »Eine Schönheit für Kenner,« sagte der König. »In der Tat, die Arbeit dieser Kameen ist wundervoll. Ich habe noch nie so meisterhafte Ziselierung gesehen.« – Er reichte den Schmuck der Königin hin, doch mit einer Gebärde, daß niemand daran zweifeln konnte, er wünsche ihn nicht seiner Gattin zum Geschenk zu machen. Aber da Maria-Theresia zu erkennen glaubte, daß er auch nicht im Sinne habe, ihn Madame zu schenken, so war sie zufrieden, warf nur einen flüchtigen Blick darauf und gab ihn an Monsieur weiter. Der Herzog von Orléans musterte die Kostbarkeiten lange mit lüsternem Blick und reichte sie seufzend seiner Gemahlin. Madame sagte nur ein einziges Wort, das aber aus ihrem Munde mehr besagte als eine lange Lobrede: »Prachtvoll!« Dann reichte sie die Armbänder der ihr zunächst sitzenden Dame, und nun machten sie die Runde durch die ganze Reihe der Versammelten. Unterdessen sprach der König ununterbrochen und ganz ruhig mit den Herren Fouquet und von Guiche, aber man sah, er war zerstreut und behielt den wandernden Schmuck scharf im Auge.
Das Fräulein von Tonnay-Charente war die letzte auf der Liste der Lotterie-Teilnehmer gewesen, und sie gab jetzt die Armbänder an die erste derjenigen, die nicht für würdig erachtet worden: an Fräulein Aure von Montalais, die ihrerseits sie an die Lavallière weiterreichte. Die Gesellschaft schien der Meinung, als würde dem Geschmeide durch die unscheinbaren Hände, die es jetzt betasteten, aller Wert genommen. – »Du siehst diese wundervollen Armbänder so gleichgültig an, Luise,« sagte Fräulein von Montalais. »Begeistern sie dich nicht?« – »O, doch,« antwortete Luise, »aber warum etwas wünschen, was mir nie gehören kann?« – Und sie streckte die Hand aus, um die Armbänder weiterzugeben.
In diesem Augenblick erklang die Stimme des Königs: »Halt! Die Armbänder bleiben, wo sie jetzt sind.« Dabei stand er auf und ging auf die Lavallière zu. »Fräulein,« sprach er, »Sie sind im Irrtum; als Dame haben Sie ebensoviel Anspruch wie jede andere auf Damengeschmeide. Die Armbänder gehören Ihnen. Der König bittet Sie, das Kleinod nicht zu verschmähen.« – Die Lavallière erschrak heftig und wollte dem König das Kästchen in die Hand drücken, aber Ludwig XIV. wehrte lächelnd ab.
Eine tiefe Stille, ein Todesschweigen lag über der Versammlung; alle waren starr vor Erstaunen. Madame biß sich so heftig auf die Lippe, daß das Blut hervorsickerte. Die junge Königin sah von Madame zu Luise und fing zuletzt zu lachen an. Anna von Oesterreich starrte fassungslos den König an, der ihre kluge Rechnung so unbedacht vereitelte.
Fünfter Teil. Zwischen Freund und Feind
1. Kapitel. Porthos bei Hofe
Chevalier d'Artagnan hatte sich das Treiben in Fontainebleau zwei Tage lang mitangesehen, dann war er sich klar darüber geworden, daß dieser Mummenschanz nichts für seinen kriegerischen Gaumen sei. Fast alle Augenblicke wurde er von Leuten gefragt: »Chevalier, wie steht mir dieser Frack?« Und er antwortete dann mit grimmem Spott: »Prachtvoll! Sie sehen aus wie ein Affe vom Sankt-Lorenzmarkte.« – Und wenn ihn jemand fragte: »Chevalier, was werden Sie diesen Abend anziehen?« dann erwiderte er grimmig: »Ich werde mich ausziehen.« Worüber dann sogar die Damen lachen mußten. Als er sich überzeugt hatte, daß der König inmitten dieser Spiele Paris, Saint-Mandé und Belle-Ile vergessen zu haben schien, daß Colbert nur noch an Feuerwerk dachte, daß Fouquet sein Geld bereitwillig zu den unsinnigsten Albernheiten hergab, da trat er vor den König und bat »wegen Familienangelegenheiten« um Urlaub, der ihm auch alsbald bewilligt wurde. Er hauste nun wieder bei Planchet in der Lombardstraße. Aber Planchet wunderte sich darüber, daß er so verdrießlich war, daß er in der Nacht schlecht schlief und bei Tage zerstreut umherging, ohne Freude, ohne Teilnahme.
»Herr Chevalier,« sagte Planchet, »es fehlt Ihnen an Zeitvertreib. Gibt es nicht wieder einen König, dem man zum Throne verhelfen kann, nicht wieder einen General Monk, den man in einer Kiste übers Meer fahren kann?« – »Nein, Freund,« antwortete der Kapitän, »alle Könige sitzen auf ihren Thronen, zwar nicht so behaglich wie ich auf diesem Schemel, aber sie sitzen doch drauf.« – »Herr Chevalier, ich glaube, Sie werden mager,« sagte der Kaufmann. »Und das muß gerade in meinem Hause passieren. Das kann ich nicht dulden. Ich werde den Schurken aufsuchen, der an Ihrem Kummer schuld ist, und ich werde zu ihm sprechen: Herr d'Herblay, ich schneide Ihnen die Kehle ab!«
»Potzblitz!« rief der Chevalier, »was hat denn d'Herblay damit zu tun?« – »Er verursacht Ihnen schwere Träume!« antwortete Planchet. »Seit drei Nächten haben Sie Alpdrücken, und dann rufen Sie immer: Aramis, du Duckmäuser!« – »Rufe ich?« fragte d'Artagnan. »Träume sind Schäume. Ich interessiere mich eben immer noch für meine alten Freunde.« – »Schon recht, aber darüber darf man nicht mager werden,« versetzte der Handelsmann. »Machen Sie es wie ich; schaffen Sie sich Zerstreuung. Haben Sie nicht bemerkt, daß ich mich zu gewissen Zeiten entferne?« – »Ja. Am 15. und 30. jedes Monats.« – »Und zu welchem Zwecke? Was meinen Sie wohl?« – »Ei, in Geschäftssachen. Ich denke mir, du kaufst Reis, Zucker, Pflaumen, Sirup und so weiter. Ich wundere mich gar nicht mehr, daß du ein Krämer geworden bist. Dieser Beruf bringt viel Abwechslung und versüßt das Leben im buchstäblichen Sinne.« – »Sie irren sich,« schmunzelte Planchet, »Einkäufe stecken nicht dahinter. Nein, ich gehe dann immer auf mein Landhaus.« – »Was? Du hast ein Landhaus?« – »In Fontainebleau, ja.« – »Da komme ich ja her.« – »Ja, und nun sollen Sie mit mir wieder hin. Es ist sehr hübsch auf meinem Landhause. Sie werden sich amüsieren, ich gebe Ihnen mein Wort darauf.« – »Du bist ein toller Kerl, Planchet,« rief d'Artagnan, »ich bin doch nun schon viele, viele Jahre mit dir bekannt, und doch kenne ich dich noch nicht. Wie ich schon damals sagte, als du in Boulogne den Schurken Lubin, den Kammerdiener von Wardes' um ein Haar erwürgtest, du bist unerschöpflich an gescheiten Einfällen. Schön, ich komme mit!«
Aber als d'Artagnan sich auf seinem Zimmer befand, dachte er schon nicht mehr an die Zerstreuung, die Planchet für ihn im Sinne hatte, sondern seine Gedanken weilten abermals bei jenen Rätseln, die ihm in der letzten Zeit so sehr viel Kopfzerbrechen gemacht hatten. Wenn Planchet in dieser Nacht an der Tür des Chevaliers gehorcht hätte, wäre er von neuem auf den Herrn d'Herblay böse geworden; denn der Musketier träumte abermals von ihm, und als er am Morgen erwachte, wiederholte er sich: »Diese drei Rätsel lassen mir nun einmal keine Ruhe; ich muß sie ergründen. Erstens: Was hat Aramis mit Baisemeaux zu tun? Zweitens: Warum läßt Aramis gar nichts von sich hören? Drittens: Wo steckt Porthos? Da meine Freunde sich im verborgenen halten, so muß ich all meinen Scharfsinn anwenden.«
Am folgenden Morgen begab er sich zunächst in die Bastille, um Herrn Baisemeaux einen Besuch zu machen und ihn ein wenig auszuhorchen. Aber der Gouverneur der Bastille war kalt und undurchdringlich wie die Mauern seiner Kerker: es war nichts aus ihm herauszubringen. Als d'Artagnans Fragen ihm lästig wurden, entfernte er sich mit dem Vorwand, sich seinen Gefangenen widmen zu müssen, und blieb so lange weg, daß der Chevalier die Geduld verlor und die Bastille verließ, ohne Baisemeaux' Rückkehr abzuwarten. Da er sich sagte, Baisemeaux würde nichts Eiligeres zu tun haben, als Aramis von seinem – d'Artagnans – Besuch Nachricht zu geben, so wartete er in der Nähe des Gefängnistors, ob ein Bote erscheinen würde. Er irrte sich nicht. Nach einer Stunde etwa erschien ein Soldat, der einen Brief im Gürtel trug und sogleich die Richtung nach der Vorstadt Saint-Antoine einschlug. Ohne Frage betraf dieser Brief ihn, den Kapitän der Musketiere. Aber wie sollte er ihn in die Hände bekommen?
Während er noch darüber nachsann, kam ihm der Zufall zu Hilfe. Zwei Schutzleute erschienen, die einen anscheinend den besseren Kreisen angehörenden Mann zwischen sich führten. Als der Verhaftete den Soldaten erblickte, rief er ihn um Hilfe an, stürzte auf ihn zu und klammerte sich an ihm fest. Sofort sammelte sich eine Menge Volkes an, die teils für die Schutzleute, teils für den Gefangenen Partei ergriff. D'Artagnan zauderte nicht, sich die entstehende Verwirrung zunutze zu machen, trat von hinten an den Soldaten heran und entriß ihm den Brief. Dann eilte er in den nächsten Hausflur, öffnete das Schreiben, ohne das Siegel zu verletzen, und las folgendes: »An Herrn du Vallon, bei Herrn Fouquet in Saint-Mandé. – Lieber Herr Baron, lassen Sie Herrn d'Herblay wissen, Er sei dagewesen und habe versucht, auf den Strauch zu klopfen. Ihr ergebener Baisemeaux.« – »So!« sagte d'Artagnan, »nun weiß ich Bescheid, und nun brauche ich den Brief nicht mehr. Der arme Soldat soll meinetwegen nicht in die Patsche kommen.«
Er trat auf die Straße und ließ das Papier fallen.
Der Streit war inzwischen zugunsten der Schutzleute entschieden worden, die ihren Häftling weiterführten. Der Soldat ging wieder seines Weges. Nach einigen Schritten fiel es ihm ein, an seinen Gurt zu fühlen, ob er auch seinen Brief noch bei sich habe, und als er merkte, daß er ihn verloren, sah er erschrocken ringsumher. Zu seiner Freude lag das Schreiben nicht weit von ihm auf dem Pflaster. Er hob es auf, wischte den Staub davon ab, betrachtete es, entdeckte, daß es geöffnet worden war, schien sich darüber aber keine Gedanken weiter zu machen, steckte es wieder in den Gürtel und ging weiter.
D'Artagnan folgte ihm in einiger Entfernung. Es war seine Absicht, eine Viertelstunde nach Ablieferung des Briefes bei Porthos zu erscheinen.
Der Türhüter machte Schwierigkeiten, doch als der Chevalier seinen Titel, »Generalkapitän der königlichen Musketiere«, nannte, siegte bei dem Lakai der Respekt des ehemaligen Soldaten über die Bedenklichkeit des gewissenhaften Dieners, und er ließ den Chevalier eintreten. Man wies ihn in einen entlegenen Teil des Palastes, und auf dem Wege dorthin hatte der Kapitän Gelegenheit, die wahrhaft königliche Einrichtung dieses Hauses zu bewundern. Es war ihm, als sei er in einem Feenschlosse, und der Gedanke, daß Porthos in einem solchen Eden wohne, flößte ihm eine höhere Meinung von seinem ehemaligen Waffenbruder ein; man sieht, selbst große Geister lassen sich von äußeren Eindrücken beherrschen.
D'Artagnan wurde in einen Salon geführt und brauchte nicht lange zu warten. Gleich darauf dröhnte der Boden des Nebenzimmers unter den wohlbekannten Tritten, die Tür wurde aufgestoßen, und Porthos, der Riese, warf sich mit einer gewissen Verlegenheit, die ihn ganz gut kleidete, in die Arme seines Freundes.
»Sie hier?« rief er. – »Und Sie hier?« antwortete der Gaskogner, »o, Sie Heimlichtuer!« – »Ja, Sie Wundern sich, mich in Herrn Fouquets Hause zu finden, nicht wahr?« versetzte der Baron lächelnd. – »Keineswegs! Weshalb sollten Sie nicht ein Freund des Herrn Fouquet sein?« entgegnete der Chevalier. »Herr Fouquet hat ja viele Freunde, namentlich unter den geistreichen Leuten.« – Porthos war jedoch so bescheiden, das Kompliment nicht auf sich zu beziehen. – »Nun ja, Sie haben mich ja in Belle-Ile gesehen,« sagte er. »Es ist wahr, ich kenne Herrn Fouquet.« – »Sie haben unverantwortlich gegen mich gehandelt, lieber Freund,« erklärte der Chevalier. »Ich war in Belle-Ile, und Sie wissen, ich stehe in königlichen Diensten. Ahnten Sie denn nicht, daß der König den verdienstvollen Mann, der den Bau dieser allgemein gelobten Befestigungen leitete, kennen zu lernen wünscht, daß der König mich abgeschickt hatte, um zu ermitteln, wer dieser Mann sei?« – »Wie? deshalb hatte der König Sie abgeschickt? Wenn ich das gewußt hätte!« rief Porthos. – »Dann hätten Sie nicht von Vannes Reißaus genommen, nicht wahr?« – »Jawohl. Aber was dachten Sie denn, als Sie mich nicht mehr fanden?«
»Ich habe die Wahrheit erraten,« antwortete d'Artagnan. »Ich dachte mir, Fouquet wolle es geheim halten, daß er Belle-Ile befestigen lasse, weil er dem König damit eine Ueberraschung bereiten wollte. Der Beweis dafür ist: Fouquet hat dem König die Besitzung zum Geschenk gemacht. Ja, ich war selbst dabei, wie er es dem König anbot. Und er hat zu ihm gesagt: ›Ein guter Freund von mir hat den Bau der Befestigungen geleitet: Herr du Vallon, Baron von Bracieux und Pierrefonds.‹–›Schön,‹ antwortete der König, ›stellen Sie mir diesen Mann vor.‹« – »Das hat der König geantwortet?« rief Porthos. – »So wahr ich d'Artagnan heiße!« – »Aber warum hat man mich dann nicht vorgestellt?« rief der Riese. »Man hat wohl davon gesprochen, aber noch heute warte ich darauf.«
»O, warten Sie nur getrost, der Tag wird ja wohl noch kommen,« meinte der Gaskogner spöttisch. »Uebrigens habe ich gehört, daß Sie in den ersten Tagen nach Ihrer Ankunft –« – »Mich nicht recht bewegen konnte, ja, das stimmt,« fiel Porthos ein. – »Wie? Sie konnten sich nicht bewegen? weshalb das?« fragte der Chevalier lächelnd. – »Nun ja,« versetzte Porthos, der nun einsah, daß er eine Dummheit gesagt hatte, »ich war auf schlechten Pferden hierher geritten.« – »Das dachte ich mir,« erwiderte d'Artagnan, »denn ich ritt hinter Ihnen her und fand sieben oder acht totgerittene Pferde auf der Landstraße.« –»Sie wissen, ich bin sehr schwer,« sagte Porthos. »Der Ritt hat mich kaputt gemacht. Nun, Fouquet schickte mir seinen Arzt, und ich war bald wieder wohl. Als ich mich das erste Mal wieder ankleidete, waren mir Hosen und Wams zuweit geworden. Stellen Sie sich mein Entsetzen vor!«
»Inzwischen hat sich dieser Schaden wieder ausgeglichen, wie ich sehe,« sagte der Chevalier. »Sie amüsieren sich jedenfalls in Gesellschaft unsers Freundes Aramis hier ausgezeichnet.« – »Aramis ist nicht hier, sondern in Fontainebleau,« entgegnete du Vallon. – »Aramis in Fontainebleau? Dort ist ja Fouquet auch.
Armer Porthos,« sagte der Gaskogner, »dort wird niemand an Sie denken, denn man hat in Fontainebleau jetzt nur für Tanzmusik und Gelage Sinn. Aramis, lassen Sie sich das sagen, will die Früchte Ihrer Arbeit allein einheimsen. Er gibt sich als Ingenieur von Belle-Ile aus und sagt, Sie seien dort weiter nichts gewesen als Handwerker, als Maurermeister, als Taglöhner. Aber ich will ihm einen Strich durch die Rechnung machen. Ich selbst werde Sie jetzt dem König vorstellen. Ich bin bei Hofe noch besser gelitten als Aramis, ja ich bin der vertraute Freund des Königs. Kommen Sie mit!«
»Aber Aramis wird mir böse sein –« – »Bah, ob Sie von ihm oder von mir vorgestellt werden, das ist doch gleichgültig. Hauptsache ist, daß Sie Ihren Zweck erreichen.« – »Ja, aber was wird Fouquet sagen, wenn ich sein Haus verlasse?« – »Sind Sie denn Gefangener, daß Sie gar nicht ausgehen?« – »Das nicht, aber ich hatte Herrn Fouquet versprochen, nicht ohne sein Einvernehmen sein Haus zu verlassen.« – »Nun, wechseln Sie nicht Briefe mit Aramis?« fragte d'Artagnan. – »Ja, ich schicke ihm Briefe.« – »Weshalb wollen Sie sie ihm nicht mal persönlich überbringen? Haben Sie jetzt solche Briefe?« – »Eben habe ich einen bekommen. Ich weiß nicht, ob er von Bedeutung ist, denn ich lese das Zeug nicht.« – »Nun, so haben Sie ja gleich eine Gelegenheit. Fahren Sie nach Fontainebleau, geben Sie Aramis den Wisch, und da der König in Fontainebleau ist, so werde ich Sie vorstellen.«
»Doch das Versprechen, das ich Fouquet gegeben?« wandte der Baron ein. – »Was denn? Fouquet ist ebenfalls in Fontainebleau, und Sie werden Ihr Versprechen, sich nicht aus dem Hause zu entfernen, ohne es ihm mitzuteilen, dadurch erfüllen, daß Sie vor ihn hintreten mit den Worten: Herr Fouquet, ich habe die Ehre, Ihnen bekannt zu geben, daß ich Saint-Mandé verlassen habe.« – »Und wenn er mich beim König sieht,« setzte Porthos hinzu, sich in die Brust werfend, »dann wird er mir keine Vorwürfe zu machen wagen.«
»Das wollte ich eben auch sagen, Porthos,« sagte d'Artagnan. »Aber Ihr Scharfsinn kommt mir in allem zuvor. Sie sind eben eine reich begabte Natur, an der die Jahre spurlos vorübergegangen sind. Es bleibt also dabei, Sie kommen mit nach Fontainebleau.«
»Es trifft sich gut, Fouquet hat mir zwei Pferde geschenkt,« sagte Porthos. – »Die lassen Sie lieber hier,« antwortete der Gaskogner. »Es ist vielleicht für später besser, Sie nehmen keine Geschenke von dem Oberintendanten an.« – Porthos ließ den Kopf hängen. »Lieber Freund,« sagte er, »das klingt, als wenn Politik im Spiele wäre, und Sie wissen, von der Politik lasse ich die Finger. Ich fürchte mich so sehr vor ihr, daß ich dann lieber doch nach Pierrefonds zurückkehre.«
»Sie würden recht haben, wenn es der Fall wäre,« versetzte d'Artagnan, »aber bei mir, lieber Porthos, ist von Politik nicht die Rede. Wer sich mit mir einläßt, erhält immer klaren Wein eingeschenkt. Sie haben an der Befestigung von Belle-Ile gearbeitet, der König wünscht den Baumeister kennen zu lernen, Sie sind bescheiden wie alle wahrhaft großen Männer, Aramis will Sie nicht vorstellen, um Ihr Licht unter den Scheffel zu stellen; also führe ich Sie beim König ein, damit Sie belohnt werden: das ist meine Politik.« – »Das kann die meinige auch sein,« antwortete Porthos mit Handschlag.
Als d'Artagnan mit seinem Freunde Fouquets Haus verließ, dachte er bei sich: »Porthos war Aramis' Gefangener; wir werden sehen, wie man seine Befreiung aufnimmt.«
Sie begaben sich zu Fuß in die Lombardstraße, und d'Artagnan führte den alten Waffenbruder zu Planchet, dem ehemaligen Kriegsgefährten. Der Handelsmann hatte noch dasselbe Herz wie früher; obgleich er nur noch inmitten von Waren lebte, war er dennoch keine Krämerseele geworden; trotz des herannahenden Alters hatte sein Gemüt sich jugendliche Frische bewahrt. Er empfing den Baron mit großer Herzlichkeit, obwohl er von seiner Seite für seine Warenvorräte viel zu fürchten hatte. Porthos interessierte sich sehr für Traubenrosinen, Mandeln und Haselnüsse und griff mit seinen großen Händen in die Säcke hinein, um sich den Mund wacker vollzustopfen. Die Nußschalen zersplitterten unter seinen mächtigen Zähnen, und der Fußboden war binnen kurzem mit Schalen bedeckt, die unter den Füßen der ein- und ausgehenden Kunden knackten. Dann löste er mit den Lippen die großen violetten Muskatrosinen mit solcher Gewandtheit von den Stengeln ab, daß er immer gleich ein halbes Pfund auf einmal verschlang. Das nannte Porthos die Bekanntschaft erneuern.
Die Ladenschwengel hatten sich vor dem Riesen respektvoll in eine Ecke verkrochen und starrten ihn aus gemessener Entfernung mit sehr geteilten Gefühlen an. Sie hatten einen Menschen wie Porthos noch nie gesehen. Das Geschlecht jener Titanen, die in den Rüstungen eines Hugo Capet, eines Franz I. gesteckt, war im Aussterben, und die engbrüstigen Handelsgehilfen fragten sich, ob dieser unheimliche Patron nicht der Werwolf aus dem Märchen sei, der nun den ganzen Laden des Herrn Planchet in seinen unersättlichen Magen schicken werde.
Während Porthos immerfort knackte, kaute und verschlang, sagte er von Zeit zu Zeit: »Sie haben da ein hübsches Geschäft, Herr Planchet.« – »Wir werden es bald zumachen können, wenn das so fort geht,« rief der erste Gehilfe in Heller Verzweiflung und ließ sich hinreißen, auf Porthos loszugehen, der vor einem Fasse gedörrter Aepfel stand. – »Was wünschten Sie, mein Freund?« fragte der Riese herablassend. – »Ich will ins andere Zimmer, bitte lassen Sie mich vorbei,« antwortete der Gehilfe. – »O, keine Umstände!« versetzte Porthos, hob den jungen Mann wie eine Puppe in die Höhe und setzte ihn jenseits des Fasses nieder. Dem Burschen schlotterten die Knie, und er fiel rücklings in eine Kiste voll geräucherter Heringe. Planchet machte gute Miene zum bösen Spiel, und als Porthos zur Abwechslung noch etwa ein halb Pfund Honig geschleckt und einen kleinen Eimer Wasser ausgetrunken hatte, fragte er den Kaufmann: »Wann wird bei Ihnen soupiert? Ich habe Appetit.« – »Wir nehmen nur einen kleinen Imbiß, denn wir reiten heute abend noch nach meinem Landhause,« antwortete Planchet. – »Ah, nach Ihrem Landhause?« rief Porthos, »da bin ich neugierig.« – »Sie erweisen mir zu viel Ehre, Herr Baron,« sagte Planchet.
Als die Ladendiener den unheimlichen Menschen, der doch immerhin kein Werwolf sein konnte, da man ihn »Herr Baron« titulierte, dem Laden den Rücken kehren sahen, atmeten sie auf und sagten: »Gott behüte deinen Ausgang und lasse dich nicht wiederkehren!«
Es war schon spät, als die drei Männer sich auf den Weg nach Fontainebleau machten. Sie legten die Strecke in der vergnügtesten Laune zurück. D'Artagnan beteiligte sich jedoch wenig an der Unterhaltung der beiden andern; er war in Gedanken versunken, und nur einmal sah er lachend auf, als der Baron, der in alter Freundschaft Planchet schon wieder mit Du anredete, dem guten Handelsmann, um seine Zufriedenheit auszudrücken, einen Schlag auf den Rücken gab, wobei das Pferd scheu wurde und mit einem gewaltigen Sprung vorwärts jagte.
»Sieh dich vor Planchet!« rief d'Artagnan, »wem Porthos allzu gut ist, den drückt er platt. Er ist immer noch stark wie ein Bär.« – »O, Mousqueton lebt auch noch, und der Herr Baron ist ihm doch sehr gut,« antwortete Planchet. – »Allerdings,« sagte Porthos mit einem Seufzer, »und ich habe Sehnsucht nach ihm.«
»Meine Herren, wir sind am Ziel,« rief Planchet und sprang aus dem Sattel. Man befand sich vor einem kleinen Häuschen an der Grenze der Ortschaft, hinter welchem man im Mondlicht die weißen Kreuze des Friedhofs schimmern sah. Planchet öffnete das Hoftor, und seine beiden Gefährten trieben ihre Pferde hinein, stiegen ab und folgten ihrem Wirt. Planchet rief einen alten Bauersmann herbei, der zur Besorgung der täglichen Wirtschaftsarbeiten angestellt war, übergab ihm die Pferde und führte seine Gäste in das Haus. Sie betraten ein kleines, gemütliches Zimmer, das durch eine Hängelampe erhellt wurde. Ihr Schein fiel auf ein schneeweißes Tischtuch und ließ die zwei sauberen Gedecke blitzen, die in Erwartung eines Besuchs zurechtgelegt waren. Hinter dem Tische saß in einem Lehnstuhl eine Frauensperson von etwa dreißig Jahren – eine dralle, runde Wirtschafterin mit rosigen Backen und kirschroten Lippen. Sie schlief und hatte eine schöngefleckte Katze auf dem Schoße.
»Ha, du Sybarit!« rief d'Artagnan, »jetzt begreife ich, weshalb du so oft von deinem Laden abwesend warst!«
»Bravo, Planchet, bravo!« fügte Porthos mit Donnerstimme hinzu. – Bei diesem Lärm setzte die Katze mit weitem Sprunge von ihrem warmen Plätzchen herab, und die Frau sprang auf, rieb sich die Augen und begrüßte die Herren mit einem freundlichen Lächeln. – »Erlauben Sie mir, Trudchen,« sagte Planchet, »Ihnen hier den Herrn Chevalier d'Artagnan und den Herrn Baron du Vallon, Bracieux und Pierrefonds vorzustellen.« – Porthos machte eine Verbeugung, mit der Anna von Oesterreich, die doch sehr viel auf Galanterie hielt, zufrieden gewesen wäre. D'Artagnan ergriff ihre Hand und verneigte sich mit ritterlichem Anstande. Planchet aber nahm sie in die Arme und gab ihr einen herzhaften Kuß.
»Das lasse ich mir gefallen,« sagte d'Artagnan, »Freund Planchet weiß sich das Leben zu verschönern.«
»Liebe Freundin,« sagte Planchet zu seiner Haushälterin, »ich habe Ihnen schon oft von diesen beiden Helden erzählt. Sorgen Sie dafür, daß sie hier bewirtet werden, wie es ihnen zukommt.« – »Es soll an nichts fehlen,« sagte die Frau mit merklich niederländischem Akzent. »Wo aber sind die beiden andern, die in Ihren Erzählungen die gleiche Rolle spielten wie diese zwei Herren?«
»Madame ist eine Holländerin?« fragte d'Artagnan.
– »Ich bin aus Antwerpen,« erwiderte sie. – »Und sie heißt Frau Gechter,« setzte Planchet hinzu. – »Aber du nennst Madame nicht so?« – »Nein, ich nenne sie Trudchen.« – »Ein lieblicher Name!« – »Trudchen ist mit zweitausend Gulden aus Antwerpen hierhergekommen,« erklärte Planchet. »Sie war vor einem Haustyrannen geflüchtet, der sie mißhandelte. Da ich aus der Picardie bin, so habe ich die Artesierinnen immer gern gehabt. Von Artois nach Flandern ist ja nur ein Katzensprung. Sie suchte Schutz bei ihrem Vetter, meinem Vorgänger in der Lombardstraße und legte dann ihre zweitausend Gulden bei mir an. Ich habe das Geld arbeiten lassen so daß es inzwischen schon zehntausend Gulden geworden sind. Sie ist nun frei und vermögend, hat hier eine Kuh, eine Magd und den alten Bauer zur Dienerschaft, spinnt für mich Leinwand, strickt meine Strümpfe und sieht mich nur alle vierzehn Tage bei sich. Und dabei scheint sie sich sehr glücklich zu fühlen.«
»Ja, ich bin glücklich,« antwortete Trudchen lächelnd.
Porthos drehte in sehr verdächtiger Weise an seinem Schnurrbart herum. Trudchen schien ihm gar sehr zu gefallen. Die Haushälterin aber eilte hinweg und trieb ihre Magd und ihren Bauer an, so daß in erfreulich kurzer Zeit ein Souper hergestellt war, das selbst den anspruchsvollen Porthos befriedigte. Dazu gab es Wein aus Planchets Keller, der unerschöpflich schien wie sein Laden in Paris. Ueber den Flaschen erzählten die drei sich die Kriegsabenteuer längst vergangener Zeiten. In ziemlich schwüler Stimmung trennten sie sich schließlich, um zur Ruhe zu gehen.
Am andern Morgen sahen sie sich erst richtig um, guckten sich das Haus, den Garten und die Umgebung an und kamen dabei auch auf den Friedhof zu sprechen, den sie eben aus dem Fenster betrachteten, als der melancholische Gesang einer Beerdigung zu ihnen heraufscholl.
»Das ist nicht sehr heiter, Freund Planchet,« sagte d'Artagnan, »mich dünkt, du wirst hier sehr oft an die Vergänglichkeit alles Irdischen erinnert.« – »Das ist wahr,« antwortete Planchet, »aber es soll sehr gut sein, wenn der Mensch sich mit dem Gedanken an den Tod befreundet. Dies ist übrigens ein Begräbnis der niedrigsten Klasse,« setzte er hinzu, die Nase rümpfend. »Es ist nur der Chorknabe, der Meßner und ein Priester dabei. Wen tragen sie da zur Gruft, Trudchen?«
»Es soll ein armer Franziskaner-Mönch sein, der im Gasthause verstorben ist,« antwortete die Haushälterin. – »Es ist nicht der Mühe wert, sich das anzusehen,« meinte Planchet. – Allein d'Artagnan ging nicht vom Fenster weg, sondern sah mit großem Interesse zu.
Hinter der Bahre, die zwei Männer trugen, schritt ein einzelner Mann, in einen Mantel gehüllt, den er sich über das Gesicht gezogen hatte, als wünschte er von den Trägern und dem Totengräber nicht gesehen zu werden. Das Grab wurde zugeschüttet, die Leute zerstreuten sich, der Vermummte ließ sie gehen und warf dann die Kapuze zurück.
»Potzblitz!« rief d'Artagnan, »das ist ja Aramis!«
Er hatte recht gesehen. Es war der Bischof von Vannes, der dem toten Jesuiten-General die letzte Ehre erwiesen hatte. Er blieb stehen und sah sich um, da erschien eine Frau, die er mit Ehrerbietung begrüßte. – »Merkwürdig!« rief d'Artagnan, »der Herr Prälat trifft sich heimlich mit Damen. Er ist doch noch immer der Alte.« – Er lachte.
Aramis führte die Dame an eine Stelle, wo Kastanien und Trauerweiden dichte Schatten gaben, und unterhielt sich hier etwa eine halbe Stunde lang mit ihr. Dann verneigte sich die Dame sehr tief vor Aramis und entfernte sich. Aramis ging nach der entgegengesetzten Seite fort.
Der Gaskogner zauderte nicht, seine Neugierde ließ ihm keine Ruhe. Er eilte auf die Straße hinunter und lief hinter der Frau her, deren Gesicht er bis jetzt noch nicht hatte sehen können. Sie schritt, das Haupt senkend, langsam auf eine Kutsche zu, die am Saume des Waldes hielt. D'Artagnan stampfte mit Riesenschritten hinter ihr drein. Sie fürchtete wohl verfolgt zu werden und sah sich plötzlich um. D'Artagnan erschrak und blieb so jäh stehen, als hätte er eine Ladung Schrot in die Waden bekommen.
»Frau von Chevreuse!« rief er. Dann machte er schnell kehrt, um nicht von ihr gesehen zu werden.
Unterwegs blieb er noch einmal stehen. »Und das soll ein armer Franziskaner gewesen sein, den sie da beerdigt haben,« dachte er bei sich. »Nein, dem hätte ein Aramis nicht das Geleit gegeben. Dahinter steckt mehr.«
*
Am folgenden Abend war im Schlosse große Audienz für die Deputierten der Provinzen und dann für die sonst noch neu vorzustellenden Personen. In einem Winkel des großen Empfangssaals saßen d'Artagnan und Porthos und warteten geduldig, bis die Reihe an sie käme. Der Chevalier stieß den Baron an. »Sehen Sie da!« flüsterte er, »Fouquet kommt mit Aramis, den er dem König vorstellen will, und als was? Als Ingenieur von Belle-Ile. Und Sie hat man in Saint-Mandé sitzen lassen, und wäre ich nicht gekommen, säßen Sie noch dort!« – Porthos seufzte tief auf.
Fouquet wendete sich an den König. »Sire,« sagte er, »ich habe Sie um eine Gnade zu bitten. Chevalier d'Herblay, der Bischof von Vannes, ist nicht ehrgeizig, aber er wünscht, Eurer Majestät zu nützen. Majestät brauchen jetzt gerade einen Agenten in Rom. Niemand eignet sich besser dazu als d'Herblay. Wir können ihm den Kardinalshut verschaffen.« – Der König runzelte die Stirn. – Fouquet sah dies und fügte hinzu: »Ich komme nicht oft mit einer Bitte, Sire.« – »Das ist eine Sache, über die ich nicht zu entscheiden habe,« antwortete der König. Das waren immer seine Worte, wenn er etwas von sich abwälzen wollte. – Fouquet konnte hierauf nicht antworten und sah Aramis an.
»Herr d'Herblay,« sagte der König, »kann uns ja auch in Frankreich dienstbar sein und viel nützen – zum Beispiel als Erzbischof.« – »Majestät überhäufen Herrn d'Herblay mit Huld,« erwiderte Fouquet mit der ihm eigenen Geschmeidigkeit. »Das Erzbistum kann ein Zusatz zum Kardinalshut sein; das eine braucht das andere nicht auszuschließen.«
Der König lächelte. »Hm,« meinte er, »gut gesagt! Selbst d'Artagnan würde nicht besser geantwortet haben.«
Der Kapitän sprang auf und trat rasch näher, seinen Freund mit sich ziehend. – »Majestät haben mich gerufen?« fragte er. – Aramis und Fouquet traten einen Schritt zurück. – »Erlauben Eure Majestät,« sagte d'Artagnan, ehe noch der König antworten konnte, »daß ich Ihnen Herrn Baron du Vallon, Bracieux und Pierrefonds vorstelle, einen der tapfersten Edelleute Frankreichs.« – Aramis erblaßte, als er Porthos sah; Fouquet ballte die Fäuste unter den Spitzenmanschetten. – D'Artagnan lächelte beide an, während Porthos sich verneigte.
»Porthos hier!« murmelte der Oberintendant. – »Still, da ist Verräterei im Spiele!« antwortete Aramis leise.
»Majestät,« fuhr der Gaskogner fort, »schon vor sechs Jahren hätte ich Ihnen den Baron du Vallon vorstellen sollen; aber manche Menschen gleichen gewissen Sternen, die nur nebeneinander zu leuchten vermögen. Das Plejadengestirn kann sich nicht auflösen, und deshalb nahm ich mir vor, den Baron du Vallon Eurer Majestät in dem Augenblick vorzuführen, wo Sie Herrn d'Herblay an seiner Seite sehen würden.« – »Wie? diese beiden Herren sind befreundet?« fragte der König verwundert. – »Sogar sehr befreundet, einer steht für den andern. Fragen Sie nur den Herrn Bischof von Vannes, wie Belle-Ile befestigt worden ist.« – Fouquet stutzte, doch Aramis antwortete rasch: »Belle-Ile ist von dem Herrn Baron befestigt worden.«
Ludwig sah schweigend von einem zum andern; die ganze Sache schien ihm nicht recht geheuer vorzukommen.
»Jawohl, Majestät,« bestätigte der Gaskogner, »aber fragen Sie nur auch den Baron, wer ihm bei diesen Arbeiten geholfen hat.« – »Aramis!« platzte Porthos heraus.
Nun machte Ludwig große Augen. »Wie?« rief er, »Herr d'Herblay, der Bischof von Vannes, heißt Aramis?«
– »Es ist sein Spitzname aus den Tagen, da er noch Krieger war.« – »Ein Name, der im Freundeskreise üblich war,« setzte Aramis hinzu. – »Nur keine falsche Bescheidenheit!« rief der Kapitän der Musketiere. »In diesem Priester, Majestät, vereinen sich der brillanteste Offizier, der unerschrockenste Krieger und der gelehrteste Theologe Ihres Reiches.« – »Und ein Ingenieur,« setzte Ludwig hinzu, mit einem staunenden Blick auf Aramis.
»Gelegentlich auch Ingenieur,« antwortete d'Herblay, sich verneigend. – »Majestät, mein Waffenbruder bei den Musketieren,« fuhr d'Artagnan fort, »der Mann, dessen treffliche Ratschläge hundertmal die Minister Ihres Vaters aus den größten Schwierigkeiten retteten, das ist kein anderer als dieser Chevalier d'Herblay, der Bischof von Vannes. Und dieser Chevalier d'Herblay bildete mit dem Baron du Vallon, mit dem Grafen de la Fère und mit mir jenes vierblättrige Kleeblatt, das unter der Regierung Ihres hochseligen Vaters soviel von sich reden machte.«
»Und eben dieser d'Herblay,« sagte der König mit eigentümlicher Betonung, »hat jetzt Belle-Ile befestigt.«
»Um dem Sohn zu dienen, wie er dem Vater gedient hat.« – D'Artagnan sah Aramis durchdringend an, und selbst er ließ sich durch den warmen Ton aufrichtiger Ehrfurcht täuschen, den der Prälat in seine Worte legte. – »So spricht kein Lügner,« dachte er bei sich. Und auch König Ludwig war überzeugt, der Bischof spreche die Wahrheit. – »In diesem Falle,« sagte er zu Fouquet, »bewillige ich den Kardinalshut. Wir werden bei der nächsten Ernennung an Sie denken, Herr d'Herblay. Bedanken Sie sich bei Herrn Fouquet. Und Sie, Herr Baron du Vallon, was haben Sie auf dem Herzen? Auch einen Wunsch? Sprechen Sie! Ich belohne gern die treuen Diener meines Vaters!«
»Sire,« stammelte Porthos. – »Majestät,« rief d'Artagnan, seinem Freunde zu Hilfe kommend, »dieser tapfere Degen, der im Feuer von tausend Feinden wacker ausgehalten hat, ist durch die Gegenwart Ihrer erhabenen Person ein wenig aus der Fassung gebracht. Aber ich weiß, was er wünscht: ihn verlangt nur danach, Eure Majestät eine Viertelstunde lang betrachten zu dürfen.«
»Sie speisen heute abend bei mir,« sagte der König zu Porthos, und der Riese wurde kirschrot vor Freude. Darauf waren der Chevalier und der Baron entlassen. – »Aramis wird böse auf mich sein,« murmelte Porthos im Fortgehen. – »Er war Ihnen noch nie so gut, wie jetzt,« entgegnete d'Artagnan, »haben wir ihm doch zum Kardinalshut verholfen.« – »Das ist wahr,« meinte der Baron. »Sagen Sie, sieht der König es gern, wenn man an seiner Tafel viel ißt?« – »Das freut ihn sehr, denn er hat selber einen echt königlichen Appetit,« antwortete der Kapitän.
Auf dem Korridor trat Aramis zu ihnen. »Sie sind aus meinem Gefängnis entschlüpft?« sagte er zu Porthos, ihm die Hand drückend. – »Seien Sie ihm nicht gram, Freund,« antwortete d'Artagnan, »ich habe ihn entführt. Ihr geistlichen Herren seid sehr politisch, wir Kriegsmänner aber gehen immer gerade auf das Ziel los. Hören Sie also, wie es gekommen ist. Ich bin mal wieder zu meinem lieben Freunde Baisemeaux gegangen –« – »Da fällt mir ein,« rief Porthos dazwischen, »ich habe ja einen Brief von Baisemeaux an Aramis.« Und er überreichte ihn. Der Prälat öffnete das Schreiben und las es, ohne daß d'Artagnan, der ihm dabei zusah, die geringste Verlegenheit gezeigt hätte. Aramis selbst wußte sich so vortrefflich zu beherrschen, daß der Chevalier ihn aufs neue bewundern mußte.
»So? Sie haben also Baisemeaux besucht?« fragte der Bischof und steckte den Brief mit der größten Ruhe in die Tasche. – »Ja, dienstlich,« antwortete d'Artagnan, »und natürlich sprachen wir von unsern beiderseitigen Freunden. Ich muß sagen, Baisemeaux empfing mich kalt, so daß ich bald gegangen bin. Auf der Straße trat ein Soldat zu mir, der mich ohne Frage an der Uniform erkannte, und bat mich, ihm die Adresse eines Briefes vorzulesen, den er zu bestellen hatte. Der Bursche konnte selbst nicht lesen und hatte vergessen wo der Empfänger wohnte. Da las ich denn: An Herrn Baron du Vallon, bei Herrn Fouquet in Saint-Mandé. Halt, dachte ich da, ich will Porthos mal besuchen.« – »Und nun führten Sie ihn nach Fontainebleau?« – »Ja, in Planchets Häuschen.« – »Wie? Planchet wohnt in Fontainebleau?« fragte Aramis erstaunt. – »Ja, dicht beim Friedhof,« platzte Porthos heraus.
»Beim Friedhofe?« fragte Aramis argwöhnisch.– »Jawohl,« antwortete Porthos, »aber trotzdem ist's sehr gemütlich bei ihm. Man braucht ja nicht hinzugucken, wenn solch eine trübselige Beerdigung stattfindet wie heute morgen –« – »Heute morgen?« wiederholte Aramis mit wachsender Unruhe. – D'Artagnan pfiff leise vor sich hin. – »Ah, es wurde ein armer Mann begraben,« sagte Porthos, »ich habe nicht hingeschaut, aber d'Artagnan scheint so etwas sehr gern zu sehen.«
Aramis erschrak und wendete sich zu dem Musketier, der aber bereits ein Gespräch mit Saint-Aignan angeknüpft hatte. D'Herblay fragte nun du Vallon noch weiter aus, und als er aus der riesigen Zitrone allen Saft ausgepreßt hatte, warf er die Schale weg. Er trat zu dem Gaskogner. »Auf ein Wort, lieber Freund. Sie haben doch noch fünf Minuten für mich übrig?« – »Zwanzig noch, denn solange wird es dauern, bis Majestät zu Tische geht.« – Sie setzten sich abseits auf eine Bank, und Aramis ergriff d'Artagnans Hand.
»Gestehen Sie, Freund, Sie haben Porthos eingeredet, mir sei nicht recht zu trauen,« begann der Bischof.
»Das gestehe ich – aber es war anders gemeint. Ich sah, Porthos langweilte sich, und beschloß, ihn dem König vorzustellen und damit etwas zu tun, was Sie selbst nie tun werden.« – »Das wäre?« – »Sie zu loben.« – »Das haben Sie allerdings getan,« antwortete Aramis mit seltsamem Lächeln. »Ich danke Ihnen.« – »Und den Kardinalshut, der schon in weiter Ferne zu entschwinden drohte, habe ich Ihnen wieder nähergebracht.« – »Ich muß gestehen,« sagte Aramis, »Sie verstehen es, Ihren Freunden zu helfen. Doch lassen Sie uns aufrichtig zu einander sein, aufrichtig und offen. Nicht wahr, Sie kamen im Auftrag des Königs nach Belle-Ile?« – »Selbstverständlich!« – »Sie wollten uns also die Freude rauben, dem König Belle-Ile in vollständig befestigtem Zustande anzubieten?« – »Um Ihnen diese Freude zu rauben, hätte ich doch erst um Ihre Absicht wissen müssen.« – »Und Sie haben nichts gewußt?« – »Jedenfalls nichts davon, daß Sie Ingenieur geworden seien und Festungen bauten. Und ebensowenig konnte ich ahnen, daß Porthos Baumeister geworden ist.«
»Als Sie dann aber hinter unser Geheimnis gekommen waren, hatten Sie nichts Eiligeres zu tun, als es dem König zu hinterbringen,« sagte d'Herblay. – »Sie hatten es jedenfalls noch eiliger,« antwortete d'Artagnan. »Wenn ein Mann von drei Zentnern auf Kurierpferden reist, wenn ein von der Gicht und der Steinplage befallener Prälat mehrere Pferde zu Tode jagt, so mußte ich doch wohl annehmen, daß diese zwei Freunde, die mir kein Wort von ihrer Abreise gesagt haben, höchst wichtige Dinge vor mir zu verbergen hätten. Da bin ich natürlich so schnell gereist, wie mir meine Magerkeit und meine gichtfreien Glieder erlaubten.«
»Lieber Freund, kam es Ihnen denn gar nicht in den Sinn, daß Sie damit mir und Porthos einen schlechten Streich spielen konnten?« – »Das schon, aber es kam mir auch in den Sinn, daß ich Ihnen und Porthos gegenüber auf Belle-Ile eine traurige Rolle gespielt habe.« – »Verzeihen Sie mir!« sagte Aramis. – »Und Sie mir,« sagte D'Artagnan.
»Und nun wissen Sie, daß ich sofort Herrn Fouquet in Kenntnis setzte, damit er Ihnen bei Seiner Majestät zuvorkommen konnte,« fuhr Aramis fort. – »Das Warum ist mir nicht recht klar,« antwortete der Gaskogner.
»Mein Gott, Herr Fouquet hat viele Feinde, und besonders einen, der ihm mehr als alle andern gefährlich ist. Um diesem Feinde die Spitze zu bieten, mußte Fouquet dem König ein großes Opfer bringen, und er hatte sich's vorgenommen, Majestät eine große Überraschung zu bereiten, indem er ihm das fertig befestigte Belle-Ile zum Geschenk machte. Wenn Sie nun früher nach Paris gekommen wären, hätten Sie ihm die Freude verdorben. Denn hinterher hätte es so ausgesehen, als wenn er's aus Furcht täte. Und das ist das ganze Geheimnis.«
»Da wäre es aber doch weit einfacher gewesen, mich auf Belle-Ile ins Vertrauen zu ziehen. Sie hätten doch bloß zu sagen brauchen: ›Lieber Freund, wir befestigen die Insel, um sie dem König zu schenken. Sagen Sie uns, wessen Freund Sie sind, ob Fouquets oder Colberts.‹ – Vielleicht hätte ich geschwiegen. Wenn Sie mich aber weitergefragt hätten: ›Sind Sie mein Freund?‹ so würde ich Ja geantwortet haben. Ich hätte dann zum König gesagt: ›Herr Fouquet macht eine starke Festung aus einer Insel, aber man hat mir diese Zeilen für Eure Majestät mitgegeben.‹ Dann wäre Ihr Geheimnis gewahrt geblieben, und ich hätte nicht die Rolle eines Einfaltspinsels gespielt. Dann brauchten wir uns auch jetzt nicht mit scheelen Blicken anzusehen.«
»Sie haben jedenfalls auch von Porthos erfahren,« fragte Aramis, sich auf die Lippe beißend, »wie es kam daß Porthos hinzugezogen wurde?« – »Nein,« antwortete d'Artagnan. »So neugierig ich bin, ich bin nie zudringlich, wenn ich merke, daß man etwas vor mir geheimhalten will.« – »Nun, ich will es Ihnen sagen.« – »Es lohnt nicht, sofern diese Mitteilung mich zu irgendetwas verpflichten soll.« – »Seien Sie unbesorgt,« antwortete d'Herblay. »Ich bin Porthos immer gut gewesen, er ist so aufrichtig und wahrhaftig, und ich hasse ja auch alle Falschheit und Intrige. So ließ ich ihn nun nach Vannes kommen, und Herr Fouquet, mein Gönner und Freund, fand Gefallen an ihm. Das ist das ganze Geheimnis. Und nun – wollen nicht auch Sie Fouquets Freund werden? Wollen Sie Marschall von Frankreich, Pair und Herzog werden, Besitzer eines Herzogtums, das eine Million wert ist?«
»Lieber Freund, was muß ich tun, um dies alles zu werden?« erwiderte d'Artagnan. – »Den Interessen Fouquets dienen.« – »Ich diene dem König.« – »Aber doch nicht ausschließlich?« – »Freund, wohl wünsche ich Marschall von Frankreich, Pair und Herzog zu werden, aber dazu wird mich der König machen.« – Aramis sah den Musketier scharf an. »Lieber Freund,« sagte er, »Könige sind undankbar, und wenn Ludwig Sie mal nicht mehr braucht –« – »Er wird mich einstweilen noch lange brauchen,« versetzte der Kapitän. »Sehen Sie, lieber Freund, wenn mal ein neuer Prinz von Condé zu verhaften ist, wer soll ihn verhaften? wer kann ihn verhaften? Dieses hier – sonst nichts in ganz Frankreich!« und bei diesen Worten schlug er stolz an sein Schwert.
»Da haben Sie recht,« sagte Aramis und erblaßte.
»Man ruft zum Souper,« sprach d'Artagnan. »Sie entschuldigen –« – »Ein Freund, wie Sie,« rief Aramis, »ist der schönste Edelstein der Krone.« Und sie trennten sich. »Ich dachte mir's wohl,« sagte d'Artagnan zu sich selbst, »daß etwas dahinter steckt.« – »Die Mine muß in Brand gesetzt werden,« dachte d'Herblay, »d'Artagnan hat Lunte gerochen.«
2. Kapitel. Madame und Graf von Guiche
Graf von Guiche lehnte in einer Nische, als ein Lakai der Herzogin von Orléans zu ihm trat. »Königliche Hoheit hat nach Ihnen gefragt, Herr Graf. Ist es Ihnen möglich, zu Madame zu kommen?« – »Ich stehe zu Ihrer königlichen Hoheit Befehl.« – »So belieben Sie mir zu folgen.« – Guiche trat bei Henriette ein und fand sie bleich und aufgeregt. – »Ah, Sie sind es, Herr Graf!« rief sie ihm entgegen. »Seien Sie willkommen. Fräulein von Montalais, Ihr Dienst ist zu Ende.« – Die Prinzessin blieb mit Guiche allein. – »Sagen Sie, Graf, finden Sie die Geschichte mit den Armbändern nicht sehr sonderbar? Glauben Sie an eine aufrichtige Liebe des Königs?« – Guiche sah sie lange an; sein Blick drang in ihr Herz; sie schlug die Augen nieder. – »Ich glaube, der König hat dabei nur die Absicht, jemand zu quälen,« antwortete er. »Sonst würde er es wohl kaum darauf ankommen lasten, ein junges Mädchen von tadellosem Rufe leichtsinnig zu kompromittieren.« – »O, die Schamlose!« rief Henriette außer sich. – »Hoheit,« entgegnete Guiche ehrfurchtsvoll, aber entschieden, »erlauben Sie mir zu erwidern, Fräulein von Lavallière wird von einem Manne geliebt, den man als Ehrenmann achten muß.« – »Bragelonne wohl, wie?« – »Mein Freund, ja, Madame.« – »Was kümmert's den König, ob er ihr Freund ist?« – »Der König weiß um Bragelonnes Verlöbnis mit Fräulein von Lavallière; und da Rudolf sich im Dienst ausgezeichnet hat, wird Seine Majestät kein Unglück verursachen, das nicht wieder gutzumachen wäre.« – Madame antwortete mit einem Lachen, das den Grafen schmerzlich berührte. – »Ich wiederhole, Madame, ich glaube nicht, daß der König die Lavallière wirklich liebt. Ich möchte Sie fragen, wem der König damit einen Schabernack spielen will. Eure Hoheit wissen das vielleicht, denn es geht das Gerücht, Sie seien sehr intim mit dem König.« – Madame biß sich auf die Lippen, schien jedoch Guiches Worte zu überhören und sagte, wie zu sich selbst: »Wenn ich an die Armbänder denke, so könnte ich den Verstand verlieren.« – »Hoheit glaubten, der König würde sie Ihnen schenken?« fragte Guiche. – »Warum nicht?« – »Aber Hoheit sind nur des Königs Schwägerin – da wäre doch vor Ihnen erst die Königin selbst gekommen.« – »Und vor der Lavallière,« versetzte die Herzogin gekränkt, »kam ich – kam der gesamte Hof –« – »Wenn man Sie so reden hört, Madame, wenn man Ihre geröteten Augen und diese Träne sieht, die an Ihrer Wimper zittert, dann könnte man wirklich glauben. Königliche Hoheit wären eifersüchtig.«
»Eifersüchtig,« rief die Prinzessin stolz, »auf eine Lavallière?« – Sie erwartete, daß ihr hochfahrender Ton den Grafen überzeugen würde; er aber wiederholte fest und ruhig: »Jawohl, Madame, eifersüchtig auf die Lavallière.« – »Ich glaube, Herr Graf, Sie wollen mich insultieren?« rief sie. – »Ich glaube nicht, Madame,« erwiderte der Graf ein wenig gereizt. – »Gehen Sie!« herrschte sie ihn an, erbittert über seine Kaltblütigkeit.
Der Graf erhob sich, erblaßte, machte aber mit Ruhe seine Verbeugung und schickte sich an zu gehen. »Es war nicht der Mühe wert, mich rufen zu lasten, wenn Sie weiter nichts von mir wollen,« sagte er. – Doch er war kaum fünf Schritte gegangen, als Madame hinter ihm herstürzte, ihn beim Arme faßte und ungestüm zurückzog. »Ihre erheuchelte Ehrerbietung,« stieß sie zitternd hervor, »ist noch beleidigender als die Beleidigung selbst. Sprechen Sie meinetwegen Beleidigungen aus, aber sprechen Sie wenigstens!«
»Und Sie, Madame,« versetzte der Graf und zog den Degen, »durchstoßen Sie mir die Brust, aber martern Sie mich nicht langsam zu Tode!« – Sie weinte. – Guiche nahm sie in seine Arme und trug sie in den Fauteuil zurück. Sie sank wie ohnmächtig nieder. – »Warum bekennen Sie mir nicht Ihren Schmerz?« flüsterte er, ihr zu Füßen knieend. »Lieben Sie jemand anders? Sagen Sie es mir – es wird mich das Leben kosten – aber ehe ich sterbe, werde ich doch noch Ihren Schmerz lindern, Sie trösten, Ihnen dienen können.«
»Wie?« antwortete sie, plötzlich besänftigt, »so lieben Sie mich?« – »Ja, Madame, so liebe ich Sie.« – Sie reichte ihm beide Hände. – »Nun ja, ich liebe,« flüsterte sie so leise, daß die Worte kaum zu verstehen waren. – »Den König?« fragte er. – Sie schüttelte den Kopf und lächelte. »O, nein, in einem Herzen, das sich seines Wertes bewußt ist, wohnt eine andere Liebe. Ich bin auf einem Thron geboren und stolz auf meinen Rang. Graf, warum nähert der König sich unwürdigen Geschöpfen?« – »Madame,« erwiderte er. »Sie sprechen von einem Mädchen, das die Gattin meines Freundes werden wird.«
»Sind Sie wirklich so einfältig, das zu glauben?« fragte sie. – »Wenn ich es nicht glaubte, so würde Bragelonne morgen erfahren, was hier vorgeht,« antwortete der Graf. »Wenn ich glaubte, die Lavallière hätte den Schwur vergessen, den sie Rudolf geleistet – – doch nein! es wäre ein Verbrechen, einen Freund um seine Ruhe zu bringen.« – »Sie meinen, gar nichts davon zu wissen, sei besser?« fragte sie. – »Ich glaube es,« antwortete er. »Und dann – wo sind die Beweise? Einstweilen spricht noch der ganze Hof, der König liebe Sie, und Sie liebten den König.« – »Wie? Sie wollen dem unglücklichen jungen Manne nicht die Augen öffnen?« fragte Madame. »Sie wollen ruhig zusehen, wie er sie trotz allem weiterliebt?« – »Ja, bis ich mich überzeugt habe, daß die Lavallière wirklich treulos ist.«
Die Herzogin schwieg nachdenklich. Sie fühlte, Graf Guiche glaubte schon jetzt an die Treulosigkeit der Lavallière und an die Liebe des Königs, nur wollte er seine Meinung nicht rückhaltlos aussprechen, um ihr nicht wehzutun. Sie mußte sich gestehen, es war das erste Mal, daß ein Liebhaber das gewöhnliche Mittel verschmähte, einen Nebenbuhler aus dem Felde zu schlagen, indem er ihn des Verhältnisses mit einer andern verdächtigte. Kurz, sie erkannte so viel echten Edelmut im Herzen ihres Verehrers, daß ihr eigenes Herz bei der Berührung mit einer so reinen Flamme sich läuterte. Ihre Gefühle für ihn wurden dadurch um vieles inniger und wärmer. »Graf,« sagte sie, ihm die Hand reichend, »mag der König die Lavallière lieben oder nicht, mag die Lavallière den König lieben oder nicht, wir beide wollen uns nicht mehr darum kümmern. Ich bin zwar die Schwester des Königs, die Schwägerin seiner Gemahlin, aber ich will mich mit seinen Familiengeschichten nicht befassen, ich bin ja selbst verheiratet. Und das muß auch für Sie eine Mahnung sein, mir stets mit der größten Ehrerbietung zu nahen. Sie sehen also, Graf, ich habe auf zwei Rollen Bedacht zu nehmen, auf die Rolle der Schwägerin und auf die der Gemahlin –«
»O,« rief Graf Guiche und fiel ihr zu Füßen. – »Doch mich dünkt,« flüsterte sie, »ich habe daneben noch eine dritte Rolle, die ich trotz allem nicht vergessen darf: ich bin ein Weib und liebe!« – Er stand auf, sie breitete die Arme aus, beider Lippen berührten sich.
Hinter der Tapetentür hörte man Tritte. Die Montalais klopfte. »Madame,« rief sie, »man sucht den Grafen von Guiche.« – Der Graf verneigte sich vor der Herzogin und entfernte sich rasch. In seiner Wohnung fand er einen Kurier, der ihm ein Schreiben von Rudolf von Bragelonne überbrachte. Der Graf las es bei der brennenden Kerze.
»Lieber Freund! Auf meiner Reise habe ich Wardes getroffen. Sie wissen, er ist von Charakter gehässig und boshaft. Er sprach von Ihnen und Madame und ließ durchblicken, daß er um Ihre Liebe zur Herzogin wisse. Er sprach auch von einer Person, die mir sehr nahesteht, und zwar in eigentümlichen Ausdrücken des Bedauerns, die mich – so sehr ich mich dagegen sträube – mit ungewisser Furcht erfüllen. Ich weiß, er liebt es, den Geheimnisvollen zu spielen, aber er behauptete, bestimmte Nachricht vom Hofe zu haben. Er deutete an, der König habe seine Liebe inzwischen einer andern Dame zugewandt, von der man infolgedessen allerdings nicht viel Gutes spreche. Wardes ist im Begriff, nach Paris abzureisen; ich habe keine näheren Erklärungen von ihm verlangt, weil ich mich nicht erst wieder mit ihm einlassen wollte. Auf der Weiterreise habe ich mir nun allerhand Gedanken gemacht. Ganz sicher haben die Andeutungen Wardes' einen ganz bestimmten Sinn, sofern es sich um jene von mir geliebte Dame handelt. Ich wende mich nun an Sie. Suchen Sie zu erfahren, was er gemeint hat, wenn Sie es nicht schon wissen. Empfehlen Sie mich, lieber Freund, dem Fräulein von Lavallière, dem ich ehrerbietig die Hand küsse. Mit herzlichem Gruße Ihr Vicomte von Bragelonne. – Nachschrift: Sollte sich etwas Wichtiges ereignen, so senden Sie mir einen Eilboten mit dem einzigen Worte: »Kommen Sie!« und in 36 Stunden bin ich in Paris.«
Guiche steckte den Brief seufzend ein. »Eine dumme, dumme Geschichte!« murmelte er. »Wer weiß, wie das noch endet! Und Wardes,« setzte er mit drohender Gebärde hinzu, »mischt sich in meine Angelegenheiten und erlaubt sich, von meinem Verhältnis zu Madame zu sprechen? Warten Sie, Marquis, Sie werden es mit mir zu tun haben! Armer Rudolf, du hast mir ein deinem Herzen teures Gut anvertraut – nun, ich werde auf der Hut sein.«
Von Wardes traf am andern Tage bei Hofe ein und wurde freundlich aufgenommen. Er hatte sich so lange ferngehalten, um den unliebsamen Auftritt im Zimmer d'Artagnans bei allen, die dabei gewesen, in Vergessenheit geraten zu lassen, und nun wurde er namentlich von Monsieur, der gern einmal ein neues Gesicht sah, mit einer Freude begrüßt, die eines bessern würdig gewesen wäre. Das empfand selbst Chevalier von Lorraine, der zusammen mit Guiche diesem Empfange beiwohnte. Als Wardes vom Herzog entlassen worden war, traf Guiche mit ihm zusammen. Beide begrüßten sich nach höfischer Art und wechselten liebenswürdige Komplimente. »Glücklich wieder hier, Herr von Wardes?« sagte Graf Guiche. »Was bringen Sie Neues mit?« – »Nichts,« antwortete der junge Mann. »Neues hoffe ich hier zu erfahren.« – »Pardon, Sie haben doch erst vor kurzem einen meiner Freunde getroffen,« sagte der Graf. – »Richtig, ja, Bragelonne,« versetzte der Marquis, über den Ton des Grafen stutzend. »Ich muß gestehen, ich weiß nicht recht, was wir miteinander geredet haben. Sie wissen ja, es besteht eine gewisse Spannung zwischen uns.« Er merkte an der kalten, würdevollen Haltung Guiches, daß das Gespräch eine für ihn üble Wendung nehmen würde und beschloß, auf der Hut zu sein. »Die Geschichte mit der Lavallière habe ich wohlweislich verschwiegen,« setzte er hinzu.
»Was ist das mit der Lavallière?« fragte Guiche. »Das muß eine seltsame Geschichte sein, daß Bragelonne sie von Ihnen in Calais erfahren mußte, während er doch von hier kam.« – »Wie, Herr Graf! Fragen Sie das im Ernst, Sie, der bevorzugte Günstling unserer schönen Prinzessin?« – »Welcher Prinzessin?« rief Guiche und errötete vor Zorn. – »Ich kenne nur eine, Graf – Madame. Oder sollten Sie noch eine zweite im Herzen tragen?«
Ein Streit zwischen den beiden jungen Kavalieren war kaum noch zu umgehen. Aber von Wardes wollte es so wenden, daß die Prinzessin die Ursache sei, während von Guiche den Zwist nur in Sachen der Lavallière annehmen mochte. Er parierte daher die Finte des Marquis. »Von Madame ist hier gar keine Rede,« versetzte er, »sondern von Bragelonne und Fräulein von Lavallière oder vielmehr von einer Geschichte –« – »Die Ihnen ebenso bekannt ist wie mir,« sagte Wardes.
»Auf Ehre, nein!« – »Sie scherzen! Ich komme von weit her, und Sie haben den Hof keinen Augenblick verlassen. Sie haben mit eigenen Augen gesehen, was mir das Gerücht zugetragen, und Sie geben Ihr Ehrenwort, nichts zu wissen. Sie tun sehr verschwiegen – aber ja doch, die Klugheit gebietet es Ihnen.«
»Sie wollen also weder mir noch Bragelonne etwas sagen?« – »Bragelonne?« entgegnete Wardes. »Der wird sobald nicht wiederkommen. Oder glauben Sie etwa man habe ihn zum Spaße nach London geschickt? Nein, man will ihn sich recht lange vom Halse halten.«
»Ha, Marquis, wenn Sie das Bragelonne gegenüber angedeutet haben, so verstehe ich allerdings, daß er sehr besorgt an mich geschrieben hat,« sagte Graf Guiche.
»Er hat an Sie geschrieben? So!« antwortete der Marquis kalt. »Was denn?« – »Daß Sie boshafte Andeutungen über Fräulein von Lavallière gemacht und über seine Zuversicht zu ihrer Treue gelächelt hätten.«
»Das habe ich allerdings getan, aber der tapfere Bragelonne regte sich nicht auf,« antwortete Wardes. »Da würden Sie es gewiß anders machen, wenn ich Ihnen zum Beispiel sagte, die schöne Prinzessin habe Lord Buckingham nur deshalb weggeschickt, um sich Ihnen zu widmen.« – »Das würde mich gar nicht verletzen,« antwortete der Graf, »denn eine solche Gunst wäre Balsam für mich.«
»Mag sein, aber wenn mir's um einen Streit zu tun wäre, dann würde ich noch weiter gehen und von einem gewissen Gebüsch sprechen, wo Sie mit der Prinzessin zusammentrafen, von einem Kniefall, von einem Handkusse – und Sie würden dann als diskreter Kavalier –« – »Nein, wahrlich nicht!« rief Guiche, obgleich er totenblaß war, »das würde mich nicht rühren – ich würde Ihnen nicht widersprechen. Alles, was meine Person betrifft, läßt mich kalt, ich erhitze mich nur für meine Freunde. Und für einen Freund besonders gehe ich ins Feuer!«
»Aber, lieber Graf,« erwiderte Wardes, »wir können doch unmöglich so viele Worte um Bragelonne und die unbedeutende Lavallière wechseln.« – In diesem Augenblick gingen mehrere Höflinge vorbei, und Wardes rief, als er dies sah, mit lauter Stimme: »Ja, Herr Graf, wenn die Lavallière kokett wäre, wie Madame, deren freilich harmlose Neckereien erst Lord Buckingham nach England zurückgetrieben und dann Sie in die Verbannung jagten –« – »Mein Gott!« erwiderte Guiche, das Spiel Wardes' durchschauend und entschlossen, ihn zu übertrumpfen, »ich bin nun mal ein Geck und bildete mir was ein; aber ich habe meinen Irrtum erkannt, Abbitte getan und meinen Fehler abgelegt. Ich bin ein anderer Mensch geworden und lache jetzt über Dinge, die mir vor vierzehn Tagen noch das Herz zerrissen hätten. Aber Rudolf liebt noch immer wahr und glaubt sich wiedergeliebt. Er kann noch nicht über die Gerüchte lachen, die Sie ihm hinterbracht haben, obwohl Sie so gut, wie einzelne der Herren dort, wissen, daß diese Gerüchte die reine Verleumdung sind.«
Die Herren traten näher, Saint-Aignan und Manicamp an der Spitze.
»Nichts als Verleumdung!« rief Graf Guiche. »Meine Herren, gestatten Sie, daß ich Sie zu Richtern in dieser Sache mache. Hier ist der Brief, den Bragelonne mir geschrieben hat. Er teilt mir darin mit, was Herr von Wardes zu ihm gesagt hat. Hören Sie es!« Und er las Rudolfs Schreiben vor. »Und nun kann ich eben nicht mehr daran zweifeln, daß Herr von Wardes durch boshafte Reden deren Grundlosigkeit er selber kannte, meinen teuren Freund unglücklich machen wollte.«
Von Wardes sah sich um und erkannte, daß er von den Umstehenden keinen Beistand erhoffen durfte; denn bei dem Gedanken, daß er die Lavallière, die jetzt die Göttin des Tages war, beleidigt hätte, schüttelte jedermann den Kopf. Das entging Herrn von Guiche nicht.
»Meine Herren,« fuhr er fort, »mein Wortwechsel mit von Wardes darf nur bis hierher von Zeugen gehört werden; das weitere lassen Sie uns bitte unter vier Augen abmachen.« – »Aber, meine Herren!« rief Manicamp, in der Absicht zu vermitteln. – »Oder sollten Sie meinen, ich sei im Unrecht, wenn ich Fräulein von Lavallière gegen seine Beleidigungen in Schutz nehme?« fragte von Guiche. »In diesem Falle müßte ich allerdings –« – »O, keineswegs, keineswegs!« unterbrach ihn Saint-Aignan. »Fräulein von Lavallière ist ein Engel.« – »Sie ist die Tugend, die Keuschheit selbst,« setzte Manicamp hinzu. – »Sie sehen, Herr von Wardes, ich bin nicht der einzige, der das arme Kind verteidigt. Meine Herren, nochmals, lassen Sie uns allein!«
Die Kavaliere entfernten sich.
»Ich muß sagen, das haben Sie gut gemacht,« murmelte Wardes. »Man sieht, in der Provinz rostet man ein; Sie aber haben im Umgang mit gewandten Damen viel gelernt.« – »Herr von Wardes, alle Welt kennt Sie als einen boshaften Menschen. Ich im besonderen kenne Sie jetzt auch noch als Feigling.« – »Sie möchten mich gern totschießen, nicht wahr, Herr Graf?« entgegnete Wardes. »Ich bin aber willens, auf Herrn von Bragelonne zu warten. Er hat das Vorrecht.« – »Nein, Sie werden nicht auf ihn warten,« versetzte der Graf spöttisch. »Sie haben selbst gesagt, er wird lange fortbleiben. Sie wollen die Zeit benützen, um zu flüchten.«
»Sind Sie von Sinnen?« rief der Marquis zurücktretend. – »Sie sind ein erbärmlicher Fant. Wenn Sie sich nicht gutwillig schlagen, so soll der König erfahren, daß Sie das Fräulein von Lavallière beleidigt haben.«
»Ah! also doch!« rief Wardes triumphierend, »und das nennen Sie Freundestreue, Herr Graf! Gut, ich nehme an. Setzen wir uns zu Pferde und wechseln wir drei Pistolenschüsse! Sie sind ja ein trefflicher Schütze.« – »Sie nicht minder,« antwortete Guiche. »Ja, Sie sind dabei im Vorteil, denn ich habe Sie mal Schwalben im Fluge schießen sehen.« – »Gut, es bleibt bei der Abrede. Ich lasse sogleich mein Pferd satteln. Wohin reiten wir?« – »In den Wald. Ich weiß einen guten Platz.« – »Reiten wir zusammen?« – »Warum nicht?«
Beide gingen zu den Pferdeställen und waren schon nach wenigen Minuten unterwegs nach einem Orte von dem vielleicht nur einer lebend wiederkehren würde.
3. Kapitel. Souper beim König
Während die beiden Kavaliere in einem nahen Walde ihren Ehrenhandel ausfochten tafelte der König inmitten einer glänzenden Gesellschaft. Ludwig XIV. war jung und kräftig und als leidenschaftlicher Jäger ungestümen Leibesübungen ergeben; er besaß daher jene natürliche Wärme des Blutes, die rasch verdauen hilft und bald frischen Appetit entstehen läßt. Er war ein gefürchteter Tischgenosse, der gern die Köche tadelte, aber wenn er ihren Leistungen Ehre erwies, dann geschah es gewöhnlich in sehr weitgehendem Maße.
Das Mahl begann in der Regel mit verschiedenen Suppen, zwischen die Ludwig je ein Glas alten Weins einschaltete. Er aß schnell und ziemlich gierig. Als Porthos, der neben d'Artagnan saß, den König wacker einhauen sah, flüsterte er dem Musketier zu: »Mich dünkt, man könnte auch anfangen. Majestät geht mit gutem Beispiel voran.« – »Der König plaudert aber dabei immer noch,« erwiderte der Musketier, »und wenn er Sie anspricht, so hüten Sie sich, mit vollem Munde zu antworten.« – »Soll ich da etwa gar nicht essen?« fragte Porthos. »Aber ich habe Hunger, und es riecht alles so gut. Ich lasse es darauf ankommen.« – »Nichts zu essen, wäre das Allerverkehrteste, das würde Majestät als Beleidigung auffassen,« sagte der Gaskogner. »Der König pflegt zu sagen: Wer wacker arbeitet, darf auch wacker essen. Er sieht's nicht gern, wenn man bei Tische lange Zähne macht. Wenn er Sie anspricht, dann schlucken Sie nur rasch hinunter, ehe Sie antworten.«
Porthos nahm sich das zu Herzen und aß mit Enthusiasmus. Der König sah von Zeit zu Zeit über seine Tischgefährten hin. »Herr du Vallon!« rief er plötzlich. – Porthos verschlang einen großen Bissen Hasenfleisch.
»Majestät!« rief er mit erstickter Stimme. – »Man reiche Herrn du Vallon dieses Hammelfilet,« sagte der König. »Essen Sie so etwas gern, Herr du Vallon?« – »Ich esse alles gern, Majestät,« antwortete Porthos. – »Besonders das, was Eure Majestät mir zuschickt,« flüsterte d'Artagnan ihm zu, und Porthos wiederholte diese Worte. – Der König lächelte. »Wer wacker arbeitet, darf auch wacker essen,« sagte er. »Möchten Sie einmal diese Speise aus süßem Rahm kosten?«
»Majestät sind sehr gütig,« antwortete Porthos, »aber wenn ich die Wahrheit sagen darf, so mache ich mir nicht viel aus dem zuckrigen Geschlapper; diese Crèmes blähen den Magen auf und verrichten nichts; sie nehmen einen Platz weg, der mir viel zu kostbar erscheint, als daß man ihn schlecht ausfüllen sollte.« – »Ha, meine Herren!« lachte Ludwig, »da haben wir mal einen wahrhaften Gastronomen! So aßen unsere Väter, und sie wußten noch gut zu essen! Wir tun ja nur so.« – Dabei nahm er sich Geflügelragout, während Porthos ein Gemengsel von Lachs und Rebhuhn versuchte. Der Mundschenk füllte Ludwigs Glas. »Geben Sie von meinem Wein Herrn du Vallon!« sagte er. – Das war eine der großen Ehren bei Tafel. D'Artagnan drückte unterm Tische seinem Freunde das Knie.
»Herr du Vallon,« sagte der König, »wenn Sie den Wildschweinskopf da zur Hälfte verzehren, so mache ich Sie zum Herzog und Pair.« – »Ich will mich gleich darüber hermachen,« antwortete Porthos phlegmatisch, und er aß nicht nur die Hälfte davon, sondern drei Viertel. – »Wahrlich, ein Edelmann, der so tüchtig essen kann und so prachtvolle Zähne hat,« sagte der König, »muß der erste Kavalier meines Reiches sein.« Und zum größten Vergnügen der Gäste fuhren Ludwig XIV. und Porthos fort zu essen und ließen alle andern weit hinter sich zurück. Dann aber stieg dem König das Blut ins Gesicht – das erste Zeichen der Sättigung. Er dachte nun nicht mehr an Porthos, sondern sah nach der Tür, in der Erwartung, Saint-Aignan mit einer ersehnten Nachricht kommen zu sehen. Endlich trat der Graf ein – Ludwig XIV. stand auf – das Souper war zu Ende.
»Herr du Vallon,« sagte der König, schon auf der Türschwelle, »es hat mich gefreut, Sie kennen zu lernen; es wird mir stets Freude machen, Sie wiederzusehen. Herr d'Artagnan, meinen Dank, daß Sie mich mit dem Herrn Baron bekannt gemacht haben. Meine Herren, morgen kehre ich nach Paris zurück, um die Gesandten von Spanien und Holland zu verabschieden.«
Der König zog seinen Hofmeister in ein Nebenzimmer und hörte dort, was jener ihm von Fräulein von Lavallière zu berichten hatte. Er brachte ein Briefchen, das Majestät mit großer Begierde öffnete und las. – »Sie schreibt, sie wäre in sehr erregter Stimmung. Weshalb das?« fragte er. – »O, wegen des Unfalls, der dem Grafen von Guiche zugestoßen ist,« antwortete Saint-Aignan. »Er hat eine Hand verloren, ist in der Brust verwundet worden und liegt auf den Tod. Herr von Manicamp hat es von einem Arzt gehört.« – »Wer hat ihm das getan?« rief der König. – »Man sagt, es sei ein Streit zwischen ihm und einem andern Edelmann entstanden,« sagte Saint-Aignan. »Und dann sei Guiche nicht im Duell, gegen das Eure Majestät ja sehr strenge Befehle erlassen haben, sondern aus dem Hinterhalt verwundet worden.« – »Und wer hat es getan?« – »Das weiß man nicht. Vielleicht kann Herr von Manicamp es sagen. Denn er hat mit noch einem andern den Verwundeten heimgeschafft.« – »Wo ist es geschehen?« – »Im Walde von Rochin, auf einer Lichtung,« antwortete der Hofmeister.
»Unbegreiflich,« sagte der König. »Rufen Sie d'Artagnan.« – Saint-Aignan gehorchte. – Der Musketier trat ein. – »Herr Kapitän,« sagte der König, »reiten Sie sofort nach der Lichtung im Walde von Rochin. Kennen Sie die Stelle? – »Sire, ich habe mich dort zweimal duelliert.« – Der König fuhr auf. – »Sire,« fügte d'Artagnan sogleich hinzu, »zu der Zeit, als noch Richelieu regierte.« – »Das ist etwas anderes,« sagte der König. »Reiten Sie hin. Es soll dort ein Mann tödlich verwundet worden sein. Stellen Sie eine genaue Untersuchung an und sagen Sie mir dann Ihre Meinung.« D'Artagnan ging, und der König sagte zu Saint-Aignan: »Und Sie, Herr Graf, holen Sie mir meinen Arzt.« – Der Mediziner kamen zehn Minuten später an, atemlos vom raschen Laufen. »Doktor,« sagte Ludwig XIV. zu ihm, »folgen Sie Herrn von Saint-Aignan, wohin er Sie führen wird, und berichten Sie mir dann ausführlich über den Zustand des Kranken, den Sie in dem Hause finden werden, wohin mein Hofmeister Sie bringt. Und Sie, Saint-Aignan, schicken mir noch Herrn von Manicamp her.«
Während Ludwig XIV. diese Befehle erteilte, sprengte d'Artagnan, eine Laterne am Gürtel, in den Wald von Rochin, stieg bei der Lichtung ab und untersuchte den Platz sorgfältig. Er ging ihn nach allen Seiten hin ab, maß, prüfte und überlegte und war nach einer halben Stunde wieder beim König.
»Nun, Kapitän, was haben Sie ermittelt?« rief Ludwig. – »Majestät, ich habe ein totes Pferd auf der Lichtung gefunden – das ist das erste,« begann d'Artagnan. »Ich habe die vier Wege untersucht, die zur Lichtung führen, und nur der von Fontainebleau aus wies frische Spuren auf. Dort sind zwei Pferde nebeneinander gegangen, die acht Hufe sind deutlich zu unterscheiden.« – »Sie sind also überzeugt, daß zwei Herren dorthin geritten sind?« fragte Ludwig. – »Ja. Sire. Am Rande der Lichtung haben sie haltgemacht, vielleicht um sich über die Bedingungen des Zweikampfes zu einigen. Dann ist einer von ihnen über die Lichtung geritten, um sich vor seinem Gegner aufzustellen. Der andere ist dann im Galopp geradeaus gesprengt, in der Meinung, er werde so auf den Gegner treffen, der aber hatte sich seitwärts im Walde versteckt. Es ist so finster gewesen, Sire – was es nebenbei jetzt auch noch ist – daß die beiden einander erst aus der Nähe sehen konnten.«
»Haben Sie irgendwelchen Anhalt, der auf die Personen hindeutet?« – »Ja, Sire, derjenige, der sich seitwärts versteckte, hat einen Rappen geritten.« – »Woher wissen Sie das?« – »Ein paar Haare vom Schweif sind an dem Brombeerstrauch hängen geblieben, der dort am Rande des Waldes steht. Was das andere Pferd anbetrifft, so ist es leicht zu erraten, wem es gehörte, denn es ist ja tot auf dem Platze geblieben.«
»Wie ist dieses Pferd getötet worden?« – »Durch einen Schuß in die Schläfe,« fuhr d'Artagnan fort. »Und zwar durch einen Pistolenschuß. Die Kugel ist also von der Seite gekommen, während die Spuren des Pferdes in gerader Richtung verlaufen, und daraus schließe ich, daß der Reiter dieses Pferdes seinen Gegner in gerader Richtung vermutete, während jener sich heimtückischerweise, die Dunkelheit benützend, seitwärts geschlagen hat, um seinem Feinde in die Flanke zu fallen. Weitre Einzelheiten beweisen das noch. Das Pferd war auf der Stelle tot.«
»Woher wissen Sie das?« – »Der Reiter hatte nicht mehr Zeit, aus dem Sattel zu springen. Er stürzte mit dem Pferde. Ich sah die Spur jenes Fußes, den er nur mit Mühe unter dem Leibe des gestürzten Tieres hervorgezogen hat. Der Sporn hat die Erde aufgerissen. Als er wieder auf den Beinen war, wußte er, wo er seinen Gegner zu suchen hatte, und ging geradeswegs auf ihn los. Er ist sehr schnell gelaufen. Als er auf Schußweite heran war, stemmte er die Hacken fest auf, um sicher zu stehen und gut zu zielen, und drückte auf seinen Gegner ab. Er hat gefehlt.« – »Und woher wissen Sie das?« – »Ich fand den von der Kugel durchbohrten Hut am Waldesrande.« – »Ah, das ist ein Beweisstück!« rief der König. – »Ein unzulängliches, Sire,« antwortete d'Artagnan, »denn der Hut hat keinerlei Merkzeichen, er ist von einer Art, die hunderte tragen.« – »Und dieser Mann mit dem durchlöcherten Hute?« fragte der König. – »Er hatte nun Zeit wieder zu laden, aber der Schuß seines Gegners hatte ihn erschreckt, daß seine Hand zitterte.« – »Woher wissen Sie denn nun das?«
»Er verschüttete die Hälfte des Pulvers und warf auch noch den Ladestock weg, da er keine Zeit mehr hatte, ihn an die Pistole zu stecken.« – »Herr Kapitän, was Sie da sagen, ist vortrefflich,« rief der König. »Man sieht, wie sich alles abgespielt hat, wenn man Sie anhört.« – »Ich habe nur Untersuchungen angestellt,« antwortete d'Artagnan, »die jeder Schnapphahn ebenso machen könnte.«
»Weiter! Nun also schoß der Mann, dem der Hut durchlöchert worden war?« – »Ja, und sein Schuß war furchtbar. Er traf den andern, der aufs Gesicht niederstürzte, nachdem er drei Schritte weit getaumelt war.« – »Wo ist er getroffen worden?« – »An der Hand und in der Brust.« – »Wie haben Sie das ermitteln können?«
»Sehr einfach; ich fand die Splitter eines zerschmetterten Ringes, den der Verwundete am kleinen Finger getragen haben mußte. Und dann sah ich dort zwei Blutstreifen im Grase, an dem einen hatte die Hand das Gras aus dem Boden gerissen, an dem andern war das Gras bloß durch das Körpergewicht niedergedrückt worden. Beide Streifen lagen so zueinander, daß, wenn der eine von der Hand herrührte, was nicht zu bezweifeln ist, der andere von der Brust herrühren muß.«
»Der arme Guiche!« rief der König –. – »Ah, Sie wissen, daß es Guiche war?« sagte d'Artagnan. »Ich hatte auch die Vermutung, doch wollte ich es nicht so ohne weiteres aussprechen. Das Zaumzeug des gestürzten Pferdes trägt nämlich das Wappen derer von Grammont, es ist also in der Tat aus Guiches Marstall.«
»Und können die Wunden schwer sein?« – »Herr von Guiche ist sehr schwer verwundet; denn er konnte sich nicht vom Platze bewegen. Nachher allerdings ist er, von zwei Freunden gestützt, nach Fontainebleau zurückgekehrt.« – »Sie sind ihm also begegnet?« – »Nein, aber ich habe die Spuren von drei Männern gesehen, und die mittlere deutete auf einen sehr schwerfälligen Gang und wies überdies hier und dort Blutstropfen auf.« – »Herr General-Kapitän, Sie haben den ganzen Zweikampf so vortrefflich ausgekundschaftet,« sagte der König, »daß Sie mir gewiß auch etwas über den Gegner des Herrn von Guiche sagen können.« – »Sire, ich kenne ihn nicht.« – »Sie haben aber doch alles andere ermittelt. Sie haben alles so genau gesehen.« – »Ich sehe wohl alles, Majestät, aber ich sage nicht alles,« versetzte der Musketier. »Der arme Teufel ist entschlüpft. Majestät gestatten mir also, seinen Namen zu verschweigen.« – »Aber wer sich duelliert, ist strafbar.« – »In meinen Augen nicht, Sire.« erwiderte d'Artagnan ruhig.
»Herr, wissen Sie, was Sie da sagen?« rief der König. – »Vollkommen, Sire! In meinen Augen ist ein Mann, der sich wacker schlägt, ein wackerer Mann. Das ist meine Meinung. Majestät können über diesen Punkt anderer Meinung sein, deshalb werde ich jedoch –« – »Herr d'Artagnan, ich habe Ihnen befohlen –« begann Ludwig XIV. ungestüm. – D'Artagnan unterbrach den König mit einer ehrfurchtsvollen Handbewegung. »Majestät haben mir aufgetragen,« antwortete er, »Ermittelungen über den Verlauf eines Zweikampfes anzustellen, das habe ich getan. Wenn Sie mir befehlen, den Gegner des Grafen von Guiche zu verhaften, so werde ich es tun. Wenn Sie mir aber befehlen, ihn zu denunzieren, so werde ich Ihnen den Gehorsam verweigern.«
»Nun denn, so verhaften Sie ihn!« – »Dann bitte ich um seinen Namen, Majestät.« – Ludwig stampfte mit dem Fuße. Nach kurzem Bedenken sprach er jedoch: »Sie haben zehnmal, zwanzigmal, hundertmal recht.« – »Das denke ich, Sire, und es freut mich,« sagte der Musketier, »daß Eure Majestät ebenso denken.« – »Sie haben mir noch nicht alles erzählt?« fragte Ludwig. »Was geschah, als von Guiche gefallen war?«
»Sein Gegner entfloh, ohne ihm zu helfen.« – »Der Elende!« – »Das kommt von Ihren Verordnungen, zum Teufel! Man ist beim Duell dem Tode entronnen, man will ihn nicht durchs Gericht finden.« – »Und so wird man feige!« – »Nein, aber klug. Der Gegner des Grafen von Guiche ritt ins Schloß, und dann sind zwei Männer zu Fuße hingegangen und haben den Grafen geholt.« – »Und woran haben Sie erkannt, daß diese Männer erst nach dem Zweikampf gekommen sind?« – »Daran, daß während des Kampfes Regen fiel, so daß die Tritte der Pferde sich sehr tief in den Boden gedrückt haben. Nachher aber war es wieder trocken, und die Fußspuren haben sich nur wenig eingeprägt.«
»Herr d'Artagnan,« rief der König und klatschte unwillkürlich in die Hände, »Sie sind wahrlich der durchtriebenste Mann in meinem Reiche.« – »Sire,« antwortete d'Artagnan, »das war im stillen auch Richelieus Meinung, und Mazarin hat sie sogar ausgesprochen.« – »Nun bleibt uns nur übrig, Ihre Ermittelungen nachzuprüfen und festzustellen, ob Ihre Vermutungen dem wahren Sachverhalt entsprechen. Ich habe Herrn von Manicamp herbestellt.« – »Meinen Sie, daß er das Geheimnis weiß?« fragte der Chevalier. – »Graf Guiche hat vor Manicamp keine Geheimnisse,« antwortete Ludwig. – Der Musketier schüttelte den Kopf. »Ich wiederhole, Majestät, bei dem Kampfe war niemand zugegen,« sagte er. »Manicamp kann also höchstens einer der beiden Männer gewesen sein, die Herrn von Guiche ins Schloß gebracht haben.« – »Still,« unterbrach ihn der König. »Da kommt er. Bleiben Sie hier und hören Sie zu.«
Manicamp und Saint-Aignan erschienen in der Tür. Der erste verneigte sich, der letztere trat zu d'Artagnan. Der König erwiderte den Gruß des jungen Kavaliers. – »Herr von Manicamp, ich habe Sie rufen lassen, um von Ihnen zu hören, auf welche Weise Herr von Guiche zu den Wunden gekommen ist, an denen er darniederliegt. Waren Sie dabei?«
Herr von Manicamp erkannte an dem Ton, den der König anschlug, daß er sich auf eine schwierige Unterredung gefaßt machen mußte. Er erwog im Geiste rasch seine Lage und beschloß bei sich, keinesfalls seinen Freund Guiche bloßzustellen. Die Gefahr war für den Grafen ebenso schwer wie für von Wardes, denn nach dem Gesetz waren beide Duellanten der Todesstrafe verfallen.
»Ich war nicht unmittelbar dabei,« antwortete der junge Kavalier zögernd. – »Aber wenige Augenblicke nach dem Geschehnis betraten Sie den Schauplatz?«
»Jawohl, Sire, eine halbe Stunde später.« – »Es geschah auf einer Lichtung im Walde von Rochin, nicht wahr?« – »Ja, Majestät, auf dem bekannten Sammelplatz der Jäger.« – »Nun, so erzählen Sie, was Sie von dem Unglück wissen.«
»Vielleicht sind Majestät schon unterrichtet, und ich würde durch die Wiederholung nur ermüden,« antwortete Manicamp diplomatisch. – »Das brauchen Sie nicht zu befürchten,« erwiderte der König. – Der junge Kavalier sah nach den beiden Herren, aber Ludwig XIV. behielt auch diese scharf im Auge, so daß sie ihm nicht einmal durch Blicke einen Wink geben konnten. Er mußte daher seinen Weg ganz allein suchen.
»Majestät wissen ja,« begann er, »es kommen sehr häufig Unfälle auf der Jagd vor – zumal auf dem Anstand.« – »Auf der Jagd? auf dem Anstand?« rief Ludwig erregt, denn er haßte die Lüge. »Geschah es auf dem Anstand? Und auf welches Wild war es denn da abgesehen?« – »Auf einen Eber, Sire,« antwortete Manicamp. – »Wie kommt aber Graf Guiche dazu, ganz allein einem Eber aufzulauern? Ein Mann, wie Graf Guiche, hat doch Hunde und Treiber zur Verfügung.« – Manicamp zuckte die Achseln und antwortete scheinheilig: »Junge Leute sind eben tollkühn.« – »Hm! Fahren Sie fort!«
Manicamp setzte bedächtig ein Wort nach dem andern, wie ein Sumpfvogel im Moor die Füße setzt, und sagte: »Der arme Guiche stellte sich also ganz allein auf den Anstand.« – »Ganz allein! Sieh an, ein netter Jäger, der Herr von Guiche!« rief der König. »Weiß er nicht, daß ein angeschossener Eber den Schützen anfällt?« – »Das eben ist geschehen, Majestät,« sagte Manicamp. – »Graf Guiche hat also genau gewußt, wo er den Eber zu suchen hatte?« – »Ja, Sire, Bauersleute hatten die Fährte des Tieres auf einem Kartoffelfelde entdeckt.« – »Und wie alt war das Vieh?« – »Ein zweijähriger Keiler, Sire.«
»Guiche muß es gerade auf einen Selbstmord abgesehen haben,« versetzte der König. »Ich habe oft mit ihm gejagt und kenne ihn als erfahrenen Weidmann. Wie kann er sich nun einem so gefährlichen Tier mit einer Pistole entgegenstellen!« – Manicamp fuhr zusammen. – »Diese Waffe taugt wohl, um sich mit einem Feinde zu messen, aber zum Kampfe mit einem Wildschwein nimmt man Karabiner!« – »Sire,« sagte Manicamp, »es gibt Dinge, die sich schwer erklären lassen.« – »Da haben Sie recht,« murmelte Ludwig. »Fahren Sie fort!«
»Wahrscheinlich ist die Sache so passiert,« sagte der junge Mann, »Guiche hat auf den Eber gewartet. Zu Pferde, Majestät. Schoß und fehlte. Das Tier lief ihn an. Das Pferd wurde getötet. Guiche kam mit zu Falle, und während er halb unter dem Pferde lag, verwundete ihn das wütende Wildschwein an Hand und Brust.« – »Schrecklich!« erwiderte Ludwig. »Aber Guiche ist selbst daran schuld. Wie kann er auch so unbesonnen sein und mit seiner Pistole –?« – »Sire, was einmal im Schicksalsbuche geschrieben steht–« meinte Manicamp. – »Ah, Sie sind Fatalist,« sagte der König. »Aber als Freund des Herrn Guiche hätten Sie ihn doch zurückhalten sollen. Und sein Pferd war also tot. Sonderbar!«
– »Wieso, Majestät? Bei der letzten Jagd erging es dem Pferde des Herrn Saint-Maure ja ebenso.«
»Wohl, doch ihm ward der Bauch aufgerissen,« entgegnete Ludwig, »aber Guiches Pferd ist mit zerschmettertem Kopfe gefunden worden.«
Manicamp geriet abermals in Verwirrung. – »Das Pferd wird versucht haben, sich zu verteidigen,« stammelte er. – »Dann verteidigt es sich mit den Hinterfüßen, nicht mit dem Kopfe.« – »Nun, vielleicht ist das Pferd ganz außer sich gewesen vor Schreck und Mutlosigkeit, denn so ein Wildschwein –! Hat es doch den Reiter ebenso zugerichtet. Wie ich bereits zu bemerken die Ehre hatte, Majestät, es ist über Herrn von Guiche hergestürzt, hat ihm die Hand zerrissen, als er eben seinen zweiten Pistolenschuß tun wollte, und zerfleischte ihm dann noch mit den Hauern die Brust.«
»Gut!« sagte der König mit unverhohlenem Verdruß. »Sie wissen vortrefflich zu erzählen. Ich will von heute ab meinen Kavalieren verbieten, allein auf den Anstand zu gehen, lieber möchte ich das Verbot gegen den Zweikampf widerrufen.« – Manicamp wollte sich entfernen. »Bleiben Sie!« gebot Ludwig, »ich habe noch mit Ihnen zu reden.«
D'Artagnan, der während dieses Gesprächs mit keiner Wimper gezuckt hatte, brummte jetzt in seinen Bart: »Wieder mal einer, der nicht von unserem Schlage ist. Ach, wo gibt es noch Männer vom alten Schrot und Korn?«
In diesem Augenblick ließ der Türhüter Herrn Vallot, den Leibarzt des Königs, ein. – »Ah, sehr gut!« rief Ludwig. »Was bringen Sie mir für Nachrichten von dem Verwundeten?« – »Es steht sehr schlecht mit ihm,«
antwortete der Arzt. – »Aber immerhin hat ihn das Wildschwein nicht gleich verschlungen,« warf der König ein. – »Was denn für ein Wildschwein?« fragte der Arzt erstaunt. – »Man sagt, Graf Guiche sei von einem Wildschwein angefallen worden,« antwortete Ludwig.– »Eher wird's wohl ein Wildschütz gewesen sein,« sagte der Mediziner. »Ein eifersüchtiger Ehemann, ein gekränkter Liebhaber, der aus Rache auf ihn geschossen hat.« – »Was sagen Sie da, Herr Vallot?« rief der König. »Rühren denn die Wunden des Herrn von Guiche nicht vom Kampfe mit einem Wildschwein her?« – »Die Wunden des Grafen rühren davon her,« antwortete der Doktor und zeigte dem König eine Pistolenkugel, die sich plattgedrückt hatte. »Diese Kugel hat ihm den kleinen Finger der rechten Hand zerschmettert und ist dann in die Zwischenrippen der Brust gefahren. Zum Glück hat sie an einer Schnalle Widerstand gefunden.«
»Und diese Kugel hat in Guiches Brust gesteckt?« rief der König. »Herr von Manicamp, davon haben Sie mir nichts gesagt. Herr d'Artagnan, nun scheint mir doch Ihre Vermutung, es habe ein Zweikampf stattgefunden, richtig zu sein.« – Manicamp richtete einen Blick stummen Vorwurfs auf den Chevalier. D'Artagnan verstand diesen Blick, trat vor und sagte: »Majestät haben mir befohlen, die Lichtung zu untersuchen und zu melden, was nach meiner Meinung dort geschehen sei. Meine Feststellungen teilte ich Ihnen mit, doch ohne einen Namen zu nennen. Majestät haben selbst zuerst von Graf Guiche gesprochen.« – »Gut, gut,« antwortete der König würdevoll, »Sie haben Ihre Pflicht getan, aber Sie nicht, Herr von Manicamp. Sie haben mich belogen.« – »Belogen? Das ist ein hartes Wort, Majestät,« erwiderte der junge Mann. – »Finden Sie ein anderes?« – »Sire, ich suche nicht danach,« entgegnete Manicamp fest. »Ich hatte das Unglück, Eurer Majestät zu mißfallen, und nehme den Tadel ruhig hin.« – »Man mißfällt mir immer, wenn man nicht die Wahrheit sagt!« rief Ludwig. – »Manchmal weiß man sie nicht,« versetzte der junge Mann. – »Lügen Sie nicht noch weiter! Sie sehen, das Leugnen ist unnütz. Herr von Guiche hat sich duelliert.« – »Ich bestreite das nicht, Majestät,« sagte Manicamp. »Majestät hätten so gnädig sein sollen, einen Edelmann nicht zur Lüge zu zwingen.«
»Ich hätte Sie dazu gezwungen?« rief der König in wachsendem Zorne. »Das wird immer toller!« – »Sire! Herr von Guiche ist mein Freund. Majestät haben die Duelle bei Todesstrafe verboten. Ich konnte meinen Freund nur durch eine Lüge retten, also log ich.«
»Bravo,« murmelte d'Artagnan, »er ist doch ein ganz tüchtiger Kerl!« – »Ich will Ihnen ein Mittel nennen, Ihre Lüge wieder gutzumachen,« sagte der König. »Nennen Sie mir den Gegner des Herrn von Guiche.« – »Sire, ich kenne ihn nicht.« – »Bravo!« knurrte d'Artagnan. – »Herr von Manicamp, schnallen Sie den Degen ab, Sie sind verhaftet!« rief Ludwig mit einem Wink gegen den General-Kapitän. – Der junge Mann verneigte sich, entledigte sich lächelnd seiner Waffe und gab sie dem Musketier.
Da trat Saint-Aignan vor. – »Majestät erlauben,« sagte er, »Manicamp, Sie sind ein wackrer Mann, und der König wird trotz seines augenblicklichen Zornes Ihr Verhalten zu würdigen wissen. Aber Sie haben nun genug getan. Sie kennen den Namen, den Majestät von Ihnen verlangt. Sagen Sie ihn! Und wenn Sie es nicht tun wollen, so werde ich es tun. Beiseite mit falscher Großmütigkeit! Ich werde Sie nicht in die Bastille gehen lassen. Reden Sie, sonst rede ich! Seine Majestät wird mir verzeihen, wenn Sie erfahren, daß es sich dabei um die Ehre einer Dame gehandelt hat.«
Der König sah verwundert auf. – »Eine Dame war die Ursache des Zweikampfes?« fragte er. »Herr von Manicamp, wenn die Dame von Bedeutung ist, so werde ich es Ihnen nachsehen, daß Sie mich belogen haben.« – »Sire, für mich ist alles von Bedeutung, was das Haus des Königs oder seines Bruders betrifft –« antwortete Manicamp. – »Ah, eine Dame vom Hause meines Bruders?« rief Ludwig XIV. »Handelt es sich etwa um –?«
»Um ein Ehrenfräulein Ihrer königlichen Hoheit,« fiel Manicamp ein.
Ludwig XIV. sah sich betroffen um. »Meine Herren,« sagte er, »lassen Sie mich einen Augenblick mit Herrn von Manicamp allein. Ich sehe, er hat mir zu seiner Rechtfertigung etwas zu sagen, das er nicht gern vor Zeugen sagen möchte. Herr von Manicamp, nehmen Sie Ihren Degen wieder.« – Der junge Mann schnallte die Waffe um. – »Der Bursche hat Geistesgegenwart,« sagte d'Artagnan leise zu Saint-Aignan, während sie hinausgingen. – »Er wird sich gut aus der Patsche ziehen,« antwortete der Hofmeister. – »Ich hatte eine geringe Meinung von der jungen Generation,« sagte der Musketier. »aber ich habe mich geirrt. In diesen schmucken jungen Herren steckt doch was Gutes.«
»Nun, Herr von Manicamp,« sagte der König, als sie allein waren, »erklären Sie sich. Sie wissen ja, mir liegt nichts mehr am Herzen als die Ehre der Damen. Sie sagten, es handle sich um ein Ehrenfräulein meiner Frau Schwägerin.« – »Ja, um Fräulein von Lavallière,« antwortete Manicamp. – »O, sie ist beschimpft worden?« rief der König, in einem Tone, als hätte er einen Stoß ins Herz erhalten. – »Ich sage nicht geradezu, daß man sie beschimpft habe, Majestät,« antwortete Manicamp. »Aber man hat in ungebührlichen Ausdrücken von ihr gesprochen.« – »O, wer war der Unverschämte?« – »Herr von Saint-Aignan hat sich bereit erklärt, ihn Eurer Majestät namhaft zu machen,« erwiderte Manicamp mit einem festen Blick auf Ludwig.
»Jawohl, Sie haben recht,« antwortete der König. »Ich verlange nicht, daß Sie ihn nennen sollen. Das wäre jetzt wider die Abrede. Ich erfahre den Namen dessen, den ich bestrafen muß, auch noch früh genug. Und bestrafen werde ich ihn, nicht etwa weil es sich um Fräulein von Lavallière handelt,« setzte Ludwig hinzu, der selbst empfand, daß er sich von seinem Zorn ein wenig zu weit hatte hinreißen lassen, »sondern weil es eine Dame ist, die man beleidigt hat. Ich verlange, daß an meinem Hofe die Frauen hochgeachtet werden. Und was hat man von Fräulein von Lavallière gesprochen?«
»Majestät wissen wohl, welche gewagten Scherze zwischen den jungen Leuten vorkommen. Man behauptete, sie liebe jemand, und von Guiche trat dafür ein, sie dürfe lieben, wer ihr gefalle. Deshalb kam es zum Zank und dann zum Duell.« – Der König errötete vor Unwillen. »Und weiter wissen Sie nichts?« rief er. – »Sire, ich weiß nichts Bestimmtes. Ich habe nichts mitangehört, nichts erfahren und auch nichts belauscht.« – »Auch nichts über die Person, in die das Fräulein von Lavallière verliebt sein soll und die zu lieben Guiches Gegner für unstatthaft erklärte?« – »Ich kann nichts darüber sagen, Majestät,« antwortete Manicamp. »Wenn aber von Guiche, großherzig wie er ist, Fräulein von Lavallière verteidigte, so geschah es im Namen dieses von dem Fräulein geliebten Mannes, der zu hoch gestellt ist, um die Verteidigung selbst zu übernehmen.«
Diese Worte waren sehr durchsichtig; der König errötete wiederum, doch diesmal vor Freude. – »Herr von Manicamp,« sagte er, »Sie sind geistreich und tapfer. Und auch Ihr Freund, Herr von Guiche, ist ein Ritter nach meinem Geschmack. Sie werden ihm das ausrichten, nicht wahr?« Er reichte dem jungen Manne die Hand zum Kusse. »Und dann erzählen Sie vortrefflich. Die Geschichte mit dem Wildschwein haben Sie brillant geschildert – man sieht alles leibhaftig vor sich. Sie erzählen das so meisterhaft, daß ich wünschte, Sie erzählen dieses Abenteuer des Grafen Guiche aller Welt weiter.«
»Das Abenteuer mit dem zweijährigen Eber?« – »Ja, und zwar Wort für Wort, so, wie Sie es mir erzählt haben! Sie verstehen mich?« – »Sehr wohl, Majestät,« antwortete Manicamp lächelnd.
Darauf rief der König d'Artagnan und Saint-Aignan zurück, auch der Arzt, den Ludwig ja noch nicht entlassen hatte, kam wieder. – »Meine Herren,« sagte Ludwig, »Herrn von Manicamps Erklärung hat mich vollauf befriedigt. Herr von Manicamp, gehen Sie zum Grafen und sagen Sie ihm, er solle nur recht bald wieder gesund werden, und,« setzte er leise hinzu, »er soll sich's nicht einfallen lassen, so etwas ein zweites Mal zu machen.« – »Er wird es immer wieder so machen,« versetzte Manicamp, »sobald es sich um die Ehre Eurer Majestät handelt.« – Das war etwas plump; aber Ludwig liebte den Weihrauch, auch wenn er ein wenig qualmte, sofern er nur seiner Person gespendet wurde. – Herr von Manicamp verneigte sich und ging hinaus.
»Herr d'Artagnan,« fuhr der König fort, »Sie haben doch sonst so scharfe Augen, wie können Sie nur diesmal so falsch gesehen haben?« – »Ich falsch gesehen?« antwortete der Musketier. »Na, es muß ja wohl wahr sein, wenn Majestät es sagen.« – »Ich meine, in bezug auf die Geschichte im Walde von Rochin.«
»Ah so, ah so!« – »Na ja, Sie wollen die Spuren von zwei Pferden gesehen, die Fußtritte zweier Männer erkannt haben, und Sie beschrieben mir sogar den ganzen Hergang eines Kampfes. Alles die reine Illusion.« –
»Ah so, ah so!« rief d'Artagnan wieder. – »Herr von Guiche hat' in der Tat gegen ein Wildschwein gekämpft, und dieser Kampf hat lange gedauert und furchtbar geendet.« – »Ah so, ah so!« wiederholte d'Artagnan.
»Und wenn ich denke, daß ich Ihrem Märchen auch nur auf einen Augenblick Glauben schenkte!« fuhr der König fort, »Aber Sie sprachen mit so großer Zuversicht.« – »Es muß wirklich optische Täuschung gewesen sein, Majestät,« sagte d'Artagnan mit so vielem Humor, daß Ludwig XIV. ganz entzückt war. – »Und nun sehen Sie Ihren Irrtum ganz klar ein?« – »Selbstverständlich. Ich hatte ja auch nur eine gewöhnliche Stalllaterne mit, jetzt aber habe ich alle Lichter im Kabinett Eurer Majestät um mich und obendrein die zwei Augen meines Königs, die heller als die Sonne leuchten.«
Der König lächelte. Saint-Aignan lachte laut. D'Artagnan fuhr fort: »Herrn Vallot ist es ebenso ergangen. Er hat sich eingebildet, Guiche sei von einer Kugel verwundet worden. Ja, bei ihm geht die Einbildung sogar so weit, daß er dem Verwundeten die Kugel aus der Brust gezogen haben will. Nicht wahr, Herr Vallot, Sie haben das nicht im Ernst geglaubt?« – »Ich habe es nicht nur geglaubt, sondern kann es beschwören,« antwortete der Gelehrte eigensinnig. – »Nun denn, lieber Doktor, Sie haben das geträumt!« rief d'Artagnan, »die Wunde des Herrn Guiche ist ein Traum, und die Kugel in der Wunde ist erst recht ein Traum. Glauben Sie mir das, und reden Sie nicht mehr davon.«
»Sehr gut, d'Artagnan!« rief der König. »Herr Doktor, der Rat, den Ihnen der General-Kapitän gibt, ist sehr gut. Sprechen Sie zu niemand über Ihren Traum, und Sie werden es nicht bereuen, so wahr ich ein Edelmann bin. Guten Abend, meine Herren! O, wie fatal ist es doch, ganz allein einem Wildschwein aufzulauern!« – »Ja, der Anstand auf ein Wildschwein kann sehr böse ablaufen,« rief d'Artagnan laut, und diese Worte wiederholte er in jedem Zimmer, durch das er ging.
Als der König mit Saint-Aignan allein war, sprach er: »Nun sagen Sie, wer war der Gegner des Herrn von Guiche?« – Saint-Aignan sah den König an. – »Zaudre nicht,« rief dieser, »ich weiß zu verzeihen.« – »Herr von Wardes,« sagte der Hofmeister. – Und Ludwig sprach bei sich selbst: »Verziehen ist nicht vergessen.«
4. Kapitel. Krankenbesuch
Ganz glücklich, sich so gut aus der Affäre gezogen zu haben, verließ Manicamp das Zimmer des Königs. Als er die Treppe hinabschritt, fühlte er sich am Aermel gezupft. Er sah sich um und erblickte Fräulein von Montalais. – »Mein Herr, bitte, folgen Sie mir!« sagte die Ehrendame. – »Ah, nun soll ich auch noch zu Madame,« sprach der junge Mann. »Nun, meinetwegen! ich bin einmal im Zuge. Aber die Jagdgeschichte wird diesmal keinen Erfolg haben. Wir werden etwas anderes erfinden müssen.«
Madame erwartete ihn mit sichtlicher Ungeduld. »Ah, endlich!« rief sie. – Manicamp verneigte sich ehrerbietig, die Montalais wurde entlassen. – »Sagen Sie doch, Herr von Manicamp, was gibt es denn nur? Was hört man da? Wir haben einen Verwundeten in Fontainebleau?« – »Leider, Madame. Graf von Guiche.« – »Ja, es wurde mir mitgeteilt,« fuhr die Herzogin fort. »Aber das ist ja schrecklich. Und Majestät hat doch die Zweikämpfe verboten.«
»Ganz recht, Madame, aber ein Zweikampf mit einem wilden Tiere entzieht sich der Gerichtsbarkeit des Königs.« – »Sie wollen mir doch nicht zumuten, ich glaubte diese absurde Fabel. Wer weiß, weshalb man überall erzählt, Herr von Guiche sei von einem Eber verletzt worden! Mir ist die Wahrheit wohlbekannt. Graf Guiche schwebt in doppelter Todesgefahr, erstens durch die Wunde, zweitens durch das Urteil des Königs. Haben Sie mit Majestät gesprochen?«
»Ich habe ihm erzählt, Graf Guiche sei auf dem Anstande von einem Wildschwein angefallen worden, er habe geschossen und nicht getroffen, worauf das Tier sein Pferd umrannte, tötete und ihn selbst an Brust und Hand verwundete.« – »Und das alles hat der König geglaubt?« – »Jawohl.« – »Herr von Manicamp, Sie machen mir da ein X für ein U,« sagte Madame und schritt auf und nieder, während der junge Mann regungslos auf seinem Platze stehenblieb. »Kein Mensch glaubt an diese Fabel. Alle Welt erklärt sich Guiches Unfall anders.« – »Und wie denn, Madame, wenn ich so unbescheiden sein darf, danach zu fragen?« antwortete Manicamp mit der ihm eigenen Harmlosigkeit. – »Das fragen Sie mich, Sie, ein intimer Freund, ein Vertrauter des Grafen?« – »Madame, Graf Guiche hat keine Vertrauten. Er ist einer von denjenigen Männern, die ihre Geheimnisse fest in ihre Brust verschließen. Herr von Guiche, Madame, plaudert nicht.«
»Nun, so werde ich Ihnen das Geheimnis des Herrn von Guiche mitteilen,« rief die Prinzessin ungeduldig. »Es könnte sein, der König fragt Sie noch einmal danach, und ein zweites Mal wird er sich vielleicht nicht mit Ihrer Erklärung zufriedengeben, wenn er von allen Seiten hört, Herr von Guiche habe in Sachen seines Freundes Bragelonne einen Wortwechsel gehabt, der schließlich in Streitigkeiten ausartete und zu einem Duell führte.« – »Ein Duell für Herrn von Bragelonne?« antwortete Manicamp mit gut gespieltem Erstaunen. »Was belieben Königliche Hoheit mir da zu sagen?«
»Sie wundern sich. Herr von Guiche ist rachsüchtig, jähzornig, hochfahrend.« – »Ich halte Herrn von Guiche im Gegenteil für sehr geduldig und zurückhaltend. Nur wenn es sich um eine gerechte Sache handelt, kann er außer sich geraten.« – »Ist die Freundschaft nicht solch eine gerechte Sache?« erwiderte Madame. »Und Graf Guiche ist Bragelonnes Freund. Er hat seine Partei genommen, denn Bragelonne ist abwesend und kann sich nicht selbst verteidigen. Das ist doch ganz klar. Sie sind allerdings nicht meiner Ansicht und haben etwas anderes zu sagen, wie ich sehe.«
»Ich habe nichts zu sagen, Madame,« entgegnete Manicamp. »Höchstens eins. Daß ich nämlich nichts von alledem verstehe, was Sie mir da erzählen.« – »Was? Sie wollen nichts wissen von dem Duell zwischen Herrn von Guiche und Herrn von Wardes?« rief nun die Herzogin erzürnt. – Manicamp schwieg. – »Sie wollen nichts davon wissen, daß eine mehr oder weniger boshafte, mehr oder weniger begründete Anspielung auf die Tugend einer gewissen Dame die Ursache dieses Duells gewesen ist?« – »Madame, Madame!« rief der junge Mann, »bedenken Sie, was Sie sprechen!« – Aber die Prinzessin war zu erregt, um seine Warnung zu hören, und fuhr fort: »Eine Anspielung auf die Tugend des Fräuleins von Lavallière!«
»Des Fräuleins von Lavallière?« rief Manicamp und machte einen Seitensprung, als hätte er diesen Namen am wenigsten zu hören erwartet. – »Was hüpfen Sie denn so, Herr?« rief die Prinzessin ironisch. »Sie sind hier nicht in der Menuettstunde. Oder sollten Sie etwa Zweifel in die Tugend der genannten Dame setzen?« – »Es handelt sich dabei ja nicht im geringsten um die Tugend des Fräuleins von Lavallière,« antwortete der junge Mann. – »So stellen Sie sich doch nicht länger unwissend,« fuhr Lady Henriette fort. »Sie sehen, ich bin gut unterrichtet. Und der König wird auch binnen kurzem wissen, daß sich Herr von Guiche als Bevollmächtigter des Herrn von Bragelonne dieser kleinen Abenteuerin angenommen hat, welche so gern die große Dame spielen möchte. Er wird erfahren, daß Herr von Bragelonne seinen Freund von Guiche als Schatzhüter zurückgelassen hat, und daß nun Guiche den ersten, der sich an diesem Schatz zu vergreifen wagte, den Herrn von Wardes, auf die Finger geklopft hat. Nun wird es Ihnen, Herr von Manicamp, auch bekannt sein, daß der König selber nach diesem Schatze lüstern ist und Herrn von Guiche für sein Cerberusamt wenig Dank wissen wird.«
»Sie werden Herrn von Guiche in Schutz nehmen, Madame,« antwortete Manicamp, scheinheilig wie immer. – »Sie sind närrisch, mein Herr!« rief die Herzogin schroff. – »Im Gegenteil, ich bin ganz bei Verstande und wiederhole, Sie werden Herrn von Guiche beim König verteidigen.« – »Weshalb wohl?« – »Weil Herrn von Guiches Sache,« antwortete Manicamp, diesmal mit Wärme und mit einem fast gefühlvollen Augenaufschlag, »zugleich Ihre Sache ist. Denn es wundert mich, Madame, daß Sie die wahre Ursache nicht durchschaut haben. Als Herr von Guiche sich wegen des Fräuleins von Lavallière ereiferte, war ihm nämlich nur darum zu tun, einen Deckmantel zu haben. Und damit, Madame,« setzte Manicamp hinzu, die Prinzessin fest ansehend, »glaube ich genug gesagt zu haben, um Eure Königliche Hoheit zur Fürsprache beim Könige zu bewegen.«
Die Prinzessin bedeckte das Gesicht mit den Händen und rief: »Herr, wissen Sie, was Sie da sprechen und zu wem Sie es sprechen?« – »Treiben Sie die Sache nicht soweit, Madame, daß ich Ihnen wider meinen eigenen Willen die Person nenne, die die wahre Ursache des Duells gewesen ist!« fuhr Manicamp fort. »Soll ich Ihnen darlegen, wie erbittert Graf Guiche über alle die Gerüchte war, die man über die besagte Person verbreitete? Soll ich, wenn Sie darauf beharren, diese Person nicht zu kennen, und mir die Achtung verbietet, sie namhaft zu machen, an die Auftritte zwischen Lord Buckingham und Monsieur erinnern, an Graf Guiches Eifer, dieser Person zu gefallen, die für ihn Leben und Tod bedeutet, ihr zu dienen, sie zu beschützen? oder begreifen Sie nun, daß der Graf, der schon lange auf gespanntem Fuße mit von Wardes stand, beim ersten verletzenden Wort, das dieser über jene Person fallen ließ, Feuer fing? Werden Sie sich nicht mehr über die große Geschicklichkeit, den feinen Takt wundern, mit dem der Graf diesem Streit eine andere Ursache unterzuschieben wußte, um jene Person ganz aus dem Spiele zu lassen? Und wenn nun diese Person, für die in Wirklichkeit der Graf sich duelliert hat, dem armen Verwundeten auch nur einigermaßen freundlich gesinnt ist, so wird es nicht zuviel sein für das Blut, das er für sie verspritzt hat, für den Schmerz, den er ihretwegen erleidet, wenn sie nun ihm ihren Schutz angedeihen läßt!«
Madame konnte sich nicht länger bezwingen. »So war es wirklich meinetwegen!« rief sie aus. Dann schwieg sie lange und preßte die Hände auf die Brust, um die stürmischen Wallungen ihres Busens zu hemmen. »Herr von Manicamp, Sie sprechen in einem Tone, als sei Graf Guiche schwer verwundet. Lassen Sie mich wissen –« – »Eine Hand ist ihm zerschmettert worden, aus der Brust hat man die Kugel entfernt.« – »Mein Gott! mein Gott!« rief Lady Henriette. »Das ist schrecklich! Und das hat dieser elende, feige Meuchelmörder Wardes getan. O, der Himmel ist wahrlich nicht gerecht. Schwebt Herr von Guiche in Lebensgefahr?«
»In doppelter, Madame, wie Sie bereits zu bemerken die Güte hatten,« antwortete Manicamp, »durch seine Wunden und durch des Königs Urteil. Ja, Madame, es ist möglich, daß er stirbt. Und vielleicht muß er sterben, ohne das tröstliche Bewußtsein, daß Ihnen bekannt sei, was er für Sie getan hat.«
»O, Sie werden es ihm sagen! Sind Sie nicht sein Freund?« rief Madame. – »Nein, Hoheit,« antwortete Manicamp fest, »ich werde ihm nur sagen, wie grausam Sie gegen ihn gewesen sind; denn er hat eine gute Natur und einen guten Arzt; es ist möglich, daß er mit dem Leben davonkommt, und dann soll er nicht nachträglich noch an gebrochenem Herzen sterben.«
»Welcher Arzt behandelt ihn?« fragte die Herzogin, sich auf die Lippe beißend. – »Herr Vallot, der Leibarzt des Königs. Er liegt in dem Hause des Arztes in der Feurrestraße.« – »Kehren Sie jetzt zu dem Kranken zurück?« – »Ja, Madame.« – »So erweisen Sie mir einen Dienst! Entfernen Sie alle Anwesenden – entfernen Sie sich auch selbst – o, verlieren wir keine Zeit mit unnützen Einwendungen!« schnitt sie dem jungen Manne das Wort ab, als sie sah, daß er Bedenken äußern wollte. »Fragen Sie nicht weiter nach und nehmen Sie hin, was ich Ihnen sage. Ich will zwei meiner Frauen hinschicken; Sie brauchen sie nicht zu sehen. Genügt Ihnen das?«
»Gewiß, Madame; ich werde sogar vor Ihren Botinnen hergehen und dafür sorgen, daß Sie nicht auf unerwartete Hindernisse stoßen.« – »Nun wohl, so warten Sie unten auf der Treppe. Drehen Sie sich nicht nach den Frauen um, sondern gehen Sie immer gerade Ihres Weges.« – »Zu Befehl, Hoheit!« – Manicamp verneigte sich und ging zufrieden von dannen. Er wußte, daß Madames Erscheinen der beste Balsam für die Wunden seines Freundes sein werde. Er brauchte keine Viertelstunde zu warten, dann erschienen zwei Frauen auf der Treppe, und Manicamp ging, wie verabredet, ohne sich umzuschauen.
Graf Guiche lag im Bette, bleich, mit verschleierten Augen, umfangen vom Delirium, von einem jener finstern Träume, die Gott denjenigen schickt, welche auf dem Wege sind, in die fremde Welt der Ewigkeit zu versinken. Manicamp trat ein, sprach ein paar Worte mit der Krankenwärterin und ging dann mit ihr in ein Nebenzimmer.
Zwei Frauen, in Mäntel gehüllt, eine Halbmaske vorm Gesicht, traten ein. Die eine gab der andern einen Wink, worauf diese an der Tür auf einem Schemel Platz nahm. Dann ging sie selbst ans Bett, hob die Vorhänge auf und sah in das blasse Gesicht des Bewußtlosen, dessen rechte Hand in weiße, stellenweise von Blut getränkte Leinwand gewickelt war. Die Brust trug einen ebensolchen Verband, der auch einige Blutspuren zeigte. Ein heiserer Ton wie Todesröcheln entklang den aufeinandergebissenen Zähnen des Grafen. Die Maskierte ergriff seine linke Hand, die heiß war wie glühende Kohle.
Als die kalte Hand der Dame sie berührte, war die Wirkung dieser Kälte so stark, daß Graf Guiche die Augen aufschlug. Doch schien er im ersten Moment nichts zu sehen, nichts zu erkennen. Die Dame gab ihrer Gefährtin, die an der Tür geblieben war, einen Wink, und diese sprach sofort laut und mit sorgfältiger Betonung: »Herr Graf, Ihre Königliche Hoheit, Madame, wünscht zu wissen, ob Ihre Wunden Sie sehr schmerzen, und Ihnen durch meinen Mund innigste Teilnahme auszusprechen.«
Bei dem Worte »Madame« bewegte sich der Graf und drehte sich nach der Seite um, von der die Stimme kam. Da ihn aber die kalte Hand nicht losließ, wandte er sich wieder nach dieser unbeweglichen Gestalt. – »Sind Sie es, Madame, die mit mir spricht?« flüsterte er, »oder ist jemand anders im Zimmer?« – »Ja,« antwortete die unbewegliche Gestalt. – »Nun, so sagen Sie Madame, ich danke ihr und werde nun gern sterben, da sie meiner gedacht hat.«
Die maskierte Dame weinte und vergaß, daß sie eine Larve trug. Bei dem Versuch, die Tränen abzuwischen, riß sie den Domino weg. Nun sah Graf Guiche ihr Gesicht und stieß einen Schrei aus. Aber alsbald starb jeder Laut auf seinen Lippen, der rechte Arm, den er ausgestreckt hatte, sank zurück, und die Wunde schien frisch aufzubrechen, denn die Leinwand färbte sich mit einem tiefen Rot. Dann lag der Kopf regungslos auf dem Kissen. Die Dame aber neigte sich über das leichenfahle Gesicht und drückte einen Kuß auf die Lippen. Wie von einem elektrischen Strome berührt, erwachte Guiche noch einmal, um sofort aufs neue in Ohnmacht zu fallen.
»Fort!« rief die Dame ihrer Gefährtin zu; »wenn ich noch länger hier bliebe, wäre ich imstande, eine Torheit zu begehen. Hebe den Domino auf!« – Sie schlüpften hinweg und kehrten rasch ins Palais zurück.
Die eine der beiden Damen verschwand in den Gemächern der Herzogin von Orléans, die andere begab sich in das Gelaß der Ehrendamen. Und diese letztere nahm die schwarze Larve, die die Besucherin des Kranken getragen hatte und betrachtete sie im Kerzenlicht. »Ich habe vergessen, sie Madame zurückzugeben,« murmelte sie, »ich werde es morgen tun! Doch sieh da!« rief sie aus, »die Innenseite ist ganz naß! O, Sie haben geweint, meine Gnädige. Das läßt tief blicken. Und noch mehr, hier ist gar ein Blutfleck! Sie müssen also den Wunden des Herrn von Guiche sehr nahe gekommen sein. O nein! diese Larve werde ich Ihnen nicht zurückgeben. Sie ist jetzt viel zu kostbar.«
Sechster Teil. Kabale und Liebe
1. Kapitel. In Ungnade
Am folgenden Tage fand die Rückkehr des gesamten Hofes nach Paris statt, und es war ein herrlicher Anblick, diese erlauchte Gesellschaft in Reisekleidern, diese stattliche Menge von prächtig gesattelten Pferden und prunkvollen Kaleschen zu sehen, diese unzählbare Schar von Kavalieren und Damen, von Pagen und Lakaien, von Bereitern und Troßknechten. Die Kutsche des Königs, die er mit seiner Mutter und seiner Gemahlin teilte, fuhr zuerst ab, dann folgte die des herzoglichen Paares und dann, dem Range entsprechend, die große Reihe der anderen.
Die Sonne schien drückend, und Madame war die erste, die sich über die große Hitze beklagte. »Ich hätte Sie für galanter gehalten,« sagte sie zu ihrem Gemahl, »Sie sollten doch mir den Wagen allein überlassen und den Weg zu Pferde zurücklegen.« – »Reiten? Bei der Glut?« versetzte Monsieur entsetzt. »Aber ich denke gar nicht daran, Madame! Ich habe auch kein Pferd hier.«
»Ich sehe doch aber dort Ihren Lieblingsfuchs,« antwortete sie, zum Fenster hinaussehend. »Ihr Stallmeister, Herr Malicorne, führt ihn am Zügel.« –
»Tatsächlich,« sagte Monsieur, sah auch hinaus und fiel gleich darauf zurück in die Kissen. »Das arme Tier! Ihm mag schön heiß sein.«
Inzwischen wurde es dem König ebenfalls zu eng im Wagen, doch weniger der Hitze wegen als aus Liebesverlangen. Er wünschte im Sattel zu sitzen, um an den Wagen der Ehrendamen zu reiten und sich am Anblick der geliebten Lavallière zu erfreuen. Die vielen Fragen der jungen Königin, die sich immer wieder nach seinem Befinden erkundigte, das Geschwätz der Königin-Mutter, die ihn um jeden Preis zerstreuen wollte, fielen ihm schwer auf die Nerven. Er klagte schließlich über Schmerzen in den Beinen, und Maria-Theresia fragte, ob er mit ihr aussteigen und ein Stück zu Fuß gehen wolle. Das war freilich ein Strich durch die Rechnung, aber er konnte es ihr nicht abschlagen. Nach wenigen Minuten merkte sie, daß ihm der Weg zu Fuß auch nicht besser behagte als die Fahrt im Wagen. Sie erklärte, sie wolle wieder einsteigen. Er führte sie an den Kutschenschlag, ließ sie aber allein Platz nehmen und sah sich, draußen stehenbleibend, nach einem Pferde um.
»Majestät haben einen Zelter verlangt?« rief eine Stimme hinter ihm, und Malicorne verneigte sich und bot dem König den Lieblingsfuchs Monsieurs an. – »Das ist kein Tier aus meinem Marstall,« sagte Ludwig. – »Es gehört Seiner Königlichen Hoheit,« antwortete Malicorne, »allein Monsieur reitet bei einer solchen Hitze nicht.« – Mit diesen Worten hielt er den Steigbügel, und Ludwig schwang sich hinauf. Lachend sprengte er an den Wagen der Königinnen. »Gott sei Dank, daß ich im Sattel sitze!« rief er ihnen zu. Dann hielt er an, ließ sie vorbeifahren und ritt im Galopp zurück. Anna von Oesterreich neigte sich zum Fenster hinaus und sah ihm nach.
Er ritt nicht weit; schon beim sechsten Wagen zog er die Zügel straff; der Fuchs blieb stehen. Ludwig XIV. zog anmutsvoll den Hut und grüßte mit einem glückseligen Lächeln Fräulein von Lavallière, die zusammen mit der Montalais fuhr. Er folgte dem Wagen ein Weilchen, ohne ein Wort, nur seine Augen führten eine beredte Sprache. Dann begann er eine belanglose Plauderei. – »Ich wäre erstickt im Wagen. Ein verständiger junger Mann erriet meinen Wunsch nach einem Reitpferd und erlöste mich von der furchtbaren Plage. Ich möchte seinen Namen wissen, denn ich kenne ihn noch nicht.« – Die Montalais ließ sich das nicht zweimal sagen. »Der Herr, der Eurer Majestät das Pferd gebracht hat,« sagte sie, »heißt Malicorne. Das war er doch, der dort drüben reitet, nicht wahr, Sire?« – Dabei wies sie auf ihren Verehrer, der natürlich hörte, daß von ihm die Rede war, sich aber mit heuchlerischer Miene das Ansehen gab, als sei er taub. – »Das war er, mein Fräulein,« antwortete Ludwig XIV. »Malicorne, ich werde mir den Namen merken.«
Nach kurzem Schweigen wandte der König sich an Fräulein von Lavalliere. »Nun ist die ländliche Freiheit zu Ende, mein Fräulein,« sagte er. »Mit der Rückkehr nach Paris wird Ihr Dienst bei Madame Sie mehr in Anspruch nehmen, und wir werden uns nur selten sehen.« – »Eure Majestät lieben Madame zu sehr, als daß Sie nicht oft zu ihr kommen werden,« antwortete Luise, »und wenn Majestät nur durchs Zimmer gehen ...« – »Ah, das würde mir nicht genügen,« versetzte Ludwig, »und doch scheinen Sie damit zufrieden zu sein.« – Luise antwortete nur mit einem Seufzer. – »Sie haben sich sehr in der Gewalt,« sagte der König. »Gebrauchen Sie diese Kraft, um zu lieben, und ich werde Gott preisen, der sie Ihnen gegeben.«
Die Lavallière schwieg, doch ein seelenvoller Blick in des Königs Auge sagte mehr, als Worte vermocht hätten. Und als wäre dieser Blick wie ein brennender Strahl in sein Herz gedrungen, fuhr er mit der Hand an die Stirn und trieb das Pferd durch einen plötzlichen Druck der Schenkel vorwärts. Sie folgte dem schönen Reiter, dessen Hutfedern im Winde wallten. Sie lehnte sich zurück und verlor die geliebte Gestalt mit den schönen Locken nicht aus den Augen.
Nach wenigen Minuten schon war der König wieder an ihrer Seite. – »Fräulein,« sagte er, »es zerreißt mir das Herz, daß Sie so beharrlich schweigen. Sie sind unbarmherzig, so verschlossen zu bleiben. Ich muß das schließlich für Koketterie halten. Ich fürchte, Sie erwidern die tiefe Liebe nicht, die ich für Sie empfinde.«
»O nein, Majestät,« erwiderte sie, »wenn ich lieben werde, so ist's für's ganze Leben!« – »Lieben werde!« rief er, »ah, da haben wir's! Sehen Sie, daß ich recht habe, Sie der Koketterie, der Launenhaftigkeit anzuklagen!« – »O, nein, Sire, nein!« – »Versprechen Sie mir, für mich stets die gleiche zu bleiben!« – »O, immer, Majestät!«
»Ich liebe es, das, was mein Herz bewegt, unter die Bürgschaft eines Schwurs zu stellen,« sagte er. »Schwören Sie mir, wenn wir in dem Leben, das vor uns liegt, in diesem Leben, voll von Opfern, Geheimnissen, Schmerzen und vielleicht auch Zerwürfnissen, uns einmal falsch verstanden oder einander unrecht getan haben sollten, schwören Sie mir, Luise –«
Die Lavallière erbebte bis in den Grund ihrer Seele hinein, denn es war das erstemal, daß sie ihren Namen so vom Munde des Geliebten hörte. – »Schwören Sie mir,« fuhr er fort, »daß wir in einem solchen Falle, wenn eins dem andern fern ist, nie eine Nacht verstreichen lassen wollen, ohne einander aufzusuchen oder wenigstens einen beruhigenden oder erklärenden Brief zu wechseln.«
Luise nahm die heiße Hand des Geliebten in ihre beiden kalten Hände und drückte sie lange und zärtlich, bis ein Geräusch das Pferd erschreckte, das mit einem Satz vorwärts sprang. Sie hatten das Gelübde getauscht. »Majestät,« flüsterte Luise, »kehren Sie zu den Königinnen zurück – ich fühle es, dort droht mir ein Unwetter.«
Ludwig grüßte und ritt im Galopp zu dem Königswagen. Im Vorüberreiten sah er Monsieur – er schlief – sah er auch Madame – sie schlief nicht. – Die junge Königin lächelte ihm traurig zu und sprach nichts als die Worte: »Ist dir nun wohler, mein lieber Mann?«
In Paris begann der König sofort mit Colbert zu arbeiten, denn es galt, am folgenden Tage die Gesandten von Spanien und Holland zu empfangen: eine Aufgabe, die mit diplomatischem Geschick gelöst werden mußte, da in letzter Zeit die Beziehungen zwischen Frankreich und diesen beiden Reichen sich verhängnisvoll zugespitzt hatten. Während Majestät im Arbeitszimmer war, suchte Maria-Theresia, seine Gattin, die Königin-Mutter, auf, um ihr wieder einmal ihr Leid zu klagen. – »Ach, meine Mutter! der König liebt mich nicht mehr!« – Es war das alte Lied, aber es hatte diesmal eine neue Wirkung auf Anna von Oesterreich, nachdem sie unterwegs dem König aus dem Wagen nachgeschaut hatte. – »Was nennst du denn Liebe, mein Kind?« – »Wenn man immer an jemand denkt, sich immer nach jemand sehnt.« – »Und findest du, der König tue das? Ein König gehört seinem ganzen Reiche.«
»Und deshalb sind wohl auch fast alle Königinnen verlassen und vergessen,« sagte das arme Kind, »während andere Frauen Liebe, Ruhm und Ehren genießen. O, Mutter, der König ist so schön! Wie oft werden ihm andere das sagen! Und wenn ich daran denke, er könnte sich noch einen Herd neben dem unserigen schaffen – noch eine zweite Familie! Ach, wenn ich je Kinder vom König sähe, ich würde sterben!«
Anna von Oesterreich lächelte und faßte Maria bei der Hand: »Meine Tochter,« sagte sie, »trösten Sie sich: der König kann keinen Kronprinzen haben ohne Sie, Sie aber können einen haben ohne ihn.«
Madame ließ sich melden. Sie erschien mit einer Miene, die darauf deutete, daß sie einen bestimmten Plan entworfen habe und ein gewisses Ziel zu erreichen willens sei. – »Ich kam zu sehen,« begann sie, »ob die kleine Reise Ihre Majestäten angegriffen habe.« – »Mich gar nicht,« antwortete Anna. – »Mich ein wenig,« antwortete Maria-Theresia. – »Und dem König scheint sie gut bekommen zu sein, obwohl er bei der Hitze zu Pferde stieg.« – »Ich selbst habe ihm dazu geraten,« sagte Maria-Theresia. – »Haben Sie denn schon die schreckliche Geschichte vom Grafen Guiche erfahren?« fragte die Herzogin. – »Von seinem Kampf mit dem Eber, ja,« sagte Anna von Oesterreich. – Madame trat näher und sagte leise: »Es war ja ein Duell.«
»Ein Duell?« rief Maria-Theresia. »Und weshalb fand es statt?« – »Wegen einer meiner Ehrendamen,« antwortete Madame mit vielsagendem Blick. – »Etwa gar wegen der Lavallière?« fragte die Königin-Witwe. – »Ja, ihretwegen.« – »Sie ist wohl verlobt, wie ich höre, doch weder mit Herrn von Guiche, noch mit Herrn von Wardes,« fuhr Anna fort. »Alles in allem fängt diese Person nachgerade an, unausstehlich zu werden. Ich leide es nicht, daß an meinem Hofe die jungen Männer die Waffen miteinander kreuzen. Es ist ein Frevel, auf diese Weise meinem Sohne auch nur einen seiner Diener zu rauben. Aber nicht nur die Männer sind in solchem Falle zu bestrafen, sondern vor allem die koketten Dämchen, die die jungen Herren gegeneinander hetzen.« Sie wendete sich an die junge Königin und fragte: »Was soll mit dieser Lavallière geschehen?«
Maria-Theresia arbeitete an einer Stickerei, sah mit ^ einem eiskalten Blick auf und antwortete: »Lavallière? Kenne ich nicht.« Und sie zeigte dazu ein so frostiges Lächeln, wie es nur königlichen Lippen eigen ist. – »Man schickt sie in ihre Heimat zurück und gibt ihr eine Pension,« sagte Madame. – »Das ist meine Angelegenheit,« sprach die Königin-Witwe. – »Hoheit,« versetzte die Herzogin von Orléans, »sie ist eine meiner Ehrendamen.«
»Gleichviel!« antwortete Anna. »Ich bin des Königs Mutter und das Haupt der Familie. Kein Aufsehen, wenn ich bitten darf! Das alles muß en famille abgemacht werden. Lassen Sie das Mädchen hierher rufen, Madame! Und Sie, meine Tochter, begeben sich auf ein paar Augenblicke in Ihre Gemächer!«
Die Lavallière trat bei der Königin-Mutter ein, ohne zu ahnen, daß sich ein verhängnisvolles Komplott gegen sie entsponnen habe. Sie glaubte, es handle sich um eine dienstliche Angelegenheit, und im Dienst hatte die Königin-Mutter sich nie unfreundlich gezeigt. Sie näherte sich also der Fürstin mit jenem sanften Lächeln, das sie so gut kleidete. Da sie in gemessener Entfernung stehenblieb, der erwarteten Befehle harrend, rief Anna von Oesterreich: »Treten Sie nur ganz nahe heran, Fräulein, damit wir mit Ihnen plaudern, da doch schon alle Welt von Ihnen schwatzt.«
Die Lavallière erbleichte und sah auf Madame – aber die Herzogin trug eine Gleichgültigkeit zur Schau, die den Mutigsten entwaffnet hätte. – »Spielen Sie nur noch gar die Unwissende!« fuhr Anna fort. »Was sagen Sie zu dem Duell zwischen Herrn von Guiche und Herrn von Wardes?« – »Mein Gott, Königliche Hoheit, ich habe gestern erst davon gehört,« antwortete die Lavallière, die Hände faltend. – »Und haben nicht vorher schon gewußt, daß es dahin kommen würde?« – »Aber wie sollte denn ich das gewußt haben?« – »Weil Ihnen bekannt sein muß, weshalb die beiden Herren sich entzweit haben!« – »Das ist mir nicht bekannt, Königliche Hoheit.«
»Dieses System der Ausflüchte und des Leugnens sollte Ihnen selbst doch zu erbärmlich erscheinen,« begann Anna. – »Mein Gott, Eure Königliche Hoheit erschrecken mich!« rief die Lavallière. »Warum dieser eiskalte Ton? Sollte ich das Unglück haben, in Ungnade gefallen zu sein?« – »Man spricht zuviel von Ihnen, Fräulein,« versetzte die Königin-Mutter, »und ich sehe es nicht gern, wenn von den Mädchen des Hofes viel gesprochen wird.«
»Aber ich begreife nicht, Königliche Hoheit, wer sich mit mir beschäftigen sollte!« erwiderte Luise. – »Herr von Guiche zum Beispiel, der Sie verteidigt hat. Er ist Kavalier, und die schönen Abenteuerinnen haben es gern, wenn ein Kavalier eine Lanze für sie bricht. Ich hasse die Duelle, und ich hasse die Abenteuerinnen, die Ursache dazu geben.«
Die Lavallière machte eine tiefe Verneigung um sich stolz wieder aufzurichten. »Königliche Hoheit,« sprach sie leise, »ich habe gefragt, was mein Verbrechen sei. Noch habe ich es nicht vernommen, und Königliche Hoheit sollten mich nicht verdammen, ohne mir Gelegenheit zur Rechtfertigung zu geben.« – »Hören Sie nur die hübschen Redensarten, Madame!« rief Anna von Oesterreich. »Man sieht es, meine Allerschönste, wir haben schon viel gelernt durch den Verkehr mit gekrönten Häuptern. Nun, um deutlicher zu sprechen! Wenn Sie fortfahren, ein solches Benehmen zur Schau zu tragen, dann erniedrigen Sie uns Frauen dergestalt, daß wir uns schämen müssen, neben Ihnen zu figurieren. Werden Sie einfach, Fräulein! Uebrigens, was habe ich gehört? Sie sind Braut?«
»Ja, Königliche Hoheit,« antwortete Luise, bleich wie eine Lilie. – »Verlobt mit einem Edelmann. Wie heißt er?« – »Graf von Bragelonne.« – »Wissen Sie auch, daß Sie da von Glück sagen können, Fräulein? Ein Mädchen ohne Vermögen, ohne Rang, ohne große persönliche Vorzüge sollte den Himmel preisen, der ihm eine solche Zukunft beschert. Wo ist Graf von Bragelonne?«
»In England,« mischte sich Madame ins Gespräch, »im Auftrag des Königs. Das Gerücht von den Erfolgen des Fräuleins wird wohl inzwischen schon zu ihm gelangt sein.«
»Man wird diesen jungen Mann zurückrufen, Fräulein,« fuhr Anna von Oesterreich fort, »und Sie werden Ihre Angelegenheiten mit ihm in Ordnung bringen. Sind Sie etwa anderer Meinung? Junge Mädchen haben manchmal wunderliche Ansichten. Ich gedenke Sie noch auf den guten Weg zurückzuführen. Ich nehme nun an, Sie haben mich verstanden.« – »Königliche –« – »Kein Wort mehr!« – »Königliche Hoheit, ich bin unschuldig an allem, was Sie mir vorwerfen! Sie sehen meine Verzweiflung –« – »Keine Komödie, wenn ich bitten darf!« unterbrach sie Anna von Oesterreich. »Ich könnte sonst eine gewaltsame Lösung des Knotens herbeiführen. Kehren Sie auf Ihr Zimmer zurück und beherzigen Sie diese Lektion!«
Luise wandte sich an die Herzogin von Orléans. »Nun, so bitten Sie für mich, Madame,« flehte sie. »Sie sind ja so gütig.« – »Ich?« erwiderte Henriette schadenfroh, »was fällt Ihnen denn ein, Fräulein?« – Und sie stieß brüsk die Hand des jungen Mädchens zurück. Die Lavallière gewann plötzlich all ihre Würde wieder. Statt in Tränen auszubrechen, wie die Fürstinnen erwartet hatten, sah sie diese ruhig an, verneigte sich und ging hinaus.
»Meinen Sie, daß sie wieder anfangen wird?« fragte Anna von Oesterreich. – »Diesen sanften Lämmern traue ich nicht,« erwiderte Madame. »Nichts besitzt so großen Mut wie ein duldsames Herz.« – »Ich bürge Ihnen dafür, sie wird sich sehr in acht nehmen,« antwortete die Königin-Mutter.
Es war halb sieben Uhr, als der König sein Mahl beendet hatte. Er stand auf, verließ die Tafel, nahm Saint-Aignans Arm und befahl, ihn zur Lavallière zu führen. Der Hofmeister erschrak. – »Was denn?« sagte der König. »Es wird mir doch zur Gewohnheit werden. Also fangen wir mal an!« – »Aber Sire, man muß uns sehen,« wandte der Graf ein, »es wäre doch ein Vorwand nötig.« – »Nichts von Vorwand! Ich mag nicht länger warten, ich habe genug von aller Geheimniskrämerei! Entehrt sich denn der König, wenn er mit einem geistreichen Mädchen spricht? Honny soit qui mal y pense!«
»Und die Königin?« sprach Saint-Aignan. – »Na ja doch! Die Königin muß berücksichtigt werden. Gut! Diesen Abend will ich noch einmal so zur Lavallière gehen. Morgen will ich auf Vorwände sinnen.«
Darauf gab es nichts zu erwidern, und Saint-Aignan war nur froh, daß sie unbemerkt über den Hof und in den Seitenflügel gelangten, wo die Ehrendamen logierten. An der Tür wollte der Hofmeister sich entfernen, aber Ludwig hielt ihn zurück, er mußte dem König zur Lavallière folgen. Ludwig fand seine Geliebte in Tränen.
»Wie?« rief er aus. »Was haben Sie? was stimmt Sie traurig?« Doch sie weigerte sich, es zu sagen. – »Und Sie vermeiden es gar, mir ins Auge zu sehen?« fuhr der König fort, denn in der Tat wandte sie sich von ihm ab. »In des Himmels Namen, was ist vorgefallen? Hat man Sie verletzt, beleidigt vielleicht gar?«
»Nein, nein, Sire! mich hat niemand beleidigt.« – »Nun, so zeigen Sie mir wieder die schwärmerische Heiterkeit, die Mischung von Frohsinn und Melancholie, die mich so sehr an Ihnen entzückt.« – »Ja, mein Königlicher Herr –« – Ludwig stampfte mit dem Fuße. »Eine so tiefgehende Veränderung ist mir unerklärlich.« Er sah Saint-Aignan an, der sich ebenfalls über die düstere Einsilbigkeit der Lavallière wunderte.
Doch soviel der König auch in sie drang, soviel er auch nachsann, so sehr er sich auch bemühte, die traurige Stimmung zu besiegen – das Mädchen blieb wie erstarrt. Schließlich vermutete der König, sie sei an ihr Verlöbnis mit Bragelonne gemahnt worden und habe sich selbst der Treulosigkeit schuldig befunden. Dieser Argwohn lag nahe, da die Lavallière in ihrem Zimmer ein Jugendporträt des Grafen de la Fère hatte, welches seinem Sohne täuschend ähnlich sah.
Der König warf drohende Blicke auf dieses Bild. Die Lavallière, zu sehr mit ihrem Kummer beschäftigt, sah nichts davon. Ihr beharrliches Schweigen bestärkte Ludwig in seinem Verdacht, erinnerte ihn daran, daß der Graf de la Fère selber für seinen Sohn bei ihm um Luisens Hand angehalten hatte, und ließ ihn nun glauben, sie hätte bei ihrer Rückkehr nach Paris Briefe aus London erhalten. Von Eifersucht erfaßt, fragte er aufs neue, drang mit noch heftigerer Ungeduld auf Erklärung.
Die Lavallière aber konnte und durfte nichts sagen, denn sie hätte sonst des Königs Mutter und des Königs Schwägerin anklagen müssen. Mit diesen zwei mächtigen Prinzessinnen aber konnte sie nicht in offene Fehde treten. Ueberdies bildete sie sich wirklich ein, sie brauche gar nichts zu sagen; wenn der König sie wahrhaft liebte, müsse er ahnen, was in ihr vorginge. Gab es eine Sympathie, so mußte sie vor allem der Liebe zu eigen sein. Sie schwieg also nach wie vor, seufzte, weinte und verbarg den Kopf in den Händen.
Diese Seufzer und Tränen hatten den König zuerst gerührt, dann erschreckt, jetzt erzürnten sie ihn. Opposition konnte er überhaupt nicht vertragen, am wenigsten aber die Opposition in Gestalt von Tränen. Nun wurden alle seine Worte scharf, fast verletzend. Aber sie schien entschlossen, selbst der Ungerechtigkeit von dieser Seite Trotz zu bieten. Statt aller Antwort schüttelte sie nur den Kopf und sprach nichts als die Worte: »Ach, mein Gott! Ach, mein Königlicher Herr!«
Diese sanften Laute reizten den König noch mehr, statt ihn zu beschwichtigen. Saint-Aignan blies obendrein noch in das Feuer seines Zorns, denn er hoffte angesichts dieser Szene, daß die dem ganzen Hofe unbegreifliche Liebe des Königs ein rasches Ende nehmen werde. Er erblickte in der armen Lavallière bereits eine gestürzte Größe und war zu sehr Hofmann, um nicht alsbald sein Verhalten danach einzurichten. Allein er kannte die Größe dieser königlichen Leidenschaft nicht.
Der König erhitzte sich noch mehr. Er ging hin und her, er lief zur Tür, als wollte er gehen. Endlich blieb er mit gekreuzten Armen vor der Lavallière stehen und rief: »Ein letztes Mal, mein Fräulein, wollen Sie sprechen?
Wollen Sie sagen, weshalb Sie mit einem Male so anders, so verwandelt sind? Wollen Sie den Grund dieser Laune nennen?« – »Was soll ich sagen? Mein Gott, Sire, Sie sehen doch, Ihr Zorn zermalmt mich; ich bin jetzt nicht fähig zu denken, zu reden, etwas zu wollen.« – »Ist es denn so schwierig, die Wahrheit zu sagen? Sie hätten weniger Worte dazu gebraucht, als Sie jetzt vergeudet haben.« – »Was denn für eine Wahrheit?« – »Die ganze Wahrheit! Alles!« – Die Wahrheit drängte sich vom Herzen der Lavallière auf ihre Lippen. Sie wollte die Arme öffnen, doch sie sanken zurück, und ihr Mund blieb stumm. »Ich kann nichts sagen,« das war alles, was sie sprach. – »Das ist mehr als Koketterie, mehr als Laune,« rief der König. »Das ist Verrat!« Und er stürzte mit einer Gebärde des Zornes hinaus. Saint-Aignan folgte ihm. Auf der Treppe hielt Ludwig XIV. inne. »Da siehst du es, ich werde schändlich genarrt!« stieß er hervor. »Von Guiche hat sich im Namen dieses Bragelonne duelliert, und den Bragelonne liebt sie noch immer! Wahrlich, Saint-Aignan, ich würde vor Scham sterben, wäre in drei Tagen noch ein Atom von dieser Liebe in meinem Herzen!« – »Ich habe es Eurer Majestät immer gesagt,« murmelte Saint-Aignan, indem er dem König nacheilte und unterwegs zu den Hoffenstern hinaufsah.
Diesmal waren sie nicht so glücklich wie beim Hinweg: ein Vorhang wurde gelüftet. Das Gesicht der Herzogin von Orléans zeigte sich. Sie hatte den König aus den Räumen ihrer Ehrendamen weggehen sehen, verließ alsbald ihr Zimmer und eilte in das Gelaß, aus dem der König eben kam.
Die Lavallière sah dem Geliebten nach und hob die Arme, hob den Fuß, als wollte sie ihn zurückhalten, als wollte sie ihm nachgehen. Aber der Klang seiner Schritte verlor sich im hallenden Korridor. Kraftlos sank sie vor dem Kruzifix nieder. Da blieb sie gebrochen, zermalmt, zerschmettert von ihrem Schmerz liegen, unfähig, sich zu vergegenwärtigen, was eigentlich geschehen sei. Die Tür ging auf – sie hörte es wohl, aber sie sah nicht danach. Da schoß es ihr in den Kopf, es sei vielleicht der König, der zurückkehre. Sie hob das in Tränen gebadete Gesicht.
Madame stand vor ihr. Doch was lag ihr an der Herzogin? Sie sank zurück und ließ das Haupt wieder auf den Betstuhl fallen.
»Fräulein,« sprach Madame zornig, aufgeregt, »es ist sehr schön, auf den Knien zu liegen und die Fromme zu spielen. Doch da Sie dem König des Himmels so sehr ergeben sind, so geziemt es sich auch, ein wenig den Willen der irdischen Fürsten zu respektieren.« – Die Lavallière sah auf, ein starrer, fast unbewußter Blick bewies, daß sie kaum verstand, was zu ihr gesprochen wurde.
»Die Königin-Mutter hat Sie doch gewarnt, sich in acht zu nehmen, damit niemand Ursache fände, üble Gerüchte über Sie auszusprechen. Und jetzt ging doch schon wieder jemand von Ihnen fort, dessen Hiersein eine Ursache zu üblem Reden ist. Da mein Haus das der ersten Prinzessin ist, so soll es dem Hofe kein schlechtes Beispiel geben; und das geschieht durch Ihr Betragen. Ich erkläre Ihnen daher, Fräulein – ich sage es Ihnen ohne Zeugen, da ich Sie nicht öffentlich demütigen will – Sie sind von Stund ab frei und können zu Ihrer Mutter nach Blois zurückkehren.«
Die Lavallière antwortete nicht; nur ein Schauer, der ihren ganzen Körper erzittern ließ, verriet, daß sie verstanden hatte. Madame ging hinaus.
Luise lag noch lange regungslos da; sie betete nicht einmal mehr. Allmählich kehrten die Gedanken zurück – sie fing an zu begreifen, was geschehen war. Ein Strahl der Hoffnung schimmerte in die Nacht ihres Herzens, wie ein Strahl Tageslicht in den Kerker eines Verurteilten. Sie dachte an die Fahrt nach Paris, sie sah den König neben ihrem Wagen, sie hörte, wie er ihr süße Worte der Liebe, der Treue zuflüsterte, sie fühlte seine Hand in der ihren und erinnerte sich des Gelübdes, das sie einander getan. »Es soll nach einem Zerwürfnis keine Nacht verfließen, ohne daß wir einander aufsuchen oder uns durch Briefe verständigen!« Es war ja nicht möglich, daß der König sein Versprechen nicht hielte, hatte er selbst ihr doch diesen Schwur abgerungen, wie ein Despot, der Liebe ebenso verlangt wie Gehorsam. Wenn er nicht kam, dann bewies er damit eben, daß er keine Liebe hatte, oder daß dieses erste Hindernis auf dem Wege ihn schon zur Umkehr bewog.
Er mußte also kommen! – Und so wartete das arme Kind mit bangender Seele, Stunde um Stunde! – O, wenn er käme, wie würde sie ihm entgegeneilen – wie würde sie alles vergessen über der Freude, ihn wiederzusehen, wie wollte sie ihm sagen: »Nicht ich bin es, die Sie nicht liebt – jene sind es, die mich hindern wollen, Sie zu lieben!« – Indessen sie nachsann, mußte sie sich sagen, der König sei unschuldig. Er konnte nichts wissen. Wenn sie ihn in Gedanken beschuldigt hatte, an dem Komplott ihrer Feindinnen teilzuhaben, so war das unrecht von ihr. Ihr hartnäckiges Schweigen mußte ihn befremden. Ja ungeduldig, herrisch, reizbar, wie er war, hatte er sich wirklich lange genug bemüht, sie zum Sprechen zu bewegen. O, wenn er nur käme, wenn er nur käme, wie würde sie ihm beweisen, daß sie ihn liebte!
So verrann die Zeit, und der König kam nicht. Nun hoffte sie wenigstens auf eine Nachricht. Er würde Saint-Aignan schicken, sagte sie sich, und sie würde auch ihm ihr Herz ausschütten. Und sie wartete. Selbst als es elf Uhr schlug, verlor sie die Hoffnung nicht; konnte doch bis Mitternacht noch immer ein Bote kommen. Doch die Stunde kam – die Lichter im Schloß erloschen – und auch für das arme Mädchen erlosch das Licht der letzten Hoffnung. Der König hatte den Schwur gebrochen, den er am selben Tage erst geleistet. Also liebte der König sie nicht mehr; der schöne Traum hatte jäh geendet. Ihre Herrin hatte sie verstoßen – schmählich hinausgewiesen, und doch war der König die einzige Ursache dieser Beschimpfung.
Ein bitteres Lächeln spielte um ihren Mund, die einzige Spur von Zorn, die sich während dieses langen Kampfes auf dem Engelantlitz des Opfers zeigte. An wen sollte sie sich nun wenden, bei wem Zuflucht suchen, da der König der Erde sie verließ? Ihr blieb nur noch der König des Himmels! Und sie blickte auf das Kruzifix und murmelte: »Mein Gott, du selbst schreibst mir vor, was ich zu tun habe. Tu bist der Herr, der nimmer die Verlassenen und Vergessenen verläßt und vergißt. Dir will ich mich weihen.« – Sie sank wieder vor dem Betstuhl nieder, legte den Kopf auf die Platte. So lag sie, bis der Tag dämmerte.
Beseelt von einem festen Entschlüsse, stand sie auf, warf einen Mantel über und ging hinaus. Sie erreichte die Gartentür in dem Augenblick, als ein Posten der Schweizergarden eingelassen wurde. Sie schlüpfte hinaus, ehe noch der Patrouillenführer Zeit hatte, sich zu fragen, wer diese junge Frau sei, die so früh aus dem Palast entwich.
2. Kapitel. Triumph und Demütigung
Luise eilte die Straße linker Hand hinab, ohne zu wissen, wohin sie in dieser Richtung gelangen würde. Es war das erste Mal, daß sie allein durch Paris ging, und obwohl es um diese Zeit überall noch menschenleer war, so erschrak sie doch über das Gewirr von Straßen und Gassen, das sich allenthalben vor ihren Blicken öffnete. Sie eilte weiter und gelangte an den Seine-Hafen. Hin und wieder begegnete ihr ein später Nachtschwärmer oder eine lichtscheue Gestalt, aber das einsame Mädchen blieb unbehelligt. So kam sie schließlich auf den Grèveplatz. Während sie sich ratlos auf dem Häuserviereck umsah, taumelten aus einem Gasthause ein paar Männer heraus, schritten schwankend über den Platz, erblickten die weibliche Gestalt und umringten sie plötzlich unter lautem Geschrei.
Ehe Luise wußte, wie ihr geschah, erkannte sie, daß sie verloren sei, wenn nicht im letzten Augenblick Hilfe käme. Die Füße versagten ihr vor Schreck den Dienst, sie fiel und stieß einen Schrei des Entsetzens aus. Da teilte sich der Kreis, der sie umringte; der eine der rohen Gesellen flog Hals über Kopf nach links und blieb stöhnend auf dem Pflaster liegen, der andere rollte in den Rinnstein, der dritte ergriff die Flucht.
Ein Offizier der Musketiere stand vor dem Mädchen. »Potzblitz!« rief er. »Das ist ja Fräulein von Lavallière!« – Die Lavallière sah auf, als sie ihren Namen hörte, und erkannte, halb betäubt, Herrn d'Artagnan. »Ja, ich bin es,« stammelte sie, sich auf seinen Arm stützend. »Nehmen Sie sich meiner an, ich bitte Sie!« – »Aber wohin wollen Sie zu dieser Stunde?« – »Nach Chaillot, Herr d'Artagnan!« – »Da müssen Sie in entgegengesetzter Richtung gehen, mein Fräulein.«
»So bringen Sie mich auf den rechten Weg und gehen Sie ein Stück mit mir. Doch wie kommt es, daß ich Sie hier treffe? Welche Gnade des Himmels hat es gefügt, daß Sie mir zu Hilfe kommen konnten? Fast möchte ich glauben, ich träumte.«
»Ich besitze ein Haus hier am Grèveplatz und habe gestern abend meine Miete einkassiert. Die Nacht über bin ich dort geblieben, und nun wollte ich frühzeitig ins Palais, um meine Posten zu revidieren.« – Er bot ihr den Arm. »Was mag sie nur so zeitig in Chaillot wollen?« dachte er bei sich. Doch stellte er nicht diese Frage, sondern eine andere: »Ohne Zweifel wissen Sie gar nicht, wo Chaillot liegt? Es ist sehr weit von hier. Eine reichliche Meile.« – »Ich werde hinkommen.« – D'Artagnan antwortete nicht; er hörte aus ihrem Ton den unerschütterlichen Entschluß heraus. – »Aber wohin wollen Sie denn dort, Fräulein?« fragte er nach kurzem Schweigen. – »Ins Kloster der Karmeliterinnen. Und da wir uns noch einmal getroffen haben, so nehmen Sie zu gleicher Zeit meinen Dank und meinen letzten Gruß!«
»Ihren letzten? Sie wollen ins Kloster? Sie?!« – Und in diesem Ausruf lag viel; Luise fühlte sich durch dieses Wort an alles erinnert, was in Blois geschehen war, als noch Rudolf sie besuchte, was in Fontainebleau geschehen, seit der König ihr seine Liebe erklärt hatte. – »Sie, die Sie mit Rudolf glücklich, mit dem König mächtig sein könnten, Sie wollen ins Kloster?« So sprach d'Artagnan zu ihr in diesem einen Wort.
»Ja, ich werde eine Dienerin des Herrn,« antwortete sie, »ich entsage der Welt. Sie kennen nun meinen Entschluß. Sie kennen mein Ziel. Ich habe nun nur noch eine letzte Bitte an Sie. Der König darf von meiner Flucht aus dem Palais nichts erfahren; er darf auch nicht wissen, wohin ich gegangen bin.« – »Fräulein, Sie berechnen die Tragweite dieses Schrittes nicht,« wandte der Gaskogner ein. »Niemand darf bei Hofe etwas tun, was der König nicht wissen darf.« – »Ich gehöre nicht mehr zum Hof,« erwiderte Luise.
Der Kapitän sah sie erstaunt an. – »Beunruhigen Sie sich nicht, Herr,« sagte sie. »Das alles ist berücksichtigt worden, und abgesehen davon ist es jetzt zu spät, von meinem Entschluß umzukehren. Die Würfel sind gefallen. Herr, bei dem Mitleid, das man einer Unglücklichen schuldet, bei dem Edelmut Ihres Herzens, bei der Treue eines Edelmanns fordere ich Sie auf, mir zu schwören, daß Sie dem König nicht sagen werden, wohin ich gegangen bin.«
»Das soll ich beschwören?« versetzte der Musketier, die Stirn runzelnd, »nein, Fräulein, das beschwöre ich nicht.« – »Warum nicht?« rief Luise trostlos. – »Weil ich den König kenne, weil ich Sie kenne, weil ich mich selber kenne, weil ich die ganze Menschheit kenne! Nein, das beschwöre ich nicht!« – »Dann,« rief die Lavallière mit einer Energie, die man ihr nicht zutraute, »dann sollen Sie statt der Segnungen, die ich von Stund ab mein Leben lang über Sie herabgefleht hätte, verflucht sein! Denn Sie machen mich zum unglücklichsten aller Geschöpfe!«
D'Artagnan erkannte, daß ein furchtbarer Ernst aus ihr sprach und ein längerer Widerstand sie töten könnte. »So geschehe denn, was Sie verlangen, Fräulein!« sagte er. »Ich werde dem König nichts sagen.« – »O, Dank, Dank!« rief Luise. »Sie sind der edelste der Menschen!« Und sie ergriff seine Hand und drückte sie. – »Potzblitz!« brummte er, »das ist eine, die dort anfängt, wo die andern aufhören. Das finde ich rührend.«
Er begleitete sie soweit, bis man das Kloster erblickte. Dann ging sie allein weiter. »Meiner Treu,« sagte er, während er ihr nachschaute, bis sie durch die Pforte der Umfassungsmauer verschwunden war, »das ist, was man eine heikle Geschichte nennt. Solch ein Geheimnis bewahren, heißt eine glühende Kohle in der Tasche tragen und erwarten, daß sie das Kleid nicht versenge. Das Geheimnis nicht bewahren, wie man es geschworen, hieße ehrlos handeln. Ich weiß wahrhaftig nicht, wie ich mich aus dieser Patsche ziehen soll!«
In den Palast zurückgekehrt, erkundigte er sich nach dem König. Majestät schlief noch. – »So hat sie mir die Wahrheit gesagt,« dachte er, »denn wüßte der König drum, so ginge jetzt hier alles drunter und drüber.«
Ludwig XIV. hatte bis spät in die Nacht hinein mit Colbert gearbeitet und alles für den Empfang der Gesandten vorbereitet. Als er den Minister entlassen, führten Stolz und Liebe einen heftigen Kampf in seinem Innern. Er war auf dem Punkte, zur Lavallière zurückzukehren; doch im letzten Moment entschied er sich noch zu bleiben. – Die Dienerschaft trat ein, ihn beim Zubettgehen zu bedienen. Die Königin wartete seit einer Stunde auf ihren Gemahl. Er ging mit einem Seufzer zu ihr.
Er wachte zeitig auf: ein Beweis, daß er schlecht geschlafen. Um sieben Uhr öffnete er die Tür und ließ Saint-Aignan rufen. D'Artagnan, der am Fenster stand, sah sie zusammen fortgehen, und wunderte sich nicht, daß sie den Weg zu den Ehrendamen einschlugen. Er pfiff den alten Musketiermarsch, den er nur bei sehr wichtigen Gelegenheiten hören ließ, und bedachte, was es wohl für einen Lärm geben würde, wenn der König entdeckte, daß die Lavallière verschwunden sei.
Ludwig XIV. trat in das Zimmer der Geliebten und fand nur Aure von Montalais. Sie konnte ihm keine Aufklärung geben. »Luise ist eine sentimentale Person,« sagte sie, »und ist oft schon bei Tagesanbruch spazieren gegangen; ich denke mir, sie wird im Park sein.« – Ludwig hielt dies für wahrscheinlich und ging in den Schloßgarten.
»Hm!« murmelte d'Artagnan, »Seine Majestät tut da Dinge, die er für Fräulein von Mancini gewiß nicht getan hätte. Seine Leidenschaft ist stärker, als ich glaubte.«
Nach einer Viertelstunde kam der König wieder, außer Atem und in großer Aufregung. Saint-Aignan fächelte ihm mit seinem Hute Luft zu und erkundigte sich unterwegs bei allen Lakaien und Türhütern nach der Vermißten. Niemand wußte etwas von ihr. Inzwischen war es acht Uhr geworden; um diese Zeit frühstückte der König gewöhnlich. Diesmal berührte er die Speisen kaum. Dann erschienen einige militärische Personen, denen Audienz gegeben war; er fertigte sie schnell ab. Mit Ungeduld wartete er auf Saint-Aignan, den er weggeschickt hatte, um Erkundigungen einzuziehen. Der Graf kam unterrichteter Dinge zurück.
Nun schlug es neun Uhr. Es war die Stunde, zu der die Gesandten beschieden waren, und Ludwig ging in den großen Saal. Die zu diesem Akt der Politik geladenen Personen waren bereits versammelt; die Königin-Mutter, die Königin und Madame waren kurz vorm König eingetreten. Der König begrüßte die Gesellschaft. Die Gesandten, drei für Holland, zwei für Spanien, wurden vorgestellt. Ludwig XIV. gab sich alle Mühe, jede Spur seiner heftigen Erregung zu tilgen, um das wichtige Geschäft mit Würde zu erledigen, doch gelang es ihm nur unvollkommen. Er hörte die Ansprache des spanischen Gesandten an und ergrimmte fast, daß dieser Mann ihn zwinge, die kostbare Zeit, die der Suche nach seiner Geliebten gewidmet sein sollte, an ihn zu verlieren. Als der Spanier mit einem Hinweis auf die Vorteile schloß, die Frankreich aus einer freundschaftlichen Allianz mit Spanien ziehen würde, antwortete Ludwig kurz: »Mein Herr, wenn eine Allianz gut für Frankreich wäre, so würde sie für Spanien sehr gut sein.« – Die beiden Königinnen erröteten, denn sie waren Spanierinnen und fühlten sich in ihrem Nationalstolz verletzt.
Der holländische Gesandte nahm das Wort. Ludwig ließ ihn nicht lange sprechen. »Mein Herr;« rief er, »wollen Sie sich beklagen, wo ich mich zu beklagen hätte? Wollen Sie es mir verübeln, wenn ich mich vorsehe gegen eine Regierung, die es duldet, daß beleidigende Pamphlete über mich in ihrem Lande gedruckt werden?« – »Sire, Sie können für ein Pamphlet nicht die Nation verantwortlich machen,« antwortete der Holländer. »Die Drucker suchen sich von Sensationen zu nähren, sonst müßten sie Hungers sterben.« – »Das sei zugegeben,« sagte Ludwig. »Wenn aber die Münze von Amsterdam Medaillen prägt, deren Inschrift eine Beleidigung für mich enthält, ist das auch das Werk einiger Hungerleider?« – »Was für Medaillen, Majestät?« erwiderte der Gesandte. – Ludwig warf einen Blick auf Colbert, von dem er eine nähere Erklärung erwartete, da trat d'Artagnan vor, nahm ein Münzstück aus der Tasche und zeigte es dem König. Ludwig XIV. sah es an und erblickte darauf eine Gestalt, in der sich Holland deutlich symbolisierte, welche die Hand Wider die Sonne erhob, über welche sich eine Wolke lagerte. Die Inschrift lautete: » In conspectu meo stetit sol.«
»Nun werden Sie wohl nicht länger leugnen?« rief Ludwig in unverhohlnem Zorn dem holländischen Gesandten zu. Ein tiefes Schweigen herrschte ringsum, der Gesandte suchte nach einer Entschuldigung.
In diesem Schweigen vernahm man plötzlich die Stimme d'Artagnans, der laut zu Herrn von Saint-Aignan sagte: »Wissen Sie schon die Geschichte von Fräulein von Lavallière, Graf?« – Der König zuckte zusammen. – »Nein, was denn? was denn?« – »Das arme Kind ist ins Kloster gegangen,« sprach der Musketier. – »Ins Kloster?« rief Saint-Aignan. – »Ins Kloster?« rief der König dazwischen. – Nun begann der holländische Gesandte zu sprechen und versuchte den Vorfall zu erklären und als ganz harmlos hinzustellen. Der König hörte nicht auf ihn; sein Ohr war ganz bei d'Artagnan, der fortfuhr: »Ja, ins Kloster der Karmeliterinnen zu Chaillot.« – »Woher wissen Sie denn das?« fragte der Hofmeister. – »Von ihr selbst. Ich habe sie hingeführt.« – »Aber warum ist sie denn entflohen?« – »Weil man sie gestern von Hofe verjagt hat.«
Nun konnte der König sich nicht länger bezwingen. Er schnitt dem Holländer mit einer herrischen Gebärde und mit den Worten: »Ich habe genug gehört,« das Wort ab und trat auf den Kapitän zu: »Ist das wahr, was Sie da sagen?« rief er. – »Wahr wie die Wahrheit selbst, Majestät.« – Der König wurde bleich und ballte die Hände. – »Und es ist auch wahr, daß man sie verjagt hat?« stieß er hervor. – »Sire, erkundigen Sie sich,« antwortete der Musketier. – »Verjagt!« schrie der König. »Von wem?«
Er vergaß die Gesandten, die Politik, die Etikette, die Minister und die ganze Gesellschaft. Seine Mutter stand auf – Madame erhob sich neben ihr, unwillkürlich zitternd, die Königin bedeckte das Gesicht mit den Händen. – »Meine Herren,« rief Ludwig XIV., »die Audienz ist zu Ende; ich werde Spanien und Holland schriftlich meinen Willen kundtun.« Und er entließ die Gesandten mit einer gebieterischen Handbewegung.
»Geben Sie acht, mein Sohn,« sagte die Königin-Mutter im Tone des Unwillens, »Sie sind, wie mir scheint, nicht Herr über sich selbst.« – »Ha, Königliche Hoheit,« brüllte der junge Löwe in furchtbarem Grimm, »wenn ich nicht Herr über mich bin, so schwöre ich Ihnen, ich werde Herr über die sein, die mich beschimpfen! Folgen Sie mir, Herr d'Artagnan!« – Unter dem Entsetzen aller verließ er rasch den Saal. Die Gesandten bezogen seine letzten Worte auf sich selbst und ihre Länder, doch Colbert hatte Geistesgegenwart genug, sie zu beschwichtigen.
Ludwig XIV. eilte die Treppe hinab und stürmte durch den Hof. – »Majestät gehen falsch,« sagte d'Artagnan. – »Nein, ich will zum Marstall,« rief Ludwig. – »Nicht nötig, Sire. Ein Pferd steht schon bereit.« – Der König antwortete seinem Diener nur mit einem Blick, doch dieser Blick verhieß mehr, als der Ehrgeiz von drei d'Artagnans zu hoffen gewagt hätte.
Manicamp und Malicorne, die d'Artagnan als Begleiter mitnehmen wollte, weniger weil er sie für sehr geeignet hielt, als weil er niemand anders zur Hand hatte, saßen bereits im Sattel, und in zehn Minuten – denn der Musketier hatte die besten Pferde genommen – traf die Kavalkade in Chaillot ein. Ludwig klopfte ungestüm an die Pforte und ließ sich ins Sprechzimmer führen. Luise befand sich dort – sie lag vor einem großen Kruzifix auf den Knien. Der König behielt nur d'Artagnan bei sich. Als Luise das Geräusch der Eintretenden hörte, sah sie erschrocken auf, und beim Anblick des Königs stieß sie einen furchtbaren Schrei aus. Er sprang hinzu und zog sie in die Arme.
Die Aebtissinnen und mehrere Klosterschwestern eilten herbei und erhoben ein lautes Geschrei beim Anblick der zwei Männer; aber an der hoheitsvollen Haltung des einen erkannte die Vorsteherin, daß sie einen hochstehenden Herrn vor sich habe, und zog sich mit ihren Frauen zurück. Ludwig war bereits willens, einen seiner Kavaliere nach seinem Arzt zu schicken, als die Lavallière die Augen aufschlug und ihn erkannte.
»Ha!« stammelte sie, »so ist das Opfer noch nicht vollendet?« – »Nein, nein!« rief der König, »und wird es nie werden! Das schwöre ich Ihnen!« – Sie erhob sich. »Und doch muß es sein,« sagte sie, »man hindere mich nicht.« – »Ich werde nicht dulden, daß man Sie opfert!« erwiderte der König. – Bei diesen Worten verließ d'Artagnan das Zimmer.
»Sire,« fuhr die Lavallière fort, »treten Sie nicht zwischen mich und die einzige Zukunft, von der ich noch Heil zu erwarten habe; und opfern auch Sie nicht all Ihre Zukunft einem Gefühl, das doch nur Laune bleibt.«
»Laune!« rief der König. – »Ja, Sire, ob Sie auch anderer Meinung sind – dieses Gefühl muß zuletzt doch den Pflichten weichen, die Ihnen obliegen, Sie müssen mich vergessen!« – »Sie vergessen?« rief der König. – »Ja, Sie haben es ja auch schon getan. Sie können doch nicht eine Person lieben, in deren Tod Sie in dieser Nacht selbst eingewilligt haben. Oder muß ich Sie an das erinnern, was Sie mich gestern früh schwören ließen – was Sie selbst beschworen? Nie eine Nacht über einem Mißverständnis verstreichen zu lassen, ohne uns aufzusuchen oder Briefe auszutauschen?«
»O, verzeihen Sie mir, Luise, die Eifersucht hatte mich närrisch gemacht!« – »Sire, die Eifersucht ist ein böses Unkraut, das immer nachwächst. Sie werden wieder eifersüchtig sein und mich schließlich töten. Lassen Sie mich hier sterben!« – »Noch ein solches Wort, und Sie werden mich zu Ihren Füßen sterben sehen!« – »O, Sire. Sie werden sich doch nicht für eine Unglückliche, die alle Welt verachtet, zugrunde richten wollen!« – »Nennen Sie mir die, die Sie beschuldigen!« – »O, ich habe gegen niemand Klage zu führen, Majestät. Lassen Sie mich! Sie kompromittieren sich, indem Sie mit mir sprechen. Ueberlassen Sie mich Gott!«
»Nein, ich werde Sie selbst dem Himmel entreißen!«
»Sire,« versetzte Luise fest, »da müßten Sie mich zuvörderst den grausamen Feinden entreißen, die mir nach Ehre und Leben trachten. Wenn Sie den Mut haben, mich zu lieben, so haben Sie auch Macht genug, mich zu verteidigen. Und doch ist die, die Sie lieben, beschimpft, verhöhnt, verjagt worden. Sie sehn nun wohl, ich habe keinen andern Beschützer als Gott, keinen andern Trost als das Gebet, keine andere Zuflucht als das Kloster!«
»Sie werden in meinem Palast, an meinem Hofe bleiben. Fürchten Sie nichts mehr, Luise! Die Frauen, die Sie gestern verstoßen haben, sollen morgen vor Ihnen zittern. Mit blutigen Tränen sollen sie die Tränen bezahlen, die sie Ihnen verursacht haben. Nennen Sie mir nur Ihre Feinde!« – »Nimmermehr!« antwortete sie entschlossen. »Sire, diejenigen, die zu bestrafen wären, sind mächtig genug, die Hand des Königs gegen mich selbst zu wenden!« – »Sie kennen mich nicht!« rief Ludwig entrüstet. »Ich werde alles vernichten, was sich zum Feinde des sanftesten Geschöpfes auswirft, das Gott geschaffen hat.«
»Sire, ein letztes Mal, gehen Sie! Ueberlassen Sie mich der Ruhe, in die ich mich geflüchtet; ich fühle mich sicherer unter der Hand Gottes.« – »O, so sagen Sie erst, Sie lieben mich nicht und mein Schmerz sei Ihnen gleichgültig. Sie hätten nur mit mir gespielt, um Ihrem Stolze zu schmeicheln!« – »Majestät, glauben Sie, was Sie für gut befinden! Nur glauben Sie nicht, ich könnte einen Krieg gegen Ihre ganze Familie beginnen! Ich könnte es dulden, daß Sie sich meinetwegen mit Mutter, Gemahlin und Schwester entzweien.«
»Ah, endlich haben Sie Ihre Feindinnen genannt.
Diese also waren es! Beim allmächtigen Gott, ich werde sie bestrafen.« – »Das eben ist es, was mir Angst vor der Zukunft einflößt, warum ich nicht will, daß Sie mich rächen sollen. Es ist genug der Schmerzen, Tränen und Klagen! Ich habe genug geweint, geseufzt und gelitten. Ich bedarf all meines Mutes, mein Opfer zu vollenden. Machen Sie mich nicht wankend!«
»So liebst du mich nicht?« – »O, Sire, wenn ich Sie nicht liebte, so würde ich drein willigen, daß Sie mich rächen. Ich würde als Entgelt für den mir angetanen Schimpf den süßen Triumph hinnehmen, meine Feinde gedemütigt zu sehen. O, Sire! Sie sehen ja, ich verlange nicht einmal, daß Sie mich lieben, und doch ist Ihre Liebe für mich soviel wie das Leben! Ja, ich wollte sterben, weil ich der Meinung war, Sie liebten mich nicht mehr.«
»Ja, nun erkenne ich, Sie sind die frömmste, die verehrungswürdigste der Frauen! Und drum soll keine so geehrt, so geliebt sein wie Sie Luise! Ich schwöre es Ihnen, ich werde alles zerschmettern, was sich erhebt, Sie mir zu rauben! Doch nein, Luise! Sie wünschen, daß alles in Liebe und Güte abgetan werde – diktieren Sie mir nur mein Verhalten, ich werde gehorchen.«
»O, Sire, was bin ich armes Mädchen, einem König, wie Sie sind, etwas vorzuschreiben!« – »Sie sind mein Leben und meine Seele – und die Seele regiert doch den Leib, nicht wahr?« – »O, Sie lieben mich also, mein teurer Herr? Sie lieben mich! Dann habe ich nichts mehr zu wünschen auf Erden! Dann ist mir alles Glück zuteil geworden das ich von diesem Leben erhoffe!« – »Ja, Luise, und dieses Glück soll dir erhalten bleiben, ich gelobe es! Keine Gedanken mehr von Trennung und düsterer Verzweiflung! Die Liebe ist unser Gott – und du mußt für mich leben, wie ich für dich!«
»O, Sire! ich kann ja nicht an den Hof zurück – man hat mich verbannt!« – »Verbannt? Wer verbannt, wen ich zurückrufe?« – »O, Sire, etwas, das über den Königen steht: die Welt und die öffentliche Meinung. Sie können keine Frau lieben, die man hinausgewiesen hat, die von Ihrer Mutter, von Ihrer Schwägerin mit Schande überhäuft worden ist!« – »Luise, ich werde Ihnen beweisen, wie sehr ich Sie liebe. Ich werde etwas tun, was ich für niemand anders täte – ich werde mit Madame sprechen, ich werde sie zwingen, ihren Urteilsspruch zu widerrufen, ja, wenn es sein muß, werde ich bitten!«
»O, Sire, demütigen Sie sich nicht um meinetwillen – lieber will ich sterben!« rief Luise, überwältigt von seiner großen Liebe. – »Ich werde lieben, wie Sie lieben, und ich werde leiden, wie Sie gelitten haben,« antwortete Ludwig. »So will ich sühnen, daß ich mein Gelübde vergaß! Ja, teures Fräulein, seien wir groß wie unser Schmerz, und stark wie unsere Liebe! Mein einziges Gut, mein Leben, folge mir!« – Sie sträubte sich nicht länger, sie ließ sich von ihm emporheben und hinaustragen. Draußen sah sie d'Artagnan. – »O,« murmelte sie schmerzlich, »so haben Sie mich doch verraten, Herr d'Artagnan. Sie hatten geschworen –«
»Ich hatte geschworen, dem König nichts zu sagen,« antwortete der Chevalier lächelnd. »Ich habe mein Wort gehalten, denn ich habe es nicht dem König, sondern Herrn von Saint-Aignan erzählt. Ich kann nichts dafür, wenn es der König gehört hat.« – Die Lavallière lächelte und reichte dem König die zitternde Hand. Ach, sie war ja nur zu glücklich, daß der Geliebte zu ihr gekommen war. – »D'Artagnan,« befahl der König, »lassen Sie eine Kutsche holen.« – »Sire, die Kutsche steht schon unten,« antwortete der Kapitän. – »Sie sind das Muster eines Dieners,« rief der König entzückt. Er trug das junge Mädchen auf seinen Armen hinab und hob sie in den Wagen. Dann ließ er sie in d'Artagnans Schutz und sprengte selbst zum Palast zurück, um alsbald Madame aufzusuchen.
Er war rot vom schnellen Ritt. Seine bestaubten, unordentlichen Kleider bildeten einen auffallenden Kontrast zu der sorgfältigen Toilette der Herzogin. Sie hatte die Aufregung der Szene im Empfangssaal noch nicht überwunden, und nun warf sein unerwarteter Besuch sie von neuem in die größte Verlegenheit zurück. Er ersparte sich jegliche Vorrede, setzte sich zu ihr und begann: »Königliche Hoheit, Sie wissen, Fräulein von Lavallière ist in ihrer Verzweiflung heute morgen entflohen und hat in einem Kloster Schutz gesucht.« – »Das erfahre ich jetzt erst von Eurer Majestät,« antwortete sie. – »Ich dachte, Sie hätten es heute früh beim Empfange der Gesandten erfahren,« sagte er. »Doch gleichviel! Warum haben Sie Fräulein von Lavallière weggeschickt?«
»Weil ich mit ihr nicht mehr zufrieden war,« antwortete sie. – Der König wurde blutrot, und seine Augen loderten auf. Doch hielt er an sich. – »Sie blamieren damit nicht nur das Mädchen, sondern dessen ganze Familie, und dazu bedarf es doch wohl eines sehr triftigen Grundes. Ein Ehrenfräulein wegschicken heißt, es eines Verbrechens, mindestens eines Fehlers beschuldigen. Welches Verbrechen hat Fräulein von Lavallière begangen?«
»Da Sie sich zum Beschützer dieses Mädchens aufwerfen, Majestät,« antwortete sie, »so will ich Ihnen eine Erklärung geben, die ich sonst niemand geben würde.« – »Wie? Niemand? auch dem König nicht?« rief Ludwig. »Madame, niemand in meinem Reiche darf sagen, er sei berechtigt, mir Erklärungen zu verweigern.« – »Ich nehme mir dieses Recht,« erwiderte sie trotzig, »und werde schweigen.« – Ludwig schämte sich schon ein wenig über seine Heftigkeit. »Madame, verstehen wir uns nicht falsch,« lenkte er ein, »Sie wissen, ich bin das Oberhaupt des gesamten Adels und habe über die Ehre aller Familien zu wachen. Wenn nun ein Ehrenfräulein – ob die Lavallière oder ein anderes –« Madame zuckte die Achseln. – »Ich wiederhole,« rief Ludwig, von neuem ungestüm, »ob sie oder eine andere durch Verbannung entehrt wird, so verlange ich eine Erklärung, damit ich dieses Urteil bestätigen oder verwerfen kann.«
»Verwerfen?« entgegnete sie stolz. »Wenn ich eine meiner Zofen wegschicke, so wollen Sie mir gebieten, sie wieder anzunehmen? Das war nicht nur ein Uebergriff, das wäre sogar eine Unanständigkeit!« – »Madame!« – »Jawohl! Wir reden ja unter vier Augen! Ich würde mich auflehnen gegen einen solchen Mißbrauch Ihrer Macht, der überhaupt gegen alle Würde ist, durch den Sie mich zu einer niedrigen Kreatur machen würden, noch niedriger als die, die ich fortschickte!«
Der König sprang voll Wut auf. – »Sie sind herzlos,« rief er. »Wenn Sie so an mir tun, so werde ich mit der gleichen Rücksichtslosigkeit gegen Sie verfahren.«
»Zur Sache, Sire!« antwortete sie, den Rückzug antretend. »Was verlangen Sie von mir?« – »Ich will zunächst wissen, inwiefern Fräulein von Lavallière gefehlt hat.« – »Sie hat Anlaß zu einem Duell gegeben, sie hat in einer Weise von sich reden machen, daß alle Welt empört ist. Ja, sie! denn unter dieser Hülle von Frommheit und Sanftmut birgt sich ein verschlagener, tückischer Geist. Ich kenne sie. Sie ist imstande, die ganze Königsfamilie gegeneinander zu hetzen. Hat sie nicht schon Zwietracht genug unter uns gesät? Wir beide zum Beispiel lebten in gutem Einvernehmen – sie hat mich bei Ihnen angeschwärzt.«
»Ich schwöre, es ist nie ein unwilliges Wort über ihre Lippen gekommen,« antwortete der König. »So zornig ich war, sie ließ sich dadurch nicht hinreißen, irgendwen anzuklagen. Ich versichere Ihnen, Sie haben keine ehrfurchtsvollere Freundin als sie!« – »Freundin!« rief Madame im Tone tiefster Verachtung. – »Madame,« versetzte der König erbittert, »ich sage Ihnen, die Lavallière wird das sein, was ich aus ihr mache, und wenn ich will, so setze ich sie auf einen Thron!« – »Er wird ihr wenigstens nicht durch Geburt zukommen,« antwortete die Herzogin kalt. »Sie können etwas tun für die Zukunft, aber nichts für die Vergangenheit.« – »Madame, Sie erinnern mich wieder daran, daß ich der Herr bin! Wollen Sie mir zugestehen, daß Fräulein von Lavallière zu Ihnen zurückkehren darf?« – »Wozu das, Sire, wenn Sie sie auf einen Thron setzen wollen?« – »Gut, ich muß wohl einen Waffenstillstand mit Ihnen schließen,« sagte Ludwig, wohl einsehend, daß er auf diesem Wege nicht zum Ziele kommen werde, »wollen Sie sich unserer Freundschaft erinnern, wollen Sie zu mir wie eine Schwester sein? Henriette! lassen Sie Ihr Herz sprechen! Denken Sie daran, daß Sie mich geliebt haben! Seien Sie nicht unbeugsam – um meinetwillen, Schwägerin, Schwester! Vergeben Sie der Lavallière!«
»Sire, alles in der Welt will ich für Sie tun – nur das nicht!« – »Treiben Sie mich nicht zur Verzweiflung – zwingen Sie mich nicht zum letzten äußersten Mittel – entfachen Sie nicht meinen Zorn – er könnte alles hinwegreißen–!« – »Sire, ich rate Ihnen Vernunft an.« – »O, Schwester, ich habe keine Vernunft mehr! Mitleid, Schwester! Es ist das erste Mal, daß ich bitte – meine letzte Hoffnung ist bei Ihnen!«
»O, Sire, Sie weinen!« – »Vor Wut, ja! vor Demütigung! Ich, der König, mußte mich erniedrigen, mußte bitten! Ich werde diesen Augenblick mein Leben lang verwünschen! Schwester, Sie haben mich in einer Sekunde mehr Böses erleiden lassen, als ich in der härtesten Bedrängnis meines Lebens erlitten habe!« – Der König stand auf und ließ seinen Tränen freien Lauf – Tränen des Zorns und der Scham. Madame empfand weder Rührung noch Mitleid; aber sie fürchtete, diese Tränen könnten alles Menschliche aus dem Herzen des Königs wegschwemmen.
»Sire, ehe Sie gedemütigt werden, muß ich mich der Demütigung unterziehen,« antwortete sie stolz, »befehlen Sie, ich werde dem König gehorchen.« – »Nun denn!« antwortete er, »nehmen Sie dieses arme Mädchen wieder an, vergeben Sie ihr?« – »Sie mag wieder in meinem Hause sein.« – »Und Sie werden sie aus Liebe zu mir gut behandeln, Schwester?« – »Ich werde sie behandeln, wie es einer Mätresse von Ihnen zukommt.«
Der König trat zurück. Durch dieses eine unglückselige Wort, das der stolzen Kokette entschlüpfte, vernichtete sie das ganze Verdienst ihres Opfers. Der König war ihr nichts mehr schuldig. – »Ich danke Ihnen, Madame,« sagte er, »und werde mich allzeit des mir erwiesenen Gefallens erinnern.« – Er verneigte sich förmlich und ging hinaus. An einem Spiegel vorübereilend, sah er, daß seine Augen gerötet waren, und stampfte mit dem Fuße. Es war zu spät; Malicorne und d'Artagnan, die an der Tür standen, hatten seine Augen gesehen. – »Der König hat geweint,« dachte Malicorne.
Der Kapitän aber näherte sich ehrfurchtsvoll und sagte leise: »Sire, Sie müssen über die kleine Treppe zurückkehren.« – »Warum?« – »Weil Sie noch Straßenstaub im Gesicht haben,« antwortete d'Artagnan. »Kommen Sie, Sire!«
3. Kapitel. Bragelonne in England
Graf Rudolf weilte in Hampton Court, dem herrlich am Ufer der Themse gelegenen Lustschloß Karls II. Der prachtvolle Park mit den weiten Rasenflächen und imposanten Baumgruppen war der Schauplatz seiner träumerischen Spaziergänge, seiner Seufzer, seiner schwermütigen Gedanken. Kein Wunder, daß er mit seiner Vorliebe für die Einsamkeit eine interessante Figur an dem leichtlebigen Hofe Karl II. bildete, wo man in kokettem Flirt zwischen Kavalieren und Hofdamen dem Hofe Ludwig XIV. um nichts nachstand. Kein Wunder, daß sich die Damen oftmals in ihren Gesprächen mit Rudolf beschäftigten und daß er auch das Thema war, über das sich die zwei jungen Mädchen unterhielten, die an einem schönen, sonnigen Tage am Themseufer lustwandelten.
»Liebe Graffton,« rief die eine mutwillig, »wenn wir uns nach dieser Seite wenden, so kommen wir zu der Bank, wo der junge Franzose einsam sitzt und seufzt.«
»Nein, dorthin gehe ich nicht,« antwortete Miß Mary Graffton. »Doch sage mir, liebe Lady Stewart, du weißt ja um die kleinen Geheimnisse des Königs – warum ist Herr von Bragelonne in England, und was macht er hier?« – »Mein Gott,« antwortete Lady Stewart, »sein König hat ihn zu unserm König geschickt. Er hat wohl nichts Wichtiges hier zu tun. Das Schreiben, das er unserm Herrscher überbracht hat, war sehr kurz und nichtssagend – oder sehr vielsagend, wie man's nimmt. Es lautete nämlich: ›Mein Bruder, ich sende Ihnen einen Edelmann, den Sohn eines Herrn, den Sie lieben. Behandeln Sie ihn gut und machen Sie ihm England angenehm.‹ Das habe ich über des Königs Achsel hinweg gelesen, Mary. Der König von Frankreich hat wahrscheinlich triftige Gründe, Bragelonne fernzuhalten und anderweitig – als in Frankreich – zu verheiraten.«
»Und deshalb hat Karl II. ihn also so fürstlich aufgenommen und behandelt ihn mit so großer Zuvorkommenheit?« – »Ja, und deshalb hat er dich mit ihm zusammengeführt. Du erscheinst ihm als das schönste Geschenk, das er dem Franzosen anbieten kann, du die Erbin von einer halben Million. Ich fürchte nur, Herr von Buckingham wird eifersüchtig werden.«
Als sie diese Worte sprach, trat Herzog von Buckingham, über die Terrasse schreitend, auf sie zu. »Sie irren sich, Miß Lucy Stewart, ich bin nicht eifersüchtig, wenn Miß Mary Graffton sich Herrn von Bragelonne widmet. Ja, ich bitte Sie, sich ihm jetzt wieder zu widmen, weil ich ein paar Worte mit Ihnen, Mylady, zu sprechen habe.« – Mit diesen Worten verneigte er sich vor Fräulein Graffton und ergriff dann zierlich Lady Lucys Fingerspitzen, um sie fortzuführen. Mary Graffton stand eine Weile zaudernd da, dann schritt sie quer über den Rasen zu jener Bank, auf der Rudolf von Bragelonne, in Gedanken versunken, saß.
»Man sendet mich zu Ihnen, mein Herr,« sprach sie. »Ist's Ihnen recht?« – »Und wem verdanke ich diese Ehre, Fräulein?« fragte Rudolf. – »Herrn von Buckingham,« antwortete sie. »Sie sehen, es scheint sich alles zu verschwören, uns immer wieder und wieder zusammenzuführen. Einmal läßt der König mich bei der Tafel neben Ihnen sitzen, ein ander Mal wieder heißt Buckingham mich Sie aufsuchen. Macht man's in Frankreich ebenso deutlich?«
»Miß Graffton, ich bin ja kaum ein Franzose,« antwortete Rudolf, ein wenig befangen, »ich habe viel in fremden Ländern gelebt, meistens im Kriegslager.« – »Und es gefällt Ihnen in England nicht?« fragte die Schöne. – Rudolf sagte nichts, erst nach einer Weile schaute er auf, erkannte wohl, daß das Fräulein eine Frage an ihn gestellt habe, und sagte: »Verzeihung, ich habe nicht gehört –« – »Man tat sehr unrecht, mich hierher zu schicken,« sagte Fräulein Mary. – »Ja, ich bin ein trauriger Gesellschafter, Gnädige. Sie langweilen sich bei mir. Aber wie kann Lord Buckingham Sie zu mir schicken – er liebt Sie doch, und Sie –«
»Nein, Buckingham liebt nur die Herzogin von Orléans,« antwortete Mary, »und ich hege auch keine Liebe zu ihm.« Rudolf sah das Fräulein erstaunt an. – »Aber dennoch hätte er mich nicht zu Ihnen schicken sollen, denn Sie lieben auch eine andere. Ihr Herz weilt in der Ferne, und kaum gönnen Sie mir das Almosen Ihres Geistes. Herr Graf, gestehen Sie es nur.« – »Ja, Fräulein, ich gestehe es,« sagte Rudolf. – Er war so schlicht und schön, sein Auge hatte so warmen Glanz, sein ganzes Wesen drückte so deutlich Freimütigkeit und festen Sinn aus, daß es einer ausgezeichneten Dame wie Mary Graffton nicht einfallen konnte, ihn für unhöflich zu halten. Sie begriff, er liebte mit der ganzen Innigkeit seines Herzens eine andere.
»Sie lieben ein Mädchen Ihrer Heimat,« sprach sie. »Weiß der Herzog von Buckingham um diese Liebe?«
»Nein? Warum sagen Sie es mir? Weil Sie glauben, ich hätte Sie vielleicht liebgewinnen können, und weil Sie viel zu sehr Edelmann sind, um einer flüchtigen Zerstreuung halber die Hand einer Dame zu nehmen. Ich danke Ihnen, Herr von Bragelonne. Wie sollte ich es Ihnen verargen, daß Sie eine Französin lieben? Bin ich doch selbst halb Französin; denn meine Mutter stammte aus Ihrem Vaterlande, Herr Graf. Ich habe auch jetzt noch eine Verwandte in Frankreich; eine Schwester. Sie ist Witwe. Marquise von Bellière – kennen Sie sie vielleicht?« Rudolf stutzte, als er diesen Namen hörte. Ja, er kannte sie dem Namen nach. Er wußte, daß sie die erklärte Geliebte des Herrn Fouquet war, und daß man von ihr erzählte, sie habe vor kurzem erst,, um den Oberintendanten aus einer argen Geldverlegenheit zu retten, all ihr Silbergeschirr und ihre sämtlichen Schmucksachen – man sagte, ihre Diamanten seien die schönsten von Paris – für anderthalb Millionen Livres an einen Goldschmied verkauft. – »Sie schreibt mir, sie liebe wieder und werde wiedergeliebt, also ist sie glücklich,« fuhr Mary Graffton fort. »Wir Grafftons haben sonst nicht viel Glück in der Liebe. Doch reden wir von Ihnen! Wer ist denn Ihre Geliebte?«
»Ein sanftes, blasses, armes Mädchen.« – »Aber wenn Sie von ihr geliebt werden, warum sind Sie so traurig?« – »Weil man mir sagt, sie liebe mich nicht mehr,« antwortete Rudolf. »Ich habe einen anonymen Brief erhalten; lesen Sie!« – Mary Graffton nahm das Schreiben, das der Vicomte schon hundertmal gelesen hatte; es lautete: »Vicomte! Amüsieren Sie sich wacker mit den Schönen in England, Sie tun recht daran, denn am Hofe Ludwigs wird die Hochburg Ihrer Liebe belagert. Bleiben Sie also für immer in London, armer Graf, oder aber kehren Sie schnell nach Paris zurück!«
»Anonym!« rief die Graffton. »Das ist gemein. Das glaubt man nie!« – »Täte ich auch nicht,« antwortete Rudolf. »Aber ich habe noch einen zweiten Brief erhalten, von einem guten, treuen Freunde. Als ich abreiste, sagte ich zu ihm: Wenn irgend etwas nicht in Ordnung sein sollte, dann schreibe mir nur die Worte: Komme zurück! Nun lesen Sie!« – Und Mary Graffton las: »Mein Freund! Ich bin verwundet und liege krank darnieder. Rudolf, kommen Sie zurück! Ihr Graf Guiche.« –
»Und was denken Sie nun zu tun?« fragte Mary Graffton. – »Ich habe den König um Urlaub gebeten. Aber der König antwortete, mein Gebieter hätte mich ja noch gar nicht zurückgerufen. Er hat recht – ich habe noch keinen Befehl zur Rückreise erhalten. Ich muß also bleiben.« – »Und Ihre Geliebte – schreibt sie Ihnen?«
»Niemals.« – »O, dann liebt sie Sie nicht! Doch still, der Herzog kommt.«
Buckingham erschien am Ende der Allee und kam lächelnd näher. – »Haben Sie sich nun verständigt?« fragte er. – »Worüber?« versetzte die Graffton. – »Ueber das, was Sie glücklich und Rudolf weniger unglücklich machen könnte, liebe Mary,« antwortete der Herzog. – »Mylord, Herr von Bragelonne ist glücklich,« entgegnete Mary. »Er liebt und wird wiedergeliebt.« – »Herr von Bragelonne,« antwortete Buckingham ernst, »steht vor einer schweren Katastrophe. Er hat es mehr als jemals nötig, daß man für sein Herz Sorge trägt.«
»Mylord, ich verstehe Sie nicht!« rief Rudolf, »erklären Sie sich deutlicher! – »Nach und nach,« erwiderte Buckingham. »Doch kann ich Miß Mary sagen, was Sie noch nicht hören dürfen.« – »Sie spannen mich auf die Folter, Mylord!« entgegnete der Vicomte. – »Mylord, ja! was quälen Sie ihn? Ich habe Ihnen doch gesagt, er liebt ein Mädchen seiner Heimat,« sagte Miß Graffton.
»Er hat unrecht. Denn er liebt ein Weib, das seiner unwürdig ist,« sagte Buckingham mit jenem Phlegma, dessen nur ein Engländer fähig ist.
Miß Mary stieß einen Schrei aus; Bragelonne erbebte. »Herzog, was sagen Sie da! Ich werde keine Sekunde säumen, mir die nähere Erklärung in Paris zu holen!« rief er. – »Sie werden bleiben,« versetzte Buckingham. »Denn Sie haben kein Recht abzureisen. Man vernachlässigt königlichen Dienst nicht um eines Weibes willen.« – »So geben Sie mir Aufschluß!« – »Das will ich tun. Ich werde offen mit Ihnen sprechen.«
In diesem Augenblick erschien ein Lakai des Königs und forderte den Herzog auf, sich zu Seiner Majestät zu verfügen. Der Herzog gehorchte und fand den König vor seinem Schreibtische. – »Kommen Sie herein, lieber Buckingham,« sagte Karl II., »und machen Sie die Tür zu. Wie steht es mit unserm Franzosen?« – »Ich bin seinetwegen in Verzweiflung, Majestät,« antwortete der Herzog. »Die reizende Mary Graffton möchte ihn gern heiraten, aber er will nicht.« – »Sehr einfach, so läßt er's bleiben,« sagte der König. – »Und dabei habe ich ihm schon angedeutet, daß seine Lavallière ihn hintergeht,« setzte Buckingham hinzu. – »Was sagte er dazu?«
»Er tat einen Sprung, als wolle er gleich über das Aermelmeer setzen,« sagte der Herzog. – »So ist er von neuem Willens abzureisen?« fragte Karl II. – »Anfangs schien es, als sei keine Macht der Erde imstande, ihn zurückzuhalten, aber Marys schöne Augen –« – »Nun, sieh, Buckingham,« unterbrach ihn der König, »niemand kann gegen seine Bestimmung. Und dieser junge Mann ist dazu bestimmt –« – »Bestimmt?« wiederholte Buckingham, »wozu?« – »Betrogen zu werden, was nichts ist, – und es mitanzusehen, was viel ist. Er kehrt nach Paris zurück.«
»Aber, Majestät, das ist ganz unmöglich!« rief Buckingham, »dieser junge Mann ist ein Löwe. Sein Zorn ist furchtbar, und wenn er sein Unglück vor Augen hat, dann wehe dem Urheber des Unglücks. Und ob es der König selbst ist, ich möchte dann nicht in seiner Haut stecken.« – »Hier lies und sage mir, was du an meiner Stelle tun würdest,« sagte Karl II. und reichte dem Herzog ein Schreiben, das ihm eben erst durch den Expreßboten aus Frankreich überbracht worden war.
Buckingham las: »Mein königlicher Bruder! Wenn Ihnen Ihre Ehre und meine Ehre und das Heil aller Unsrigen am Herzen liegt, so schicken Sie auf der Stelle Herrn von Bragelonne nach Frankreich zurück. Ihre Schwester Henriette Stuart, Herzogin von Orléans.« – »Was sagst du dazu, Villiers?« fragte Karl II. – »Nichts,« antwortete Buckingham. – »Du hast die Nachschrift nicht gelesen, Villiers. Es steht noch eine Zeile ganz versteckt am Rande.« – Buckingham sah noch einmal auf das Blatt und las die Worte: »Tausend herzliche Grüße allen, die mich lieben.« – Er erblaßte und sah zu Boden. Das Blatt Papier zitterte in seiner Hand.
»Bragelonne folge seinem Schicksal,« sprach Karl II., »wie wir dem unsern folgen mußten. Jeder trägt sein Kreuz auf dieser Welt. Ich habe sogar zwei tragen müssen, mein eigenes und das meiner Familie. Ich mache mir keine Sorgen mehr um andere Leute. Zum Teufel damit! Villiers, rufe mir den Franzosen!«
Bragelonne trat ein. »Herr Graf,« redete Karl II. ihn an, »Sie baten mich gestern um Urlaub, ich schlug es Ihnen ab mit der Begründung, der König von Frankreich habe Sie noch nicht zurückgerufen. Ich bin jetzt in der Lage, Ihrem Wunsche zu willfahren. Wenn Sie noch abreisen wollen, so können Sie es tun. Meine Erlaubnis haben Sie. Sie können heute abend noch in Dover sein. Um zwei Uhr früh ist Flut. Ich sage Ihnen also hiermit Lebewohl, Herr von Bragelonne, und wünsche Ihnen alles Glück. Empfehlen Sie mich mit herzlichen Grüßen dem Herrn Grafen de la Fère!« Er winkte huldvoll mit der Hand, Rudolf war entlassen. Buckingham folgte ihm.
In einem Vorsaal trafen sie Lucy Stewart und Mary Graffton. – »Miß Mary,« sagte Buckingham, »Herr von Bragelonne reist ab. O, bitten Sie ihn doch zu bleiben.« – »Ich werde ihn vielmehr bitten zu reisen,« antwortete Mary. »Ich gehöre nicht zu den Frauen, die mehr Stolz als Herz haben. Wenn er eine Geliebte in Frankreich hat, so kehre er dorthin zurück und segne mich dann, daß ich ihm geraten habe, treu zu bleiben. Wenn er in Frankreich nicht mehr geliebt wird, so kehre er nach England zurück, und ich werde ihn wieder lieben. Er wird durch sein Unglück in meinen Augen nichts verlieren. Das Wappen meines Hauses hat einen Spruch, nach dem ich immer gehandelt habe: »Dem Besitzenden wenig, dem Darbenden alles!«
»Ich bezweifle, Freund,« sagte Buckingham zu Rudolf, »daß Sie drüben so viel finden werden, wie Sie hier verlassen.« – »Ich hoffe wenigstens,« sagte Rudolf mit düsterer Stimme, »daß das, was ich liebe, meiner würdig ist. Ist es aber wahr, was Sie gesagt haben, und finde ich eine Unwürdige, so will ich sie aus meinem Herzen reißen, und sollte ich mir das Herz selbst mit der Liebe ausreißen!«
Nach diesen Worten verneigte er sich und ging.
»Ach, Herzog!« rief das junge Mädchen schluchzend und lehnte das Haupt an die Brust Buckinghams. »Er wird nie wiederkommen!« – »Nun denn, so sage ich Ihnen, Mary,« rief der Lord, »er findet in Frankreich sein Glück zerstört, seine Braut gehört einem andern, seine Ehre ist befleckt! Was wird ihm übrigbleiben, da er hier doch immerhin Ihre Liebe hat schätzen lernen?«
Miß Graffton sah träumerisch auf und sprach mit erstickter Stimme die Verse aus »Romeo und Julia«:
»Ich muß von hinnen und leben
Oder muß bleiben und sterben!«
Der König hatte recht gesprochen. Um zwei Uhr früh war Flut, und Rudolf von Bragelonne trat die Rückfahrt nach Frankreich an.
4. Kapitel. Frau von Chevreuse
Aramis, in seiner alten Tracht als Musketier, im malerischen Wams, mit dem Degen und dem breiten Hut – eine Erscheinung, der man den Bischof nicht ansah, – schritt in einer von Bäumen eingerahmten Allee wartend auf und nieder. Nicht lange, so fuhr ein Wagen vor, eine Dame stieg aus und wurde von einem bewaffneten Diener zu dem Chevalier geleitet. Sie hob den Schleier auf und enthüllte ein Gesicht, das nicht mehr jung und schön war, doch immer noch die stattlichen Züge einer einstmals imposanten Frau zeigte. Aramis reichte ihr graziös die Hand.
»Liebe Herzogin,« sagte er. »guten Tag!« – Es war beiden lieb, daß tiefer Schatten herrschte; sie hatten jeder für sich Ursache, ihr Mienenspiel nicht allzu deutlich zu zeigen. – »Mein lieber Aramis,« antwortete die Dame, »Sie haben seit unserm Zusammentreffen in Fontainebleau nichts mehr von sich hören lassen. Ich bekenne, es hat mich sehr gewundert, daß Sie in die Geheimnisse eines gewissen Ordens so vollständig eingeweiht waren. Sie haben mir das nicht erklärt, und wir sind doch so alte gute Freunde.«
»Werteste Frau von Chevreuse,« entgegnete d'Herblay, »trotzdem haben wir jetzt aber nicht mehr dieselben Interessen wie einstmals. Wie ist es Ihnen denn überhaupt gelungen, meine Adresse zu ermitteln?« – »Ich war neugierig, Chevalier,« antwortete Frau von Chevreuse. »Ich wollte wissen, was Sie jenem Franziskaner waren, mit dem ich zu tun hatte und der auf so sonderbare Weise gestorben ist. Als wir auf dem Kirchhof von Fontainebleau zusammentrafen, hat unsere Teilnahme für den armen Mönch uns beide so völlig unpersönlich gestimmt, daß wir ganz vergaßen, uns auszusprechen. Als wir uns getrennt hatten, tat es mir leid, und ich stellte Nachforschungen an – ich wußte ja, daß Sie ein Freund Fouquets seien, und so suchte ich Sie bei ihm.«
»Ein Freund – das sagt zuviel, Madame,« antwortete d'Herblay. »Ein armer Priester, den er begünstigt und der ihm deshalb treu ergeben ist.« – »Und den er zum Bischof gemacht hat,« fuhr Frau von Chevreuse fort; »für ihn haben Sie auch Belle-Ile zur Festung gemacht.« – »O nicht doch,« unterbrach Aramis sie lächelnd, »alles Kriegerische habe ich verlernt, seit ich ein Mann der Kirche bin.« Sie antwortete mit einem vielsagenden Lächeln. – »Genug! meinen Brief haben Sie in Saint-Mandé erhalten, wie ich sehe. Freuen wir uns gegenseitig, daß wir uns als gute alte Freunde wiedergefunden haben! Was brauche ich Ihnen da Schritt für Schritt aufzuweisen, wie ich Ihre Spur entdeckte? Sie hatten ja auch gar keine Ursache, sich vor mir zu verbergen, lieber Aramis. Und nun,« setzte sie hinzu, nachdem beide ein diplomatisches Lächeln getauscht hatten, »lassen Sie mich von der Angelegenheit sprechen, die ich mit Ihnen zu verhandeln habe.«
Er verneigte sich leicht und antwortete: »Es betrifft jenen Franziskaner, nicht wahr? Nun, was hatten Sie mit ihm?« – Sie sah ihn an, als wollte sie sagen: »Das wissen Sie jetzt jedenfalls ebensogut wie ich.« Aber sie antwortete nicht auf seine Frage, sondern stellte eine andere: »Sie wissen, daß meine Kinder mich zugrunde gerichtet haben?« – »O, welch ein Unglück, Herzogin!«
»Ja, mein Kredit ist erschöpft, bei Hofe darf ich mich nicht mehr sehen lassen, Freunde habe ich keine mehr, und wenn ich nicht eine gewisse Pension bezogen hätte –«
»Vom Orden der Jesuiten?« warf Aramis ein. – »Ja. Der General, eben jener Franziskaner, ließ sie mir auszahlen. Ohne diese Pension wäre ich der Armut preisgegeben. Dafür mußte ich nun aber zum Schein auch Dienste leisten, und ich wurde beauftragt, für den Orden zu reisen. Sie begreifen, es war nur Formalität. Dennoch reicht diese Pension nicht aus, mein Landgut Dampierre wohnlich herzurichten und aus der Hand meiner Gläubiger, die es völlig mit Beschlag belegt haben, zu lösen.« – »Und die Königin-Mutter, die Ihnen so viel Dank schuldig ist, sieht das alles gleichgültig mit an?« fragte Aramis. »Haben Sie nicht versucht, sich wieder in Gunst zu setzen?« – »Der junge König hat die Antipathie geerbt, die sein Vater gegen mich hegte. Doch weiter! Ich kam also als Reisende des Jesuitenordens nach Fontainebleau – jener Franziskaner hatte mich hinbestellt. Sie wußten doch wohl, daß er der General des Jesuitenordens war?« – »Ich habe es vermutet, Herzogin.« – »Woher kennen Sie ihn denn?« – »Ich habe mit ihm zusammen in Parma Theologie studiert – wir wurden Freunde, doch sind wir später nicht mehr zusammengekommen, bis wir uns nach vielen, vielen Jahren in Fontainebleau wiedersahen.« – »Und ganz durch Zufall?« fragte die Herzogin lauernd. »Zufällig an demselben Tage, wo so viele Reisende des Ordens dort zusammentrafen?« – »Ganz durch Zufall,« erwiderte Aramis ruhig. »Ich war zu einer Audienz beim König beschieden, die mir Herr Fouquet vermittelt hatte, und auf dem Wege begegnete ich dem Franziskaner. Ich erkannte ihn – er war sehr krank und ist ja dann auch in meinen Armen gestorben.«
»Und hinterließ Ihnen eine so große Macht,« murmelte Frau von Chevreuse, »daß Sie in seinem Namen unbeschränkte Befehle erteilen.« – »Er trug mir nur einige Besorgungen auf,« erwiderte d'Herblay. – »Auch etwas für mich?« – »Ja. Ich sollte 12 000 Livres an Sie auszahlen lassen. Sie haben die Summe doch inzwischen erhalten?« – »Allerdings. O, lieber d'Herblay, man hat mir gesagt, Sie hätten die Weisung mit einer solchen Bestimmtheit und in so geheimnisvoller Weise erteilt, daß man Sie allgemein für den Nachfolger des Generals hält.« – Aramis errötete leicht. – »Ich erkundigte mich daraufhin beim König von Spanien und erfuhr, daß jeder neue Jesuitengeneral von ihm ernannt werden und Spanier sein muß. Sie sind kein Spanier und auch nicht vom König von Spanien ernannt worden.«
»Da sehen Sie also, daß Sie im Irrtum waren,« sagte Aramis. – »Nun ja, allein ich weiß auch, daß Sie Spanisch sprechen, drei Jahre in Flandern und fünf Monate in Madrid gelebt haben. Das genügt, um berechtigt zu sein, sich in Spanien naturalisieren zu lassen, wenn man nur will, und,« setzte sie in bedeutungsvollem Tone hinzu, »ich bin gut angeschrieben beim König von Spanien.« – »Ich nicht schlecht,« antwortete Aramis trocken. »Ich danke Ihnen, Herzogin.« – Sie schwieg verdrießlich. »Ich hätte Ihnen gern einen Dienst erwiesen,« sprach sie dann, »weil ich nämlich auch an Sie eine Bitte habe. Ich brauche Geld, um die Schuldenlast zu tilgen, die auf meinem Gute Dampierre lastet.« – »Wieviel?« – »O, keine kleine Summe.« – »Schlimm! Ich bin nicht reich, wie Sie wissen.« – »Sie nicht – aber der Orden, und wenn Sie General gewesen wären –« – »Jenun, ich bin es doch einmal nicht.« – »Immerhin haben Sie Herrn Fouquet zum Freunde.«
»Herr Fouquet,« antwortete d'Herblay, der wohl wußte, daß sie nun auf den Punkt gekommen war, auf den sie die Unterredung hatte hinlenken wollen, »ist sogut wie zugrunde gerichtet.« – »Ich hörte, aber ich glaube es nicht,« erwiderte sie, »denn ich besitze einige Briefe vom Kardinal Mazarin, die über gewisse sonderbare Rechnungen aufklären, über entlehnte Gelder, verkaufte Renten, kurz, ich erinnere mich nicht genau. Nur das eine steht fest, nach diesen Briefen Mazarins hat der Oberintendant 13 Millionen der Staatskasse entnommen. Eine heikle Geschichte!«
»Solche Briefe haben Sie?« fragte Aramis, »und haben Herrn Fouquet nichts davon mitgeteilt?« – »Lieber Aramis, solche Dinge verschweigt und verwahrt man, um erst an einem Tage der Not damit herauszurücken.« – »Und dieser Tag der Not ist nun gekommen?« – »Ich verhehle es nicht.« – »Und Sie müssen, so schwer es Ihnen wird, zu dieser Hilfsquelle greifen,« fuhr Aramis fort, »um sich Geld zu verschaffen.« – »Ich brauche Geld. Doch wenn ich Böses hätte tun wollen,« sagte Frau von Chevreuse, »so hätte ich, statt den Ordensgeneral oder Herrn Fouquet um die 500 000 Livres zu bitten, die ich haben muß –« – »500 000 Livres!« rief Aramis.
»Finden Sie das viel? Soviel brauche ich für Dampierre mindestens,« antwortete die Herzogin. »Statt also Sie oder den Oberintendanten zu bitten, hätte ich bloß zur Königin-Mutter zu gehen brauchen. Mit meinen Briefen wäre ich vorgelassen worden. Und von ihr hätte ich das Geld bekommen. Woran denken Sie?« – »Ich addiere,« sagte Aramis. – »Und Herr Fouquet subtrahiert. Ich versuche zu multiplizieren. Nun, wir drei Rechenmeister,« sagte sie lachend, »werden uns doch wohl verständigen können. Antworten Sie! Ist's ja oder nein?«
»Madame, es sollte mich sehr wundern, wenn Herr Fouquet zur Stunde noch über 500 000 Livres verfügte,« erwiderte Aramis kalt, »und sicherlich wird die Königin-Mutter für Sie tun, was der Oberintendant nicht tun kann.« – »Sie sagen also nein? Soll ich etwa selbst mit Herrn Fouquet über diese Briefe sprechen?« fragte Frau von Chevreuse, gleichwohl noch einmal einlenkend.
»Wie Sie wollen,« versetzte der Prälat. »Aber Herr Fouquet fühlt sich nicht schuldig, und wäre dies auch der Fall, so würde er zu stolz sein, es einzugestehen. Sie werden ihn mit Ihrer Drohung nur beleidigen.«
»Sie urteilen immer wie ein Engel!« sagte die Herzogin spöttisch. – »Also werden Sie Herrn Fouquet bei der Königin-Mutter denunzieren?« fragte Aramis. – »Denunzieren, o, welch häßliches Wort,« erwiderte die Chevreuse lächelnd. »Das sagt ein Diplomat? Partei nehmen gegen ihn – weiter nichts. Und bin ich bei der Königin-Mutter wieder in Gunst, so kann ich ihm allerdings gefährlich werden.« – »Herr Fouquet steht sehr gut mit dem König von Spanien, wissen Sie das?« entgegnete Aramis. – »Und infolgedessen auch mit dem Jesuitengeneral, wollen Sie sagen?« versetzte sie. »Der Orden wird mir also die Pension entziehen, die er mir bis jetzt gezahlt hat?« – »Das kann geschehen.« – »Ich werde mich zu trösten wissen,« sagte die Chevreuse. – »Es sind immerhin 48 000 Livres,« meinte der Bischof. »Und dann – Sie wissen, wenn man sich einmal mit dem Orden überworfen hat, so hat man einen schweren Stand. Wer Geheimnisse besitzt, die den Orden kompromittieren könnten, muß auf der Hut sein. Es gibt Gefängnisse, liebe Herzogin.«
Frau von Chevreuse heftete einen flammenden Blick auf Aramis. »Sehen Sie, das ist ernstlicher,« sagte sie nach kurzem Schweigen. »Ich werde mich in acht nehmen. Sagten Sie mir nicht auch, Herr Fouquet wäre schon jetzt sogut wie zugrunde gerichtet? Nach dem, was man spricht, wird er kaum zwei Monate noch Minister sein. Dennoch wäre eine Veröffentlichung der Briefe –« – »Herzogin,« schnitt Aramis ihr das Wort ab, »Sie kennen meine Meinung. Lassen Sie Gnade walten!«
Und er verneigte sich vor ihr und öffnete den Wagenschlag. Allein wenn er sie nun in der Ueberzeugung verließ, sie eingeschüchtert zu haben, so irrte er sich. Nur zum Schein hatte sie sich gefügig gezeigt. Die bejahrte Intrigantin ließ sich zu Herrn Colbert fahren. Man machte Schwierigkeiten, sie vorzulassen, denn der Bediente, der ihr ins Gesicht gesehen hatte, wußte, daß sein Herr keine alten Damen zu denjenigen Bekanntschaften zählte, von denen er Besuche in seinem Hause empfing. Da schrieb Frau von Chevreuse ihren Namen auf ein Blatt Papier – diesen Namen, der Ludwig XIII.
und dem großen Kardinal oft unangenehm in den Ohren geklungen hatte. Sie schrieb ihn mit der großen schwerfälligen Schrift der vornehmen Gesellschaft jener Zeit und reichte dem Bedienten das Blatt mit so gebieterischer Miene, daß der Mann, gewohnt, feine Leute zu wittern, in ihr eine Prinzessin vermutete und sie einließ.
Als Colbert ihren Namen las, stieß er einen Schrei aus, der dem Diener verriet, daß es tatsächlich ein außergewöhnlicher Besuch sei. Er wartete daher auch nicht erst den Befehl seines Herrn ab, sondern öffnete ohne weiteres Frau von Chevreuse die Tür. Sie blieb an der Schwelle stehen und betrachtete den Mann, mit dem sie zum ersten Mal zusammenkam. Sie kannte ihn schon vom Hörensagen und fand ihn so, wie sie ihn sich nach allem, was man von ihm erzählte, vorstellte: vierschrötig, mit einem auffallend dicken, runden Kopf, dichten Brauen und einem grob geschnittnen Gesicht, das gleichwohl imponierend wirkte durch die gewaltigen Proportionen der leuchtenden Stirn. »Ich habe da meinen Mann gefunden,« das war der Eindruck, den sie von ihrer Musterung gewann.
Sie trat näher und setzte sich, von Colbert dazu eingeladen. – »Herr Colbert, Sie sind Finanz-Intendant?« begann sie. »Und trachten danach, Ober-Intendant zu werden?« – »Frau Herzogin!« verwahrte er sich. »Wie können Sie glauben, ich suchte meinen Vorgesetzten zu verdrängen!« – »Verdrängen? Habe ich das Wort gebraucht? Wir Diplomaten sagen: ersetzen. Sie suchen Herrn Fouquet zu ersetzen.« – »Nun, wenn der König Herrn Fouquet absetzen sollte,« erwiderte Colbert, »dann ja.« – »Und wenn Sie Herrn Fouquet bis jetzt noch nicht ersetzt haben,« fuhr Frau von Chevreuse fort, »so geschah es, weil Sie es noch nicht konnten. Ich bin Frau von Chevreuse, dieselbe Frau, die mit Richelieu Politik gemacht hat, und Sie als Mann von Geist werden sich sogleich sagen, daß ich nur zu dem Zweck zu Ihnen komme, um Ihnen das zu geben, was Ihnen noch fehlt.«
»Madame,« antwortete Colbert gemessen, »ich muß Ihnen da im voraus sagen, es laufen seit zehn Jahren Anklagen über Anklagen gegen Herrn Fouquet ein, und doch hat man ihm noch nicht das Geringste anhaben können.« – »Aber Sie haben noch keine Anklage von Frau von Chevreuse erhalten,« entgegnete sie, »noch keine solchen Beweise, wie es die sechs Briefe des Kardinals Mazarin sind, die sich in meinen Händen befinden und in denen das Vergehen aufgedeckt wird–« – »Ein Vergehen, das Herr Fouquet begangen hat?« rief Colbert lauernd. – »Ein Verbrechen, wenn das besser lautet. Nichts anderes! Ei, Herr Colbert, Sie empfingen mich mit kalter, nichtssagender Miene – jetzt strahlt Ihr Gesicht. Ich bin entzückt, daß meine Eröffnung Sie so freudig erregt.« – »O, Madame, was schließt dieses Wort Verbrechen nicht alles in sich –?!« – »In erster Linie Ihre Ernennung zum Ober-Intendanten,« fuhr Frau von Chevreuse ruhig fort. »Und dann Herrn Fouquets Verbannung zu lebenslänglichem Gefängnis. O, ich weiß, was ich sage!« rief sie und unterbrach ihn mit einer kalten Handbewegung, als er sprechen wollte. »Ich habe nicht so sehr weit von Paris gelebt und bin über alle Vorgänge unterrichtet. Der König haßt Fouquet und wird ihn vernichten, sobald er Grund dazu hat. Und ihm diesen Grund in die Hände zu geben, mache ich mich anheischig gegen Zahlung von 500 000 Livres.«
»Ich verstehe,« antwortete Colbert. »Da Sie einen Verkaufspreis festsetzen, so spezifizieren Sie bitte auch die Ware.« – »Sechs Briefe von Herrn Mazarin, aus denen unwiderleglich hervorgeht, daß der Kardinal zusammen mit Herrn Fouquet den Staatsschatz um 13 Millionen Livres betrogen hat. Wollen Sie lesen?« – »Gern. Sie geben mir wahrscheinlich nur die Abschriften?« – »Selbstverständlich,« antwortete die Herzogin und zog ein Päckchen aus dem Busen. Colbert entfaltete die Briefe, las und rief: »Vortrefflich! Aber es ist hierin nicht gesagt, um welches Geld im besondern –« – »Ah,« antwortete die Herzogin, »wenn wir einig sind, so werde ich diesen sechs Briefen noch einen siebenten hinzufügen, der die letzten Aufschlüsse gibt. Ist es abgemacht?« – »Sofern Sie Ihre Forderung ermäßigen–«
»Wie, Sie feilschen?« – »Weil mir daran liegt, redlich zu bezahlen. Ich zahle in bar – aber nur 200 000 Livres.«
Frau von Chevreuse lachte ihm gerade ins Gesicht. Dann schien sie sich eines andern zu besinnen. »Warten Sie! ein Vorschlag,« sagte sie. »Geben Sie mir 300 000, und ich will damit zufrieden sein, wenn Sie mir außerdem noch –« – »O, es ist nicht davon zu reden, Herzogin,« fiel Colbert ihr ins Wort. – »Beruhigen Sie sich, ich will ja kein Geld weiter, sondern nur einen Empfehlungsbrief an die Königin-Mutter.« – »Madame, Ihr Name hat bei Hofe keinen guten Klang – es könnte mich kompromittieren.« – »Mein Name soll auch gar nicht genannt werden, Herr Intendant,« antwortete die Chevreuse. »Ich will von Ihnen nur ein paar befürwortende Zeilen für eine Bettelnonne aus Brügge, die Ihrer Majestät ein Heilmittel gegen den Brustkrebs geben kann, an dem sie hinsiecht. Das wird Ihrem Renommee nichts schaden. Im Gegenteil, mir eine Zusammenkunft mit der Königin-Mutter ermöglichen, heißt sie vom Tode erlösen.«
»Hinter Ihrer großen Liebe für Anna von Oesterreich steckt doch wohl auch ein kleines persönliches Interesse«, sagte Colbert. – »Verhehle ich das?« versetzte sie. »Ich will von Ihnen nur 300 000 Livres, weil ich hoffe, daß Anna von Oesterreich mir für mein Heilmittel 200 000 geben wird. So kommen die 500 000 zusammen, die ich für meine Briefe haben will.« – »Gut, Frau Herzogin,« stimmte der Intendant bei, »ich werde die Ehre haben, Ihnen 100 000 Taler auszuzahlen. Wie aber erhalte ich die Originalbriefe?« – »Sie können Sie sofort haben gegen Ihre Gutschrift auf diese Summe.«
Colbert schrieb eine Anweisung und reichte sie der Herzogin. »Da!« sagte er, »Sie sind bezahlt.« – Sie machte eine leichte Verneigung, griff in den Busen, und sagte: »Hier sind die Papiere!«
Colberts dicke schwarze Brauen stiegen an seiner Stirn auf und ab wie zwei Fledermausflügel. Er lachte düster, und Herr Colbert lachte fast nie. Madame von Chevreuse lachte ebenfalls. Sie war zufrieden mit dem Geschäft, erhielt das ausbedungene Empfehlungsschreiben und nahm Abschied, um alsbald zu Hofe zu fahren.
Anna von Oesterreich war sehr krank geworden. Sie hatte an diesem Abend vergebens auf den König gewartet und befand sich in sehr schlechter Stimmung. Frau von Motteville und die spanische Amme Molina bemühten sich umsonst, sie zu erheitern. Das Wetter am Hofe deutete auf einen Sturm. Auf den Korridoren und in den Vorzimmern wichen die Höflinge und Ehrendamen einander aus, um nicht in ein Gespräch gefährlicher Art hineingezogen zu werden. Die drei Frauen machten in heuchlerischen Redensarten – denn keine wagte ohne Hehl zu sprechen – ihrer Verstimmung über die Lavallière Luft.
»O, diese Kinder!« seufzte die Königin-Mutter. »Habe ich ihnen nicht alles geopfert?!« Und sie hob die Augen zu dem blassen Porträt Ludwigs XIII. empor. Ein tiefes Schweigen folgte auf diese Worte. Dann sagte die spanische Amme: »Majestät, es ist die Stunde, da die Bettelnonne aus Brügge empfangen werden sollte, welche vorgibt, ein Heilmittel für Ihr Leiden zu besitzen.« – »Ist sie da?« – »Sie wartet draußen.« – »Gut, ich bin bereit,« antwortete die Fürstin. »Motteville, Ihr Dienst ist beendet. Gute Nacht!« – Frau von Motteville küßte der Königlichen Hoheit die Hand und ging hinaus.
»Führ' das Weib vor,« befahl Anna von Oesterreich. – Da öffnete sich die Tür, die Gestalt einer maskierten Dame zeigte sich und eine feste, zugleich sanfte Stimme sprach: »Hier ist das Weib, Königliche Hoheit, ich bin eine Beghine aus Brügge und bringe das Mittel, das Sie heilen wird.« – »Reden Sie!« antwortete die Königin-Mutter. – »Nur unter vier Augen,« versetzte die Maskierte. – Anna winkte der Spanierin, und die Amme ging hinaus.
Die Fremde trat dicht an die Königin-Witwe, machte eine tiefe Verbeugung und sah sie durch die Oeffnungen ihrer Maske fest und lange an. Die Fürstin erwiderte diesen Blick mißtrauisch und sprach: »Ich bin sehr krank. Mir täte Heilung not.« – »Doch nicht hoffnungslos krank, Hoheit,« antwortete die angebliche Beghine. – »So wissen Sie, woran ich leide?« – »Hoheit haben Freunde in Flandern.« – »Und diese haben hergeschickt?
Nennen Sie sie.« – »Das ist nicht nötig,« antwortete die Nonne. »Ihr Gedächtnis, Hoheit, ist schon von Ihrem Herzen aufgeweckt worden.«
Anna hob den Kopf und suchte unter der dichten Maske und unter der geheimnisvollen Rede den Namen ihrer Besucherin zu entdecken. »Madame,« sagte sie dann, »man darf zu königlichen Personen nicht mit einer Maske vorm Gesicht sprechen.« – »Ich bitte mich zu entschuldigen,« antwortete die Fremde, »mein Gelübde bindet mich. Wir Schwestern haben geschworen, Leidenden zu helfen, ohne jemals unser Gesicht zu zeigen. Doch sollten Sie darauf bestehen, so müßte ich mich zurückziehen.« – »Es steht einer Leidenden nicht zu, die Tröstungen zu verschmähen, die Gott ihr sendet,« entgegnete Anna von Oesterreich. »Bleiben Sie also und reden Sie! Bringen Sie meinem Körper Linderung!«
»Lassen Sie uns zuerst von der Seele sprechen,« entgegnete die Beghine. »Sie leiden wohl auch seelisch. Es gibt verzehrende Krebsgeschwüre, Königliche Hoheit, nicht nur am Leibe – noch mehr an der Seele. Sie fressen den Geist an und zerreißen das Herz.« – »Die Uebel, von denen Sie reden,« antwortete die Königin-Mutter, »sind für uns Große der Erde unumgänglich. Wir wissen, Gott wird sie uns verzeihen, mögen sie noch so schwer sein. Soweit ich davon bedrückt bin, vermag ich sie noch zu tragen. Wenn Sie mir nichts weiter zu sagen haben als dies, so können Sie gehen. Ich mag eine Prophetin nicht anhören, denn ich fürchte mich vor der Zukunft.« – »Ich dachte vielmehr,« antwortete die Fremde, »Sie fürchteten sich vor der Vergangenheit.«
Anna von Oesterreich erhob sich und rief in kurzem, gebieterischem Tone: »Reden Sie – erklären Sie sich bündig und ohne Umschweife, oder –« – »Drohen Sie nicht, Königin! Sie werden sehen, daß ich Ihre Freundin bin! Ist Ihrer Majestät nicht vor 23 Jahren ein großes Unglück geschehen?« – »Ein großes Unglück –?« fragte die Königin, die Zähne aufeinanderpressend, »ich verstehe Sie nicht.« – »Wurde nicht am 5. September 1638 abends um acht Uhr der König geboren?« fuhr die Nonne fort. – »Und das nennen Sie ein Unglück?« versetzte Anna von Oesterreich, sich zur Ruhe zwingend.
»Das Unglück geschah danach, Majestät,« sagte die Beghine. »Eure Königliche Hoheit war in Gegenwart von Monsieur, Madame und den Prinzen und Prinzessinnen des Hauses entbunden worden. Man trug den neugeborenen Prinzen zum König, der wohlgemut soupierte. Die Freude war groß, die frohe Kunde lief in der Stadt um, alles Volk jauchzte. Eure Majestät waren allein mit der Hebamme und dem Diener Laporte und lauschten traumverloren auf das Geschrei des Dauphins, als Sie plötzlich selbst einen furchtbaren Schrei ausstießen und die Hebamme herbeiriefen. Die Aerzte speisten in einem entlegnen Zimmer. Es war ein Viertel nach elf Uhr. Im Palast schlief schon alles, die Ehrenposten waren eingezogen worden, es standen nur noch die nächtlichen Außenposten.«
Anna von Oesterreich hatte den Kopf tief gesenkt. Ein Schüttelfrost lief durch ihren Leib; sie schwieg und atmete laut. – »Die Hebamme untersuchte Eure Majestät und schickte darauf Laporte zu dem König, um ihn herbeizuholen. Der König trat in dem Augenblick ein, als die Hebamme Eure Majestät von einem zweiten Prinzen entband. O, Königliche Hoheit, warum so traurig? Wenn Sie nun dieses Kind von Hofe entfernten, weil es nur einen Dauphin geben durfte, so sind Sie deshalb keine schlechte Mutter. Nein! es gibt Leute, welche recht wohl wissen, wieviel Tränen Sie um diesen Nachgeborenen geweint haben, wieviel Küsse Sie ihm in das dunkle, armselige Leben mitgaben, zu welchem die Rücksicht auf das Wohl des Staates den Zwillingsbruder Ludwigs XIV. verurteilt hat. Der König zitterte für das Heil Frankreichs, als er nun zwei Kronprinzen, gleich an Alter und Rechtsansprüchen, hatte; doch Kardinal Richelieu machte der Sache rasch ein Ende, indem er erklärte: » Ein Kronprinz ist Friede und Sicherheit, zwei Prinzen sind Krieg und Anarchie.« Und er verbannte den Unglücklichen auf ewige Zeiten.«
»Sie wissen davon nur zu viel!« schrie Anna von Oesterreich, sprang auf und stürzte auf die Fremde zu, als wenn sie sie zerreißen wollte. »Sie dringen in Staatsgeheimnisse ein. Nur von Freunden, die uns verraten haben, können Sie in den Besitz dieses Wissens gelangt sein, und diese falschen Freunde sind dann ihre Mitschuldigen. Herab mit der Maske, oder ich lasse Sie durch den Kapitän der Garden verhaften! Dieses Geheimnis wird mit Ihrem Leben erlöschen!«
»Lernen Sie die Treue und Verschwiegenheit Ihrer verlassenen Freunde kennen, Majestät,« antwortete die Beghine und nahm die Maske ab. – »Frau von Chevreuse!« rief die Königin-Mutter. – »Mit Ihrer Majestät die einzige, die um das Geheimnis weiß.« – »Umarmen Sie mich, Herzogin!« rief Anna. »Wie konnten Sie so mit meinem Schmerz spielen?« – Sie lehnte das Haupt an die Brust der Chevreuse, und ein Quell bitterer Tränen entströmte ihren Augen. – »O, wie jung Sie noch sind, Königliche Hoheit!« rief die Herzogin. »Sie können noch weinen. Verzeihen Sie mir, daß ich von diesen alten Leiden mit Ihnen sprach. Reden wir von etwas anderem, wir zwei alten, durch die Bosheit der Menschen getrennten Freundinnen. Ja ja, Majestät, es war schwer, es war bitter für mich, Sie verlassen zu müssen, fern von Ihnen zu leben!«
»Ach ja, der König ist Ihnen nicht freundlich gesinnt, Herzogin, doch könnte ich im stillen –« Aber die Chevreuse lächelte verächtlich. Anna fuhr fort: »Sie taten gut daran, sich wieder sehen zu lassen, sei es auch nur, um das Gerücht von Ihrem Tode Lügen zu strafen.«
»Bin ich wirklich totgesagt worden?« – »Allerorten. Und ich habe es auch geglaubt. Sind wir nicht alle sterblich? Der Tod kommt oft ganz schnell und unerwartet.«
»O, Königliche Hoheit, wenn ich gestorben wäre,« sagte die Chevreuse ganz ruhig, »dann hätten Sie davon hören müssen. So schwere Geheimnisse verlangen Erleichterung des Herzens, ehe man in die Grube fährt, und dann würden Hoheit auch an meinem Sterbetage alle die Papiere zurückerhalten, die ich noch von unserm stillen, geheimnisvollen Briefwechsel aufbewahrt habe.«
»Wie? Sie haben das nicht verbrannt?« rief Anna von Oesterreich entsetzt. – »Majestät, nur ein Verräter verbrennt eine königliche Korrespondenz,« versetzte die Herzogin. »Ein Getreuer aber bewahrt solche kostbaren Schätze, bis er eines Tages vor die betreffende königliche Person hintritt und zu ihr spricht: Majestät, ich werde alt; wenn ich plötzlich sterbe, könnten die Papiere gefunden, die Geheimnisse entdeckt werden. Nehmen Sie die kompromittierenden Papiere zurück und verbrennen Sie sie selber.«
Anna von Oesterreich fing an zu begreifen. – »Besonders ein Schreiben Eurer Majestät kommt hier in Frage,« fuhr die Herzogin ruhig fort, »in welchem Sie von diesem lieben unglücklichen Kinde – das sind Ihre Worte – sprechen und mich bitten, es zu besuchen.« – Ein tiefes Schweigen folgte. – »Ja, ein unglückliches Kind,« rief die Königin-Mutter dann. »Ein trauriges Dasein und dann ein grausames Ende.« – »So ist es tot?« rief die Herzogin. – »Tot und vergessen, tot und verwelkt wie eine arme Blume!« antwortete Anna von Oesterreich. »Gestorben in den Armen des treuen Erziehers, der den Verlust nicht lange überlebt hat.« – »Das ist begreiflich,« murmelte die Chevreuse. »Ein schwaches Herz bricht unter der Last eines solchen Geheimnisses zusammen. Hoheit,« fuhr sie dann rücksichtslos fort, »ich habe mich vor einigen Jahren in Noisy-le-Sec nach dem Schicksal dieses Kindes erkundigt. Man sagte allgemein, es gelte nicht für tot. Ich erfuhr, es sei eines Abends im Jahre 1645 von einer vornehmen, maskierten Dame abgeholt worden; tags darauf seien der Erzieher und die Wärterin verschwunden.«
»Das ist auch richtig. Doch wenige Tage später starb das Kind an einer jener verhängnisvollen Krankheiten, die das Kindesalter bedrohen.« – »Wenn Majestät es sagen, so muß es wohl wahr sein,« antwortete die Chevreuse, »obwohl mir mein Gewährsmann versichert, das Kind habe an dem Tage, wo es abgeholt wurde, blühend ausgesehen. Doch ich scheine Eure Hoheit zu ermüden – das will ich nicht. Ich erlaube mir daher, mich zu verabschieden.«
»Bleiben Sie noch, Herzogin,« erwiderte Anna. »Plaudern wir ein wenig von Ihnen. Sie sind ja meine älteste Freundin. Wir müssen trachten, einander wieder näherzukommen, ehe der Tod uns scheidet.« – »Königliche Hoheit, ich kann ja nicht an den Hof kommen,« antwortete die Chevreuse, »doch wenn Hoheit mir einen Beweis Ihrer Freundschaft geben und mich auf meinem Gute in Dampierre besuchen wollten – doch nein, was sage ich da, Dampierre ist nicht in dem Stande, der zu einem Empfang Ihrer Majestät erforderlich ist –« – »Wäre das alles?« antwortete Anna. – »Majestät, was denken Sie? Es ist eine große Gnade, um die ich Sie da bitte.« – »Ich gewähre sie Ihnen von Herzen gern und würde mich freuen, wenn mein Besuch Ihnen Nutzen brächte.« – »Nutzen? O nicht doch!« rief die Herzogin frohlockend. »Freude, unvergeßliches Glück!« Und sie bedeckte die Hand der Fürstin mit Küssen. – »Wollen Majestät mir vierzehn Tage Frist lassen?« fragte sie dann. »Da ich in Ungnade bin, wird es mir nicht leicht fallen, die 100 000 Taler aufzutreiben, die ich unbedingt haben muß, um Dampierre in empfangsfähigen Zustand zu setzen. Wenn man erfahren wird, daß ich das Geld brauche, um Eure Majestät zu bewirten, so werden mir gewiß alle Kassen offen stehen.«
»Wie?« fragte die Königin-Witwe. »Sie brauchen 100 000 Taler, um Ihr Landgut reparieren zu lassen? Aber, Herzogin, die will ich Ihnen leihen.« – »O, ich wagte nicht –« – »So wahr ich Königin bin. Es ist ja keine nennenswerte Summe. Ich schreibe Ihnen sogleich eine Anweisung auf Herrn Fouquet, er hat mich noch nie im Stich gelassen.«
Frau von Chevreuse hatte ihren Zweck erreicht: sie hatte aus ihren beiden Geheimnissen die Summe gezogen, mit der sie für den Rest ihres Lebens auszukommen hoffte, und auch Colbert hatte seinen Zweck erreicht, indem er dadurch, daß er Frau von Chevreuse mit einem Teil ihrer Forderung an Fouquet weisen ließ, dem Oberintendanten abermals eine Schlappe zufügte.
5. Kapitel. Aufklärungen
So war denn Luise von Lavallière wieder am Hofe der Herzogin von Orléans. Außer den Eingeweihten wußte niemand etwas Genaues über ihre Zurückberufung zu sagen; ja man wußte nicht einmal bestimmt, ob sie wirklich verstoßen worden sei. Die Montalais, Malicorne, Saint-Aignan und der Kapitän der Musketiere hüteten sich wohl, mit ihrer Mitwissenschaft zu prahlen. Ebenso schwieg Madame über ihre Unterredung mit dem König und teilte niemand mit, auf welche Weise die Einigung zustande gekommen war. Die Erkenntnis, um welch gefährliches Geheimnis es sich hierbei handelte, ging bei den Höflingen und Hofdamen sogar so weit, daß sie nicht einmal Vermutungen anzustellen wagten. Man huldigte der Lavallière – aber man sah nichts von der Leidenschaft des Königs; man bemerkte den Zorn der Herzogin von Orléans, aber man wußte nichts über die Ursache.
Madame hatte nachgegeben, aber deshalb war Ludwig, der Liebende, seinem Ziele nicht um einen Schritt näher gekommen. Im Gegenteil! denn Madame hatte es sich in den Kopf gesetzt, ihm alle möglichen Schwierigkeiten in den Weg zu legen und ihm eine Zusammenkunft mit der Lavallière so gut wie unmöglich zu machen, sofern er es nicht auf einen offnen Affront ankommen lassen wollte. Ludwig war außer sich; er durchschaute alle ihre Machinationen und konnte doch nichts dagegen tun. Nach außenhin blieb sein Verhältnis zu seiner Schwägerin auf dem Boden der Höflichkeit, ja der Freundschaft, und doch gab es keine größere Feindschaft, als diese beiden Herzen, das eine in seiner Eifersucht, das andere in seinem Liebesdurst, gegeneinander hegten.
Aber zum Glück hatte Ludwig XIV. zwei Helfershelfer, die, ohne daß er sich durch die geringste Andeutung zu kompromittieren brauchte, das Verlangen seiner Seele erkannten und mit allen Mitteln zu befriedigen strebten. Malicorne, der ehrgeizige Freund der Montalais, wollte Karriere machen und erblickte in einem Kuppeldienst zwischen Ludwig und Luise das sicherste Sprungbrett. Da die Person des Königs ihm noch unerreichbar war, wandte er sich mit seinen Ratschlägen an Saint-Aignan, dem nichts mehr am Herzen lag, als seinen königlichen Herrn zufriedenzustellen. Der gute Hofmeister aber war von Natur ein wenig zaghaft und mußte ja in seiner Stellung auch scharf auf der Hut sein, um jede schiefe Situation zu vermeiden. Da kam ihm der findige Kopf Malicornes, der nie um Auskunftsmittel verlegen war, sehr zupaß, und ihren beiderseitigen Bemühungen konnte der glückliche Erfolg nicht lange fernbleiben, zumal Malicorne wiederum in der Montalais einen trefflichen Beistand hatte.
Madame ließ die Montalais und die Lavallière unmittelbar neben ihrem Schlafzimmer logieren, und nun begann die Montalais plötzlich im Traum zu sprechen, zu weinen, zu schreien, so daß Madame keine Nacht mehr ungestört schlafen konnte. Nervös wie sie war, schalt sie alle Morgen darüber, aber es half nichts; sie mußte die von ewigem Alpdrücken geplagte Montalais ausquartieren. Da es nun Vorschrift war, daß die Ehrenfräulein zu zweien in einem Zimmer schliefen, und die Montalais bisher stets die Lavallière zur Gefährtin gehabt hatte, so folgte Luise ihr nach. Man war in Verlegenheit um ein geeignetes Zimmer und fand schließlich eins unmittelbar über dem Gemach, das im Palast dem Herrn Grafen von Guiche eingeräumt war. Das war Madame aus gewissen Gründen sehr lieb; sie hatte in letzter Zeit begonnen, die Montalais zu ihrer Vertrauten zu machen, und hielt es für praktisch, diese Dame so nahe bei dem Grafen Guiche wohnen zu lassen. Allein der Graf war noch immer krank und konnte das Haus, in das man ihn als Verwundeten gebracht, noch nicht verlassen. Sein Zimmer, das zu ebner Erde lag, stand also leer.
Nachdem die beiden Ehrenfräulein in dem ersten Stockwerk einquartiert worden waren, stattete nun Saint-Aignan Herrn von Guiche einen Besuch ab, überbrachte ihm die Grüße des Königs und bat den Grafen, ihm einstweilen sein Palastzimmer einzuräumen. Graf Guiche hatte nichts dagegen, und der Hofmeister siedelte über und wohnte nun unter Fräulein von Lavallière. Das alles war auf Betreiben Malicornes geschehen, und Malicorne, der erfinderische, ging noch weiter. Er besprach sich mit einem Klempner und einem Tischler, die man mit verbundenen Augen in Saint-Aignans Zimmer führte. Während Madame mit ihren Damen einen Ausflug machte, gingen die beiden Handwerker an die Arbeit, stellten eine von dem unteren zum obern Zimmer führende Treppe her und brachten in der Decke eine Falltür an, deren Mündung im Parkett des oberen Fußbodens so sorgsam eingepaßt wurde, daß selbst ein mit solchen Geheimnissen vertrautes Auge nichts entdecken konnte. Vor die Falltür wurde noch ein Wandschirm gerückt, dessen Aufstellung niemand wundernehmen konnte, da es nur in der Ordnung war, daß sich die Damen einen kleinen Raum absonderten, der ihnen als Boudoir dienen konnte.
Die Falltür war auf beiden Seiten durch eine geräuschlos spielende Feder zu öffnen und zu schließen. Wenn nun auch das Zimmer der Lavallière stets der Kontrolle unterlag und niemals ein sicherer Aufenthalt für die Liebenden war, so konnten sie doch um so ungestörter zusammen sein, wenn die Lavallière sich in Saint-Aignans Zimmer begab. Der König war entzückt über die Anordnungen, die getroffen worden waren, die Bedenklichkeiten der Lavallière wurden leicht überwunden, und Ludwig sah sich am Ziel seiner heißesten Wünsche. Er konnte sich täglich mit ihr treffen, und seine beiden Helfershelfer waren diskret genug, ihn mit der Geliebten allein zu lassen.
Eines Tages ruhte sie wieder an der Brust ihres königlichen Geliebten. Eine süße Trunkenheit nahm beider Sinne gefangen, seliges Vergessen senkte sich über sie herab; für ihre Inbrunst war die Welt nicht mehr vorhanden, bis plötzlich die Lavallière erschrocken auffuhr. – »Sire, es klopft oben!« stammelte sie. »Ludwig, Ludwig, hören Sie nicht? man erwartet mich.« – »Wenn wir nur zusammen sind,« antwortete er, sie wieder an sich ziehend, »so mögen die andern warten.« – »Nein, nein,« rief sie und machte sich gewaltsam los, »ich höre die Stimme der Montalais.« Und sie eilte die Treppe hinauf, schlüpfte durch die Falltür und erschien hinter dem Wandschirm.
»Schnell, schnell!« rief die Montalais. »Er kommt herauf.« – »Wer denn?« – »Er! O, das habe ich vorausgesehen!« – »Aber wer denn?« stammelte Luise totenbleich. »Du marterst mich zu Tode.« – »Wer? fragst du noch?« antwortete ihre Freundin. »Bragelonne!« – Luise stieß einen furchtbaren Schrei aus. – Im selben Augenblick wurde die Tür aufgestoßen, und Rudolf erschien auf der Schwelle. »Ja, da bin ich, Luise!« rief er. »O, ich wußte es wohl, Sie lieben mich noch immer!«
Luise starrte ihn an, barg das Gesicht in den Händen und stammelte in wimmerndem Tone: »Nein, nein! kommen Sie mir nicht nahe!« – Rudolf blieb stehen, wie angewurzelt, wie erstarrt. – Die Montalais warf einen scheuen Seitenblick nach dem Wandschirm und flüsterte: »Die Unvorsichtige! Nicht einmal die Falltür hat sie hinter sich geschlossen.« – Sie wollte hinter den Schirm schlüpfen, da stürzte aus der Oeffnung der König hervor, kniete vor Luise nieder und schlang die Arme um ihre Knie. Er hatte Rudolf nicht gesehen – aber Rudolf sah und erkannte ihn, stob, wie vom Blitz getroffen, zurück und sprang die Treppe hinab. Nun hörte der König die Tritte und lief nach dem Korridor, allein Bragelonne verschwand, ehe Ludwig ihn sehen konnte.
Betäubt, erschreckt, wie von Sinnen, stürzte Rudolf davon. Er hatte den König zu den Füßen Luisens gesehen. Konnte er nun noch zweifeln? Nein! es war offenbar, alle Gerüchte, die ihn in Schrecken gesetzt hatten, beruhten auf Wahrheit. Luise war die Geliebte Ludwigs XIV. Obwohl nun eigentlich jede Frage überflüssig war, so begab er sich doch zu Herrn von Guiche, um ihn zu fragen, was er davon wisse. – »Guiche ist mein Freund,« sagte sich der Unglückliche, »er hat mir geschrieben, er muß mir etwas sagen können, und er wird mir nichts verheimlichen.« – Denn das eine war ihm ja noch ein Rätsel: wie der König so plötzlich im Zimmer Luisens hatte erscheinen können.
Graf Guiche trug noch den Verband, war aber bereits außer Bett. Er umarmte seinen Freund, er erzählte ihm, was ihm geschehen, er erging sich in allerlei Fragen nach Rudolfs Aufenthalt in London und war sichtlich beflissen, das Gespräch von dem Thema fernzuhalten, das Rudolf so sehr am Herzen lag. Endlich jedoch mußte er ihn die heikle Frage stellen lassen. »Sie haben mich hergerufen, Graf Guiche. Was haben Sie mir zu sagen?« – »Ich kann Ihnen nichts sagen,« antwortete der Graf. – »Mein Freund, wenn Sie etwas wissen, warum verhehlen Sie es mir?« versetzte Rudolf. »Wenn Sie nichts wissen, warum schrieben Sie mir?« Und er erzählte ihm ausführlich, was ihm soeben geschehen war. Aber Graf Guiche schüttelte nur traurig den Kopf. »Ich fühle mit Ihnen, Bragelonne,« sagte er, »ich kann mir denken, wie angstvoll Sie nach Aufklärung verlangen – doch ich kann sie Ihnen nicht geben. Fordern Sie nichts mehr von Ihrem unglücklichen Freunde.«
»Sie meinten, Guiche, wenn ich käme, würde ich sehen, nicht wahr? Nun, ich habe gesehen – ich sah Luise in Verwirrung – ich sah den König – nicht wahr, es ist der König?« – »Ich sage nichts darauf,« antwortete Guiche abermals. – »Guiche, Guiche, Sie bringen mich ins Grab!« stöhnte Bragelonne. »Reden Sie doch, Sie sehen ja, mein Herz verblutet.« – »Mein lieber Freund,« antwortete der Graf, »was ich Ihnen sagen könnte, erfahren Sie vom ersten Besten, den Sie fragen.
Mehr kann, mehr darf auch ich nicht sagen. Wollen Sie, daß ich mich durch ein unbesonnenes Wort in die Bastille bringe? Meine Pflicht war, Ihnen Nachricht zu geben, das habe ich getan. Wachen Sie nun selbst über Ihre Angelegenheit!«
Ein Lakai trat ein. »Man erwartet den Herrn Grafen im Porzellankabinett.« Graf Guiches Antlitz leuchtete auf. – »O,« murmelte Rudolf, als der Graf gegangen war, »ich schalt Madame eine Kokette. Aber in ihren guten Stunden liebt sie doch wenigstens und macht Guiche zum glücklichsten der Menschen! – Ich gehe zu d'Artagnan! er ist mein Freund und war noch nie einer von denen, die hinterm Berge halten.«
Der Kapitän war außer Dienst und saß in seinem Zimmer. Er las einen Brief, den er von Athos erhalten und der sich mit derselben Person beschäftigte, die jetzt, aufgeregt, mit fiebernder Stirn und kochendem Blute, zu ihm hereintrat. – »Rudolf, mein Junge!« rief d'Artagnan und drückte ihn stürmisch an die Brust. »Wie schön, daß du ha bist! Hat der König dich zurückgerufen?« – »Nein, ich bin so gekommen!« erwiderte Rudolf dumpf. – »Was?« brummte der Gaskogner und sah Rudolf vielsagend an. »Zurück ohne Befehl des Königs? Das verstehe ich nicht. Und was machst du für eine Leichenbittermiene? Hat man dir in England die Laune verdorben? Potzblitz! auch ich war in England und kam lustig wie ein Fink zurück. Was hast du für Verdruß?«
»Mein Gott, das wissen Sie doch recht gut, Herr d'Artagnan!« rief Rudolf. – »Woher soll ich denn das wissen?« versetzte der Chevalier. – »O, Herr d'Artagnan,« sagte Bragelonne. »Ich bin kein witziger Kopf wie Sie, und jetzt überhaupt bin ich wie zerschlagen, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. Helfen Sie mir.« – »Was fehlt dir denn aber?« – »Fräulein von Lavallière betrügt mich,« stieß Rudolf hervor. – »Wer hat dir das gesagt?« antwortete der Gaskogner trocken.
»Alle Welt.« – »Dann muß ja was Wahres dran sein,« brummte der Kapitän. »Wenn ich Rauch sehe, so glaube ich, daß es wo brennt. Allein ich menge mich nicht gern in solche Sachen, dafür kennst du mich.« – »Auch nicht für einen Freund, für einen Sohn?« rief Rudolf.– »Da du mein Freund bist, so will ich dir sagen,« antwortete d'Artagnan, aber er schlug sich auf den Mund und knurrte: »Nein, ich will dir nichts sagen. Wie geht es Porthos?«
»Herr d'Artagnan,« rief Rudolf, »im Namen der Freundschaft, die Sie mit meinem Vater verbindet –!«
»Teufel, die Neugierde plagt dich gewaltig.« – »Ich schwöre es Ihnen, es ist nicht Neugierde, es ist Liebe. Ich liebe Fräulein von Lavallière bis zum Wahnsinn.«
»Unmöglich! Du bist wie alle jungen Leute, du bist närrisch. Ein wirklich verständiger Mann läßt sich von seinem Herzen, ob es noch so gärte, nie vom rechten Wege abbringen. Potz Wetter! Wenn ich dir auch etwas sagte, du würdest mich nicht verstehen, und wenn du mich verständest, so würdest du mir doch nicht gehorchen.«
»O, probieren Sie es, Herr d'Artagnan!« flehte Bragelonne. – »Nun denn, so höre!« sprach der Gaskogner, »schnall die Sporen an und reite ein gutes Pferd müde.« – Rudolf wandte sich ab. »Man hat keine Freunde,« sagte er, »nur Spötter und Gleichgültige.« – »Und willst du etwa mein Freund sein, daß du mich zum Schwatzen zwingen möchtest!« rief der Chevalier. »Meinst du denn, wenn ich schon so unglücklich wäre, etwas zu wissen, ich würde so unklug sein, es dir mitzuteilen? Als ob ich nichts weiter zu tun hätte, als mich um Klempner und Tischler zu bekümmern.«
»Um was für einen Klempner? Um was für einen Tischler?« – »Ich weiß nicht. Man munkelt, ein Tischler hätte einen Zimmerboden durchlöchert und eine Treppe mit einer Falltür gemacht, und ein Klempner hätte sie eingesetzt.« – »Ha! im Zimmer der Lavallière, nicht wahr?« – »Du nennst immer wieder diese Person,« versetzte der Gaskogner. »Wer spricht von der Lavallière?«
»Nun, wenn es sie nicht betrifft, was geht es mich dann an?« rief Rudolf. – »Es soll dich ja auch gar nichts angehen. Du fragst nur, und ich gebe Antwort.«
»Das ist zum Sterben!« stöhnte der junge Mann. »Ich werde jemand aufsuchen, der mir die Wahrheit sagen wird.«
»Die Montalais? nicht wahr? Sprich nicht mit ihr, mein Junge. Du würdest nur ein Geheimnis preisgeben, das man zu deinem Schaden mißbrauchen könnte. Warte, wenn du kannst.« – »Ich kann nicht.«
Es klopfte an die Tür. Ein Musketier kam herein. »Ein Fräulein wünscht mit dem Herrn Kapitän zu sprechen.« – »Mit mir?« sprach d'Artagnan verwundert. »Sie trete ein.« Es war die Montalais. – »Ich suchte Herrn von Bragelonne,« sagte sie, »und man wies mich zu Ihnen. – »Ah, das trifft sich gut, Fräulein,« sagte der Chevalier, »er wollte eben zu Ihnen. Nun, so gehen Sie, Rudolf.« Er schob den jungen Mann zur Tür hinaus und flüsterte Aure zu: »Seien Sie gut und schonen Sie seiner!« – »Ah, ich will nicht mit ihm reden,« antwortete sie, »Madame läßt ihn holen.« – »O, das ist gut,« brummte der Kapitän. »Madame wird ihn kurieren.« – »Oder töten,« murmelte die Montalais. »Gott befohlen, Kapitän.«
Und sie lief Rudolf nach, der schon den Korridor entlangschritt. Er küßte ihr die Hand. – »Sie bringen Ihre Küsse da auf verlorenem Boden an,« sagte sie kalt. »Ich bürge Ihnen, sie werden Ihnen keine Zinsen tragen.« – »Aber Sie können mir doch sagen, Fräulein –«
»Madame wird Ihnen alles sagen,« antwortete sie. »Zu ihr führe ich Sie. Schleudern Sie nicht so wilde Blicke! Die Fenster haben hier Augen und die Mauern Ohren. Tun Sie mir den Gefallen und reden Sie mit mir recht laut vom Wetter oder vom Leben in England. Ich habe keine Lust, in die Bastille zu spazieren.«
Rudolf ballte die Fäuste, preßte die Zähne aufeinander und sprach kein Wort mehr, bis er vor Madame stand. Reizender als je ruhte Lady Henriette in einem Schlafsessel und spielte in dem seidenen Fell einer kleinen Katze. Sie schien in Träume versunken, die Montalais mußte sie anreden, dann erst sah sie auf und begrüßte Herrn von Bragelonne. – »Sieh da! Zurück aus England. Verlassen Sie uns, Montalais! Sie haben ein paar Minuten für mich übrig, Herr Graf?« – »Mein ganzes Leben gehört Ihrer Königlichen Hoheit,« antwortete Rudolf, der nichts davon erfahren hatte, daß Madame selbst es gewesen, die ihn hatte zurückkommen lassen.
»Herr von Bragelonne,« begann Madame nach kurzem Schweigen, »sind Sie gern zurückgekommen?« – »Und weshalb sollte ich ungern zurückgekommen sein, Hoheit?« antwortete er. – »Ein Mann Ihres Alters und ein so schöner Mann könnte dazu doch immer Ursache gehabt haben,« sagte sie lächelnd. »Oder sollte Gott Amor in England keine Stätte mehr haben?« – »Madame,« erwiderte Rudolf, »Sie wollen mir etwas sagen, und Ihr natürlicher Edelmut veranlaßt Sie, schonend vorzugehen. Nun, schonen Sie mich nicht, ich bin stark genug, alles zu hören – nur die Ungewißheit ist grausam.«
»Grausam auch die Gewißheit,« sagte die Herzogin leise. »Doch weil ich schon anfing – was hat Ihnen Herr von Guiche gesagt?« – »Nichts, Madame.« – »Nichts? Daran erkenne ich ihn; er wollte ohne Zweifel mich schonen. Aber d'Artagnan, von dem Sie eben kommen?« – »Sagte mir ebensowenig wie Guiche, Madame.« – Henriette machte eine Gebärde der Ungeduld. »Aber was der ganze Hof weiß, das wenigstens ist Ihnen bekannt?« – »Mir ist nichts bekannt.« – Henriette fühlte Rührung beim Anblick dieses Mannes, der so traurig und so tapfer war. – »Herr von Bragelonne,« sagte sie, »so will ich denn tun, was Ihre Freunde nicht zu tun wagten. Ich will als Ihre Freundin handeln. Sie tragen da den Kopf eines Ehrenmannes, und den sollen Sie nicht unter dem Spott jedes Witzlings beugen müssen. Hören Sie mich ruhig an!«
Und sie erzählte von jenem Gewitter, bei dem der König mit der Lavallière allein im Walde gewesen, von der Flucht Luisens nach Chaillot und von der Zurückberufung. – »Sie waren der Verlobte des Fräuleins,« schloß sie, »und als solchem teile ich Ihnen noch mit, daß ich heute oder morgen trotz dem König Fräulein von Lavallière fortjagen werde. Ich habe nicht länger Lust, auf die Tränen des Königs und seine verliebten Klagelieder Rücksicht zu nehmen. Mein Haus soll fürder nicht der Schauplatz solcher Umtriebe sein.«
Rudolf neigte den Kopf zur Erde; nur mit aller Kraft vermochte er sich aufrecht zu halten. – »Ich weiß, daß ich da schwere Beschuldigungen ausspreche,« sagte sie in sanfterem Tone, »doch werde ich nicht zaudern, sie Ihnen zu beweisen. Folgen Sie mir.« – Sie schritt mit ihm über den Hof auf die Wohnung der Lavallière zu. Das Schloß war um diese Stunde leer; der König war mit dem Hofstaate nach Saint-Germain gefahren. Madame hatte Unpäßlichkeit vorgeschützt, weil sie diese Gelegenheit benutzen wollte, um mit Bragelonne, um dessen Rückkunft zunächst sie allein wußte, zu sprechen. Sie konnte also sicher sein, die Zimmer der Lavallière und Saint-Aignans leer zu finden.
Mit einem Nachschlüssel öffnete sie die Zimmertür ihres Ehrenfräuleins. Sie traten ein und schlossen hinter sich zu. – »Sie wissen, wo Sie sind?« fragte Lady Henriette. – »Ich erkenne das Zimmer wieder,« antwortete er. »Es ist das des Fräuleins.« – Die Prinzessin schritt zu dem Wandschirm, rückte ihn beiseite und bückte sich zum Fußboden nieder. Ein Fingerdruck – und Rudolf sah eine Falltür aufspringen, die eine Treppe enthüllte. – »Sehr sinnreich, nicht wahr?« rief sie. »Der Druckknopf ist kaum zu erkennen. Beim vierten Blatt des Parketts, wo sich ein Knoten im Holz befindet. Die Feder spielt sehr leicht, damit auch eine kleine Damenhand sie in Tätigkeit setzen könne. Folgen Sie mir weiter!«
Und Rudolf stieg mit ihr die Treppe hinab und gelangte in das untere Zimmer, das selbst dem nüchternsten Auge als Treffpunkt eines Liebespaares erscheinen mußte. – »Es ist Herrn von Saint-Aignans Zimmer,« sagte Madame. »Es traf sich zufällig, daß es frei stand, und der Hofmeister des Königs zögerte nicht, hierhin überzusiedeln.«
Bragelonne glaubte, das Herz breche ihm. Er wankte und sank auf einen Stuhl. Sein letzter Zweifel war zerstört, die letzte schwache Hoffnung vernichtet. Das Luftschloß, in dem er seit vielen Jahren schon von Glück und Liebe träumte, stürzte in Trümmer und begrub ihn unter sich. – »Vergebung, Madame!« stammelte er. »Ich weiß, ich sollte in Ihrer Gegenwart mehr Herr über mich sein. Aber möge der Gott des Himmels und der Erde Sie nie mit einem solchen Schlage heimsuchen, wie mich in diesem Augenblick!« – »Herr von Bragelonne,« antwortete sie, »es wäre mir schmerzlich gewesen, Ihr ganzes Leben durch Treulosigkeit verbittert, durch Hohn befleckt zu sehen. Deshalb rief ich Sie aus London zurück – ja! ich selbst schrieb an meinen Bruder in dieser Sache. Hier habe ich Ihnen nun die Beweise geliefert die Sie heilen müssen, so schwer die Operation auch sein mag. Aber Sie werden sie bestehen, wenn sie ein Mann von Mut und kein weinerlicher Amadis sind. Danken Sie mir nicht – denn ich tat es selbst nur sehr ungern – und dienen Sie um nichts weniger Ihrem König.«
»Ah, ich vergaß es fast,« murmelte Bragelonne düster, »es ist ja der König, mein Gebieter!« – »Und deshalb handelt es sich für Sie um Leben und Freiheit!« setzte Madame hinzu. – Ein flammender Blick Rudolfs verriet der Herzogin, daß der junge Mann nach beidem nicht mehr fragte. – »Seien Sie auf der Hut, Herr Graf,« sagte sie. »Wägen Sie Ihre Handlungen sorgsam ab, bringen Sie den König nicht in Zorn, Sie würden damit sich und die Ihrigen ins Unglück stürzen. Beugen Sie sich – heilen Sie sich!« – »Dank, Madame!« erwiderte der junge Mann. »Noch eine Frage! Wie haben Sie das Geheimnis dieser beiden Zimmer entdeckt?« – »Das war sehr einfach. Ich habe stets doppelte Schlüssel zu den Gemächern meiner Damen, um sie jederzeit überwachen zu können,« antwortete Lady Henriette. »Nun wunderte es mich, daß die Lavallière sich so oft auf ihr Zimmer zurückzog, daß Saint-Aignan eine andere Wohnung nahm, und zwar merkwürdigerweise gerade unter der Lavallière, und daß an der Tagesordnung bei Hofe manches auffallenderweise geändert wurde. Ich mag dem König nicht zum Spielball dienen; ich mag nicht den Deckmantel für seine Liebschaften hergeben; denn nach der weinerlichen Lavallière wird es die übermütige Tonnay-Charente sein, das sehe ich schon kommen. Das ist keine meiner würdige Rolle. Deshalb entdeckte ich das Geheimnis, indem ich die Handwerker bestach, die hier gearbeitet haben. Und nun entschuldigen Sie mich. Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen und habe es getan. Sie sind gewarnt, bringen Sie sich nicht in Gefahr. Der Sturm steht über unsern Häuptern.«
»Erwarten Sie nicht, daß ich die Schmach, die man mir antut, ohne Widerrede hinnehmen werde!« versetzte Rudolf stolz. – »Sie sind Herr Ihrer Entschlüsse,« antwortete sie. »Nur nennen Sie die Quelle nicht, aus der Sie die Wahrheit schöpften.« – »Fürchten Sie nichts, Madame,« sagte Bragelonne mit bitterm Lächeln. Darauf riß er ein Blatt Papier aus seinem Notizbuch und schrieb darauf die folgenden Worte: »An den Grafen von Saint-Aignan. – Herr Graf! Sie werden den Besuch eines meiner Freunde erhalten. Rudolf Vicomte von Bragelonne.« – Er rollte den Zettel zusammen und schob ihn in den Spalt der zum Zimmer der beiden Liebenden führenden Tür. Auf dem Treppenabsatz verließ ihn Madame, und während sie in ihre Gemächer zurückeilte, sprach sie bei sich: »Hätte ich gewußt, wie nahe es ihm ginge, ich würde diesem armen Menschen die Wahrheit verschwiegen haben.«
6. Kapitel. Männerstolz vor Königsthronen
Ludwig XIV. hatte die Herren Fouquet und Colbert entlassen. Er fertigte die Staatsgeschäfte jetzt immer etwas rasch ab, um desto mehr Zeit für die Lavallière übrig zu haben. Mit Ungeduld wartete er auf Saint-Aignan, die einzige Person, mit der er von ihr sprechen konnte. – »Ah, Sie sind es, Graf!« rief er hocherfreut, als der Hofmeister eintrat. »Fouquet hat mich eben abermals nach Vaux eingeladen; und Sie werden mit von der Partie sein.« – »Ja, Majestät, wenn ich bis dahin nicht eine andere Partie machen muß, nämlich die Fahrt zum Styx,« antwortete der Kavalier. »Im Ernst, Sire! Ich bin dazu eingeladen worden, und zwar auf eine Weise, daß ich gar nicht weiß, wie ich davon loskommen soll.« – »Was willst du damit sagen?« fragte der König, betroffen über den Ton, den der Hofmeister anschlug. – »Damit will ich sagen, daß ich eine Forderung auf Pistolen von dem Vicomte von Bragelonne erhalten habe,« antwortete der Graf.
»Vom Vicomte von Bragelonne!« rief der König in höchster Bestürzung. Dann schwieg er, wischte sich den Schweiß von der Stirn und murmelte: »Von Bragelonne, dem Verlobten des Fräuleins von ...« – »O, mein Gott, ja,« versetzte Saint-Aignan, »von dem Verlobten des Fräuleins von ...« – Doch auch ihn unterbrach der König, ehe er aussprechen konnte. »Er war doch aber in London.« – »Ich weiß, indessen ist er jetzt in Paris, das heißt bei dem Kloster der Franziskaner, wo er auf mich wartet.« – »Also weiß er alles?« stieß der König hervor. – »Es scheint so,« sagte der Hofmeister. »Dieses Briefchen hier, in dem er mir den Besuch seines Sekundanten anmeldet, läßt es vermuten; denn ich fand es im Schloß der Tür, die zu dem Treppenzimmer führt.« – »So ist unser Geheimnis entdeckt!« rief der König achselzuckend. »Wie mag er dorthin gekommen sein?« – »Majestät, nur auf dem Wege der Treppe selbst – vom obern Zimmer durch die Falltür zum unteren Zimmer. Es ist gar nicht anders möglich!« setzte er hinzu, als der König Zweifel äußerte.
»Dann hat jemand das Geheimnis verkauft,« meinte Ludwig. – »Verkauft oder verschenkt,« sagte der Hofmeister. – »Wieso verschenkt?« – »Weil es gewisse Personen gibt, Sire, die zu hoch stehen, um sich wie Verräter bezahlen zu lassen.« – »Das geht auf Madame, nicht wahr?« fragte der König. »Und so meinst du, meine Schwägerin hätte Bragelonne von allem unterrichtet? Vielleicht gar ihn begleitet, ihn ins obere Zimmer geführt und von dort –?« – »Und von dort ins untere Zimmer, jawohl, Majestät,« antwortete Saint-Aignan. »Wissen Sie, Sire, ob Madame die Parfüms liebt?« – »Sie bevorzugt Eisenkraut,« sagte der König. – »Nun, und mein Zimmer hat nach Eisenkraut geduftet,« sprach der Hofmeister. »Doch, Majestät, die Stunde rückt heran; das Geheimnis soll in der Brust dessen sterben, der es sich angeeignet hat. Man muß gegen den Streich, den man uns gespielt hat, andere Streiche führen.« – »Ja, doch nicht von der Art, wie man sie im Walde von Vincennes führt,« antwortete der König streng.
»Majestät vergessen, ich bin ein Edelmann und gefordert worden,« versetzte der Kavalier. »Ich bin ehrlos, wenn ich ausbleibe.« – »Die größte Ehre eines Edelmannes ist der Gehorsam gegen seinen König,« entgegnete Ludwig XIV. »Du bleibst!« – »Sire!« – »Gehorche!« – »Eure Majestät haben nur zu befehlen.«
»Ich werde jetzt untersuchen, wer dieses kecke Spiel mit mir zu treiben sich erdreistet hat,« rief Ludwig zornig, »wer so frech in das Heiligtum der Dame gedrungen ist, die von mir geliebt wird. Das geht aber nicht dich an, denn man hat nicht deine Ehre angegriffen, sondern die meinige. Es ist hohe Zeit, gewissen Leuten zu zeigen, daß ich hier Herr im Hause bin.« – Kaum hatte der König diese Worte gesprochen, so trat ein Türhüter ein und sprach: »Majestät hatten befohlen, den Grafen de la Fère jederzeit vorzulassen, sobald er um Gehör bäte. Der Graf de la Fère ist hier und wartet.« – »Der Vater Bragelonnes,« murmelte der König und sah Saint-Aignan an. Doch nur einen Augenblick war er unentschlossen, dann sagte er: »Saint-Aignan, geh zu Luise und sage ihr, was geschehen ist, daß Madame abermals die Verfolgung aufnimmt und Leute ins Treffen führt, die besser daran täten, neutral zu bleiben. Wenn sie sich fürchtet, so sage ihr, die Liebe ihres Königs sei ein undurchdringlicher Schild, und ich würde sie diesmal nicht nur verteidigen,« setzte er, vor Zorn erglühend hinzu, »sondern rächen, und zwar so streng, daß fortan niemand mehr wagen wird, auch nur die Augen bis zu ihr zu erheben.« – »Ist das alles, Sire?« – »Ja, das ist alles, und bleibe mir treu, du, der du mitten in dieser Hölle stehst, ohne wie ich durch die Freuden des Paradieses entschädigt zu werden.« – Saint-Aignan küßte dem König die Hand und ging strahlend fort.
Ludwig faßte sich, um dem Grafen de la Fère ruhig gegenüberzutreten. Er fühlte voraus, daß eine heikle, schwierige Unterredung bevorstand. Athos, im Galaanzug, jenen Orden auf der Brust, den er allein am Hofe von Frankreich zu tragen berechtigt war, trat so ernst und feierlich ein, daß der König auf den ersten Blick erkannte, seine Ahnungen würden sich erfüllen. Er ging dem Grafen entgegen und reichte ihm lächelnd die Hand, auf die Athos sich voll Ehrerbietung niederbeugte.
»Herr Graf,« sprach der König, »Sie machen sich so selten, daß ich es als ein Glück betrachte, Sie bei mir zu sehen.« – Athos verneigte sich und antwortete: »Ich wünschte das Glück zu haben, stets bei Eurer Majestät sein zu können.« Und in dem Ton dieser Antwort lag der Zusatz: »Mein Rat würde Sie dann vor Fehltritten bewahren.« – Der König fühlte das, biß sich auf die Lippe und sprach: »Ich sehe, Sie haben mir etwas zu sagen.« – »Jawohl, denn sonst hätte ich es mir nicht erlaubt, die Zeit Eurer Majestät in Anspruch zu nehmen.«
»So reden Sie schnell,« antwortete der König und setzte sich, »es drängt mich, Sie zufriedenzustellen.« – »Ich bin überzeugt,« antwortete Athos, »Eure Majestät werden mir alle Genugtuung erweisen.«
»Wie?« rief der König stolz. »So haben Sie eine Beschwerde zu führen –« – »Es wird nur dann eine Beschwerde sein,« antwortete Athos, »wenn Eure Majestät – doch Verzeihung, Sire, ich will die Sache von vorn beginnen. Majestät werden sich erinnern, daß ich vor einiger Zeit die Ehre hatte, Sie um die Einwilligung zur Verheiratung meines Sohnes, des Grafen von Bragelonne, mit Fräulein von Lavallière zu bitten.« – »Da wären wir schon!« dachte der König. »Ja, ich erinnere mich,« sagte er laut. – »Und Majestät schlugen die Bitte ab,« fuhr Athos fort, »mit der Begründung, die Braut sei zu geringen Ranges, zu arm an Geld sowohl wie an Konnexionen und auch,« setzte de la Fère unerbittlich hinzu, »nicht schön genug.« – »Mein Herr, Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis,« sprach der König. – »Das habe ich immer,« erwiderte Athos, ohne sich aus der Fassung bringen zu lassen, »wenn mir die große Ehre zuteil wird, mit dem König zu sprechen.«
»Ihr gutes Gedächtnis wird Ihnen dann auch ohne Zweifel noch sagen,« entgegnete Ludwig, »daß Sie selbst diese Verbindung nicht wünschten und die Bitte widerwillig an mich richteten.« – »Das ist wahr, Majestät.« – »Ich erinnere mich sogar noch recht gut Ihrer eigenen Worte: ›Ich glaube nicht daran,‹ sagten Sie, ›daß Fräulein von Lavallière Herrn von Bragelonne liebt.‹ War es so?«
Athos empfand den Hieb. Aber er wich nicht zurück. »Das war so,« antwortete er. »Majestät erklärten damals, die erbetene Verheiratung solle nur aufgeschoben werden. Herr von Bragelonne ist gegenwärtig so tiefunglücklich, daß er sie nicht länger aufschieben kann. Ich komme daher, um Eure Majestät in seinem Namen jetzt um eine Lösung zu bitten.«
Der König erblaßte. Athos sah ihn fest an. – »Und was verlangt Herr von Bragelonne?« – »Er erneuert seine Bitte um Ihre Einwilligung zu seiner Heirat,« sprach Athos. »Die Schwierigkeiten sind für uns nicht mehr vorhanden. Obwohl ohne Rang, ohne Geburtsadel, ohne Schönheit, ist Fräulein von Lavallière die einzige Partie, die für meinen Sohn paßt, einfach aus dem Grunde, weil er nur sie liebt.« – Der König preßte die Hände ineinander. – »Ich schlage das Gesuch ab,« antwortete er.
De la Fère schwieg einen Augenblick, dann sagte er in sanftem Tone: »Möge es uns nun vergönnt sein, nach der Ursache dieser Weigerung zu fragen?« – Der König stemmte beide Hände auf den Tisch und antwortete mit fester Stimme: »Eine Frage, wenn der König sagt: ich will es so? Sie haben die Sitten des Hofes verlernt, Graf. Den König fragt man nicht um Begründung seines Willens.« – »Das ist richtig, Sire; allein wenn man nicht fragen darf, so vermutet man.« – »Was vermutet man?« rief der König. – »Sire, die Verweigerung einer Auskunft bedeutet einen Mangel an Offenheit,« sprach Athos fest. – »Mein Herr!« – »Oder an Vertrauen,« setzte der Graf rasch hinzu.
»Ich glaube, Sie verirren sich,« sagte Ludwig, der seinen Zorn nicht länger bezähmen konnte. – »Sire, ich muß dann wohl anderswo suchen, was ich bei Eurer Majestät zu finden hoffte. Wenn ich von Ihnen keine Antwort erhalte, muß ich sie mir selber geben.« – Der König erhob sich. »Herr Graf,« sagte er kurz, »ich habe Ihnen jetzt soviel Zeit gewidmet, als ich gerade frei hatte.« – Das hieß in die gewöhnliche Sprache übertragen: »Machen Sie, daß Sie hinauskommen.« – »Majestät,« antwortete Athos, »ich habe gleichwohl noch nicht Zeit gehabt, Ihnen das zu sagen, was zu sagen ich herkam. Ich sehe Eure Majestät so selten, daß ich die Gelegenheit wahrnehmen muß –«
»Sie sprachen von Voraussetzungen, Graf,« sagte Ludwig XIV., »und wollten zu Beleidigungen übergehen –« »Den König beleidigen?« rief der Graf. »Ich? Niemals! Ich habe mein ganzes Leben hindurch den Standpunkt vertreten, daß die Könige über den andern Menschen stehen, nicht nur durch Rang und Macht, sondern durch den Adel ihres Herzens, durch die Stärke ihres Geistes. Ich werde nie der Meinung Raum geben. Majestät verberge in dem Worte, das Sie sprachen, einen Hintergedanken.« – »Was für einen Hintergedanken?«
»Ich werde mich erklären,« antwortete Athos kalt. »Wenn Eure Majestät die von uns gewünschte Heirat aufschieben wollen und, statt das Glück Ihres treuen Dieners, des Grafen von Bragelonne, zu fördern, damit nur den Zweck verfolgen, den Bräutigam des Fräuleins von Lavallière von ihr fernzuhalten –«
»Sie sehen wohl, Sie beleidigen mich.« – »Das habe ich überall sagen hören, Majestät. Alle Welt spricht von der Liebe Eurer Majestät zu Fräulein von Lavallière.« – Der König zerriß seine Manschetten, an denen er seit einigen Minuten ungeduldig zupfte. »Wehe denen,« brach er aus, »die sich in meine Angelegenheiten mischen! Mein Entschluß ist gefaßt, ich greife durch! ich werfe alle Hindernisse nieder!« – Der König hielt plötzlich inne, wie ein Pferd, dem man mit scharfem Ruck Kandare gibt. – »Was für Hindernisse?« fragte Athos ruhig. – »Ich liebe Fräulein von Lavallière,« sprach der König mit ebensoviel Stolz wie Innigkeit.
»Das ist für Eure Majestät kein Hindernis, Herrn von Bragelonne mit ihr zu vermählen,« erwiderte Athos schlicht. »Ein solches Opfer ist eines Königs würdig, und Herr von Bragelonne verdient es, da er ein wackerer Mann ist und sein Leben schon oft für seinen König in die Schanze geschlagen hat. Indem der König seiner Liebe entsagt, beweist er zugleich Edelmut, Erkenntlichkeit und Staatskunst.« – »Aber Fräulein von Lavallière,« versetzte Ludwig, »liebt Herrn von Bragelonne nicht!« – »Das wissen Majestät?« fragte Athos mit einem durchdringenden Blick. – »Ich weiß es.« – »Erst seit kurzem jedenfalls. Denn hätten Majestät es schon bei unserer ersten Unterredung gewußt, so würden Sie es mir gesagt haben.« – »Erst seit kurzem.«
Nach einem peinlichen Schweigen sprach Athos: »Ich begreife nicht, weshalb Majestät Herrn von Bragelonne nach London sandten. Diese Art von Verbannung befremdet mit Recht alle, denen die Ehre ihres Königs am Herzen liegt.« – »Wer spricht von der Ehre des Königs?« rief Ludwig. – »Die Ehre des Königs, Majestät, ist untrennbar von der Ehre des gesamten Adels. Wenn der König einen seiner Edelleute beschimpft, das heißt, ihm ein Stück seiner Ehre nimmt, so bringt er sich selbst dadurch um dieses Stück Ehre.« – »Herr de la Fère!« – »Majestät haben den Grafen von Bragelonne nach London geschickt, nicht zu einer Zeit, da Sie Fräulein von Lavallière noch nicht liebten, sondern erst als Sie sie liebten!« – Der König wollte Athos mit einer Gebärde verabschieden; doch dieser fuhr fort:
»Majestät, ich gehe von hier nur fort, nachdem mir Genugtuung geworden entweder durch Eure Majestät oder durch mich selbst. Und Genüge wird mir getan sein, wenn Sie mir bewiesen haben, daß Sie im Recht sind, oder wenn ich Ihnen bewiesen habe, daß Sie im Unrecht sind. O, Sie werden mich anhören, Sire! Ich bin alt, ich halte auf alles, was in Ihrem Königreiche wahrhaft groß und ehrenvoll ist. Ich bin ein Edelmann, der sein Blut für Ihren Vater vergossen hat, und auch schon für Sie, ohne dafür jemals etwas von Ihnen oder von Ihrem Vater verlangt zu haben. Ich habe noch keinem Menschen auf dieser Welt Unrecht getan und habe mir Könige zu Danke verpflichtet. Sie werden mich anhören! Ich verlange von Ihnen Rechenschaft, weshalb Sie einen Ihrer Edelleute an seiner Ehre gekränkt haben, indem Sie ihn in erlogener Sendung fortschickten. Ich weiß, Sie wollen mich meiner Freimütigkeit wegen züchtigen, aber ich weiß auch, welche Strafe ich von Gott für Sie fordern werde, wenn ich ihm Ihren Treubruch und das Unglück meines Sohnes klage.«
Der König durchmaß mit großen Schritten das Zimmer, sein Auge flammte, seine Hand zerknitterte das Spitzenjabot, das seine Brust schmückte. – »Mein Herr,« sprach er, »stände ich Ihnen jetzt als König gegenüber, so würden Sie schon gezüchtigt sein; aber ich stehe vor Ihnen als Mensch, der das Recht für sich beansprucht, die zu lieben, von der er geliebt wird.« – »Fern sei es von mir, Eurer Majestät dieses Recht streitig zu machen,« erwiderte Athos, »das dem ärmsten Ihrer Untertanen zusteht; allein Sie hätten es sich auf ehrliche Weise nehmen und Herrn von Bragelonne davon in Kenntnis setzen sollen, statt ihn zu verbannen.«
»Ich glaube, ich lasse mich hier wirklich dazu treiben, mich zu verantworten,« rief Ludwig XIV. mit jener Majestät, die er in Blick und Stimme so meisterlich auszudrücken wußte. – »Ich hoffte allerdings, Sie würden mir antworten,« sagte de la Fère. – »Sie werden meine Antwort bald genug vernehmen,« rief Ludwig. »Sie haben vergessen, daß Sie den König vor sich haben, das ist ein Verbrechen.« – »Und Sie haben vergessen, daß Sie zwei Menschen umbringen, das ist eine Todsünde.«
»Gehen Sie jetzt!« – »Nicht eher, als bis ich Ihnen gesagt habe, Sohn Ludwigs XIII., Sie fangen Ihre Regierung schlecht an, denn Ihr Anfang ist Raub und Verhöhnung des Gesetzes. Mein Geschlecht und ich selbst sind aller Ihnen schuldigen Zuneigung ledig, und die Achtung vor dem König, die ich bei den Gräbern von Saint-Denis, vor den Särgen Ihrer erlauchten Ahnen meinem Sohn ans Herz legte, ist dahin. Sie sind unser Feind geworden, Sire. Wir haben künftighin nur noch einen Herrn, den da droben. Merken Sie sich das!«
»Sie drohen mir?« – »O, wahrlich nicht,« erwiderte Athos traurig. »Trotz kenne ich ebensowenig wie Furcht. Noch jetzt würde ich für das Wohl der Krone all das Blut verspritzen, das mir eine zwanzigjährige Bürgerfehde und auswärtige Kriege übriggelassen haben. Allein ich sage Ihnen, Sie richten zwei treue Diener zugrunde, indem Sie in dem Vater den Glauben, in dem Sohne die Liebe töten. Der eine glaubt nicht mehr an das königliche Wort, der andere nicht mehr an die Reinheit der Frauen. Der eine ist der Achtung, der andere des Gehorsams ledig. Gott befohlen!«
Nach diesen Worten zerbrach Athos seinen Degen über dem Knie, legte die Stücke auf den Boden und verneigte sich vor dem König, der vor Wut und Beschämung dem Ersticken nahe war. Dann ging er hinaus. Ludwig brauchte ein paar Minuten, um zu sich zu kommen, dann klingelte er ungestüm und rief: »Man schicke mir Herrn d'Artagnan!«
Rudolf hatte vergebens beim Franziskaner-Kloster auf den Grafen von Saint-Aignan gewartet. Als er nach Hause zurückkehrte, fand er einen Brief, in welchem der Graf ihm klar und bündig mitteilte, daß er auf ausdrücklichen Befehl des Königs es sich habe versagen müssen, mit Herrn von Bragelonne zusammenzutreffen. Rudolf wußte nun, woran er war, es war ihm nicht einmal vergönnt, den Diener statt des Herrn zu strafen. »Ohnmächtig! ohnmächtig!« stöhnte er, mit den Zähnen knirschend. »Ich muß den Groll, den Gram hinunterwürgen. Es gibt gegen die Majestät keine Genugtuung, es gibt keine Strafe für einen gekrönten Räuber und Schänder!«
Athos war, wie schon gesagt, von d'Artagnan benachrichtigt worden und nach Paris geeilt; dort kam Rudolf zu ihm und erzählte ihm alles. »Ich glaube nicht daran,« war die Antwort seines Vaters gewesen. »Der König sollte einen Edelmann beschimpfen? Unmöglich! Warte hier, ich werde dir und mir Gewißheit verschaffen.« Und nun war Athos zum König gegangen. Als er nach der Unterredung, die eben mitgeteilt wurde, zu Rudolf zurückkehrte, saß der junge Mann, düster und in Gedanken versunken, noch an derselben Stelle. Er sah auf und erkannte an dem finstern Ausdruck des blassen Gesichts, mit dem sein Vater hereintrat, daß die Zuversicht, mit der er zum König gegangen war, ihn betrogen hatte.
»Du hast recht, mein Sohn,« sprach der Graf de la Fère, »der König liebt sie.« – »Und bekennt es gar?« – »Frei und offen.« – »Und sie?« – »Ich habe sie nicht gesehen.« – »Aber der König hat doch von ihr gesprochen?« – »Ja, und mir beteuert, sie liebe ihn.« – »O, mein Vater!« –»Rudolf, mein Sohn, ich habe dem König alles gesagt, was du ihm sagen könntest, und eindrucksvoller, glaube ich, als du es vermocht hättest. Rudolf, ich habe es ihm ins Gesicht gesagt, zwischen ihm und uns sei nun alles aus, wir seien nicht mehr seine Diener, sondern seine Feinde. Mir bleibt nun nur noch eins zu wissen übrig. Was denkst du zu tun? Hast du deinen Entschluß gefaßt?« – Rudolf ließ die Arme herabsinken. »Mein Vater!« sprach er, »vielleicht gelingt es mir eines Tages, diese Liebe aus meinem Herzen zu reißen. Ich hoffe dabei auf Gottes Hilfe und auf Ihre weisen Ratschläge.« – Athos schüttelte den Kopf und murmelte: »Armes Kind!«
In diesem Augenblick meldete der Lakai Herrn d'Artagnan. Athos erschrak unwillkürlich. Der Musketier trat lächelnd ein. Die beiden alten Freunde wechselten einen raschen Blick, dann trat der Kapitän zu dem jungen Manne. Rudolf sah, unwillkürlich betroffen, von einem zum andern. – »Nun, Athos,« sprach d'Artagnan freundlich, »trösten wir den unglücklichen Burschen.« – »Wollen Sie mir bei dem schwierigen Geschäft helfen?« antwortete Athos. »Sie sind doch immer gütig.« – »Ja, deshalb komme ich,« sagte der Chevalier, Athos die Hand schüttelnd. – »Sie kamen gerade dazu, wie mein Vater mir von seiner Unterredung mit dem König erzählte, Herr Kapitän,« sagte Rudolf, »Sie gestatten wohl, daß er in seinem Bericht fortfahre.«
»Ah, Sie haben mit dem König gesprochen, Athos?«
»Ja, ich komme eben von ihm.« – »Wußten Sie nichts davon, Herr d'Artagnan?« fragte Rudolf. – »Meiner Treu, nein.« – »Nun, das beruhigt mich,« rief Bragelonne, »denn ich fürchtete, mein Vater hätte seiner Liebe und seinem Schmerz zu heftig Ausdruck gegeben, und der König sei dann –« – »Nun, was denn? was denn?
Sprechen Sie doch aus, Rudolf,« sagte d'Artagnan. – »Kurz, ich glaubte, Sie kämen nicht als Freund meines Vaters, sondern als Kapitän der Musketiere,« sagte Rudolf. – »Sie sind närrisch, armer Junge!« rief der Gaskogner lachend. »Und nun hören Sie noch einmal meinen Rat: zwingen Sie sich zur Ruhe! Schlafen Sie ordentlich aus und dann reiten Sie, bis Sie wieder schläfrig werden. Das ist die beste Medizin.«
Er zog ihn an sich und umarmte ihn, als sei er sein eigener Sohn. Bragelonne sah die beiden Männer noch einmal an, aber sein forschender Blick ward stumpf an dem lachenden Gesicht des einen und dem ruhigen, sanften Ausdruck des andern. – »Wohin gehst du jetzt?« fragte der Vater. – »Heim,« erwiderte der Sohn. – »So weiß man, wo man dich findet.« – »Glauben Sie, mir bald etwas sagen zu können?« fragte Rudolf. – »Ja, neuen Trost,« antwortete d'Artagnan und schob den jungen Mann zur Tür hinaus.
Rudolf begab sich in seine Wohnung. Unterwegs sah er nicht rechts noch links; sein Blick war in sein eignes Inneres gerichtet, und er suchte in der Nacht seiner Seele den rechten Weg zu finden. – »So ist es denn geschehen!« sprach er bei sich. »Es ist aus – mein Leben hat einen Riß bekommen – ist wie ein Gefäß, das eine böse Hand am Boden zerschellt hat. Es ist nur noch ein Traum, das große Glück, das ich seit zehn Jahren erhofft habe. Liebe und Glückseligkeit soll es für mich nicht geben. O, wenn ich sein könnte wie alle diese Spötter, die mir in den letzten Stunden das Herz zerrissen haben, dann würde ich lachen oder wohl gar meinen Nutzen aus dem allem ziehen. Bah! Was hat mein Vater getan, als er jung war und es ihm ebenso erging? Er hat mir's oft erzählt:
dem Trunk hat er sich ergeben. Warum soll ich nicht auch an die Stelle der Liebe das Vergnügen setzen? Ach, er hat ja aber ebenso gelitten wie ich, vielleicht noch mehr. Die Geschichte des einen Menschen ist die Geschichte des andern Menschen: eine längere oder kürzere Qual. Die Stimme der ganzen Menschheit ist nichts als ein langer Schrei. Ach, Luise, wir sind zusammen gewandelt durch den süßen Jugendmorgen unsers Lebens – und nun kommen wir an einen Kreuzweg, wo unsere Pfade sich scheiden – deiner führt in den Abgrund der Schande, meiner in den Abgrund des Leids. Vernichtet sind wir beide.«
Er langte zu Hause an und trat in sein Zimmer. Eine weibliche Gestalt erhob sich von einem Stuhle, schlug den Schleier zurück und trat vor ihn hin.
»Luise!« schrie er auf und wich zurück. – »Ja, ich bin es,« sagte sie leise. »Ich habe auf Sie gewartet. Ich mußte mit Ihnen reden – ganz allein. Und es muß geheim bleiben, Herr Graf, denn niemand außer Ihnen könnte begreifen, was ich da tue. Ich wage mehr als mein Leben, indem ich zu Ihnen komme. Setzen Sie sich und hören Sie mich an!« Ihre Stimme klang noch immer so süß, ihre Augen blickten noch immer so lieb und sanft. Rudolf preßte die Hand auf die Brust, schüttelte den Kopf und sank auf einen Stuhl. »Reden Sie!« stieß er hervor.
Luise fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen, dann sprach sie: »Rudolf, wenden Sie Ihren gütigen, freien Blick nicht von mir ab, Sie gehören nicht zu den Männern, die eine Frau verachten, weil sie einem andern ihr Herz schenkt. Nein, wenn auch meine Liebe zu jenem andern Sie unglücklich macht und Ihren Stolz verletzt, so werden Sie mich doch nicht verachten.« – Rudolf gab keine Antwort. »Ach, es ist nur zu wahr,« fuhr die Lavallière fort, »meine Sache steht schlecht, ich weiß nicht, wie ich beginnen soll. Ich werde Ihnen ganz einfach erzählen, wie es mir ergangen ist. Ich werde mich streng an die Wahrheit halten und so am besten alle Hindernisse, alles Dunkle überwinden, das sich mir dabei in den Weg stellen wird.« – Sie verstummte abermals, und Rudolf schwieg noch immer.
»O, ermutigen Sie mich doch durch ein einziges Wort!« Doch Bragelonne beharrte in seinem Schweigen, und Luise mußte fortfahren. »Herr von Saint-Aignan ist eben im Auftrag des Königs zu mir gekommen und hat mir gesagt –« dabei schlug sie die Augen nieder – »Sie wüßten alles und zürnten mir, wie es ja wohl auch nicht anders sein kann.« – Rudolf sah das junge Mädchen an – ein verächtliches Lächeln auf den Lippen. – »O, Rudolf, hegen Sie kein anderes Gefühl gegen mich als diesen Zorn!« rief sie aus. »Lassen Sie mich zu Ende sprechen! Fürs erste bitte ich Sie, den großherzigsten und edelsten der Männer, um Verzeihung! Wenn ich Sie auch nicht wissen ließ, was in mir vorging, so war es doch nicht meine Absicht, Sie zu hintergehen. O, Rudolf, ich bitte Sie auf den Knien, antworten Sie mir doch – und müßten Sie mich beleidigen! Lieber ein zorniges Wort als dieses verächtliche Lächeln!«
»So fein Sie auch die Worte spalten, Fräulein,« versetzte Rudolf, sich zur Ruhe zwingend, »ein Betrug bleibt eine Schlechtigkeit, deren ich Sie nicht fähig gehalten hätte.« – »Mein Herr, ich war lange Zeit des Glaubens, nur Sie zu lieben, und solange dieser Glaube währte, habe ich auch erklärt, ich liebte Sie. Der König kam nach Blois – und noch glaubte ich daran. Ich hatte es am Altar beschwören können. Dann aber kam ein Tag, der mir die Augen öffnete.« – »Und an demselben Tage, Fräulein, hätten Sie auch mir die Augen öffnen sollen, wenn Sie ehrlich handeln wollten.« – »An diesem Tage, da ich auf den Grund meines Herzens blickte, da ich eine andere Zukunft vor mir sah und erkannte, daß Sie mir nicht genügen würden, an diesem Tage waren Sie nicht bei mir.« – »Sie hätten schreiben können.« – »Das wagte ich nicht. Ich wußte, wie sehr Sie mich liebten, und zitterte bei dem Gedanken an den Schmerz, den ich Ihnen bereiten würde. Ach, Rudolf, diese Liebe schlug über mir zusammen wie ein Flammenmeer – ich gehörte mir selbst kaum noch – alle meine Gedanken, alle meine Gefühle waren wie ein Feuerbrand. Ich wußte mir selbst keinen Rat. Es ist ja meine einzige Entschuldigung, daß ich diesen andern mehr liebe als mein Leben, mehr als Gott! Verzeihen Sie mir oder zürnen Sie mir in Ewigkeit! Ich kam nicht hierher, mich zu verteidigen, sondern um Ihnen zu sagen: Sie wissen ja, was lieben heißt, nun, und ich liebe jenen andern so, daß ich ihm Leib und Seele opfere! Wenn er einmal aufhört, mich zu lieben, dann wird der Schmerz mich töten!«
»Gut,« versetzte Bragelonne, »Sie haben mir alles gesagt, was Sie mir zu sagen hatten – mehr noch, als ich zu erfahren wünschen konnte. Und nun bitte ich Sie um Vergebung, daß ich ein Hindernis in Ihrem Leben war, daß ich nicht nur mich selbst täuschte, sondern auch Sie veranlaßte, sich zu täuschen. Ich hätte klarer sehen sollen, da ich das Leben schon besser kannte als Sie. Auch ich kann zu meiner Entschuldigung nur meine große Liebe anführen. Luise, ich liebte Sie so innig, daß ich mein Blut tropfenweis für Sie hätte hingeben können, meinen Leib stückweis für Sie zum Opfer hätte bringen mögen. Ich liebte Sie so sehr, daß die Enttäuschung nun mein Herz zermalmt, allen Glauben in mir tötet. Mir ist, als sei ich blind geworden, Luise – die Nacht der Verzweiflung ist um mich her. Sie haben aus mir den unglücklichsten, den letzten der Menschen gemacht. Und nun – Gott befohlen!«
»Nicht, eh' Sie mir sagen, daß Sie mir verzeihen!«
»Habe ich es nicht schon getan?« rief er, die Hände vors Gesicht schlagend. »Ich sage Ihnen doch, ich kann nicht anders als Sie allezeit liebbehalten! Und Ihnen das sagen, Luise, Ihnen das in einem solchen Moment sagen, das heißt mein Todesurteil sprechen. Gott befohlen! Wir dürfen in dieser Welt einander nie mehr vor Augen kommen!«
Sie wollte rufen, doch er legte ihr leicht die Hand auf den Mund. Sie wollte diese Hand küssen – und wurde ohnmächtig. Bragelonne rief seinen Diener. – »Tragen Sie diese Dame zu Ihrer Kutsche!« befahl er. Als der Diener sie mit Rudolfs Hilfe aufhob, machte der Unglückliche eine Bewegung, als wollte er sie noch einmal ans Herz drücken, um ihr den ersten und letzten Kuß zu geben. Doch er bezwang sich und murmelte: »Nein! dieses Gut gehört nicht mehr mir. Ich bin nicht der König von Frankreich, daß ich rauben könnte.«
Als Rudolf seinen Vater und d'Artagnan verlassen hatte, sahen die beiden Freunde sich in die Augen. – »Und nun ohne Hehl,« sprach de la Fère, »Sie kommen, mich zu verhaften.« – »Getroffen,« sagte d'Artagnan. »Aber es hat keine Eile. Lassen Sie sich erzählen! Sie gingen gerade die letzten Stufen hinab, als der König mich rufen ließ. Freund, er war nicht mehr rot, er war violett. Ich sah auf dem Boden die Stücke eines zerbrochenen Degens, und nun wußte ich, was die Glocke geschlagen hatte. ›D'Artagnan!‹ schrie er mich an. ›Ich mag mit Herrn de la Fère nichts mehr zu tun haben. Er ist ein frecher Patron.‹ – ›Oho!‹ antwortete ich in einem Tone, über den er erschrak. – ›Kapitän,‹ rief er, ›Sie werden mich anhören und mir gehorchen.‹ – ›Wie es meine Pflicht ist,‹ war meine Antwort. – ›Nehmen Sie einen Wagen und verhaften Sie den Grafen de la Fère!‹ und da ich eine Bewegung machte, setzte er hinzu: ›Wenn es Ihnen nicht paßt, so kann ich auch meinen Gardekapitän rufen.‹ – ›Majestät,‹ sprach ich, ›Dienst ist Dienst, und damit gut! Ich warte nur noch auf den schriftlichen Befehl.‹ Das war dem Herrn nicht genehm, denn er mußte nun diesen Akt der Willkür schwarz auf weiß geben; dennoch schrieb er folgende Order: ›Kapitän d'Artagnan erhält Befehl, den Grafen de la Fère, wo immer er ihn antreffen mag, im Namen des Königs zu verhaften und in die Bastille zu schaffen.‹ So, nun wissen Sie es, alter Freund!«
»Also gehen wir!« antwortete Athos. »Ich habe hier nichts weiter zu besorgen. Erledigen wir die uns beiden widerliche Sache so rasch wie möglich. Muß ich vor oder hinter Ihnen gehen?« – »Wir gehen Arm in Arm.« Und d'Artagnan faßte unter und stieg mit dem Grafen die Treppe hinab. Gleich darauf saßen sie im Wagen, der rasch davonfuhr. – »Wir fahren geradeswegs zur Bastille?« fragte Athos ruhig. – »Wir fahren, wohin Sie wollen,« antwortete der Gaskogner ebenso ruhig. »Denken Sie etwa, ich will Sie dem Kerkermeister übergeben? Da hätte ich den Herrn Gardekapitän schicken lassen, statt selbst zu kommen.« – »Lieber Freund!« rief Athos, den Musketier umarmend, »daran erkenne ich Sie wieder!« – »Wir fahren also, wenn es Ihnen recht ist, zur Barrière du Cours-la-Reine, dort finden Sie ein Pferd – das beste, das ich auswählen konnte – und reiten schnurstracks nach Havre. Ich werde mich vor dem König erst wieder blicken lassen, wenn Ihr Vorsprung so groß ist, daß selbst ich Sie nicht einholen könnte. Von Havre fahren Sie nach England und begeben sich in das hübsche Haus, das General Monk mir zur Verfügung gestellt hat, oder genießen die Gastfreundschaft Karls II. Einverstanden?«
Aber Athos schüttelte den Kopf und antwortete: »Führen Sie mich in die Bastille!« – »Starrkopf!« rief d'Artagnan, »überlegen Sie sich das! Sie sind nicht mehr zwanzig Jahre alt. Ein Kerker ist für Leute in unsern Jahren tödlich. Ich denke nicht dran, Sie in einem Gefängnis schmachten zu lassen.« – »Die Ehre über alles, Freund!« entgegnete de la Fère. »Ich werde stark sein bis zum letzten Seufzer.« – »Das ist nicht mehr Stärke, das ist Wahnwitz.« – »Höchst vernünftig ist es. Glauben Sie mir, ich sorge mich gar nicht drum, daß Sie sich durch meine Rettung zugrunde richten. Ich hätte dasselbe für Sie getan. Entspräche die Flucht meinen Grundsätzen, so würde ich drein willigen. Aber es ist nicht drüber zu reden! und ich kenne Sie zu gut, um zu glauben, daß Sie in meiner Lage anders handeln würden. Mir liegt gerade dran verhaftet zu werden. Ließen Sie mich laufen, so würde ich selbst zurückkommen und mich stellen. Ich will diesem jungen Manne beweisen, daß er den Glanz seiner Krone verdunkelt, daß er nur dann der erste der Menschen ist, wenn er der Edelste und Weiseste ist. Indem er mich einsperrt und bestraft, mißbraucht er seine Gewalt, und ich will ihn fühlen lassen, was Gewissensbisse sind, und daß Gott den Ungerechten schwerer züchtigt, als je ein König einen Menschen züchtigen kann.«
»Bravo, Athos!« rief der Musketier. »Was Sie aus Heroismus tun, das hätte ich aus Dickköpfigkeit getan. Und wenn Sie überzeugt sind, Gott wird Sie rächen, so kann ich Ihnen versichern, ich kenne Leute auf Erden, die Gott dabei zur Hand gehn werden.«
Als sie vor Herrn Baisemeaux, den Gouverneur der Bastille, geführt wurden, war das erste, was sie erblickten: Aramis, der am Tische saß und mit Baisemeaux speiste. Man war allerseits sehr erstaunt, sich hier wiederzusehen. »Ei, welch ein Zufall!« rief d'Herblay sogleich, »wie kommt es nur –?« – »Danach wollten wir eben Sie befragen,« unterbrach d'Artagnan ihn rasch. – »Stellen wir lauter Gefangene vor?« rief Aramis heiter.
»Teufel ja, die Mauern riechen hier sehr nach Kerker,« antwortete der Gaskogner. »Doch nein, ich komme nur, weil Baisemeaux mich mal eingeladen hat, ihn zu besuchen. Sie tun ja, als wenn Sie aus den Wolken fielen, alter Freund!« setzte er hinzu, sich an den Gouverneur wendend, »haben Sie ein so schlechtes Gedächtnis? Sie waren zu mir gekommen und sprachen mit mir über gewisse Verpflichtungen gegen die Herren Tremblay und Louviere. Sie brauchten Geld und fragten nach der Adresse des Herrn d'Herblay.« – »Ah!« rief Aramis dazwischen. »Sie hatten also doch Angst, man würde Sie im Stich lassen, Baisemeaux?« – »Nicht doch, nicht doch!« versetzte der Gouverneur verlegen. »Ich fragte ja nur nach Ihrer Adresse. Ja, ja, Herr d'Artagnan, ich erinnere mich jetzt –«
»Und deshalb komme ich,« sagte der Gaskogner. »Und da ich unterwegs unsern alten Freund hier traf, so habe ich ihn mitgebracht.« – »Der Herr Graf ist mir willkommen,« sagte Baisemeaux mit einer Verbeugung. – Aramis sah von d'Artagnan zu Athos; ihm kam die Sache nicht recht geheuer vor, allein er fand die Lösung des Rätsels nicht. – »Lassen Sie den Herrn Grafen mitspeisen,« fuhr d'Artagnan fort, »ich armer Windhund muß meinem Dienst nachlaufen. Ich habe noch eine wichtige Besorgung, bin aber in einer halben Stunde wieder hier – so oder so, Athos,« setzte er leise hinzu. »Und plaudern Sie nichts aus, bei der Liebe Gottes!«
D'Artagnan verabschiedete sich mit diesen Worten, und Aramis hoffte nun den schlichten ehrlichen Athos auszuhorchen; aber der Graf besaß alle Tugenden: er konnte nicht nur trefflich reden, wenn es sein mußte, er konnte im Notfall auch ebenso trefflich schweigen; und diesmal sprach er keine Silbe. Die drei Herren saßen an dem mit allen Delikatessen gedeckten Tische, aßen, tranken und schwiegen. Und inzwischen war d'Artagnan mit dem Rufe: »Zum König, daß das Pflaster sprüht!« in den Wagen gesprungen und ins Palais zurückgefahren.
Ludwig XIV. gab sich Gedanken hin, die nicht sehr erfreulich waren; die Gewissensbisse, von denen Athos gesprochen, begannen sich schon leise zu regen. Er dachte an die Liebe der beiden jungen Leute, die er durch sein Dazwischentreten zerstört hatte, und bei diesem Gedanken peinigte ihn abermals die Eifersucht. Statt zur Kurzweil zu seiner Mutter, zur Königin oder zu Madame zu gehen, warf er sich in jenen breiten Lehnstuhl, in welchem sich sein erhabener Vater Ludwig XIII. so viele Tage und Jahre gelangweilt hatte. Da wurde der Türvorhang aufgehoben – es war kein Liebesbote von der Lavallière, wie Ludwig erwartete – es war der Kapitän seiner Musketiere.
»Ah, d'Artagnan!« rief der König. »Nun?« – »Befehl ausgeführt!« meldete der Musketier ernst. – »Was hat der Graf gesagt?« – »Nichts, Sire.« – »Wer er hat sich doch nicht verhaften lassen, ohne ein Wort zu sprechen?« rief Ludwig. – »Er sagte, er sei darauf gefaßt gewesen,« antwortete d'Artagnan. – Der König sah stolz empor und sprach: »Der Graf de la Fère hat doch nicht etwa seine rebellische Rolle weitergespielt?«
»Was nennen Majestät rebellisch?« fragte d'Artagnan ruhig. »Halten Sie den für einen Rebellen, der sich nicht bloß in die Bastille schleppen läßt, sondern sich sogar denen widersetzt, die ihn nicht dorthin führen wollten?«– »Die ihn nicht dorthin führen wollten?« rief Ludwig, »Sie sind wohl verrückt geworden?« – »Ich glaube nicht, Sire.« – »Na, hatten Sie etwa die Absicht, Herrn de la Fère nicht zu verhaften?« – »Allerdings, Sire!« – »Sie wollten trotz meines Befehls den Mann nicht verhaften, der mich beschimpft hat?« – »Ich war dazu fest entschlossen,« antwortete d'Artagnan. »Ich machte ihm den Vorschlag, ein Pferd zu besteigen, das ich für ihn bereitgestellt hatte, nach Havre zu reiten und sich nach England zu begeben.«
»Das ist Verrat, Kapitän!« rief Ludwig mit blitzenden Augen. – »Nichts anderes, Sire!« erwiderte der Musketier ganz gelassen. – Der König faßte sich; mit übermenschlicher Gewalt bezwang er seine lodernde Wut und sprach: »Sie müssen dazu zum mindesten einen Beweggrund gehabt haben.« – »Ich habe immer einen Grund, Sire,« versetzte d'Artagnan. – »Und der Grund der Freundschaft allein wäre hier keine Entschuldigung, denn ich stellte es Ihnen frei, von dem Befehl zurückzutreten.« – »Jawohl, Sire, aber Sie sagten, wenn ich es nicht machen wollte, so würden Sie Ihren Gardekapitän schicken – na, und der Gardekapitän hätte meinem Freunde doch gewiß nicht die Möglichkeit gelassen zu entfliehen.«
»Da sieht man Ihre Ergebenheit, Mann! Eine Treue mit Hintergedanken! Sie sind kein Soldat, Herr!«
»Wollen mir Majestät sagen, was ich bin?« – »Sie sind ein Frondeur!« rief Ludwig außer sich. – »Es gibt ja keine Fronde mehr,« antwortete der Gaskogner.
»Wenn aber das, was Sie sagen, wahr ist,« begann der König. – »Was ich sage, ist immer wahr,« unterbrach ihn der Chevalier. »Und ich sage hiermit: Graf de la Fère ist in der Bastille –« – »Und kam nicht durch Sie dorthin, wie mir scheint.« – »Das ist beinahe so, jawohl; aber kurz und gut, er befindet sich dort, und es ist vielleicht wichtig, daß Eure Majestät das wissen.«
»Ha, Herr d'Artagnan, Sie verhöhnen Ihren König?« – »Im Gegenteil, ich komme, um gleichfalls um meine Verhaftung zu bitten. Mein Freund langweilt sich in der Bastille, und ich bitte Eure Majestät, lassen Sie mich ihm Gesellschaft leisten. Eure Majestät brauchen nur ein Wort zu sprechen, und ich verhafte mich selbst; es bedarf dazu nicht des Gardekapitäns, dessen können Sie versichert sein.«
Der König stürzte zum Tische und ergriff die Feder. »Geben Sie acht, daß das nicht auf Lebenszeit ist!« schrie er. – »Darauf rechne ich eben,« erwiderte der Musketier. »Denn wenn Sie diese Absicht wirklich vollführt haben, werden Sie sich nie mehr getrauen, mir ins Gesicht zu sehen.« – Der König schleuderte die Feder weg und schrie: »Hinaus mit Ihnen!« – »Sire, nicht doch!« sagte d'Artagnan noch immer ganz ruhig, »ich kam, um in aller Güte mit Ihnen zu sprechen, Majestät geraten aber in Hitze, das ist schade; doch wird es mich nicht abhalten, Ihnen zu sagen, was ich zu sagen habe.« – »Ich entlasse Sie, mein Herr, ich entlasse Sie!« rief Ludwig.
»Sie wissen, Sire,« entgegnete der Chevalier, »daran liegt mir wenig, ich habe Sie schon einmal darum gebeten, als Eure Majestät in Blois dem unglücklichen König von England die Million ausschlugen, die ihm nachher mein Freund, der Graf de la Fère, gegeben hat. Sire, um meine Entlassung handelt es sich nicht. Eure Majestät hatten die Feder ergriffen, um mich zur Bastille zu verdammen. Warum änderten Sie Ihren Entschluß?«
»D'Artagnan, starrsinniger Gaskogner,« rief Ludwig, »wer ist König, Sie oder ich?« – »Sie, leider –« – »Was? Leider?« – »Ja, Majestät, denn wenn ich es wäre –« – »So würden Sie diese Rebellion des Herrn d'Artagnan ruhig hinnehmen –« sagte der König, die Achseln zuckend. – »Gewiß, Majestät, und ich würde den Kapitän meiner Musketiere mit den Augen eines Menschen, nicht mit zwei glühenden Kohlen anschauen und zu ihm sprechen: D'Artagnan, ich habe vergessen, daß ich der König bin. Ich habe meinen Thron verlassen und einen Edelmann beschimpft –« – »Herr! glauben Sie Ihrem Freund zu nützen, indem Sie seine Unverschämtheit überbieten?« rief der König.
»Ja, ich werde noch weiter gehen als er,« antwortete der Musketier, »und das wird Ihre eigene Schuld sein. Ich werde Ihnen das sagen, was de la Fère, dieser zartfühlendste aller Männer, nicht gesagt hat, nämlich folgendes: Sire, Sie haben seinen Sohn umgebracht, er hat seinen Sohn verteidigt; damit haben Sie auch ihn selbst zugrunde gerichtet. Er sprach im Namen der Ehre, der Religion, der Tugend; Sie haben ihn zurückgestoßen und gefangengesetzt! – Ja, ich werde noch härter sein und zu Ihnen sprechen: Sire, wählen Sie, wollen Sie Freunde oder Knechte, Soldaten oder Krummbuckler, große Männer oder Hanswurste? Soll man Ihnen dienen oder vor Ihnen im Staube kriechen? Soll man Sie lieben oder sich vor Ihnen fürchten? Wenn Ihnen Niedrigkeit, Intrige, Falschheit lieber sind, so sagen Sie es. Wir Kerle vom alten Schrot und Korn gehen dann, wir einzigen Ueberreste der ehemaligen Kraft und Tapferkeit. Wählen Sie, Sire, und zaudern Sie nicht. Erhalten Sie sich, was Ihnen an großen Männern noch übrig ist, Höflinge werden Sie immer genug haben. Schicken Sie mich zu meinem Freunde in die Bastille, denn da Sie den Grafen de la Fère nicht anzuhören verstanden, da Sie d'Artagnan nicht anhören können, die offene, derbe Stimme der Aufrichtigkeit, dann sind Sie ein schlechter König und werden morgen ein armer König sein. Die schlechten Könige verabscheut man, die armen vertreibt man. Das, Sire, wollte ich Ihnen sagen. Sie taten Unrecht, mich soweit zu treiben.«
Der König warf sich in den Lehnstuhl, starr und leichenblaß. Wenn ein Blitzstrahl zu seinen Füßen niedergefahren wäre, es hätte ihn nicht heftiger erschüttern können. Es war, als sei ihm der Atem ausgegangen. D'Artagnan aber nahm seinen Degen und legte ihn auf den Tisch. Der König machte eine wütende Gebärde und stieß die Waffe zurück, so daß sie auf den Boden fiel und dem Musketier vor die Füße rollte. So sehr d'Artagnan sich zu beherrschen vermochte, so erblaßte er jetzt doch und preßte vor Grimm die Zähne aufeinander. »Ein König kann die Ungnade über einen Soldaten aussprechen,« rief er, »er kann ihn verdammen und zum Tode verurteilen, aber wäre er auch hundertmal König, er hat nicht das Recht, ihn zu beschimpfen, indem er seinen Degen entehrt. Sire, noch nie hat ein König von Frankreich den Degen eines Mannes wie ich zurückgestoßen. Dieser befleckte Degen, Sire, merken Sie sich das, hat künftig keine Scheide mehr als Ihr Herz oder das meinige! Ich wähle meiniges – danken Sie dafür Gott und meiner Geduld!« Er riß den Degen empor und rief: »Mein Blut falle auf Ihr Haupt!« Dabei setzte er die Spitze des Degens an seine Brust.
Doch noch schneller stürzte der König hinzu, schlang den rechten Arm um den Hals des Musketiers, griff mit der linken Hand in die Degenklinge und schob sie schweigend in die Scheide. D'Artagnan, noch blaß, stumm und mit den Zähnen knirschend, ließ es geschehen. Dann kehrte Ludwig XIV. zum Tische zurück, schrieb ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und reichte es dem Kapitän.
»Sire, was ist das?« murmelte der Chevalier.
»Der Befehl an Herrn d'Artagnan, den Grafen de la Fère augenblicklich in Freiheit zu setzen,« antwortete Ludwig.
D'Artagnan ergriff die königliche Hand, küßte sie, steckte das Papier ein und stürzte hinaus. – »O, menschliches Herz, Kompaß der Könige!« sprach Ludwig vor sich hin. »Wann werde ich in deinen Falten wie in den Blättern eines Buches lesen können? O, nein, ich bin kein schlechter König – ich bin auch kein armer König. Aber ich bin noch ein Kind.«
Siebenter Teil. Die eiserne Maske
1. Kapitel. Aramis als Beichtvater
Herr d'Artagnan holte seinen Freund Athos zur größten Ueberraschung Baisemeaux' und d'Herblays aus der Bastille zurück, nicht ohne daß der Gouverneur dem Grafen versicherte, er verliere etwas, indem ihm das gute Leben im Staatsgefängnis versagt bliebe. Trotz seiner guten Bekanntschaft mit den beiden Herren unterließ er es nicht, sich davon zu überzeugen, daß der Freilassungsbefehl ebenso wie der Haftbefehl eigenhändig vom König geschrieben war. D'Artagnan wiederum unterließ es nicht, dem Herrn Bischof zu imponieren, indem er erklärte, der König täte alles, was er wollte, und da er die Freilassung des Grafen verlangt hätte, so sei sie erfolgt. Allein Aramis sah tiefer und erkannte, daß der Musketier log. Seine Aufregung, sein noch immer blasses Gesicht, sein nervöses Gebahren verrieten, welchen Sturm er überstanden.
Der Gouverneur und der Bischof blieben allein zurück. Aramis, entschlossen, dem merkwürdigen Zwischenfall keine unnützen Gedanken zu widmen, kehrte alsbald zu seinen eigenen Geschäften zurück. – »Herr Baisemeaux,« sprach er, »es ist mir bekannt, daß Sie zu einer geheimen geistlichen Organisation gehören, deren Mitglieder untereinander zu bestimmten Dienstleistungen und Verbindlichkeiten verpflichtet sind. Im besondern haben alle dem Orden angehörenden Gefängnisleiter und Festungskommandanten die Pflicht, zu den Kranken oder Sterbenden ihrer Anstalten einen dem Orden angehörenden Beichtvater zu rufen. Ich hielt es für angebracht, Sie auf diesen Paragraphen der Ordensstatuten hinzuweisen.« – »Er ist mir bekannt,« antwortete Baisemeaux, etwas kleinlaut. »Allein – bei mir liegt zur Zeit niemand krank oder im Sterben.« – »Wissen Sie das so genau?« fragte Aramis in seltsamem Tone.
Kaum hatte er gesprochen, so erschien ein Sergeant und meldete: »Der Gefangene Marchiali fühlt sich krank und verlangt nach einem Beichtvater.« – In den Augen des Bischofs leuchtete es auf. – »Ah!« rief Baisemeaux erstaunt. »Es ist gut, gehen Sie, ich werde für das Weitere sorgen.« Und als der Sergeant sich entfernt hatte, sah er den Bischof von Vannes an. »Was nun?« – »Tun Sie Ihre Pflicht,« antwortete Aramis. – »Ja, ich werde einen Boten schicken und mir einen Beichtvater ausbitten,« stammelte der Gouverneur in sichtlicher Verlegenheit. – »Es ist nicht nötig,« versetzte Aramis, »der Beichtvater bin ich.« – Diese Worte wirkten auf Baisemeaux wie ein Donnerschlag. Er wurde totenbleich; es war ihm zumute, als seien die schönen Augen d'Herblays zwei leuchtende Fackeln, die bis in die Tiefe seiner Seele drangen. – »O, Monseigneur,« rief er, »wie hätte ich ahnen sollen –? Was ordnen Sie nun an, Monseigneur?« – »Ich?« antwortete Aramis lächelnd, »nichts! Ich bin nur ein armer Priester, ein schlichter Beichtiger. Befehlen Sie mir, den Kranken zu besuchen?« – »O, Monseigneur, ich befehle es Ihnen nicht – ich bitte Sie darum,« stammelte der Gouverneur.
Aramis wurde zu Marchiali geführt. Der junge Mann lag in dem Bett, welches mit feinster Leinwand bezogen war; sein Kopf ruhte auf seidenweichen Kissen. Während sonst nach dem Gefängnisstatut zu dieser Zeit schon alle Zellen finster sein mußten, hatte Marchiali noch Licht. Die auf dem Tische stehenden Teller bezeugten, daß er das Abendessen kaum angerührt hatte. Als Aramis eintrat, veränderte der junge Mann seine Lage nicht. Er hob nur den Kopf und fragte: »Was will man von mir?« – »Sie haben einen Beichtvater verlangt?« antwortete Aramis, »sind Sie krank?« – »Ja,« sprach er. »Sind Sie einer? Sie waren schon einmal bei mir.«
Aramis verneigte sich. Offenbar gefiel dem jungen Manne der verschmitzte, kalte Charakter nicht, der sich in den Zügen des Bischofs von Vannes ausprägte. »Es wird nicht nötig sein,« sagte er, wenig geneigt, diesem Manne sein Vertrauen zu schenken, »es geht mir jetzt besser.« – »Sie haben ein Briefchen in Ihrem Brote gefunden,« sagte Aramis ruhig, »worin Ihnen eine wichtige Mitteilung verheißen wurde.« – Der junge Mann stutzte. – »Wenn Sie der Mann sind, der sich darin ankündigte,« sprach er, »so ist es etwas anderes. Ich höre.«
D'Herblay betrachtete ihn genauer und erstaunte über diesen Ausdruck schlichter, lieblicher Majestät, den man nie erlangt, wenn Gott ihn uns nicht ins Blut gelegt hat. – »Setzen Sie sich,« sagte er, und Aramis, sich verneigend, nahm Platz. – »Gefällt es Ihnen noch immer in der Bastille?« begann Aramis. »Beklagen Sie nach wie vor nichts?« – »Was soll ich beklagen?« erwiderte Marchiali. – »Daß Sie nicht frei sind,« sagte der Bischof.
»Was verstehen Sie unter Freiheit?« antwortete der Gefangene. – »Die Blumen sehen, die Luft atmen, den Tag erschauen, die Sterne betrachten, das Glück haben herumzulaufen, wohin uns zwanzigjährige Beine tragen können.«
Der junge Mann lächelte. Es wäre schwer gewesen zu sagen, ob mit Resignation oder mit Verachtung. – »Ich habe die schönsten Rosen aus dem Garten des Gouverneurs hier,« antwortete er. »Warum sollte ich mir andere Blumen wünschen? Mein Fenster steht viel offen, es fehlt mir nicht an Luft. Auch sehe ich durch das Fenster die Sonne und den Tag, den Mond und die Nacht. Ist das nicht genug? Man hat mir gesagt, es gebe Unglückliche, die in Bergwerken arbeiten müssen und die Sonne nimmer schauen. Und die Sterne? Ihr Flimmern hat oft meine Augen erquickt. Das alles habe ich, mein Herr. Ich darf auch im Garten spazieren gehen. Die Menschen haben also alles für mich getan, was ich hoffen und wünschen kann.«
»Ich bin Ihr Beichtvater,« sprach der Bischof. »Als mein Beichtkind müssen Sie mir die Wahrheit sagen. Jeder Gefangene, der in einen Kerker geworfen wird, muß ein Verbrechen begangen haben. Was war Ihr Verbrechen?« – »Sie haben mich danach schon das erste Mal gefragt, als ich Sie sah,« antwortete Marchiali. – »Und Sie verweigerten die Antwort,« sagte Aramis. – »Warum sollte ich Ihnen heute antworten?« erwiderte der junge Mann. – »Weil ich heute als Beichtvater vor Ihnen stehe,« sprach der Bischof.
»Wenn ich Ihnen sagen soll, welches Verbrechen ich begangen, so sagen Sie mir erst, was ein Verbrechen ist. Ich habe mir selbst um nichts Vorwürfe zu machen und erkläre, ich bin kein Verbrecher.« – »Bisweilen ist man in den Augen der Großen ein Verbrecher, nicht weil man ein Verbrechen begangen, sondern weil man um Verbrechen weiß, die andere begangen haben.« – Der Gefangene nickte. – »Ich verstehe,« sagte er. »In dieser Hinsicht könnte ich in den Augen der Großen ein Verbrecher sein. Wenn ich schärfer darüber nachdenken wollte, so würde ich entweder verrückt werden oder sehr viele Dinge erraten.«
»Ah, Sie wissen etwas?« rief Aramis. – Doch Marchiali brach ab. »Ich bin zufrieden mit dem, was ich hier habe,« murmelte er düster. »Warum soll ich mich dem Verlangen nach anderem hingeben? Doch Siel« rief er aus, »Sie haben mich veranlaßt, einen Beichtvater zu rufen, und Sie kommen nun hierher mit dem Versprechen, mir vieles mitzuteilen. Warum schweigen Sie jetzt? warum soll ich reden? Wir tragen beide eine Maske, aber ich werde sie nur zusammen mit Ihnen ablegen.«
Aramis fühlte die Richtigkeit dieses Urteils. – »Hier habe ich es mit keinem gewöhnlichen Menschen zu tun,« dachte er. »Nun,« fragte er laut, »besitzen Sie Ehrgeiz?« – »Was ist Ehrgeiz?« erwiderte Marchiali.
»Der Trieb, mehr zu haben, als man hat,« sagte d'Herblay. – »Ich habe schon erklärt, ich bin hier zufrieden,« versetzte der Gefangene; »allein darin kann ich mich auch irren. Es ist möglich, daß ich Ehrgeiz habe. Können Sie mir das Gefühl des Ehrgeizes noch näher erläutern?« – »Ein Ehrgeiziger ist derjenige, der über seinen Stand hinaustrachtet.« – »Ich trachte nicht über meinen Stand hinaus,« sagte der Gefangene in einem so sichern Tone, daß Aramis stutzte.
»Sie haben mich belogen, als ich das erste Mal hier war,« sprach d'Herblay. – »Belogen?« rief Marchiali in so heftigem Tone und mit so flammenden Augen, daß Aramis erschrak. – »Ich will sagen,« fuhr er mit einer Verbeugung fort, »Sie haben mir verschwiegen, daß Sie etwas von Ihrer Jugend wissen.« – »Mein Herr, meine Geheimnisse gehören nicht dem ersten besten, der da herkommt.« – »Bin ich der erste beste, Monseigneur?« fragte Aramis mit einem Lächeln. – Dieser Titel verursachte dem Gefangnen Unruhe, doch schien er sich nicht zu wundern, daß man ihn so nannte. – »Mein Herr,« versetzte er, »Sie sind mir unbekannt.« – »O, wenn ich den Mut hätte,« entgegnete der Bischof, »würde ich Ihre Hand ergreifen und küssen.« – Der Gefangene machte eine Bewegung, als wollte er die Hand ausstrecken; aber das Leuchten seiner Augen erlosch am Rande der Wimpern, und die Finger zogen sich wieder kalt und mißtrauisch zurück.
»Einem Gefangenen die Hand küssen?« sagte er. »Wozu?« – »Sie trauen mir nicht,« fuhr Aramis fort. »Doch das begreife ich: denn wenn Sie wissen, was Sie wissen müßten, so können Sie nicht anders, als aller Welt mißtrauen.« – »Nun, so wundern Sie sich nicht darüber,« antwortete der junge Mann ruhig. – »O, Sie bringen mich in Verzweiflung, Monseigneur!« rief d'Herblay, betroffen über diesen hartnäckigen Widerstand. »Ich begreife, Sie müssen allen mißtrauen, aber machen Sie doch eine Ausnahme bei Ihren alten Freunden!« – »Gehören Sie zu meinen alten Freunden?« fragte Marchiali.
– »Erinnern Sie sich nicht mehr?« antwortete der Bischof. »Sie sahen doch einst in jenem Dorfe, wo Sie Ihre Jugend verlebten –«
»Kennen Sie den Namen dieses Dorfes?« fragte der Gefangene. – »Noisy-le-Sec,« antwortete Aramis fest.
»Fahren Sie fort,« sprach der junge Mann, ohne merken zu lassen, ob er zustimmte oder verneinte. – »Gut, da Monseigneur durchaus dieses Spiel fortsetzen wollen,« erwiderte Aramis. »Gewiß, ich bin gekommen, Ihnen vieles zu sagen, aber Sie müssen mir auch zeigen, daß Sie Verlangen hegen, all das zu erfahren. Bevor ich diese Dinge preisgebe, die lange Jahre in meiner Brust eingeschlossen waren, erwarte ich von Ihnen, das werden Sie begreifen, ein wenig Entgegenkommen, ein wenig Sympathie, eine Spur von Vertrauen. Sie stellen sich unwissend – das schreckt mich ab. Und wenn Sie auch wirklich ganz unwissend sein sollten, so sind Sie doch nichtsdestoweniger derjenige, der Sie sind, und nichts, nichts, Monseigneur – auch keine Bastille – kann machen, daß Sie es nicht sind!«
»Ich werde Sie in aller Ruhe anhören,« entgegnete der Gefangene. »Nur glaube ich das Recht zu haben, die Frage zu wiederholen, die ich schon einmal an Sie stellte: Wer sind Sie?« – »Erinnern Sie sich, vor 15 oder 13 Jahren einen Reiter in Noisy-le-See gesehen zu haben, zusammen mit einer Dame, welche gewöhnlich ein schwarzseidenes Kleid und grellrote Bänder im Haar trug?« – »Ja, und ich fragte auch einmal nach seinem Namen. Man sagte, er heiße Abt d'Herblay und sei früher ein Musketier des Königs gewesen.« – »Und der ehemalige Musketier, der dann Abt wurde, dann Bischof von Vannes, ist jetzt Ihr Beichtiger. Ich bin d'Herblay«. – »Ich weiß es,« antwortete der junge Mann ruhig, »ich habe Sie wiedererkannt.«
»Nun, Monseigneur, wenn Sie das wissen,« erwiderte Aramis, »so muß ich etwas hinzufügen, was Sie nicht wissen, nämlich folgendes: Wäre es dem König bekannt, daß dieser Musketier, Abt, Bischof und Beichtvater heute abend hier hei Ihnen ist, so würde derselbe Mann, der alles aufs Spiel setzte, um zu Ihnen zu gelangen, morgen schon das Beil des Henkers in einem Kerker blitzen sehen, der viel tiefer und verborgener wäre, als der Ihrige.« – Als der junge Mann diese mit eindrucksvoller Stimme gesprochenen Worte hörte, richtete er sich in seinem Bette auf und versenkte den Blick mit Gier in die Augen des Beichtvaters. Er schien mehr Vertrauen gewonnen zu haben, lehnte sich zurück und sagte: »Ja, ich erinnere mich – jene Dame, von der Sie sprechen, kam einmal zusammen mit Ihnen und zweimal mit der Frau –« Er hielt inne.
»Mit der Frau, Monseigneur,« vollendete Aramis, »die Sie alle Monate besuchte?« – »Ja.« – »Wissen Sie, wer die Dame war?« – »Eine Dame des Hofes,« sagte der Gefangene. »Ich erinnere mich ihrer deutlich. Einmal kam sie mit einem Manne von etwa 45 Jahren, einmal sah ich sie mit Ihnen und jener Frau mit den roten Bändern im Haar. Diese vier Personen, mein Erzieher und die alte Perronnette sind – außer dem Kerkermeister hier und dem Gouverneur – die einzigen Menschen, die ich je gesehen habe.« – »Sie wurden aber auch in Noisy-le-Sec gefangengehalten.« – »Im Verhältnis zu diesem Kerker war ich dort frei. Nur daß der Garten eine hohe Mauer hatte, über die ich nicht hinwegsehen konnte. Ich war daran gewöhnt und sehnte mich nicht hinaus. Da ich folglich von dieser Welt so gut wie nichts gesehen habe, so kann ich auch nichts wünschen, und wenn Sie etwas von mir wollen, so müssen Sie sich erklären.«
»Das werde ich auch tun, Monseigneur,« antwortete Aramis, »denn es ist meine Pflicht.« – »Nun, so fangen Sie an. Wer war mein Erzieher?« – »Ein gutmütiger, ehrbarer Edelmann, Monseigneur, sehr geeignet, Ihren Leib und Ihre Seele zu schulen. Hatten Sie sich über ihn zu beklagen?« – »Keineswegs. Er sagte mir oft, mein Vater und meine Mutter seien tot. Hat er damit gelogen oder die Wahrheit gesagt?« – »Ihr Vater war tot,« antwortete Aramis. – »Und meine Mutter?« fragte Marchiali. – »Sie war für Sie gestorben,« erwiderte d'Herblay. – »Doch für die Welt lebt sie noch, nicht wahr?« – »Ja.« – »Und dennoch muß ich in der Finsternis eines Kerkers schmachten? Weil mein Erscheinen ein schweres Geheimnis aufdecken würde?«
»Ein gefährliches Geheimnis,« antwortete Aramis.
»Wenn ein Kind in dieser Weise in die Bastille gesperrt wird, dann muß sein Feind sehr mächtig sein.« – »Das ist er auch.« – »Mächtiger als meine Mutter.« – »Warum das?« – »Weil mich meine Mutter sonst gegen ihn verteidigt hätte.« – Aramis zauderte, dann sagte er: »Ja, er ist mächtiger als Ihre Mutter, Monseigneur.« – »Und mein Erzieher, meine Amme, waren meinem Feinde auch im Wege, daß er sie von mir nahm?«
»Ja,« antwortete Aramis ruhig, »sie erschienen ihm beide so gefährlich, daß er sie verschwinden ließ. Man vergiftete sie.«
Der junge Mann erbleichte, dann antwortete er:
»Diese unschuldigen Personen sind ermordet worden, und zwar an einunddemselben Tage? Dann muß mein Feind sehr grausam sein, oder die Notwendigkeit muß ihn dazu gedrängt haben. Und ich habe da meine Vermutungen. Ich werde sie Ihnen mitteilen.« – »Sprechen Sie, Monseigneur,« versetzte Aramis, »ich sagte Ihnen ja schon, ich riskiere mein Leben, indem ich mit Ihnen rede.« – »Hören Sie!« erzählte der junge Mann. »Ursprünglich hat man wohl nicht die Absicht gehabt, mich auf Lebenszeit einzusperren, denn es wurde viel Sorgfalt auf meine Erziehung verwendet. Ich erhielt Unterricht in allen Wissenschaften und in den Fertigkeiten eines Kavaliers von Stande. Eines Morgens – es war sehr heiß – schlief ich im Zimmer ein. Bisher hatte ich noch niemals irgendwelchen Argwohn betreffs meiner Herkunft gefaßt. Ich zählte damals 15 Jahre.« – »Das war also vor acht Jahren,« unterbrach ihn d'Herblay. – »Ja. Mein Erzieher hatte mir stets gesagt, ich sei als arme, unbekannte Waise zur Welt gekommen und müsse mir viel Kenntnisse aneignen, um es in der Welt zu etwas zu bringen. Ich könnte auf keine Hilfe von anderer Seite rechnen. In diesem Glauben befand ich mich bis zu jenem Tage, von dem ich jetzt spreche. Ich war im Zimmer eingeschlafen – mein Erzieher befand sich in seiner Stube gerade über mir. Ich hörte ihn die Amme rufen, »Perronnette!« rief er. »Perronnette!« Sie war wohl im Garten, denn er lief die Treppe hinab. Ich stand auf, um zu sehen, was geschehen sei. Ich sah, wie mein Erzieher zu einem Brunnen ging, der am Rande des Gartens lag, fast unmittelbar unter den Fenstern seines Zimmers, hinabblickte und aufs neue nach der Amme zu rufen begann. Sie eilte herbei, und nun guckten beide in den Brunnen, mit unverkennbaren Gebärden des Schreckens. ›Es ist der letzte Brief von der Königin!‹ rief mein Erzieher. ›O, welch ein Unglück, welch ein Unglück!‹– ›Beruhigen Sie sich doch nur,‹ antwortete die Perronnette, ›das Wasser wird ihn rasch zerstören.‹– Als ich diese wenigen Worte vernahm, lauschte ich mit verdoppelter Aufmerksamkeit, denn es nahm mich Wunder, daß mein Erzieher, der mir stets Bescheidenheit und Demut empfahl, in Briefwechsel mit der Königin stand. – ›Wie ist er hier denn hereingekommen?‹ fragte die Amme. – ›Ich las ihn am Fenster,‹ antwortete er, ›ein Windstoß entriß ihn meiner Hand!‹ – ›Er ist hier unten so gut wie verbrannt,‹ meinte die Perronnette, ›und da die Königin, so oft sie kommt, ihre Briefe verbrennt–‹ So oft sie kommt, hören Sie wohl!« unterbrach sich der Gefangene. »Die Frau, die alle Monate kam, war also die Königin. – ›Ja, aber die Königin wird an einen solchen Zufall nicht glauben,‹ rief mein Erzieher untröstlich. ›Sie wird denken, ich wollte diesen Brief zurückbehalten, um ihn als Waffe gegen sie zu benützen, und dieser Mazarin ist ja so mißtrauisch. Er wird uns beide gefangensetzen. Sie wissen, wo es sich um Philipp handelt –.‹ Das war also mein Name,« unterbrach der Gefangene abermals seine Erzählung.
Aramis nickte. – »›Wir müssen jemand hinabsteigen und den Brief heraufholen lassen,‹ sagte mein Erzieher, und sie gingen beide fort, um jemand zu holen. Ich wußte nicht, was ich tat – mir schwindelte der Kopf von dem, was ich vernommen – ich schwang mich aus dem Fenster, lief rasch an den Brunnen und sah hinab. Auf dem dunkeln Spiegel des Wassers schwamm etwas Weißes. Und dieser weiße Gegenstand schien mich zu sich hinabzulocken, meine Augen waren starr, mein Atem ging keuchend, der Brunnen wehte mich mit seinem breiten Munde und seinem eisigen Atem an, und mir war, als läse ich auf dem weißen Zettel feurige Schriftzüge. Einem Instinkt gehorchend, rollte ich den Strick auf und ließ mich daran hinab. Noch während ich im Brunnen schwebte, ging das Papier unter. Aber das Wasser war zum Glück nicht tief, ich brauchte nur mit dem halben Leibe einzutauchen, um das Papier vom Grunde aufzufangen. Es zerriß aber unter meinen Fingern. Rasch kletterte ich wieder hinauf, rollte den Strick in fliegender Hast wieder auf und flüchtete in den Garten, wo ich mich an einem sonnigen Fleck versteckte, um mich trocknen zu lassen. Hier hatte ich Zeit genug, den kostbaren Brief zu lesen, dessen Schriftzüge schon zu verlöschen begannen.«
»Und was haben Sie gelesen, Monseigneur?« fragte d'Herblay. – »Genug, um zu glauben, daß ich von sehr hoher Abkunft sei, da Anna von Oesterreich und Kardinal Mazarin sich so sehr mit mir beschäftigten. Doch weiter! Der Mann, den man in den Brunnen steigen ließ, fand nichts, dagegen entdeckte man, daß der Strick und der Eimer naß waren, vermißte mich, suchte und fand mich. Meine noch feuchten Kleider verrieten mich, zudem ergriff mich tags darauf ein heftiges Fieber infolge des Wasserbads und der erlittenen Aufregung. Und im Delirium erzählte ich nun vollends alles, was der Brief mir gesagt hatte, den man dann unter meinem Kopfkissen fand.« – »Ah, nun verstehe ich alles,« sagte Aramis. – »Mein Erzieher getraute sich nun nicht, das Geheimnis weiter zu behüten, dessen ich durch Zufall teilhaftig geworden war, und schrieb der Königin alles. Darauf wurde ich in die Bastille gebracht, und Erzieher und Amme verschwanden.«
»Lassen wir die Toten ruhen,« sagte Aramis. »Beschäftigen wir uns mit den Lebenden. Haben Sie sich in Ihr Schicksal ergeben? Ohne Ehrgeiz, ohne Schmerz, ohne Hoffnungen? Sie schweigen?« – »Ich glaube genug gesagt zu haben,« versetzte der junge Mann. »Das Reden ist nun an Ihnen. Ich bin müde.« – Aramis sammelte sich. Sein Gesicht nahm einen feierlichen Ausdruck an, war er doch bei dem wichtigsten Teil der Rolle angelangt, die er im Gefängnis zu spielen hatte. – »Eine Frage zuerst, die von Bedeutung ist,« begann er. »In dem Hause zu Noisy-le-Sec gab es keine Spiegel?« – »Ich weiß nicht, was ein Spiegel ist,« erwiderte der junge Mann. – »Glas, das so präpariert ist,« erklärte d'Herblay, »daß man sich darin so deutlich sieht, wie Sie mich sehen.« – »Nein,« sagte der junge Mann, »so etwas gab es in dem Hause nicht.« – »Und auch hier gibt es keinen,« fuhr Aramis fort, sich umsehend. »Man gebraucht hier die gleiche Vorsicht. Doch Verzeihung! Man unterwies Sie also in Wissenschaft und allerlei Künsten. Lehrte man Sie auch die Geschichte kennen?«
»Man erzählte mir,« antwortete der junge Mann, »von Ludwig dem Heiligen, von Franz I., von Heinrich IV.« – »Also auch hier Berechnung,« sagte d'Herblay. »Ich will Ihnen in wenigen Worten mitteilen, was seit 23 oder 24 Jahren, also seit der Zeit Ihrer Geburt, in Frankreich geschehen ist. Auf Heinrich IV. folgte Ludwig XIII., ein großer König, voll hoher Entwürfe und schöner Gedanken. Leider mußte er sie unvollendet lassen, da er zu schwach war, seinen Willen gegen den allmächtigen Minister, den Kardinal Richelieu, durchzusetzen.
Er fand in noch jungen Jahren ein trauriges Ende. Das Glück der Nachkommenschaft war ihm lange versagt geblieben; schon verzweifelte er, als seine Gemahlin, Anna von Oesterreich –« Der Gefangene zuckte jäh zusammen. – »Als Anna von Oesterreich,« fuhr der Beichtvater fort, »ihm eines Tages ankündigte, sie sei gesegneten Leibes. Am 5. September genas sie eines Sohnes.«
Aramis hielt inne und sah den jungen Mann, der erbleichte, fest an. Dann fuhr er fort: »Sie werden jetzt eine Geschichte hören, die gegenwärtig nur noch zwei Menschen zu erzählen wissen; ein Geheimnis, das man für begraben hält. Ich wage nichts dabei,« setzte er in etwas ironischem Tone hinzu, »daß ich es einem Gefangenen mitteile, der gar kein Verlangen trägt, die Bastille jemals zu verlassen. Die Königin gebar also einen Sohn. Der Hof stimmte ein Freudengeschrei an, und der König saß schon wieder vergnügt bei Tische, um mit seinen Günstlingen ein Freudenfest zu feiern, da wurde die Königin, die in ihrem Zimmer mit der Hebamme allein war, ein zweitesmal von Wehen befallen und brachte noch einen Sohn zur Welt. Diesen zweiten Sohn nahm die Hebamme, Frau Perronnette, in den Arm.«
»Frau Perronnette?« stammelte der junge Mann.
»Man schickte nach dem König, und seine Freude verwandelte sich in Entsetzen; denn in Frankreich kann man nur einen Kronprinzen gebrauchen. Kronprinz ist der ältere Sohn, so lautet das Gesetz, und die Aerzte erklärten, aus verschiedenen Gründen in diesem Falle nicht mit der absoluten Sicherheit entscheiden zu können, ob der zuerst zur Welt gekommene Sohn der ältere sei.« – Der Gefangene stieß einen dumpfen Schrei aus und wurde weiß wie das Laken seines Bettes. – »Sie begreifen nun,« fuhr Aramis fort, »weshalb der König so erschrocken war. Zwei gleichberechtigte Dauphins – das war ein ganz unhaltbarer Zustand. Der zweite Sohn hätte eines Tages zu den Waffen greifen und dem andern den Thron streitig machen können; was zu blutigem Hader geführt hätte. Und deshalb wurde einer dieser Zwillingssöhne, und zwar der zu zweit ans Licht getretene, beiseite geschafft, und deshalb ist es seitdem verschwunden, so daß in Frankreich niemand weiß, ob er noch lebt, ausgenommen seine Mutter, die ihn verlassen hat, jene Dame im schwarzen Kleide und den grellroten Bändern und –«
»Und endlich Sie!« fiel der Gefangene ein. »Sie, der Sie in meiner Seele Haß und Ehrgeiz und vielleicht den Durst nach Rache erwecken! Sie, der Mann, den ich erwartete, der Mann, den mir Gott sendet, und der, wenn er das ist, das bei sich haben muß –« – »Was?« fragte Aramis. – »Ein Porträt des Königs Ludwig XIV., der jetzt auf Frankreichs Thron sitzt.«
»Hier ist das Porträt,« sagte der Bischof und legte vor den Gefangenen ein schönes Emaillebild hin, auf dem Ludwig in all seinem Stolz, in all seiner Schönheit dargestellt war. – Der Gefangene ergriff es mit Gier und heftete den brennenden Blick darauf. – »Und hier, Monseigneur,« fuhr Aramis fort, »ist ein Spiegel.« – Der junge Mann sah hinein und verglich sein Antlitz mit dem des Königs.
»Was denken Sie davon?« fragte Aramis. – »Daß ich verloren bin,« murmelte der Gefangene. »Der König kann mich niemals neben sich dulden.« – »Und ich frage mich,« sagte der Bischof, mit einem leuchtenden Blick auf den Gefangenen, »welcher von beiden der König ist, der, den dieses Porträt darstellt, oder der, dessen Antlitz ich hier im Spiegel sehe!« – »Der König, Herr, ist der, der auf dem Throne sitzt,« erwiderte der junge Mann traurig, »der nicht im Gefängnis schmachtet, ja vielmehr dahin schickt, wen immer er will. Wer den Thron hat, hat die Macht – ich bin ohnmächtig.« – »Monseigneur,« antwortete Aramis mit einer Ehrerbietung, die er bis jetzt noch nicht gezeigt hatte, »der König werden Sie sein, wenn Sie nur wollen, und wenn Sie der Mann dazu sind, sich auf dem Throne zu behaupten, auf den Ihre Freunde Sie setzen werden.«
»Herr, führen Sie mich nicht in Versuchung,« versetzte der Gefangene in bitterem Tone. – »Monseigneur, keine Schwäche! Ich habe alle Beweise Ihrer Geburt mitgebracht. Ueberzeugen Sie sich selbst, daß Sie ein Königssohn sind, dann wollen wir weiter sehen.«
»Sie reden von Freunden?« rief der junge Mann mit einer Heftigkeit, die den Adel seines Bluts verriet. »Wie sollte denn ich zu Freunden kommen, ich, der keinen Menschen kennt und weder Freiheit, noch Geld, noch Macht besitzt?« – »Mich dünkt, ich hatte die Ehre,« antwortete Aramis, »mich Eurer Königlichen Hoheit zum – Freunde anzubieten.«
»O, nennen Sie mich nicht so, Herr, das ist Hohn, das ist Barbarei! Lassen Sie mein Sinnen nicht über diese Kerkermauern hinausgehen, lassen Sie mich in Finsternis und Sklaverei – ich will's ertragen!«
»Monseigneur, wenn Sie, nachdem ich Ihnen Ihre Herkunft bewiesen, so arm an Geist, Willen und Leben sind, diese mutlosen Worte sprechen zu können, so will ich nach Ihrem Wunsche handeln und dem Dienste des Herrn entsagen, dem ich mein Leben und meinen Beistand zuzuschwören gekommen bin!« – »Herr, wäre es nicht besser gewesen, Sie hätten, ehe Sie mir das alles sagten, bedacht, daß Sie mir damit das Herz brechen?« rief der Prinz. »Sie lassen mich an Glanz denken, und hier ist Nacht um mich her. Sie schwärmen von Allmächtigkeit, und draußen im Korridor hallt der Tritt des Kerkermeisters – ein Schall, der Sie mehr zittern macht als mich. Wenn ich daran glauben soll, geben Sie mir ein Pferd, ein Schwert in die Hand und Sporen an die Füße. Dann vielleicht werden wir uns verstehen.«
»Es ist meine Absicht, Monseigneur, Ihnen das alles und noch mehr zu geben,« antwortete Aramis. »Nur – wollen Sie es auch?« – »Herr, ich weiß, es gibt Wachen auf jedem Korridor, Riegel und Barren vor jeder Tür, Posten auf allen Höfen. Wollen Sie alle diese Hindernisse durchbrechen?« – »Alle, Monseigneur,« erwiderte d'Herblay mit Zuversicht. – Der Prinz schüttelte den Kopf und fuhr fort: »Wem es gelänge, das für mich zu tun, der wäre schon mehr als ein Mensch. Aber es kommt noch hinzu, daß ich ein Prinz bin, ein Bruder des Königs. Wollen Sie mir den Rang und die Macht geben, die Mutter und Bruder mir genommen haben? Ich soll in ein Leben voll Streit und Haß hinein, wie soll ich da ohne Wunden bleiben oder gar Sieger werden? O, bedenken Sie das, Herr! Werfen Sie mich lieber in eine finstere Bergschlucht, wo ich das Rauschen eines Flusses hören und die freie Flut, den blauen Himmel schauen und genießen kann, und ich will mich damit begnügen. Sie können mir nicht mehr geben, und es wäre ein Verbrechen, mich zu täuschen!«
Nach kurzem Besinnen sprach Aramis: »Ich bewundere diesen festen, weisen Sinn, Monseigneur, und erkenne daran, daß ich meinen König gefunden habe.« – »Wieder? O, haben Sie Mitleid,« rief der Prinz und preßte die glühende Stirn in die eisigen Hände. »Verspotten Sie mich doch nicht. Ich brauche gar nicht König zu werden, um der glücklichste Mensch zu sein.« – »Aber ich will, daß Sie König seien,« antwortete Aramis schwärmerisch, »auf daß die Menschheit glücklich werde! Wenn Sie sich von mir leiten lassen, wenn Sie einwilligen, der mächtigste Fürst der Erde zu sein, dann dienen Sie den Interessen meiner Freunde, die für unsere Sache ihr Leben einsetzen und zwar an Zahl noch nicht groß, dafür aber sehr mächtig sind.«
»Aber mein Bruder?« fragte der Gefangene. – »Sie werden sein Los bestimmen. Beklagen Sie ihn?« – »Ihn, der mich hier sterben lassen will? Nein! Könnte er nicht herkommen und zu mir sprechen: Du bist mein Bruder! Gott hat uns geschaffen, daß wir uns lieben, nicht, daß wir uns befehden. Ein beklagenswertes Vorurteil war daran schuld, daß du im Dunkeln schmachten mußtest. Ich will dich an meiner Seite sitzen lassen und dir das Schwert unsers Vaters umgürten. Wirst du es gebrauchen, mein Blut zu verspritzen? – Und ich hätte geantwortet: Nein, nein, ich betrachte dich als meinen Erlöser, als meinen Herrn. Du gibst mir mehr, als Gott mir gegeben, nämlich die Freiheit und das Recht, Menschen zu lieben und von Menschen geliebt zu werden.«
»So aber –?« sprach Aramis. – »So habe ich Schuldige zu bestrafen und, da Gott mich zu gleicher Zeit mit meinem Bruder und ihm ähnlich geschaffen hat, die Gleichberechtigung herzustellen,« antwortete der Prinz. –
»Und das will besagen,« sprach d'Herblay, »daß Sie mit Ihrem Bruder die Plätze tauschen werden. Er wandert ins Gefängnis, Sie besteigen den Thron.« – »O, im Gefängnis leidet man viel,« murmelte der Prinz, »zumal wenn man schon den Becher des Lebens an den Lippen gehabt hat.« – »Sie werden tun, was Ihnen gefällt, Hoheit,« antwortete der Beichtvater. »Haben Sie bestraft, so werden Sie auch verzeihen. Und nun genug, Hoheit. Sie werden von mir hören. Nur noch einmal werden Sie mich hier sehen, und zwar, wenn ich komme, Sie abzuholen. Bis dahin sprechen Sie mit niemand, wer es auch sei.«
Aramis verbeugte sich tief. Der Gefangene reichte ihm die Hand und sprach in einem Tone, der zu Herzen ging: »Mein Herr, nur noch ein Wort! Wenn Sie zu mir gekommen sind, als Werkzeug meiner Feinde, um mich zu vernichten, um mich zu einem Bekenntnis zu bewegen, das mein Tod sein soll, o, auch dann seien Sie gesegnet, denn Sie enden meinen Jammer und bringen Ruhe nach jahrelangen Qualen. Sind Sie aber gekommen, um mir einen Platz an der Sonne des Glücks und des Ruhms zu verschaffen, mir eine Stellung zu geben, in der ich mir durch ausgezeichnete Dienste und Taten einen Namen für alle Zeiten erringen kann – kurz, um mich aus dem Elend, in dem ich hier dahinsieche, zum Gipfel aller Macht und Würde zu erheben – nun denn! so schenke ich Ihnen unter Dank und Segen die Hälfte meiner Macht und meines Reichtums. Sie werden damit noch bei weitem nicht genugsam belohnt sein! Ich werde nie imstande sein, das Glück zu vergelten, das ich Ihnen verdanke!«
Aramis kniete nieder. »Der Adel Ihres Herzens,« sprach er, »erfüllt mich mit Bewunderung. Mein Dank wird in dem Glück der Völker liegen, über die Sie herrschen werden, in dem Lobe der Nachkommen, die von Ihrem Ruhme singen werden. Und dies,« sagte er und küßte die Hand des Gefangenen, »ist die erste Huldigung, die ich dem künftigen König darbringe. Wenn ich wieder hier eintrete, wird es mit dem Gruß sein: Guten Tag, Majestät!« – »Bis dahin,« sprach der junge Mann und legte die weißen, dünnen Finger auf seine Brust, »keine Träume, keine Täuschungen – es würde mir das Leben kosten! Ach, wie klein ist meine Zelle, wie schmal das Fenster, wie niedrig die Tür! Wie konnte nur soviel Stolz und Glückseligkeit dort hereinkommen und hier drinnen Raum finden!«
Aramis ging und wurde von dem Wachtposten zu Baisemeaux zurückbegleitet. »Welch eine Beichte!« rief der Gouverneur; »ich hätte nie geglaubt, daß dieser obskure Gefangene soviel auf dem Gewissen haben könne!«
2. Kapitel. Und zeigte ihm die Reiche der Welt und ihre Herrlichkeit
Es schlug sieben an der großen Uhr der Bastille, und es war die Stunde der Mahlzeit für die armen Gefangenen und auch für den Herrn Gouverneur. Baisemeaux hatte abermals Herrn d'Herblay zu Gaste. Sie ließen sich diesmal die Leckerbissen trefflich munden, und Aramis war gesprächiger, zwangloser als sonst, so daß Baisemeaux sich fast ein wenig darüber wunderte. Als sie beim Dessert angelangt waren und der Gouverneur sich schon der trügerischen Hoffnung hingab, der Bischof werde an diesem Tage, da er dem Weine sehr brav zugesprochen hatte, einmal keine Geheimnisse haben, wurde ein Kurier in den Hof gelassen, und gleich darauf überbrachte man Herrn Baisemeaux eine Order des Königs.
»Ah, das ist verdrießlich,« brummte er. »Muß das auch gerade beim schönsten Trinken kommen!« – »Baisemeaux, Baisemeaux!« lachte Aramis, »ein Befehl des Königs ist heilig! – »Ja doch,« antwortete der Gouverneur, »aber die Gemütlichkeit und die Gastfreundschaft sind mir auch heilig, und nun muß ich Sie vernachlässigen, um zu tun, was der König will. Also erlauben Sie!« – Mit diesen Worten öffnete er den Befehl. – »Es ist eine Freilassung,« sagte er verdrießlich. »Wieder einer weniger! Und es kommt kaum noch alle Wochen ein neuer herzu. Erst letztens – Sie waren ja dabei – mußte ich den Grafen de la Fère ziehen lassen, wo ich mich schon drauf gefreut hatte, wieder mal einen vornehmen Herrn hereinzubekommen. Eine schlechte Zeit, Herr Bischof, Gott sei's geklagt!«
»Aber Sie sind doch Christ, lieber Baisemeaux, und sollten sich freuen, wenn ein armer Mann die Freiheit wiedererlangt,« sagte Aramis. »Wer soll denn entlassen werden?« – »Ah, Seldon, jener Pamphletist, der den Spottvers auf die Jesuiten gemacht hat. Und jetzt um acht Uhr abends!« – »Gleichviel!« meinte Aramis, »königliche Befehle müssen vollzogen werden.« – »Dieser muß sogar ohne weiteres vollzogen werden, denn er trägt den Vermerk eilig,« sprach der Gouverneur, »in jedem andern Falle würde ich bis morgen früh gewartet haben.«
»Ei, ei, und denken Sie gar nicht daran, daß Sie die Leiden eines Gefangenen abkürzen, wenn Sie ihn so rasch wie möglich losgeben? Ist es doch etwas Schönes um den Augenblick, wo man nach Jahren der Kerkerhaft die Luft der Freiheit atmet! Jede Minute, die Sie so einem armen Gefangenen schenken, wird Ihnen Gott im Paradiese durch Jahre der Glückseligkeit vergelten.«
»Wenn nur nicht das Essen drüber kalt würde!« seufzte der Gouverneur. Darauf wandte er sich nach der Tür, um mit dem Boten zu sprechen. Der Befehl war auf dem Tische liegen geblieben. Aramis benutzte diesen Augenblick, um ihn gegen einen, den er aus dem Rock zog, zu vertauschen. Es war ein ebensolches Papier, dem echten Befehl täuschend nachgeahmt. Nur ein andrer Name stand darauf.
»Eigentlich ist's eine Grausamkeit, einen Gefangnen um diese Stunde an die Luft zu setzen,« brummte Baisemeaux. »Wohin soll er gehen? Nach so vielen Jahren der Haft wird er sich nicht mehr zurechtfinden.« – »Ich werde ihn führen,« sagte Aramis, »das ist Pflicht eines Mannes der Kirche.« – »Sie wissen auf alles eine Antwort,« sprach der Gouverneur, und seinem Diener rief er zu: »Man soll die Zelle Seldons aufschließen. Nordturm Nummer 3.« – »Wie sagten Sie?« rief Aramis. »Seldon? Sie meinen doch wohl Marchiali?« – »Der Befehl lautet auf Seldon,« sagte Baisemeaux. – »Aber Sie irren sich, Gouverneur,« rief d'Herblay und neigte sich über das auf dem Tische liegende Dokument. »Hier steht groß und deutlich: Marchiali.« – »Was?« versetzte Baisemeaux, »ich las doch eben Seldon. Das ist merkwürdig,« sagte er mit großer Unruhe, als er nun den Namen Marchiali las. »Ich weiß ganz genau, daß es Seldon geheißen hat. Unter dem Namen war ein Tintenfleck – hier ist jetzt keiner.« – »Wie es auch gewesen sein mag, lieber Baisemeaux,« erwiderte Aramis.
»Der vom König unterzeichnete Befehl betrifft Marchiali. ›Marchiali ist in Freiheit zu setzen,‹ steht hier klar und deutlich. Also müssen Sie Marchiali loslassen.«
»Hm,« murmelte der Gouverneur, »Marchiali erhielt den Besuch des Beichtvaters vom Jesuitenorden –« und er sah Aramis mit unverhohlenem Mißtrauen an.
»Das weiß ich nicht,« antwortete dieser. – »Und doch ist es noch gar nicht so lange her,« meinte Baisemeaux. – »Das ist möglich, lieber Gouverneur, indessen ist es bei uns gut, daß der Mann von heute nicht wisse, was der Mann von gestern getan hat. – »Jedenfalls hat der Besuch des Beichtvaters diesem Menschen Glück gebracht,« sprach Baisemeaux. »Wohl, ich werde ihn loslassen; aber ich werde erst einen Eilboten ans Ministerium senden und fragen lassen, ob die Sache auch ihre Richtigkeit hat, ob wirklich Marchiali und nicht Seldon gemeint war.«
»Wozu das?« fragte Aramis kalt. – »Um mich vor einem Irrtum, vor einem Versehen zu schützen, das ich vielleicht schwer büßen müßte. Wohl sehe ich die Unterschrift des Königs und die Gegenzeichnung des Polizeiministers Lyonne unter dem Befehl, aber beide Schriftzüge können gefälscht sein, Herr d'Herblay. Das alles ist schon dagewesen.« – »Sie haben recht, Baisemeaux. Sie wollen Ihr Gewissen erleichtern,« sagte Aramis. »Sie würden aber vollständig beruhigt sein, wenn ein Vorgesetzter Sie autorisierte, den Ihnen vorliegenden Befehl ohne weitere Umstände auszuführen?« – »Allerdings,« nickte der Gouverneur.
»So geben Sie mir Schreibzeug,« sagte Aramis kurz. Darauf ergriff er, während Baisemeaux erstaunt zusah, eine Feder und schrieb. Der von Schrecken ergriffene Gouverneur las über seine Schulter hinweg. – »A.M.D.G.,« schrieb der Bischof und zeichnete ein Kreuz dahinter. Dann folgten die Worte: »Herr Baisemeaux von Montlezun, Gouverneur der Bastille, hat den ihm überbrachten Befehl für echt und gültig zu halten und auf der Stelle zu vollziehen. D'Herblay, durch die Gnade Gottes General des Ordens.« Dabei drehte er den Ring an seinem Finger und ließ Baisemeaux das Abzeichen des Obersten der Jesuiten schauen. Der Gouverneur war starr vor Entsetzen und stand unbeweglich, wie am Boden fest gewurzelt. Man hörte in dem Gemach nichts als das Summen einer Fliege, die um die Lichter schwirrte. Aramis würdigte den Mann, den er in so klägliche Verblüffung gebracht hatte, keines Blickes, zog das Petschaft hervor, das er unter dem Wams trug, siegelte das Geschriebene und übergab es schweigend Herrn Baisemeaux, der es mit zitternden Händen entgegennahm, um wie niedergeschmettert auf einen Stuhl zu sinken.
»Auf, lieber Baisemeaux!« rief Aramis nach langem Schweigen. »Die Gegenwart des Ordens-Generals ist doch nichts so Schreckliches, daß man sterben müßte. Reichen Sie mir die Hand und folgen Sie mir.« – Baisemeaux küßte dem General die Hand und rief: »Ich kann es nicht fassen – ich werde mich von diesem Schlage nie wieder erholen. Ich habe mit Ihnen gescherzt und gelacht – ich habe es gewagt, mich auf gleichen Fuß mit Ihnen zu stellen.« – »Schweig, alter Kamerad,« entgegnete d'Herblay. »Gehen wir ein jeder seinen Lebensweg: Dir sei mein Schutz, meine Freundschaft, mir dein Gehorsam geweiht! Und nun, holen Sie Marchiali!«
Baisemeaux ging, um die Formalitäten zu erledigen, unter denen nach der Vorschrift die Freilassung eines Eingekerkerten zu erfolgen hatte. Dazu gehörte vor allem die Eidesleistung, nie etwas von dem kundzugeben, was man in der Bastille gesehen oder gehört hatte. Als der Gefangene diesen Schwur getan, trat Aramis aus dem Schatten hervor, in dem er gestanden. Marchiali errötete leicht und legte seinen Arm in den des Bischofs. Sie gingen in den Hof, wo eine Kutsche bereitstand. Die Räder rollten über das holperige Pflaster, rasselten von Hof zu Hof und dann zur Tür hinaus. Selbst Aramis atmete nicht, solange sie noch im Bannkreis der Bastille waren, man hätte das stürmische Klopfen seines Herzens hören können. Auch der Gefangene, in eine Ecke des Wagens gedrückt, gab kein Lebenszeichen von sich. Endlich war man über den letzten Wassergraben hinüber und durch die letzte Barriere hindurch. Das letzte Tor hatte sich hinter dem Wagen geschlossen; die Pferde griffen schneller aus und trugen den Wagen durch die Vorstadt Saint-Antoine und dann ohne Aufenthalt bis nach Melun, wo Aramis im Walde von Senart haltmachen ließ.
»Was gibt es?« rief der Gefangene und fuhr aus einem dumpfen Traume auf. – »Königliche Hoheit,« antwortete Aramis, »ehe wir weiterfahren, müssen wir uns besprechen.« – »Darauf warte ich schon,« antwortete der Prinz. – »Wir sind in einem Walde, wo niemand uns hörnen kann,« sagte Aramis. »Der Postillon ist taubstumm. Geruhen Sie auszusteigen und mit mir in die düstere Seitenallee einzutreten, die vor uns liegt.«
»Ich bin bereit, doch was machen Sie da?« antwortete der Prinz. – »Ich setze die Pistolen in Ruh, da wir sie nicht mehr brauchen, Königliche Hoheit,« erwiderte Aramis. »Ob ich auch nur,« fuhr er dann fort, während beide auf dem einsamen, von feuchtem Moos überwucherten Fußwege dahinschritten, »ein unbedeutender Mann, ein untergeordnetes Glied in der langen Reihe denkender Menschen bin, so ist es doch, wenn ich mit jemand spreche, stets mein Bestreben, in seine Gedanken einzudringen mitten durch die lebende Maske hindurch, die der Verständige dem Fremden gegenüber annimmt. Ich werde bei der Dunkelheit, die uns umgibt, und bei der Zurückhaltung, die Sie schon im Gefängnis gegen mich gezeigt haben, nichts in Ihren Zügen lesen können. Ich glaube daher, es wird mir Mühe kosten, Ihnen aufrichtige Worte zu entwinden. Ich bitte Sie inständig, jedes meiner Worte nicht aus Rücksicht auf mich, sondern aus Liebe zu sich selbst, ernsthaft zu erwägen, denn was wir zu besprechen haben, wird so wichtig sein, wie nur irgend etwas, das jemals auf dieser Welt zwischen zwei Menschen verhandelt worden ist.«
»Ich höre,« antwortete Prinz Philipp in festem Tone. – Schwarze, dichte Dunkelheit lag unter den Wipfeln der Bäume ausgebreitet; die tiefe Stille der Nacht herrschte ringsum. Das Fünklein der Kutschenlaterne schimmerte durch den weißen Dunst, der vom feuchten Boden empordampfte.
»Königliche Hoheit,« fuhr Aramis fort, »Sie kennen die Geschichte der Regierung, die heute Frankreichs Geschicke leitet. Des Königs Kindheit glich einer Gefangenschaft, die kaum unbarmherziger war als die Ihrige, nur daß er seine Martern nicht in der Finsternis und Einsamkeit eines Kerkers, sondern an hellem lichtem Tage, mitten in der geräuschvollen Welt des Hofs erdulden mußte. Er hat darunter viel gelitten, sein Herz ist verbittert, und der Durst nach Rache muß in ihm wohnen. Er wird ein böser König werden. Da er von einem geizigen Minister geknechtet worden ist, wird er in Verschwendungssucht ausarten. Ich kann ihn mit gutem Gewissen verurteilen. Gott macht alles recht, was er tut. Um dieses schwere Geheimnis, das ich Ihnen entdecken half, zu bewahren und zunutze zu machen, dazu bedurfte er eines zuverlässigen, ausharrenden Werkzeugs, und er erwählte mich. Ich besitze Schärfe des Urteils, unermüdliche Geduld, Unerschrockenheit und Klugheit. Dieses Werkzeug Gottes haben Sie an Ihrer Seite, Hoheit, dieser Mann hat Sie in einer großen Absicht aus der Nacht des Kerkers befreit, und zu einem erhabenen Zweck will er Sie zu einem Herrn der Erde erheben.«
»Sie sprechen da,« antwortete der Prinz, »von dem geistlichen Orden, dessen Oberhaupt Sie sind. Ich entnehme Ihren Worten, daß Sie eines Tages denjenigen, den Sie erhoben haben, ebenso stürzen werden, daß ich nur eine Kreatur Ihres Geistes sein soll.« – »Sie irren sich, Hoheit,« versetzte Aramis. »Wenn ich Sie einmal erhoben habe, werde ich Sie nie stürzen können. Vielmehr werden Sie beim Emporsteigen den Schemel weit wegrollen sehen, auf den Sie den Fuß gesetzt haben. Sie werden sich dann vielleicht nicht einmal mehr an sein Recht auf Erkenntlichkeit erinnern. Doch fürchten Sie nichts; um mich gegen diese Gefahr zu schützen, spreche ich jetzt mit Ihnen; denn es ist selbstverständlich, daß ich ein Interesse verfolge, indem ich mein Leben für das Ihrige aufs Spiel setze. Auf dem Gipfel angelangt, werden Sie mich für würdig halten, Ihr Freund, Ihr erster Minister zu werden, und gemeinsam werden wir dann so große Dinge tun, daß man Jahrhunderte lang von uns sprechen wird.«
»Sagen Sie mir, mein Herr, was ich jetzt bin und was ich nach Ihrer Meinung morgen sein werde,« sprach Prinz Philipp.
»Hoheit, Sie sind der Sohn Ludwigs XIII., der Bruder Ludwigs XIV., der natürliche, legitime Erbe des französischen Throns. Die Aerzte oder Gott allein könnten in diesem Punkte die Wahrheit ermitteln. Die Aerzte nun stimmen stets für den König, der gerade auf dem Thron sitzt; Gott aber ist unparteiisch und duldet nicht, daß ein rechtmäßig geborener Prinz Unrecht leidet; Sie haben göttliches Blut in sich, weil Ihre Verfolger bei aller Grausamkeit es nicht gewagt haben, dieses Blut zu vergießen, wie sie das Ihrer Diener vergossen haben. Und nun hat Gott, den Sie oft angeklagt haben, für Sie gehandelt. Erwägen Sie, was alles er für Sie getan hat: er gab Ihnen den Wuchs, das Antlitz, die Stimme, die Manieren Ihres Zwillingsbruders, und alle Ursachen Ihrer Verfolgung werden nun zur Grundlage Ihres Triumphes. Morgen, sobald der Tag anbricht, werden Sie sich auf den Thron Ludwigs XIV. setzen, während ihn der göttliche Wille durch mich, das göttliche Werkzeug, für immer vom Throne herabstürzen wird.«
»Ich meine, das Blut meines Bruders darf nicht vergossen werden,« sprach der Prinz. – »Sie allein werden über sein Schicksal zu entscheiden haben,« antwortete Aramis, »Sie werden das Geheimnis, mit dem man gegen Sie Mißbrauch getrieben hat, nun gegen ihn nützen, und Ihr Interesse wird es ebenso gebieterisch erheischen, ihn zu verbergen, wie man Sie verborgen hat. Er wird als Gefangener Ihnen ja doch ebenso gleichen, wie Sie ihm, als er noch König war, geglichen haben.« – »Ist das Geheimnis noch andern Personen bekannt?« fragte Philipp.
»Nur noch der Königin-Mutter und Frau von Chevreuse.« – »Was werden diese beiden tun?« – »Nichts, wenn Sie nur wollen. Denn wenn Sie handeln, daß man Sie nicht erkennen kann, so werden die beiden Sie nicht erkennen.« – »Das wohl, allein es gibt noch größere Schwierigkeiten. Mein Bruder ist verheiratet. Ich kann nicht die Frau meines Bruders nehmen.« – »Ich werde dafür sorgen, daß Spanien die Ehe zurückgehen läßt im Interesse der neuen Politik. Jeder derartige große Plan wächst sich aus, ergänzt sich von selbst. Der beiseitegeschaffte König wird übrigens die Kerkerhaft nicht lange ertragen, denn er ist nicht daran gewöhnt, wie Sie es waren. Ein Leben des Genusses hat seinen Leib verweichlicht – und die übergroßen Ehren, die fast göttliche Gewalt, die ihm bisher beschert gewesen, machen ihn ganz untauglich zu einem Dasein in Unglück und Nacht. Gott wird seine Seele bald zurücknehmen.«
Bei diesen düstern Worten des Jesuitengenerals stieß im Walde ein Nachtvogel einen unheimlichen Schrei aus; der Prinz erschrak und murmelte: »Ich werde den gestürzten König ins Ausland schicken; das wird menschlicher sein.« – »Sie werden diese Frage nach Ihrem Belieben entscheiden,« antwortete Aramis. »Und nun habe ich das Problem nach allen Seiten hin erschöpfend erörtert. Meinen Sie nicht auch?« – »Jawohl,« antwortete Philipp. »Nur zwei Punkte sind noch in Betracht zu ziehen. Erstens die Beweggründe, die Sie bei dem allem haben, zweitens die Gefahren, die wir laufen.«
»Reden wir von den Gefahren, Hoheit,« antwortete d'Herblay. »Gefahren sind gar keine da, sofern nur Sie mit Sündhaftigkeit und ohne Furcht in Ihre Rolle als König eintreten und die vollkommene Aehnlichkeit mit dem König, die die Natur Ihnen äußerlich verliehen hat, durch die nötige innere Majestät ergänzen. Darum ist mir aber gar nicht bange.« – »Mir auch nicht, Herr; allein Sie vergessen eine ganz besondere und schier unüberwindliche Gefahr: das Gewissen, das seine Stimme erhebt, die Gewissensbisse, die das Herz zerreißen. Haben Sie einen Bruder?«
»Ich bin allein auf der Welt,« antwortete Aramis trocken. »Doch, Königliche Hoheit, wenn Sie sich fürchten, sei es vor dem Pomp des Hofes, sei es vor den Kanonen der Festungen, sei es vor den Regungen des eigenen Gewissens, so kenne ich ein Ländchen, fern von aller Well, wo Sie ganz für sich leben können, unberührt von dem Treiben der Menschen, wo Sie alles das vergessen können, was ich Ihnen jetzt angeboten habe, wo die Versuchung nicht wieder an Sie herantreten wird. Ich will nicht, daß Sie sich, getrieben durch meinen Willen, meine Laune oder meinen Ehrgeiz, was es nun ist, blindlings in einen Abgrund stürzen. Jetzt sind Sie überreizt, geschwächt durch die Luft der Freiheit, die Sie seit einer Stunde ungehindert atmen. Soll ich glauben, daß Sie diese vollen, ungehinderten Atemzüge nicht fortsetzen wollen? Daß Sie sich ein niedriges Leben wünschen, für das Ihre Kräfte geeigneter sind? Dann würde ich Sie in jenes einsame kleine Ländchen führen, wo niemand Sie kennen und verfolgen wird, und Ihnen soviel Geld mit auf den Weg geben, daß Sie davon bis an Ihr Ende leben können, sorglos, frei und glücklich. Ich will Ihnen ein Gut schenken, mit Feld und Garten. Jagdgewehre, Hunde und Dienerschaft. Sie werden unabhängig sein. Gebieter in einem allerdings winzigen Eigentum im Vergleich zu dem Thron, den ich Ihnen auf der andern Seite angeboten habe. Wollen Sie es annehmen? Ich gebe es Ihnen gern, frohen Herzens. Von diesem Fleck aus kann der taubstumme Diener Sie in ununterbrochener Fahrt dorthin bringen. Ich werde mich begnügen mit der Gewißheit, meinem Fürsten den Dienst erwiesen zu haben, für den er sich selbst entschieden hat. Nun, Königliche Hoheit, entschließen Sie sich! Wählen Sie jenes Ländchen, so wagen Sie nichts – wählen Sie den Thron, so können Sie ermordet, ja im Gefängnis erdrosselt werden. Ich selbst, ich gestehe es offen, nachdem ich beide Wagschalen geprüft, würde Bedenken tragen.«
»Mein Herr,« antwortete der junge Prinz, »ehe ich mich endgültig entschließe, will ich mich zehn Minuten lang mit Gott beraten. Dann will ich Ihnen antworten.« – Aramis verneigte sich ehrerbietig und trat zurück. Der junge Mann entfernte sich mit unsicheren Schritten.
Es war am 15. August gegen elf Uhr abends. Dichte Wolken, die ein Unwetter verkündeten, hüllten den Himmel ein – kein Stern schien. Kaum konnte man die Baumwipfel zu Häupten erkennen, so schwarz war die Nacht. Ein lauer Wohlgeruch stieg von der Erde auf, frischen Odem hauchte das Laub der Bäume aus, und dies alles drang in der ringsum herrschenden Stille eindrucksvoll auf den jungen Mann ein, der zum ersten Mal in seinem Leben frei war. Er sah vor sich hin in die dichte Finsternis, die sein Auge nur auf wenige Schritte zu durchdringen vermochte. Er kreuzte die Arme auf der Brust und atmete mit Wonne die herbe Luft, die des Nachts durch die hohen Gewölbe des Waldes streift.
Der junge Prinz ließ die Seele zu Gott emporfliegen und um einen Lichtstrahl inmitten dieser Nacht flehen, aus der der Tag für ihn mit Leben oder Tod hervorgehen sollte. Es war ein furchtbarer Moment für Aramis; noch nie hatte er vor einer so schweren Entscheidung gestanden. Seine Seele war von Stahl. Mit den Hindernissen des Lebens hatte er immer nur gespielt und war nie besiegt worden. Sollte nun sein großes Unternehmen scheitern, weil er den Einfluß nicht vorausgesehen hatte, den ein paar Liter ozonreiche Waldluft auf den menschlichen Körper ausübten?
Die zehn Minuten, die der junge Mann sich zur Entscheidung ausbedungen, waren eine Ewigkeit für Aramis. Er bewegte sich nicht vom Platze, nur seine brennenden Augen folgten dem Prinzen, der langsam hin und her wandelte, stehenblieb und wieder weiterschritt.
Endlich kehrte der Blick des Prinzen vom Himmel zur Erde zurück. Seine Stirn zog sich in Falten, die Lippen preßten sich aufeinander, sein Auge leuchtete wild und begehrlich auf; er ergriff rasch und fest Aramis' Hand und rief: »Vorwärts! Ich will den Thron!« – »Ist das Ihr fester Entschluß?« – »Unwiderruflich!« antwortete Philipp. – »Sie werden ein großer König sein, Monseigneur, dafür bürge ich.« – »Wir wollen unser Gespräch an dem Punkte wieder aufnehmen,« sprach der Prinz, »wo wir es fallen ließen. Zwei Punkte nannte ich, die noch zu erörtern seien; den ersten, das Gewissen, haben wir abgetan, den zweiten, Ihre Beweggründe, fassen wir nun ins Auge. Erklären Sie sich, Herr d'Herblay! Welche Bedingungen stellen Sie mir? Sie werden mir nicht zumuten zu glauben, daß Sie ganz uneigennützig handelten. Teilen Sie nur ohne Furcht Ihre Gedanken mit!«
»Monseigneur, wenn Sie König sind –« – »Wann werde ich es sein?« – »Morgen abend – das heißt, im Laufe der Nacht.« – »Wie werde ich es werden? Erklären Sie mir erst das!« – »Wenn ich eine weitere Frage an Eure Königliche Hoheit gerichtet haben werde. Ich sandte Ihnen ein Heft mit sorgsam zusammengestellten Aufzeichnungen, aus denen Eure Hoheit von Grund aus alle Personen kennen lernen sollten, die Ihren Hof bilden werden.« – »Ich habe diese Notizen so aufmerksam durchgelesen, daß ich sie auswendig weiß. Ich glaube, Anna von Oesterreich, meine Mutter, vor mir zu sehen. Ich kenne Henriette von Stuart, ich kenne die Lavallière.« – »Vor ihr nehmen Sie sich in acht, Hoheit,« sagte Aramis, »die Augen einer liebenden Frau sind schwer zu täuschen.« – »Ich kenne Saint-Aignan und Fouquet – und Colbert, dessen Todfeind. Mit dem letzteren brauche ich mich nicht viel zu beschäftigen; er soll alsbald verbannt werden. Ich kenne meine Lektion gut, wie Sie sehen, und mit Gottes und Ihrer Hilfe werde ich keinen Fehler machen. Dann ist da noch der Kapitän der Musketiere, Herr d'Artagnan. Soll er auch verbannt werden?«
»Keineswegs, er ist mein Freund,« antwortete d'Herblay. »Zu gelegener Zeit werde ich ihm alles sagen. Einstweilen müssen wir vor ihm auf der Hut sein; denn wittert er etwas, so werden wir beide verhaftet und getötet.« – »Ich werde bedachtsam sein. Was soll mit Herrn Fouquet geschehen?« – »Er bleibt Ober-Intendant.« – »Soll er nicht erster Minister werden? Ein so unwissender König wie ich, wird einen haben müssen.«
»Eure Majestät brauchen einen Freund.« – »Ich habe nur einen, und das sind Sie. Deshalb werden Sie mein erster Minister sein.« – »Nicht alsbald, Monseigneur, denn das würde Aufsehen erregen. Es ist besser, Eure Majestät machen mich erst zum Kardinal und dann zum Minister.«
»In zwei Monaten wird es geschehen,« antwortete Philipp. »Doch Sie würden mich betrüben, wenn das alles wäre, was Sie von mir zu verlangen haben.« – »Ich wage in der Tat auch noch mehr zu hoffen, Monseigneur,« sprach Aramis. »Der große Richelieu tat sehr unrecht daran, daß er sich anmaßte, Frankreich allein zu regieren. Er ließ auf diese Weise zwei Könige auf dem Throne sitzen, während er doch sehr gut einen Thron ganz für sich hätte haben können. Der Kardinal, der erster Minister in Frankreich gewesen ist und sich auf die Hilfe, auf die Fürsprache seines Königs stützen kann, braucht seinem Gebieter nicht den Thron streitig zu machen. Sie werden allein regieren können; Sie werden ein weiser, ein energischer König sein, und infolgedessen wird Ihr Einfluß in meiner Sache entscheidend sein. Ich habe Ihnen den Thron Frankreichs gegeben, Sie werden mir den Thron des heiligen Petrus geben. Und wenn dann Ihre edle, sanfte und doch starke Hand sich mit der Hand eines solchen Papstes vereint, dann wird weder Karl V., der zwei Drittel der Welt beherrschte, noch Karl der Große, der sie ganz beherrschte, an Ihre Macht heranreichen. Ich werde als Papst keine Vorurteile verfechten, keine Intrigen spinnen, keine Familienkriege anzetteln, keine Verfolgung von Ketzern befehlen; ich werde sprechen: Uns beiden die Welt: mir für die Seelen, Ihnen für die Leiber! – Was sagen Sie zu meinem Plane, Monseigneur?«
»Sie machen mich stolz und glücklich. Ja, Sie sollen Kardinal sein, dann erster Minister, und dann werden Sie mir angeben, was ich zu tun habe, um Ihre Wahl zum Papst zu sichern. Verlangen Sie Garantien?«
»Nein. Ich werde jederzeit zu Ihrem Vorteil handeln; wenn ich steige, wird auch Ihnen eine noch höhere Stufe bereitet sein. Ich werde mich Ihnen fern genug halten, um nicht Ihren Neid zu erwecken, und doch nahe genug, um Ihnen förderlich zu sein. Unsere Interessen sind wechselseitig.«
»Und mein Bruder wird verschwinden?« – »Auf die einfachste Weise. Wir holen ihn aus dem Bette, indem wir durch die Diele, die dem Druck des Fingers nachgibt, zu ihm hinabsteigen. Eingeschlafen unter einer Krone, wird er im Gefängnis erwachen.« – »Hier meine Hand, d'Herblay!« – »Erlauben Sie, daß ich vor Ihnen knie, Majestät! Umarmen werden wir uns an dem Tage, wo uns beiden die Stirn geschmückt ist, Ihnen mit der Krone, mir mit der Tiara.« – »Umarmen Sie mich heute schon!« rief Philipp, »und seien Sie für mich mehr als ein großer, erhabener Geist – seien Sie mein Vater!«
Als Aramis diese Worte hörte, hätte ihn beinahe die Rührung übermannt. Er glaubte in seinem Herzen eine bisher ungekannte Regung zu verspüren; doch es war ein flüchtiges Wallen, das ohne Spur vorüberging. – »Dein Vater,« dachte er, »ja, dein heiliger Vater!« – Und sie kehrten in den Wagen zurück und fuhren nach Schloß Vaux.
3. Kapitel. In Schloß Vaux
Das große Fest, zu dem Fouquet den Hof nach Schloß Vaux geladen, und das ihm nach seiner Befürchtung den Untergang, nach Aramis' Zuversicht die Rettung bringen sollte, hatte mit der Ankunft Ludwigs XIV. begonnen. Fouquet, der an den Prophetismus d'Herblays nicht glaubte, war entschlossen, in Ludwigs Brust einen Neid zu erwecken, den er bis an sein Lebensende nicht überwinden sollte. Schon die Wege waren von Melun an aufs sorgsamste hergerichtet worden, und man hätte auf dieser ganzen Strecke nicht einen eigroßen Kieselstein gesunden. Da die Wagen wie auf einem Teppich fahren konnten, langten die Herren und Damen noch des Abends um acht Uhr an, ohne die geringste Erschütterung erlitten zu haben, ohne die mindeste Müdigkeit zu spüren.
Sie wurden von Herrn und Frau Fouquet empfangen, und kaum hatte der König den Fuß auf den Boden des Schloßgartens gesetzt, so flammten rings an den Bäumen, Sträuchern und Marmorgruppen Lichter auf, die alles ringsum tageshell erleuchteten. Dieser Zauber währte so lange, bis die Majestäten den Palast betreten hatten. Noch am selben Abend überraschte Fouquet den König durch eine Entfaltung von Glanz, die selbst diese trotz ihrer Jugend schon übersättigten Augen blendete. Der große Reigen von luxuriösen Vergnügungen, die geplant waren, und die durch den Staatsstreich des Herrn d'Herblay ein so jähes Ende nehmen sollten, wurde mit einigen Prachtnummern eröffnet, die allein schon Unsummen kosteten. Bei diesem Anblick wurde das erst fröhliche, offene und glückliche Gesicht Ludwigs XIV. traurig, finster, zornig. Er dachte an seinen eigenen Haushalt, welcher im Gegensatz zu dem hier dargestellten Pomp armselig genannt werden mußte. Man speiste auf Gold, das noch nie benützt worden war, das berühmte neue Meister ziseliert hatten. Man trank Weine, die der König nicht einmal dem Namen nach kannte, und trank sie aus Bechern, von denen jeder einzelne kostbarer war, als der ganze königliche Keller.
Der König speiste schweigsam. Anna von Oesterreich hatte sich vorgenommen, alles zu tadeln, und handelte danach, Maria-Theresia, gutmütig und neugierig, interessierte sich für alles und machte kein Hehl aus ihrem Entzücken. Sie erkundigte sich nach gewissen Früchten, die aus Fouquets Treibhäusern waren, und wollte wissen, wie sie genannt würden. Fouquet antwortete, er wisse die Namen selber nicht. Ludwig merkte, daß er nur aus Taktgefühl so sprach, und fühlte sich um so mehr gedemütigt. Er ärgerte sich darüber, daß die Königin zu freundlich und die Königin-Mutter zu abweisend war. Er richtete seine ganze Sorgfalt darauf, die richtige Mitte in seinem Wesen innezuhalten.
Allein Fouquet hatte das alles vorausgesehen, denn er war ein Mann von großem Scharfblick. Der König hatte erklärt, auf Schloß Vaux sollten die Mahlzeiten nicht der Hofetikette unterworfen sein. Er wollte inmitten der andern sitzen. Doch der Ober-Intendant gab ihm einen abgesonderten Platz, im Zentrum der allgemeinen Tafel. Dieses wunderbar zusammengestellte Diner enthielt alle Lieblingsgerichte Ludwigs, und zwar in einer Zubereitung, die über alles Lob erhaben war. Der König hatte keinen Grund, ungehalten zu sein, und da er für den stärksten Esser seines Reiches galt, so konnte er auch nicht Mangel an Appetit vorschützen.
Fouquet tat noch mehr. Er setzte sich zunächst mit an die Tafel, doch als die Suppe verzehrt war, stand er auf und begann selbst den König zu bedienen, gleichzeitig erhob sich Frau Fouquet und bediente die Königin-Mutter. Ludwig konnte nicht anders als laut erklären: »Herr Fouquet, ein besseres Mahl anzurichten, ist nicht mehr menschenmöglich.« – Nun bekannte der gesamte Hof seinen Beifall, und zwar so ungeheuchelt, daß der König abermals zu schmollen begann und, als sein Hunger gestillt war, sich ernstlich schlechter Laune fühlte. Als das Festessen zu Ende war, begab er sich in den Park, der feenhaft erleuchtet war, ganz zu schweigen von dem Monde, der, als fügte er sich den Anordnungen des Schloßherrn von Vaux, die Teiche mit seinem Phosphorlicht versilberte. Es herrschte eine angenehme Kühle, und die Wege waren mit weichem Sande bestreut, welcher den Füßen wohltat.
D'Artagnan hatte an diesem Abend seine klugen Gaskogner-Augen offen gehalten und vieles bemerkt, was ihm nicht sehr geheuer vorkam. Er wollte Aramis befragen und lief so lange herum, bis er ihn traf. Er fand ihn in einem schönen Zimmer, welches man das blaue nannte, seiner Vorhänge wegen, und das d'Herblay mit Porthos teilte. Der Herr Baron saß in einem Lehnstuhl und erquickte sich, da er sehr viel gegessen hatte, durch ein Schläfchen. D'Herblay und d'Artagnan brauchen sich also an die Anwesenheit dieses Dritten nicht zu kehren.
Der Musketier fühlte, daß er das Gespräch eröffnen müsse, und begann denn auch mit den tiefsinnigen Worten: »So sind wir denn nun in Vaux.« – »Ja, in Vaux,« antwortete Aramis, »gefällt es Ihnen hier?« – »Sehr, und ich mag auch Herrn Fouquet sehr gern.« –
»Nicht wahr, er ist prächtig.« – »Es läßt sich nichts dagegen sagen, nur scheint Seine Majestät anderer Meinung zu sein.« – »Ich habe nicht darauf geachtet, weil ich mich in Gedanken mit dem Programm des morgigen Tages beschäftigt habe.« – »Ah, Sie sind wohl hier sozusagen Festordner? Wissen Sie, Aramis, es war schon heute alles so großartig, daß mir während des Soupers ein seltsamer Gedanke gekommen ist.« – »Und der wäre?« – »Ich habe bei mir gedacht,« sprach der Kapitän der Musketiere, »der wahre König von Frankreich sei gar nicht Ludwig XIV.« – »Hm!« murmelte Aramis und öffnete unwillkürlich die Augen um einen Spalt weiter. – »Nicht Ludwig XIV.,« fuhr der Gaskogner fort, »sondern Herr Fouquet.« – »Diese Redensart stammt doch sicherlich von Herrn Colbert,« sagte Aramis lächelnd. »Ein erbärmlicher Kerl, dieser Colbert! Und wenn man bedenkt, daß er in vier Wochen Ihr Minister sein wird –«
»Wie Fouquet der Ihrige,« warf d'Artagnan ein. – »Mit dem Unterschied,« sagte Aramis, »daß Fouquet ein ganz anderer Mann ist.«
»Wenn Herr Fouquet in vier Wochen schon zugrunde gerichtet sein wird,« sagte der Gaskogner, »warum gibt er dann noch Festlichkeiten? Weshalb haben Sie ihm nicht davon abgeraten?« – »Es handelt sich darum, sich den König gewogen zu halten.« – »Indem man sich für ihn zugrunde richtet?« meinte d'Artagnan. »Eine eigentümliche Spekulation. Und ich bin kein Freund von unnützen Narrheiten. Aramis, warum sind die Zimmer im Schloß sogar frisch gedielt worden, von den neuen Tapeten ganz zu schweigen?« – »Ich sagte das Herrn Fouquet auch, aber er antwortete mir, er sei reich genug, dem König ein ganz neues Schloß aufzubauen und es, nachdem der König darin geweilt, mit allem, was es enthalte, verbrennen zu lassen, damit die Gegenstände später von niemand anders benutzt würden.« – »Das ist rein spanisch,« meinte d'Artagnan. »Uebrigens können Sie das jedem andern erzählen, nur mir nicht. Sagen Sie mir doch ruhig die Wahrheit!«
»Freund, schon wieder argwöhnisch?« – »Sie wissen, ich habe instinktartige Eingebungen,« antwortete der Chevalier. »Früher glaubten Sie daran. Und hier scheint es mir, als wenn Sie mit einem geheimen Projekt umgingen.« – »Daß ich nicht wüßte,« erwiderte Aramis ruhig. »Wenn ich mit einem Projekt umgehe, das ich verschweigen muß, so werde ich schweigen – wenn es eins wäre, das ich Ihnen mitteilen könnte, so wüßten Sie es längst.« – »Aramis, es gibt Projekte, die man erst im günstigen Moment kundgibt.« – »Nun, dieser günstige Moment ist eben noch nicht gekommen.« sagte Aramis lächelnd.
D'Artagnan schüttelte den Kopf. »Freundschaft, Freundschaft!« murmelte er. »Ein eitler Begriff. Und das ist ein Mann, der sich für mich, wenn ich es verlangte, in Stücke hauen lassen würde.« – »Das ist wahr,« sprach Aramis edel. – »Und derselbe Mann, der das Blut all seiner Adern für mich hingeben würde, öffnet mir nicht einmal einen kleinen Winkel seines Herzens. Freundschaft, du bist nur ein leerer Wahn.« – »Reden Sie doch nicht so von unserer Freundschaft, d'Artagnan!« rief d'Herblay.
»Aramis,« versetzte der Kapitän, »ich will Ihnen etwas sagen. Gegen Colbert zu komplottieren, das wäre Ihnen zu gering. Hinter dem allen steckt also mehr, das steht für mich fest. Ob Sie nun reden oder schweigen wollen, so erkläre ich Ihnen mit aller Bestimmtheit, wir sind die besten Freunde, wir sind sogar Brüder, aber wenn Sie etwas gegen den König ins Werk setzen wollen, so kann ich Ihnen nicht helfen. Aber eins kann ich tun, Aramis, ich kann neutral bleiben, ja, ich kann versuchen, Sie zu retten.« – »Sie phantasieren, Freund,« erwiderte Aramis. »Was soll man einem legitimen König anhaben? Und dann sind Sie ja mit den Musketieren da. Nein, d'Artagnan, wenn es meine Absicht wäre, den Sohn Annas von Oesterreich, den wahren König von Frankreich, auch nur mit einem Finger anzurühren, wenn ich nicht willens wäre, mich vor seinem Throne niederzuwerfen und den morgigen Tag auf Schloß Vaux zum glorreichsten von allen Tagen meines Königs zu machen – dann möge mich der Blitz zermalmen!«
Er sprach diese Worte in seltsamer Betonung mit gegen die Wand gekehrtem Gesicht. Indessen stellten sie den Musketier zufrieden, er faßte d'Herblays Hand und drückte sie herzlich. – »Gehen Sie fort?« fragte Aramis. »Dann nehmen Sie Porthos mit.« – »Wohnt er nicht bei Ihnen?« – »Gott bewahre! er hat sein eigenes Zimmer. Das wäre schön, wenn er hier schliefe, denn unter mir wohnt der König, und Porthos schnarcht wie eine Kanone.« – Der Kapitän weckte den Riesen und ging Arm in Arm mit ihm hinaus. Aramis und Porthos getrennt zu wissen, benahm ihm die letzte Spur von Argwohn.
Sobald sie gegangen, trat Aramis zur Wand und drückte auf eine Feder; die Tapete öffnete sich und zeigte einen kleinen Raum, aus dem Philipp, der ehemalige Gefangene der Bastille, hervortrat. – »Herr d'Artagnan hat Verdacht geschöpft,« murmelte er. – »Haben Sie ihn erkannt?« fragte Aramis. »Ja, das war der Kapitän Ihrer Musketiere.« – »Er ist mir sehr ergeben.« – »Wie ein Hund, der manchmal beißt,« antwortete d'Herblay. »Wenn d'Artagnan Sie nicht erkennt, ehe der andere beiseitegeschafft worden ist, dann können Sie auf Ihren Kapitän zählen in alle Ewigkeit. Wenn er nichts gesehen hat, bleibt er treu, und hat er zu spät etwas gemerkt, so ist er Gaskogner und gibt nie zu, daß er sich hinters Licht führen ließ. Doch sehen Sie jetzt hierher!« fuhr Aramis fort und schob ein fensterbreites Stück der Diele zur Seite. Darauf kam eine Oeffnung zum Vorschein, durch die man wie durch einen Schleier in das untere Zimmer blicken konnte.
Philipp sah hinab und zuckte zusammen. »Der König!« flüsterte er. – »Ja, und geben Sie acht, was er tun wird.« – »Colbert ist bei ihm,« sagte Philipp. »Ich erkenne den Mann mit den dicken Brauen und dem unförmigen Schädel. Sie haben Ihre Porträts trefflich gezeichnet, Herr d'Herblay.« – Aramis nickte. »Sie sahen nun, wie Ludwig XIV. den Intendanten mit außergewöhnlicher Huld empfing. – »Colbert,« sprach er, »Sie haben heute alles mögliche getan, um mir die Laune zu verderben.« – »Ich weiß, Sire,« sprach Colbert. – »Sehr gut, die Antwort gefällt mir. Sie haben Mut gezeigt. Nun denn, waren Sie meinetwegen besorgt?« – »Und wäre es nur ein verdorbener Magen, Sire,« antwortete Colbert, »man gibt solche Feste nur, um den König unter der Last schwerer Speisen zu ersticken.«
»Woher nimmt er das Geld, um die ungeheuern Auslagen zu bestreiten?« sagte der König. »Wissen Sie das vielleicht?« – »Ja, ich weiß es, Sire.« – »So erklären Sie es mir.« – »Sire, die Lebenden sehen Herrn Fouquets Reichtum und klatschen Beifall, aber die Toten, die weiser sind als wir, kennen die Quelle dieses Reichtums und klagen an.«
»Sie müssen vertrauensvoller mit mir sprechen, Colbert,« sagte Ludwig XIV., »fürchten Sie nichts, wir sind allein.« – »Ich fürchte nie etwas, Sire, wenn ich mich im Schutze meines Gewissens und meines König weiß.« – »Nun also,« unterbrach Ludwig ihn. »Wenn die Toten reden könnten–?« – »Sie können bisweilen doch reden,« sagte Colbert. »Hier, lesen Sie, Sire!« Und er legte ihm einen jener Briefe Mazarins vor, die Frau von Chevreuse ihm verkauft hatte.
»Ich verstehe das noch nicht ganz,« murmelte der König, als er gelesen hatte. »Es handelt sich da um Geld, das man Herrn Fouquet gegeben. Um dreizehn Millionen. Fehlt dieser Betrag etwa in der Gesamt-Abrechnung?« – »Das ist nachgewiesen,« antwortete Colbert. »Aus diesem Briefe geht deutlich hervor, daß Herr Fouquet diese dreizehn Millionen für sich genommen hat. Mit einem solchen Betrage kann man schon Feste geben.«
»Colbert, das wäre ja eine Unterschlagung,« murmelte Ludwig XIV. »Und wenn ich nicht Gast des Herrn Fouquet wäre –« – »Eure Majestät sind überall zu Hause,« erwiderte Colbert, »und zumal in Häusern, die man von Ihrem Gelde erbaut hat.«
»Mich dünkt,« flüsterte Philipp oben Aramis zu, »der Mann, der dieses Haus errichtete, hätte die Decke dieses Zimmers beweglich machen sollen, damit man sie jetzt auf den Kopf dieses schwarzen Schurken herabfallen lassen könnte!« – »Mein Prinz, horchen Sie weiter,« antwortete d'Herblay. – »Wir werden nicht mehr lange zu horchen haben,« sagte Philipp. – »Wie das, Hoheit?«
fragte der Bischof. – »Weil ich nichts mehr zu antworten hätte, wenn ich König wäre,« antwortete der Prinz. – »Und was würden Sie tun?« – »Bis morgen warten, um nachzudenken.«
Ludwig XIV. erhob sich in demselben Augenblick und sprach: »Colbert, es ist spät, ich will zu Bett gehen. Morgen werde ich Ihnen meinen Entschluß bekanntgeben.« – Colbert schritt rückwärts der Tür zu. Der König rief seine Diener und ließ sich entkleiden. Philipp wollte seinen Beobachtungsposten verlassen, doch Aramis sprach: »Ein Weilchen noch! Das ist auch sehr lehrreich. Sie lernen dabei den Nachtdienst, die Etikette des Schlafengehens kennen, und morgen müssen Sie ganz genau wissen, wie ein König sich zu Bett legt.«
Der neue Tag brachte neue Mannigfaltigkeit an Prunk und Freuden. Fouquet zeigte sich als Mäcen inmitten einer großen Zahl von Künstlern; da sah man Lafontaine, den berühmten Fabeldichter, Molière, den Schauspieler und Verfasser beliebter Komödien, Lebrun, den ausgezeichneten Maler, dazu Gelehrte aller Fächer. Alle Wunder von Tausendundeiner Nacht schienen sich in den Gärten von Vaux zu entfalten; eine orientalische Märchenwelt war nach Frankreich verpflanzt worden und blendete mit noch nie gesehenen Veranstaltungen, mit fast unerklärlichen Zauberspielen die Augen der Zuschauer. Aber je größer die Pracht war, um so größer wurde Ludwigs Neid. Man sah den König nicht ein einziges Mal lächeln, und alle, die ihn kannten, flüsterten sich zu, es drohe ein Unwetter. Colbert, der wohl von allen Höflingen den schärfsten Blick hatte, erkannte zu seiner Befriedigung, daß der König sich mit einem finstern Entschluß trug.
Der Abend kam heran; der König wünschte erst nach dem Spiel spazieren zu gehen. Es wurde also zwischen dem Souper und der Promenade »gejeut«. Ludwig gewann tausend Pistolen, steckte sie in die Tasche und rief: »Auf in den Park, meine Herren!« – Aber Fouquet hatte es verstanden, 10 000 Pistolen zu verlieren, und zwar so, daß einem jeden der Höflinge ein Teil der Summe zufiel. Man gehorchte daher nur zögernd der Aufforderung des Königs, die Spieltische zu verlassen. Das reizte den erlauchten Gast nur noch mehr gegen seinen Wirt auf. Er sah die Gesichter der Herren und Damen strahlen und wußte, daß er selbst mit gar saurer Miene unter ihnen stand.
An der Ecke einer Allee wartete Colbert auf ihn. Ohne Zweifel kam der Intendant auf grund eines geheimen Einverständnisses dorthin; denn bisher war Ludwig ihm aus dem Wege gegangen; jetzt aber gab er ihm einen Wink, und Colbert trat herzu. Beide schritten tiefer in den Park hinein.
Aber auch Luise von Lavallière hatte den finstern Blick, die flammende Stirn des Königs bemerkt, und da ihr liebendes Auge alle Regungen dieser Seele zu erspähen vermochte, so ahnte sie, daß von seinem Zorne jemand Gefahr drohe. Sie stellte sich als Engel des Erbarmens auf den Weg der Rache.
Colbert blieb bei ihrem Anblick stehen und ließ sie allein mit dem König. – »Fräulein,« sprach Ludwig, erfreut, sie zu sehen, »Sie scheinen traurig zu sein. Ihr Auge ist feucht, Ihre Brust atmet beklommen.« – »O, Sire, es ist, weil ich Sie traurig sehe.« – »Sie irren sich, Fräulein, ich bin nicht betrübt. Ich fühle mich nur niedergedrückt, ja, um es beim rechten Namen zu nennen, gedemütigt.« – »Was sagen Sie da, Majestät?« – »Ich meine damit, wo ich bin, sollte kein anderer Herr sein. Hier aber bin nicht ich König, sondern Fouquet, und wenn ich bedenke, daß er all den Glanz, den er entfaltet, nur einem Diebstahl verdankt, einem an mir begangenen Diebstahl –!«
»O, Majestät!« rief die Lavallière. – »Wollen Sie etwa Herrn Fouquet verteidigen?« unterbrach Ludwig sie.
»Keineswegs, Sire,« antwortete Luise. »Ich frage nur, ob Sie recht berichtet sind. Majestät haben schon öfter erfahren, welchen Wert bei Hofe die Beschuldigungen haben.« – »Colbert!« rief der junge Fürst, »sprechen Sie! Fräulein von Lavallière bedarf Ihrer Bestätigung, um an das Wort ihres Königs zu glauben. Sagen Sie dem Fräulein, was Herr Fouquet verbrochen hat. O, es ist rasch gesagt, Fräulein, hören Sie bitte ruhig zu.«
Warum drang Ludwig darauf? Weil sein eignes Herz nicht ruhig war, weil er noch nicht völlig von Fouquets Schuld überzeugt war. Er witterte unter dieser Geschichte von den dreizehn Millionen tückische Anschläge und wollte das reine Gemüt der Lavallière zum Schiedsrichter aufrufen. Sie sollte, empört über diesen Diebstahl, durch ein einziges Wort den schwankenden König in seinem Vorhaben bekräftigen.
»O, sprechen Sie, Herr,« sagte die Lavallière zu Colbert, »was für ein Verbrechen hat Herr Fouquet begangen?« – »O, nur eine kleine Unterschlagung, mein Fräulein,« antwortete der Intendant. – »Erklären Sie es, Colbert,« sprach Ludwig, »und wenn Sie fertig sind, so schicken Sie mir Herrn d'Artagnan her.« – »O, warum ihn, Sire? Ich bitte, mir das zu sagen!« rief Luise. – »Nun, um diesen stolzen Schloßherrn zu verhaften, der mir die Macht zu entreißen versucht.« – »Herrn Fouquet verhaften?« erwiderte die Lavallière. »Hier, wo Sie sein Gast sind?« – »Warum nicht? Wenn er schuldig ist! Er ist es hier so gut wie anderswo.'«
»Er richtet sich in diesem Moment zugrunde, um seinen König zu ehren,« sagte die Lavallière. – »Ich glaube wirklich, Fräulein, Sie nehmen Partei für diesen Verräter,« rief der König. – »Nein, Sire, wenn ich so spreche, geschieht es nur in Ihrem Interesse; denn Sie entehren sich, wenn Sie einen solchen Befehl geben.« – »Ich entehre mich?« murmelte der König ungehalten. »In der Tat, Fräulein, Sie entwickeln da einen höchst sonderbaren Eifer.« – »Das tue ich stets, wenn ich Ihnen dienen kann, Sire,« erwiderte Luise. »Und mit dem gleichen Eifer würde ich, wenn es nötig wäre, mein Leben für Sie hingeben.«
Colbert wollte etwas sagen, da wendete dieses sanfte Lamm sich wider ihn und gebot ihm flammenden Auges Schweigen. »Mein Herr!« rief sie, »wenn der König unbewußt unrecht tut, so liebe ich ihn zu sehr, als daß ich es ihn tun ließe, ohne ihn darauf aufmerksam zu machen.« – »Fräulein,« entgegnete Colbert, »ich glaube, ich liebe den König ebenfalls.« – »Wir lieben ihn beide, jeder nach seiner Art,« sprach Luise in einem Tone, der dem jungen König zu Herzen ging. »Nur liebe ich ihn so innig, daß es alle Welt weiß und er selbst nicht daran zweifelt. Er ist mein König und mein Herr, und ich bin seine ergebene Dienerin. Aber wer an seine Ehre greift, der greift mir ans Leben. Und deshalb wiederhole ich, wer dem König den Rat gibt, Fouquet in dessen Hause verhaften zu lassen, der entehrt den König!«
»Fräulein,« versetzte Colbert, »ich habe nur ein Wort zu sagen.« – »Sparen Sie es sich! Ich würde Sie doch nicht anhören. Was könnten Sie mir sagen? Daß Herr Fouquet ein Verbrechen begangen? Das weiß ich, weil der König es gesagt hat; und von dem Moment an, wo der König es sagt, glaube ich es, niemand braucht es zu bestätigen oder zu beweisen. Aber wäre Herr Fouquet auch der ärgste Schurke, so würde ich dennoch erklären, er ist für den König unverletzlich, weil der König sein Gast ist!«
Die Lavallière schwieg. Wider Willen mußte der König sie bewundern. Die Wärme ihrer Sprache, der Adel ihrer Gründe überzeugten ihn. Colbert gab den ungleichen Kampf auf. Ludwig schüttelte den Kopf. »Ah, Fräulein, weshalb sprechen Sie gegen mich?« rief er traurig. »Sie wissen nicht, was dieser Elende tun würde, wenn ich ihn nicht im Zaume hielte!« – »Mein Gott, ist er nicht eine Beute, die Ihnen jederzeit anheimfallen muß?« – »Aber wenn er entflieht?« – »Majestät, es wäre ein ewiger Ruhm für den König, Herrn Fouquet entfliehen zu lassen, und je größer seine Schuld wäre, desto größer würde der Ruhm des Königs sein!«
Ludwig küßte der Lavallière die Hand und ließ sich zu ihren Knien nieder. Colbert glaubte sich verloren, als ihm plötzlich ein Gedanke kam. Rasch zog er sein Notizbuch, und während Ludwig XIV., verdeckt von einer breiten Linde, die Lavallière liebevoll an sich drückte, zog Colbert ein schon etwas vergilbtes Briefchen hervor, betrachtete es lächelnd und näherte sich dem Paare.
Gleichzeitig kamen in einiger Entfernung mehrere Fackeln zum Vorschein. »Geh, Luise,« sprach der König, »man kommt.« – Luise verschwand schnell unter den Bäumen. Als Ludwig XIV. gehen wollte, sagte Colbert bescheiden: »Fräulein von Lavallière hat etwas verloren.« – »Was denn?« fragte der König. – »Einen Brief, wie mich dünkt,« sagte Colbert und deutete auf etwas Weißes, das am Boden lag. Der König bückte sich und hob das Papier auf. Fackeln erschienen und beleuchteten tageshell die finstere Allee.
Ein Lichtmeer umflutete die Gruppe von Damen und Herren, die herbeikam, in ihrer Mitte Fouquet selbst. Man suchte den König, um ihm das Feuerwerk zu zeigen, das auf dem großen Platze vor dem Schlosse gen Himmel stieg. Und beim Scheine dieses Feuers las nun Ludwig jenen Brief, den Fouquet vor einiger Zeit auf d'Herblays Rat an Fräulein von Lavallière geschrieben, in dem er ihr die Liebe erklärte. Fouquet hatte den Brief zurückholen wollen, von Fräulein von Lavallière aber erfahren, daß sie ihn gar nicht erhalten habe. Der Diener, den er mit der Besorgung beauftragt, machte sich anheischig, das Schreiben wieder zur Stelle zu schaffen, ging fort und kam nicht wieder. Er war seither verschwunden, und der Ober-Intendant hatte im Drange der Geschäfte die Angelegenheit vergessen. Colbert, der listige Minierer, war in den Besitz des an sich unbedeutenden Briefchens gelangt, das er nun zu einer wertvollen, ja vernichtenden Waffe umzuwandeln verstand.
Ludwig XIV. erbleichte beim Lesen; sein Gesicht, von dem Schein des Feuers beleuchtet, erschreckte alle, die es sahen, so offenbar war das wilde Spiel der Leidenschaften, die in seinem Herzen tobten. Eifersucht und Wut waren die furchtbaren Dämonen, die den König beherrschten, und von dem Augenblick, wo er erkannte, weshalb Fouquet in der Lavallière eine Fürsprecherin gefunden, verschwand alles: Mitleid, Sanftmut und Ehrfurcht vor der Gastfreundschaft. Nur mit größter Mühe bezwang er sich soweit, daß er nicht laut aufschrie und ohne weiteres seine Musketiere herbeirief. Fouquet sah den König erbleichen, doch konnte er sich nicht die Ursache dieser Mißstimmung erklären; Colbert wußte, welche Bewandtnis es hatte, und frohlockte.
»Majestät, was haben Sie?« fragte Fouquet ehrerbietig. – »Nichts,« antwortete Ludwig schroff, und ohne das Ende des Feuerwerks abzuwarten, begab er sich ins Schloß. Alle folgten ihm nach. Die letzten Raketen verpufften ungesehen.
Der Ober-Intendant glaubte, es habe zwischen dem König und Fräulein von Lavallière eine kleine Meinungsverschiedenheit gegeben, und diese Erklärung befriedigte ihn. Er trat lächelnd vor den König hin, um ihm eine gute Nacht zu wünschen. Es war großer Dienst an diesem Abend; denn es war der letzte, den der Hof in Schloß Vaux verbringen sollte. Am folgenden Morgen gedachte der König die Rückreise anzutreten. Da mußte man doch dem freigebigen Wirt Dank erzeigen für die zwölf Millionen, die er für das Fest ausgegeben hatte. Der König entließ den Ober-Intendanten mit den Worten: »Sie werden von mir hören, Herr Fouquet. Einstweilen schicken Sie mir bitte Herrn d'Artagnan her.«
Ludwig XIV. vermochte sich schlecht zu verstellen, wenn das Blut ungestüm in seinen Adern wallte. Am liebsten hätte er Fouquet erwürgt, wie sein Vorgänger den Marschall d'Ancre ermorden ließ. Er verbarg jedoch seinen furchtbaren Entschluß unter einem königlichen Lächeln. Fouquet nahm des Königs Hand und küßte sie. Ludwig bebte am ganzen Körper, doch ließ er es zu, daß die Lippen des Ministers seine Hand berührten.
Fünf Minuten später trat d'Artagnan in Ludwigs Zimmer. Im oberen Gemache standen Aramis und Philipp wieder auf dem Posten. Der König ließ dem Kapitän nicht einmal Zeit, bis zu seinem Lehnstuhl vorzutreten. – »Wieviel Mann haben Sie mit?« rief er ihm zu. – »Was gibt es zu tun?« antwortete d'Artagnan.– »Wieviel Mann Sie hier haben, frage ich,« versetzte der König, mit dem Fuße stampfend. – »Die Musketiere, die Garden und dreizehn Schweizer.« – »Wieviel Leute braucht man, um –« – »Um?« fragte der Kapitän und sah den König mit seinen großen, ruhigen Augen an. – »Um Herrn Fouquet zu verhaften?«
D'Artagnan trat einen Schritt zurück und rief: »Herr Fouquet soll verhaftet werden?« – »Sagen Sie etwa auch, es sei unmöglich?« schrie Ludwig in wildem Zorne. – »Ich nenne nichts unmöglich,« antwortete d'Artagnan verletzt. – »Nun, so tun Sie es.« – »Ich bitte um einen schriftlichen Befehl.« – »Seit wann genügt Ihnen das Wort des Königs nicht mehr?« – »Weil das königliche Wort, sobald es vom Zorn diktiert wird, sich verändern kann, wenn der Zorn schwindet,« erwiderte der Musketier ruhig. »Sire, Sie lassen da einen Mann verhaften, während Sie noch sein Gast sind, das tut nur der Zorn. Wenn Sie nicht mehr im Zorn sind, will ich Ihnen dann Ihre eigne Unterschrift zeigen können. Donnerwetter, Sire! Der Mann richtet sich zugrunde, um Ihnen zu gefallen, und Sie lassen ihn verhaften. Wenn ich Fouquet wäre, würde ich mit Brandraketen mich und alles im Schlosse in die Luft sprengen. Aber ja doch, es gilt mir gleich – hier habe ich meinen Befehl, und so gehe ich denn.«
»Ja! Gehen Sie! Kein Wort weiter! Und nehmen Sie genug Leute mit!« – »Glauben Sie denn, ich würde einen ganzen Zug Reiter mitnehmen? Herrn Fouquet zu verhaften, ist so leicht, daß ein Kind es tun könnte. Herrn Fouquet zu verhaften, ist nicht schwerer, als ein Glas Wermut zu trinken. Man macht eine saure Miene, das ist alles.« – »Wieso? Er wird sich zur Wehr setzen!« rief der König. – »Er denkt so wenig daran, daß er seine letzte Million dafür hingeben würde, ein solches Ende zu finden! Sich zur Wehr setzen, wo eine solche Behandlung von seiten des Königs ihn zum größten Märtyrer seiner Zeit macht? Doch genug, ich gehe zu ihm.«
»Es soll nicht öffentlich geschehen,« sagte Ludwig. – »Das ist schon schwieriger,« antwortete d'Artagnan. »Denn das einfachste wäre natürlich, hinzugehen und mitten unter seine Bewunderer zu treten mit dem Rufe: Ich verhafte Sie im Namen des Königs! Allein ihn zu bewachen als Gefangenen, so daß niemand etwas davon merkt, das ist eine heikle Sache, zu der hundertmal geschicktere Leute gehören –« – »Mein Gott, sagen Sie bloß noch, es sei unmöglich!« rief Ludwig. »Werde ich denn immer von Leuten umgeben sein, die mich hindern zu tun, was ich will?« – »Ich hindere Sie in nichts, Sire.« – »So bewachen Sie mir Herrn Fouquet, bis ich morgen einen Entschluß gefaßt habe.« – »Das wird geschehen, Sire.« – »Und finden Sie sich morgen zum Lever ein, um meine Befehle entgegenzunehmen.« – »Ich werde zur Stelle sein.« – »Und jetzt lasse man mich allein!«
»Befehlen Sie nicht Herrn Colbert?« fragte d'Artagnan mit unnachahmlicher Ironie. – Der König fuhr zusammen. – »Nein,« rief er. »Ich will niemand sehen. Gehen Sie!« – Er schloß hinter dem Kapitän die Türe selber zu und schritt wütend auf und nieder, wie ein verwundeter Stier. Endlich riß er auf der Brust das Gewand auseinander und rief: »Ah, du Elender! Du raubst mir nicht bloß mein Geld, sondern bestichst damit auch Staatsmänner, Künstler, Dichter und Gelehrte, daß sie dir den Hof machen! Und nicht genug damit! auch mein Liebstes wolltest du mir stehlen! Ha, darum hat die Treulose ihn in Schutz genommen! Es geschah aus Dankbarkeit – wer weiß? vielleicht gar aus Liebe!« – Er knirschte vor Grimm. – »Er greift mit seinen goldenen Händen in alles hinein. Er besudelt mir alles. Er wird mich noch töten. Er ist zu mächtig, zu hoch – er ist mein Todfeind – er muß fallen – ich hasse ihn – ich hasse ihn – ich hasse ihn!«
Mit diesen Worten schlug er auf die Lehne des Stuhls, in den er schlaff hineinsank. – »Morgen!« murmelte er. »Morgen wird niemand anders als ich mit der Sonne wetteifern. Dieser Mann soll so tief fallen, daß man an den Trümmern, die sein Sturz hinterläßt, erkennen soll, daß ich doch noch mächtiger bin, als er je gewesen.« – Er warf mit einem Faustschlag einen Tisch um, der an seinem Bette stand, und warf sich keuchend und vor Wut schäumend angezogen, wie er war, in die Kissen von Seide.
4. Kapitel. Vom Thron in die Bastille
Nach einer Viertelstunde wurde der König ruhig. Sein Kopf versank tief in den kostbaren Spitzen des Pfühls, seine Arme sanken schlaff hernieder, aus seiner Brust stiegen, kaum noch vernehmlich, die letzten Seufzer
seines Grimms; dann schloß er die Augen und schlief ein. Er hatte einen an abwechslungsvollen Vergnügungen reichen Tag hinter sich, und all die Szenen, die er erschaut, zogen jetzt vor seinem träumenden Gemüt vorüber und vermischten sich zu einem tollen, phantastischen Tanze. Inmitten dieser verworrenen Visionen zeigte sich plötzlich die Gestalt eines Mannes, der vom Himmel herabzuschweben schien. Er legte die Hand aus den Mund und neigte sich über das Bett. Und diese Traumgestalt glich ihm selbst so völlig, daß er sein eigenes Bild zu sehen vermeinte. Dann war es, als wenn der Fußboden sich bewegte, das Bett geriet in eine schaukelnde Bewegung und begann zu versinken. Eine kalte, feuchte Luft war um ihn her; an Stelle der golddurchwirkten Tapeten, der brokatnen Vorhänge, zeigten sich jetzt graue, triefende Mauern. Es wurde immer finsterer, und mit einem Male hörte die Bewegung auf.
»Das ist ein schrecklicher Traum,« murmelte Ludwig XIV. »Aber es ist doch nur ein Traum.« – »So erwachen Sie!« sprach eine finstere Stimme, bei deren Klang Ludwig heftig erschrak und erkannte, daß er die Augen schon auf hatte. Rechts und links von sich sah er zwei vermummte Männer, bewaffnet und in weite Mäntel gehüllt. Einer trug eine Blendlaterne, deren rötlicher Schein unheimlich an den finstern Mauern auf und nieder zuckte.
Der König sprang von dem Bett auf und richtete sich vor dem Manne empor, der die Lampe hielt. »Was bedeutet dieses Possenspiel?« rief er. – »Es ist kein Possenspiel« antwortete der Maskierte in dumpfem Tone. – Der König wendete sich an den andern Mann und sprach: »Wenn das eine der Überraschungen des Herrn Fouquet ist, so sagen Sie ihm, ich finde sie ungeziemend und wünsche sie nicht fortgesetzt zu sehen.« – Der zweite Mann, von hünenhaftem Wuchs und gewaltigem Umfange, antwortete gar nichts. – »Nochmals, was wollen Sie mit mir machen?« rief der König außer sich. »Wo bin ich hier?« – »Sehen Sie sich um,« antwortete der Mann, der die Lampe trug. – Aber Ludwig sah noch immer nur feuchte Mauern, auf denen hier und da die silbernen Schleimspuren von Schnecken glitzerten.
»Ein Kerker!« murmelte Ludwig. – »Nein, nur ein unterirdischer Raum,« antwortete der Mann. »Folgen Sie uns.« – »Ich rühre mich nicht von der Stelle,« sagte der König. – »Wenn Sie rebellisch sind, junger Freund,« sagte jetzt der Riese mit dröhnendem Baß, »dann packe ich Sie und wickle Sie in einen Mantel wie einen gestohlenen Schinken, verstanden?« – Dabei legte er auf die Schulter des Königs eine so schwere Faust, daß die Majestät fast in die Knie gesunken wäre. Ludwig erkannte, daß er wehrlos sei und sich in den Willen dieses gewalttätigen Menschen fügen müsse. Er schüttelte den Kopf.
»Ich scheine da in die Hände zweier Mörder gefallen zu sein,« sprach er. »Vorwärts!« – Sie durchschritten nun einen langen Korridor, der viele Windungen machte und unzählige versteckte Türen und Treppenstufen hatte. Alle Schlösser öffnete der Mann mit der Lampe, der einen großen Schlüsselbund am Gürtel trug. Bei einer letzten Tür gab der riesenhafte Mann Ludwig einen Stoß in den Rücken und schob ihn so ins Freie hinaus.
»Wagen Sie es, mich zu schlagen?« murmelte Ludwig. »Was tun Sie mit dem König von Frankreich?« – »Vergessen Sie diesen Titel!« sagte der Mann mit der Lampe. – »Man sollte Sie aufs Rad flechten,« brummte der Hüne, »weil Sie die Frechheit haben, sich König zu nennen, aber Ludwig XIV. ist barmherzig.« – Der Monarch begriff nicht. Doch im nächsten Moment hatten die beiden ihn in eine Kutsche gesetzt, der Mann mit der Lampe stieg zu ihm, der Riese kletterte auf den Bock, und der Wagen fuhr davon. Nach einer Weile machte man halt und spannte neue Pferde ein. Dann ging es weiter, und als der König nach einigen Stunden zum Fenster hinausspähte, sah er, daß der Tag graute und die Kutsche in Paris einfuhr. Gleich darauf wurde ein großes Tor passiert, in dem Ludwig zu seinem Schrecken das Hauptportal der Bastille erkannte. Sein Begleiter sprach an allen Posten und Barrieren nur die Worte: »Im Namen des Königs!« und nach einer Weile hielt der Wagen an, und die Stentorstimme des Mannes auf dem Bock rief: »Weckt den Gouverneur!«
Baisemeaux erschien im Nachtgewande an der Schwelle seiner Tür. »Was gibt es denn?« rief er, »und wen bringt man mir da?« – Der Mann mit der Lampe öffnete den Kutschenschlag und sprach ein paar Worte mit dem auf dem Bocke. Der stieg herab, nahm ein Gewehr zur Hand, das er unterm Mantel trug, und richtete die Mündung, den Hahn spannend, auf die Brust des Gefangenen. – »Sobald er nur ein Wort spricht,« sagte der Mann mit der Lampe ganz laut, »schießen Sie.« – »Gut,« sagte der andere, ohne sich zu bedenken.
Darauf schritt der Mann mit der Lampe zu dem Gouverneur. »Herr d'Herblay!« rief dieser. – »Still!« unterbrach Aramis ihn. »Gehen wir auf Ihr Zimmer!« – »O, mein Gott!« flüsterte Baisemeaux, »was führt Sie denn zu dieser Stunde hierher?« – »Ein Irrtum, lieber Baisemeaux,« antwortete der Bischof. »Sie scheinen neulich, was jenen Freilassungsbefehl für Marchiali betrifft, recht gehabt zu haben.« – »Was? Ich habe doch gleich daran gezweifelt, nur daß Sie mich dann gezwungen haben, Marchiali doch ziehen zu lassen!« rief Baisemeaux. – »Gezwungen?« erwiderte Aramis. »O, welches häßliche Wort gebrauchen Sie da, lieber Freund? Bewogen, wollen wir sagen. Ich habe Sie bewogen, Marchiali trotzdem freizugeben. Nun, es war ein Irrtum. Man hat ihn im Ministerium eingesehen, und ich bringe Ihnen nun einen Freilassungsbefehl für den armen Kerl, den Seldon. Hier, lesen Sie selbst!«
»Meiner Treu,« rief der Gouverneur. »Das ist derselbe Befehl, den ich damals gesehen habe. Ich erkenne ihn an diesem Tintenklecks wieder. Und was ist mit Marchiali?« – »Den bringe ich zurück.« – »Das genügt mir aber nicht,« versetzte der Gouverneur. »Ich muß zu seiner Wiederaufnahme auch einen Befehl haben.« – »Schwatzen Sie keinen Unsinn!« entgegnete Aramis. »Sie haben ja gar keinen Befehl erhalten, ihn freizulassen.« – »Aber erlauben Sie!« rief Baissemeaux und nahm aus seinem Schreibtisch die damals von Aramis untergeschobene, auf Marchiali lautende Order. D'Herblay ergriff das Papier, zerriß es und verbrannte die Fetzen an der Lampe. »So, nun haben Sie keinen Befehl mehr. Höchst einfach!« setzte er hinzu. »Ich bringe Marchiali wieder, und alles ist so, als wäre er überhaupt nie hinausgekommen. Sie geben mir jenen Seldon, und die ganze Geschichte ist abgetan.«
»Aber weshalb soll denn Marchiali wieder her?« fragte Baisemeaux, der nichts von dem allen begriff. – Aramis näherte die Lippen seinem Ohre und antwortete:
»Sie wissen ja von jener großen Aehnlichkeit. Nun, sobald Marchiali frei war, rühmte er sich dieser Aehnlichkeit und behauptete ganz keck, er sei der König von Frankreich. Er kleidete sich genau so wie der König und ging tatsächlich mit dem Gedanken um, Ludwig XIV. vom Throne zu verdrängen.« – »Der Unglückselige!« rief der Gouverneur. – »Und deshalb bringe ich ihn wieder,« fuhr Aramis fort. »Er darf mit niemand zusammenkommen und muß ganz abgesondert gehalten werden. Sein Wahnwitz ist dem König zu Ohren gekommen, und es steht jetzt – merken Sie sich das wohl, lieber Baisemeaux – die Todesstrafe darauf, jemand anders als mich und den König selbst zu ihm zu lassen. Bringen Sie ihn alsbald in seine Zelle zurück.«
Baisemeaux ließ die Trommel rühren und die Wache ins Gewehr treten. Dann übernahm er den Gefangnen, dem Porthos noch immer das Gewehr vor die Brust hielt. – »Ja, er ist es, der Unglückliche!« murmelte Baisemeaux, als er ihn erblickte.
So wurde Ludwig XIV. nach dem nördlichen Turm gebracht, in jene Zelle, die sein bedauernswerter Zwillingsbruder bis dahin innegehabt hatte. Er trat in den Kerker, ohne ein Wort zu sprechen. Er stand da, totenbleich, wie betäubt, und sah regungslos zu, wie die schwere Tür zugeschlossen wurde. Aramis schärfte dem Gouverneur noch einmal die Verhaltungsmaßregeln ein, dann wendete er sich an Porthos: »Auf, Freund, zurück nach Vaux!«
»Man fühlt sich leicht wie eine Feder,« antwortete Porthos, »wenn man seinem König wacker gedient und durch diesen Dienst obendrein noch das Vaterland gerettet hat.« – Die Kutsche rollte über die Zugbrücke, die hinter ihnen wieder in die Höhe stieg.
Der junge König sah sich um. Ja, es war kein Zweifel, er befand sich in der Bastille – in jenem Gefängnis, das während seiner Regierung zu einer unheimlichen Bedeutung gelangte, zu einem Massengrabe für die Menschen wurde, in welchem sie lautlos und spurlos verschwanden. Doch was bedeutete das? Er war entthront, gefangengesetzt – er, der gestern noch allmächtige König von Frankreich! War es denn möglich? Oder war das alles vielleicht doch ein Traum, ein Alpdruck nach einer allzureichen Mahlzeit?
Als er sich diese Frage vorlegte, schlug ein Geräusch an sein Ohr, und er wandte den Kopf. Da sah er am Kamin eine große Ratte, die den Rest einer Brotrinde benagte und den neuen Gast mit ihren kleinen Augen neugierig anguckte. Der Ekel stieg dem König zum Halse empor, er stieß einen Schrei aus und wich zur Tür zurück. Er wußte nun, es war kein Traum, es war furchtbare, krasse Wirklichkeit. Das widerliche Tier, der Genosse der Eingekerkerten, der Schmarotzer der Gefängnisse, war der lebende Beweis dafür.
»Gefangen!« rief er aus. »Ich bin gefangen!« – Er sah sich um, ob nicht irgendwo eine Klingel wäre. – »Es gibt keine Klingeln in der Bastille, ich weiß es wohl,« sprach er vor sich hin. »Aber wie ist das gekommen? Durch ein Komplott des Herrn Fouquet, und sein Agent war jener d'Herblay, den er mir vorstellte. Ich habe diesen Menschen unter seiner Maske erkannt. Colbert hat recht gehabt! Doch was will Fouquet? Will er an meiner Stelle König werden? Das ist unmöglich! Doch wer weiß? Vielleicht handelt mein Bruder, der Herzog von Orléans, ebenso gegen mich, wie der alte Herzog von Orléans sein Leben lang gegen meinen Vater gehandelt hat? Aber meine Mutter? Aber die Lavallière? O, man wird sie der Herzogin auf Gnade und Ungnade ausliefern! Das arme Kind, man wird sie ins Gefängnis sperren wie mich. Wir sind auf immer getrennt!«
Bei dem Gedanken an die Geliebte weinte er. Dann fuhr er grimmig empor. »Es ist ein Gouverneur hier,« dachte er. »Ich will mit ihm sprechen.« – Er rief, doch niemand antwortete ihm. Er packte einen Stuhl und schlug damit gegen die Tür. Ein dumpfer Widerhall durchklang die Gewölbe und Korridore. Aber keine menschliche Stimme war zu hören. Das war für den König ein neuer Beweis, wie gering man ihn in der Bastille achtete. Er begann zu schreien, so laut er konnte. Und er, der an augenblicklichen Gehorsam auf den leisesten Wink gewöhnt war, fürchtete wahnsinnig zu werden angesichts dieser Ohnmacht. Er zertrümmerte den Stuhl und hämmerte mit den Beinen so lange und so heftig gegen die Tür, daß ihm der Schweiß von der Stirn rann. Das Getöse war furchtbar und andauernd. Ringsum wurden undeutliche Stimmen laut.
Ludwig XIV. lauschte. Ein Schauer ergriff ihn. Das waren die Stimmen der Gefangenen, die einst seine Opfer, jetzt seine Gefährten waren. Diese Stimmen klangen wie Seufzer durch die dicken Zellendecken und die undurchdringlichen Mauern. Sie schimpften nun über den Mann, der solchen Lärm machte. Nachdem der König so vielen die Freiheit geraubt, kam er zu ihnen, um ihnen auch noch den Schlaf zu rauben.
Ludwig XIV. verdoppelte seine Kräfte; er wollte um jeden Preis Aufklärung haben oder ein Ende dieses Zustandes herbeiführen. Nach Verlauf einer Stunde geschah von außen ein heftiger Schlag gegen seine Tür. »Was fällt Euch ein, so zu toben?« rief jemand. »Seid Ihr etwa verrückt geworden? Haltet gefälligst Ruhe!« – »Sind Sie der Gouverneur?« fragte der König. – »Es geht Sie gar nichts an, wer ich bin,« war die Antwort. »Sie haben sich ruhig zu verhalten, verstanden!« – Der König hörte, wie der Mann sich entfernte. Aufs neue geriet Ludwig XIV. in Raserei, sprang jetzt zum Fenster und zertrümmerte die Scheibe, so daß die Splitter klirrend auf das Pflaster des Hofes fielen. – »Gouverneur!« brüllte er. »Gouverneur!«
Alles blieb still. Das eiserne Gitter widerstand seinen Fäusten, die Mauern waren so dick, daß er sich mit einem Stoß den Kopf daran hätte zerschlagen können – die Stuhlbeine waren ganz zerkleinert. Da lehnte er sich an die Wand und gab es auf zu schreien und zu toben. Seine Kräfte waren erschöpft, seine Kleider zerschlitzt, seine Manschetten beschmutzt. – »Man wird mir wie allen Gefangenen zu essen bringen,« murmelte er. »Dann werde ich jemand sehen, mit dem ich reden kann.« – Er sann nach, zu welcher Stunde in der Bastille die erste Mahlzeit angesetzt sei, und mußte zugeben, daß er es nicht wisse. Er hatte 25 Jahre lang als König glücklich gelebt und nie an die Leiden der Unglücklichen gedacht, die sein Machtwort der Freiheit beraubt hatte. Dieser Gedanke war für ihn ein Dolchstoß, tief und grausam. Er sagte sich, Gott bestrafe ihn jetzt, und diese Strafe treffe ihn verdientermaßen.
Das Geräusch hinter seiner Tür ließ sich wieder vernehmen.
Ludwig sprang vor, um jedem, der einträte, entgegenzustürzen; doch bezwang er sich, nahm eine ruhige und edle Haltung an und wartete. Es war nur ein Schließer, der eine Mahlzeit brachte. Der König betrachtete voll Unruhe diesen Mann, der sich mit einem fast gutmütigen Lächeln umsah. – »Da habt Ihr nun Euern Stuhl zerbrochen,« sagte er. »Ihr seid von Sinnen.« – »Mann,« versetzte Ludwig XIV., »kennst du den König?« – »Nein, wir bekommen ihn hier nie zu sehen,« antwortete der Schließer und schüttelte ernst den Kopf. – »Laß den Gouverneur zu mir kommen,« rief Ludwig in dem gebieterischen Ton, der ihm zur zweiten Natur geworden war.
»Mein Junge,« sprach der Schließer, »Ihr waret sonst immer sehr manierlich. Die Tollheit hat Euch borstig gemacht. Wir halten's Euch zugute, aber treibt es nicht zu arg. Solcher Lärm, wie Ihr diese Nacht gemacht habt, wird mit finsterm Kerker bestraft. Tut es nicht wieder, so will ich es diesmal nicht dem Gouverneur melden!« – »Ich will mit dem Gouverneur sprechen!« sagte der König. – »Wie Ihr mit den Augen rollt!« rief der Schließer. »Wohl, da lasse ich Euch heute kein Messer hier. Eßt mit den Fingern.« – Darauf ging er hinaus und schloß die Tür zu. Der König schleuderte voll Wut die Schüssel und Teller gegen die Wand und zum Fenster hinaus. Doch alles blieb still.
Und nun war er kein König, kein Edelmann, ja kein Mensch mehr! Er war ein irrsinniges Geschöpf, das sich die Nägel an dem Holz der Tür, an den Steinfliesen des Bodens zerkratzte und so fürchterlich schrie, daß die Bastille in ihren Grundfesten erbebte.
Herr von Baisemeaux kümmerte sich nicht darum.
Er wünschte nur eins: der tolle Marchiali triebe seinen Wahnsinn soweit, sich am Gitter des Fensters aufzuhängen, und er legte sich alles Ernstes die Frage vor, ob es nicht das beste sei, ihn in der Stille aus dem Wege zu räumen.
5. Kapitel. Aus der Bastille auf den Thron
Die Weine des Herrn Oberintendanten hatten bei dem Festessen eine sehr ehrenwerte Rolle gespielt, allein d'Artagnan war völlig nüchtern, und als er den Befehl erhielt, Herrn Fouquet zu verhaften, griff er an seinen Degen. Es war seine Art, bei wichtigen Anlässen die Kälte dieses Stahls sein Inneres durchdringen zu lassen. – »Hm!« brummte er, »meine Nachkommen – wenn ich je welche habe – können sich damit brüsten, von dem Manne abzustammen, der seine Hand an den Rockkragen des allmächtigen Herrn Fouquet gelegt hat. Ei, mich dünkt, wenn ich kein Schuft sein will, muß ich es Herrn Fouquet sagen, wie der König ihm gesinnt ist. Wenn ich aber kein Verräter sein will, darf ich das Geheimnis meines Herrn nicht preisgeben. Nun, gib doch noch einmal etwas her, alter Schädel, der du mir so manchmal einen guten Gedanken beschertest! Zunächst, weshalb fällt Fouquet in Ungnade? Erstens, weil er Herrn Colbert verhaßt ist, zweitens, weil er Fräulein von Lavallière lieben wollte, und drittens, weil der König Herrn Colbert und die Lavallière liebt. Er ist verloren; aber soll ich ihn ergreifen, weil er den Ränken eines Schreibers und eines Weibes unterliegt? Pfui! Ist er wirklich ein gefährlicher Mensch, dann nieder mit ihm! Wird er zu Unrecht verfolgt, dann will ich sehen, was sich machen läßt. Und da bin ich auf den Punkt gekommen, wo kein Mensch, auch nicht der König, Einfluß auf meine Meinung hat. Anstatt also Herrn Fouquet zu packen und festzunageln, werde ich bemüht sein, mich als Mann von guter Art zu betragen. Man wird darüber sprechen, aber man wird gut davon sprechen.«
D'Artagnan gürtete den Degen um und ging geradeswegs zu Herrn Fouquet, der nach den Triumphen dieses Tages ruhig zu schlafen gedachte. Die Luft roch noch nach dem Qualm des Feuerwerks. Die Kerzen verbreiteten ihren ersterbenden Schein, die Blumen hauchten ihre letzten Düfte aus. Fouquet war allein mit seinem Kammerdiener, als d'Artagnan auf der Schwelle erschien. Es war für einen Mann wie d'Artagnan unmöglich, je bei Hofe populär zu werden; obwohl man ihn stets und überall sah, rief sein Erscheinen doch immer wieder eine fatale Wirkung hervor. – So war es auch jetzt bei Herrn Fouquet.
»Sie hier, Herr d'Artagnan?« rief er aus. – »Zu dienen,« antwortete der Musketier. – »Treten Sie nur ein.« – »Ich danke.« – »Haben Sie mir noch etwas mitzuteilen?« – »Das nicht, mein Herr,« antwortete der Gaskogner. »Sie schlafen also hier?« – »Wie Sie sehen,« sagte Fouquet, mehr und mehr betroffen. – »Sie haben da dem König ein sehr schönes Fest angerichtet,« sprach d'Artagnan. – »Finden Sie? War der König zufrieden?« fragte der Oberintendant. – »Einfach bezaubert!« sagte der Musketier. »Ist das Ihr Bett dort?« – »Jawohl. Warum fragen Sie danach? Gefällt Ihnen das Ihrige nicht? Sagt Ihnen Ihr Zimmer nicht zu?«
»Offen gesagt, nein!« – »So trete ich Ihnen meins ab.« – »O, ich werde Sie nicht berauben. Aber vielleicht gestatten Sie mir, dieses Zimmer mit Ihnen zu teilen?« – Fouquet sah den Musketier scharf an. – »Sie kommen im Auftrag des Königs?« fragte er kurz. »Nun ja, Monseigneur. Doch ich versichere Ihnen, ich denke nicht daran, meine Order zu mißbrauchen...« Fouquet hieß den Kammerdiener hinausgehen und fragte dann: »Was haben Sie mir zu sagen, mein Herr?«
»Ich habe Ihnen gar nichts zu sagen,« versetzte der Gaskogner. »Mich verlangt nur nach Ihrer Gesellschaft.« »Sie verhaften mich also?« – »Bewahre!« – »Oder Sie bleiben als Wache bei mir?« – »Das ja.« – »So bin ich in Ungnade. Ich war todmüde und wollte schlafen. Das hat mich wieder munter gemacht. Herr, ich bestelle meine Pferde und reise nach Paris. Werden Sie mich zurückhalten?« – »Nein, aber mitreisen.« – »Genug!« rief Fouquet. »Warum verhaften Sie mich? Was habe ich getan?« – »Das weiß ich nicht – auch verhafte ich Sie bis jetzt noch nicht.«
»Bis jetzt noch nicht?« wiederholte Fouquet erbleichend. »Aber morgen vielleicht.« – »Wir haben noch nicht morgen,« sagte d'Artagnan. »Wer kann für das einstehen, was morgen geschehen mag?« – »Lassen Sie mich hinaus, ich muß mit Herrn d'Herblay sprechen.« – »Monseigneur, es ist unmöglich.« – »Mit d'Herblay, Ihrem Freunde!« – »Ich habe darüber zu wachen, daß Sie dieses Zimmer nicht verlassen, Herr Oberintendant. Aber wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben wollen hierzubleiben, dann will ich gehen und Herrn d'Herblay zu Ihnen bringen.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort!« rief Fouquet erfreut. Der Kapitän ging hinaus. – Der Oberintendant stürzte auf seinen Schreibtisch zu und öffnete einige geheime Fächer. Er riß einen Ballen Papiere und Rechnungen heraus und warf sie in den Ofen. Dann sank er in den Lehnstuhl und wartete mit Ungeduld. Nach einer Viertelstunde kehrte d'Artagnan zurück. Er hatte d'Herblay nicht gefunden. Der Kapitän war von vornherein überzeugt gewesen, Fouquet wolle nicht fliehen sondern nur gewisse Papiere beiseiteschaffen, die ihn in einem Prozeß kompromittieren könnten. Als er nun den Rauch sah, der noch nicht ganz verzogen war, nickte er zum Zeichen der Zufriedenheit. Sie wechselten beide einen Blick und fühlten, daß sie sich verstanden hatten.
»Und wo ist d'Herblay?« fragte Fouquet. – »Er muß ein Freund nächtlicher Spaziergänge sein, denn er ist nicht auf seinem Zimmer,« antwortete d'Artagnan. – »Er ist nicht auf seinem Zimmer?« rief Fouquet, und seine letzte Hoffnung sank, denn er glaubte, daß ihm nur noch von seiten des Bischofs Hilfe kommen könne. – »Herr Fouquet, ich habe in meinem Leben viele Male bei Verhaftungen zugesehen,« sprach d'Artagnan, »zum Beispiel bei der des Prinzen Condé, des Herrn von Retz, des Herrn Broussel. Sie gleichen in diesem Moment dem letzteren, der – verzeihen Sie mir das Wort – ein recht gutmütiges Schaf war. Es fehlt nur noch, daß Sie Ihre Serviette in die Brieftasche stecken und sich mit Ihren Papieren den Mund abwischen. Wetter nochmal, Herr Fouquet! ein Mann wie Sie soll nicht so niedergeschlagen sein. Wenn Ihre Freunde Sie sähen –«
»Herr d'Artagnan,« antwortete Fouquet mit traurigem Lächeln, »eben weil mich meine Freunde nicht sehen, bin ich so. Ich bin's nicht gewohnt, allein zu sein. Ich habe mir Freunde gemacht, um einmal in ihnen eine Stütze zu haben. Und gerade in solchem Augenblick soll ich nun verlassen sein?« – »Sie übertreiben, Herr Oberintendant. Der König will Ihnen wohl, nur Colbert haßt Sie und möchte Sie zugrunde richten.«
»O, was das betrifft,« sagte der Minister ruhig, »zugrunde gerichtet bin ich schon.« – D'Artagnan hob den Kopf und warf einen Blick um sich her. – »Ich weiß, was Sie bei sich denken,« fuhr Fouquet fort. »Sie fragen sich, weshalb ich dieses Schloß nicht verkaufe, man würde 40 Millionen daraus lösen. Lieber Kapitän, und wollte ich es für zwei Millionen losschlagen, es gäbe in Frankreich niemand, der es unterhalten könnte, so wie es jetzt aussieht. Nein, dieses Vaux kann und will ich nicht verkaufen. Mag es mit mir zugrunde gehen!«
»Das sieht Ihnen schon ähnlicher,« sagte d'Artagnan, »und vernichtet die unangenehme Aehnlichkeit mit Broussel, dem alten weinerlichen Frondeur. Wenn Sie auch zugrunde gerichtet sind, alle Wetter! Sie sind eine Person, die der Nachwelt angehört, und haben kein Recht, sich zu verkleinern. Mir hat das Schicksal eine weit weniger schöne Rolle zuerteilt als Ihnen, denn ich muß denjenigen machen, der Sie zu verhaften hat. Aber ich muß gehorchen, so sehr ich auch darunter leide. Neben Ihnen bin ich nichts wert, Monseigneur. Doch, den Teufel auch! die Rollen, die uns zufallen in diesem Mummenschanz des Lebens, müssen so gut wie möglich gespielt werden. Das Ende krönt das Werk.«
Fouquet stand auf, umarmte d'Artagnan und zog ihn an die Brust. »Gut gesprochen!« rief er. »Wer so redet, kann nur ein Freund von mir sein. Doch, wo mag Herr d'Herblay stecken? Gut, wir wollen den Tag abwarten. Was auch geschehen mag, dank Ihrer Liebenswürdigkeit trifft es mich nun nicht unerwartet. Wären Sie mitten beim Diner vor mich hingetreten, mich zu verhaften, ich wäre vor Scham und Zorn gestorben.« – »Freut mich, daß Sie mit mir zufrieden sind,« sprach d'Artagnan, »und nun, Monseigneur, lassen Sie den Dingen ihren Lauf. Sie sind abgespannt, Sie haben auch Ihre Lage durchzudenken. Ich beschwöre Sie, gehen Sie zu Bett. Ich mache mir's hier in diesem Lehnstuhl bequem. Und ich werde so fest schlafen, daß eine Kanonenkugel mich nicht aufwecken soll. Das heißt, das Knarren von geheimen Türen, von verborgenen Ein- und Ausgängen, höre ich sehr genau, lassen Sie sich das gesagt sein. Das beruht auf einer angeborenen Antipathie. Sie mögen hin und her gehen, schreiben, zerreißen, verbrennen – nur berühren Sie keinen Schlüssel an einer Tür, keine Klinke, Sie würden mich dadurch aus dem schönsten Schlafe jäh aufwecken.«
»Herr d'Artagnan,« sagte der Minister, »Sie sind entschieden der geistvollste und artigste Mann, den ich kenne. Ich bedaure nur, Ihre Bekanntschaft so spät gemacht zu haben.« – »Und nun vielleicht doch noch zu früh,« murmelte d'Artagnan und ließ sich in den Lehnstuhl nieder. Beide ließen die Kerzen brennen und erwarteten den Tag – Fouquet seufzte, d'Artagnan schnarchte.
*
Das Bett, das in den unterirdischen Raum hinabgelassen war, hatte sich mit dem beweglichen Fußboden wieder erhoben, und blaß, mit pochendem Herzen stand Philipp vor dem Lager, das noch zerwühlt war von dem Leibe seines Zwillingsbruders. Die durcheinandergestoßenen Kissen und Laken redeten eine deutliche Sprache, schilderten allein eindringlich genug den Kampf, der in der Stille des Kellers stattgefunden hatte.
»Nun trete ich meinem Schicksal gegenüber,« sprach er vor sich hin. »Wird es schrecklicher sein als die Gefangenschaft? Der König hat auf diesem Bett geruht – nun soll ich mich darauf ausstrecken. Doch was zaudere ich? Es ist ja ein Platz, der mir gebührt, um den mich die Mutter und der Bruder betrogen haben! Philipp, alleiniger König von Frankreich, das Wappen, das diese Tücher ziert, gebührt dir! Habe kein Mitleid mit dem Usurpator, der selbst in diesem Augenblicke keine Gewissensbisse wegen der Leiden fühlt, zu denen er dich verurteilte!«
Mit diesen Worten legte er sich in das Bett, und als er den Kopf zurücklehnte, erblickte er über sich die Königskrone, die von einem Engel mit goldenen Flügeln gehalten wurde. Aber Philipp konnte nicht schlafen. Gespannt horchte er auf jedes Geräusch, und immer wieder fragte er sich, ob seine Kraft, seine Geschicklichkeit, seine Geistesgegenwart ausreichen würden, das Werk zum glücklichen Ausgang zu führen.
Gegen Morgen glitt ein Schatten in das Gemach. Philipp erwartete diesen Mann und erschrak nicht über sein Kommen. – »Nun, Herr d'Herblay?« – »Es ist geschehen, Sire.« – »Wie hat er's getragen?« – »Er schrie und sträubte sich, tobte wie ein Rasender und versank dann in todesähnliche Erstarrung.« – »Ahnt der Gouverneur der Bastille etwas?« – »Nichts. Die völlige Aehnlichkeit läßt ihn alles glauben, was ich ihm sagte.«
»Aber der Gefangene wird selbst sprechen, bedenken Sie das wohl.« – »Ist auch bedacht. Nach einigen Tagen werden Sie ihn außer Landes schaffen lassen, werden ihn so weit wegschicken –« – »Sei es noch so weit, d'Herblay, man kann zurückkehren!« – »Wir werden ein Land aussuchen, in welchem es ihm zur Rückkehr an den materiellen und an den leiblichen Kräften fehlen soll.«
»Und Herr du Vallon?« – »Den stelle ich Ihnen heute vor. Er wird Ihnen Glück wünschen zu der Befreiung von dem verwegenen Usurpator.« – »Ich werde ihn zum Herzog machen.« – »Ja, zum Herzog,« sprach Aramis mit seltsamen Lächeln. »Sehr weise, Majestät. Sie sehen voraus, daß dieser Porthos auf die Dauer ein lästiger Zeuge werden könnte, und deshalb töten Sie ihn.« – »Wie? ich töte ihn?« – »Ja, indem Sie ihn zum Herzog machen. Der Schlag wird ihn vor Freude treffen.« – »Mein Gott!« stammelte Philipp. – »Ich werde dabei einen wackern Freund verlieren,« setzte Aramis phlegmatisch hinzu.
In diesem Augenblick hörte d'Herblay ein Geräusch.
»Der Tag bricht an, Sire,« sagte er. »Ehe Sie sich gestern zu Bette legten, hatten Sie sich vorgenommen, über Nacht einen Entschluß zu fassen.« – »Ich habe dem Kapitän meiner Musketiere gesagt, ich erwarte ihn am Morgen,« antwortete Philipp. – »Ich höre Tritte im Vorsaal,« sagte Aramis. »Wenn Sie ihn herbestellt haben, so ist er es, der da kommt.« – »So fangen wir an,« sprach Philipp entschlossen.
»Vorsicht!« rief Aramis. »Es wäre töricht, mit d'Artagnan anzufangen. Er weiß nichts, er ahnt nichts – aber wenn er an diesem Morgen zuerst eintritt, so wird er wittern, daß etwas vorgegangen ist.« – »Wie soll ich ihn aber zurückweisen?« fragte Philipp.« »Er ist bestellt.
– »Das nehme ich auf mich,« antwortete der Bischof. »Zunächst will ich einen Streich führen, der ihn ein wenig betäuben soll.« – »So tun Sie das,« sagte der Prinz lebhaft, denn er wollte des Wartens und Bangens ein Ende machen.
Der Kapitän der Musketiere reckte sich in seinem Lehnstuhl in die Höhe, wusch sich in Fouquets Toilette, bürstete Wams und Hut ab, schnallte den Degen um und war bereit, sich auf den Weg zu machen. – »Sie gehen fort?« – »Ja, Monseigneur, und Sie?« – »Ich bleibe.« – »Auf Ihr Wort?« – »Auf Ehrenwort.« – »Gut. Ich gehe auch nur, um Ihnen die bewußte Antwort zu holen.« – »Die Verurteilung, wollen Sie sagen.« – »Wissen Sie, ich habe etwas von einem alten Römer,« sagte d'Artagnan. »Ich glaube an das, was mir mein Degen prophezeit. Heute morgen blieb er nirgends hängen und rutschte ganz glatt ins Wehrgehänge. Nein, nein, Herr Fouquet, das beruht auf jahrelangen Beobachtungen. Immer, wenn der Degen an meinem Rücken hängen blieb, so wurde mir von Mazarin eine Zahlung verweigert. Wenn er sich im Wehrgehänge verfing, so bekam ich einen unangenehmen Auftrag. Wenn er in der Scheide tanzte, so hatte ich ein glückliches Duell. Wenn er sich in den Fransen verhedderte, so wurde ich leicht verwundet. Und wenn er von selbst aus der Scheide fuhr, so wurde ich stets vom Schlachtfeld getragen und mußte mehrere Tage mit einem Verband herumlaufen. Das traf immer unfehlbar zu. Sehen Sie, mein Degen ist ein Glied meines Leibes. Gewisse Menschen werden durch ihr Bein oder durch ein Klopfen in den Schläfen an kommende Dinge gemahnt. Bei mir besorgt das der Degen. Heute morgen nun ist er ganz allein ins Wehrgehäng geglitten. Das bedeutet einen angenehmen Auftrag.«
»Welcher Art mag er sein?« – »Wetter! Ich werde jemand zu verhaften haben,« rief d'Artagnan. – »Nämlich mich!« sagte Fouquet, »und das nennen Sie einen angenehmen Auftrag?« – »Nein, die Weissagung betrifft nicht Sie. Denn Sie sind schon seit gestern abend verhaftet. Ich werde jemand anders zu verhaften haben, und deshalb wird es für mich ein glücklicher Tag werden.«
Mit diesen Worten ging d'Artagnan, um sich zum König zu begeben. Er hatte Fouquet trösten wollen; er glaubte selber nicht, daß sich die Prophezeiung dieses Morgens erfüllen würde; und doch sollte es geschehen. – Der Musketier klopfte an die Tür des Königs. Sie öffnete sich, doch war es nicht der König, der erschien. D'Artagnan starrte, den Mann, der sich vor ihm zeigte, verblüfft an und stieß einen Schrei der Ueberraschung aus.
»Aramis!« rief er. – »Guten Tag, lieber d'Artagnan,« sagte der Bischof kalt. – »Sie hier?« stammelte der Gaskogner. – »Seine Majestät läßt Ihnen sagen,« sprach Aramis, »daß er noch schlafen will, da er die ganze Nacht kein Auge geschlossen hat.« – »Hm!« brummte d'Artagnan, der nicht begreifen konnte, wie ein Mann, der vor wenigen Stunden noch gar nicht beim König in Gunst gestanden, über Nacht zum größten Glückspilz geworden sein sollte, der je an einem königlichen Bette emporgeschossen. Denn um an der Zimmertür des Monarchen dessen Willen zu verkünden, mußte man mehr sein, als Richelieu bei Ludwig XIII. gewesen war. Das ausdrucksvolle Auge d'Artagnans, sein weit offener Mund, sein Schnurrbart, der sich vor Staunen in die Höhe richtete, verrieten diese Gedanken dem lächelnden Prälaten.
»Herr Bischof,« sagte der Musketier, »Seine Majestät hat mich zu heute früh herbestellt.« – Da erklang aus dem Zimmer die Stimme des Königs. »Ich weiß,« rief er, »aber wir schieben das auf.« – D'Artagnan zuckte zusammen. War es wirklich der König, der da sprach? Verblüfft, fast erschrocken, verneigte er sich und wollte gehen. »Noch eins,« sagte der Bischof. »Hier ist ein Befehl, den Sie sofort vollziehen werden. Er betrifft Herrn Fouquet.« – D'Artagnan nahm das Papier entgegen, las es und murmelte: »In Freiheit zu setzen? Ah! Ah!« – Dann verneigte er sich abermals und ging. – »Ich begleite Sie,« sagte Aramis. »Ich will mich an Herrn Fouquets Freude ergötzen.«
»Potzblitz, Aramis!« brummte d'Artagnan, während sie hinweggingen. »Was haben Sie da gemacht? Sie müssen erstaunlich hoch in der Gunst des Königs gestiegen sein, um für Herrn Fouquet eine Begnadigung zu erwirken.« – »Aber nun begreifen Sie, nicht wahr?« – »Alle Wetter, nein!« stieß der Musketier zwischen den Zähnen hervor. »Ich begreife nichts. Doch das ist Nebensache – hier ist ein Befehl.«
6. Kapitel. Der Retter Ludwigs XIV
Fouquet wartete mit großer Ungeduld, und als er hinter d'Artagnan den Bischof von Vannes erblickte, von dem allein er noch Rettung erwartete, da war seine Freude ebenso groß wie am Tage zuvor seine Bestürzung.
Der Prälat war schweigsam, d'Artagnan noch ganz verwirrt. – »Sie bringen mir Herrn d'Herblay, Kapitän,« rief Fouquet. – »Und noch etwas Besseres,« antwortete der Gaskogner. »Nämlich die Freiheit. Hier ist der Befehl des Königs.« – Fouquet warf einen fragenden Blick auf Aramis. – »Jawohl,« setzte d'Artagnan hinzu, »bedanken Sie sich bei dem Bischof von Vannes, er hat den König umgewandelt. Aramis, noch einmal! Wie sind Sie der Günstling des Königs geworden, da sie ihn doch nur zweimal im Leben gesehen haben?«
»Einem Freunde, wie Sie verhehlt man nichts,« antwortete Aramis. »Nun denn, ich habe den König nicht nur zweimal, wie Sie glauben, sondern hundertmal gesehen. Nur geschah es insgeheim, das ist das ganze. Monseigneur,« wendete er sich von dem erstaunten d'Artagnan zu dem nicht minder erstaunten Fouquet, »der König läßt Ihnen sagen, er sei mehr als je Ihr Freund, und Ihr schönes Fest hat ihn entzückt.« – Er verneigte sich vor Fouquet und schwieg. Der Oberintendant sah ihn fest an und vermochte nicht zu antworten.
D'Artagnan erriet, die beiden Männer hatten sich etwas zu sagen. Er machte ihnen eine flüchtige Verbeugung und ging. Fouquet eilte hinter ihm zur Tür, schloß ab und rief: »D'Herblay, erklären Sie mir, was vorgeht. Ich verstehe nichts von dem allen. Wie kommt es, daß der König mich in Freiheit setzt?« – »Sie hätten mich vielmehr fragen sollen, warum er Sie verhaften ließ,« antwortete Aramis. – »Es war ein wenig Eifersucht im Spiele, glaube ich,« sprach der Minister. – »Ja und mehr,« erwiderte d'Herblay. »Erinnern Sie sich jener Briefe und Quittungen von Herrn Mazarin, die einen gewissen Betrag von 13 Millionen betreffen? Erinnern Sie sich des Briefes, den Sie an die Lavallière geschrieben haben?«
»Weh mir!« rief Fouquet. »Da bin ich für den König ein Dieb und ein Verräter? Doch um so wunderbarer, daß er mir vergeben hat.« – »Wir sind noch bei der Begründung der Verhaftung,« fuhr Aramis fort. »Der König weiß also, daß Sie an einer Unterschlagung von Staatsgeldern mitschuldig sind. Pardon, ich weiß sehr wohl, Sie haben nicht das Mindeste veruntreut, allein der König hat die Quittung nicht gesehen und muß Sie also für schuldig halten. Ferner hat der König Ihren Liebesbrief gelesen und kann nicht daran zweifeln, daß Sie Absichten auf sein Schätzchen gehabt haben. Aus diesen zwei Gründen steht Ihnen der König als unversöhnlicher Todfeind gegenüber. Er hat unwiderruflich mit Ihnen gebrochen.«
»Aber jetzt gibt er mich doch frei,« rief Fouquet. – »Glauben Sie denn das wirklich?« fragte der Bischof kalt. – »Ohne an eine plötzliche Freundschaft des Königs zu glauben, glaube ich doch an die Wahrheit der Tatsache,« antwortete der Minister. – Aramis zuckte die Achseln. – »Warum sollte Ihnen Ludwig XIV. aufgetragen haben, mir zu sagen, was d'Artagnan eben mitangehört hat?« – »Der König hat mir gar nichts für Sie aufgetragen,« sagte Aramis, und er sprach diese Worte in so seltsamem Tone, daß Fouquet zusammenfuhr.
»Sie verheimlichen mir etwas, d'Herblay,« rief er. Aramis streichelte sein Kinn mit den weißen Fingern. – »Verhehlen Sie mir nichts, d'Herblay, Sie machen mir Angst!« stieß Fouquet hervor. »Bin ich noch immer Oberintendant?« – »Solange Sie wollen,« antwortete Aramis ruhig. – »Wer welche seltsame Herrschaft haben Sie über Seine Majestät erlangt?« rief der Minister. »Sie scheinen Sie nach Ihrem Gefallen auszunützen.«
»Allerdings.«
»D'Herblay, ich beschwöre Sie bei unserer Freundschaft! Sagen Sie mir, wodurch Sie bei Ludwig XIV. soweit gekommen sind? Ich weiß, er war Ihnen nicht hold.« – »Er wird mich jetzt lieben,« antwortete Aramis, das letzte Wort betonend. – »Was ist das für ein Geheimnis?« entgegnete der Oberintendant. »Reden Sie!« – »Sie haben es erraten, Monseigneur,« antwortete d'Herblay. »Es handelt sich um ein Geheimnis. Dieses Geheimnis ist in meinem Besitz, und es ist so wichtig, so schwerwiegend, daß es mir Macht über den König gibt. Erinnern Sie sich,« fragte er, die Augen niederschlagend, »der Geburt Ludwigs XIV?« –. »Wie heute,« antwortete Fouquet. – »Und haben Sie je über diese Geburt etwas Besonderes reden hören?« – »Nein.« – »So hören Sie!« sprach Aramis. »Die Königin hat an diesem Abend nicht ein Kind, sondern zwei geboren. Ludwig XIII. war abergläubisch und fürchtete, zwei gleichberechtigte Kinder könnten einmal in Streit um den Thron geraten und ihr Land ins Verderben stürzen. Er ließ die Geburt des zweiten Kindes verheimlichen. Die beiden Zwillinge wuchsen heran: der eine kam auf den Thron – der andere blieb verborgen und unbekannt. Sie sind der Minister des einen – ich bin der Freund des andern.«
»Mein Gott, was sagen Sie mir da, Herr d'Herblay?« rief der Minister. »Und was geschah mit jenem armen Prinzen?« – »Erst wurde er heimlich auf dem Lande erzogen, und dann brachte man ihn in die Bastille.« – »Und weiß seine Mutier darum?« – »Anna von Oesterreich weiß das alles.« – »Und der König?« – »Er weiß nichts. Dieser bedauernswerteste Prinz war der unglücklichste unter den Menschen, bis Gott ihm zu Hilfe kam und ihm Freunde schuf, ihm eine Stütze gab, ihm einen Rächer bestellte. Der regierende König nun – ich drücke mich so aus, weil von Rechts wegen beide Brüder kraft der Ebenbürtigkeit hätten regieren sollen, denn Zwillinge sind eins in zwei Körpern – der regierende König, sage ich – der Usurpator – Sie sind doch auch meiner Ansicht, wenn ich diesen ruhigen Genuß eines Erbteils, auf das er nur ein halbes Recht hatte, Usurpation nenne?« – Fouquet nickte und antwortete: »Ja Usurpation ist das richtige Wort.«
»Wie gesagt, dieser regierende König, der Usurpator,« fuhr Aramis fort, »hatte einen Mann von Talent und Geist zum ersten Minister, aber er zürnte ihm, raubte ihm langsam sein Vermögen und damit seine Macht und trachtete ihm dann nach Freiheit und Leben. Aber diesem ersten Minister, den man so grausam verfolgte, hatte Gott einen Freund zur Seite gegeben, dem das Staatsgeheimnis bekannt war und der die Kraft in sich fühlte, dieses Geheimnis ans Licht zu ziehen.« – »Halten Sie inne!« rief Fouquet. »Ich errate alles. Sie sind vor den König hingetreten, als er mich verhaften lassen wollte, und haben mit Veröffentlichung dieses furchtbaren Geheimnisses gedroht. Ja, ich begreife, der König mußte sich Ihnen fügen?« – »Nennen Sie das Logik, Herr Oberintendant?« versetzte Aramis ironisch. »Meinen Sie wirklich, ich lebte zu dieser Stunde noch, wenn ich dem König eine solche Entdeckung gemacht hätte? Er hätte mich auf der Stelle fesseln und in einen unterirdischen Kerker werfen lasten. Und hätte ich damit Ihnen gedient, wie ein Freund es soll? Ihm Geld gestohlen zu haben, das ist nichts; seiner Mätresse den Hof gemacht zu haben, ist wenig; aber seine Krone, seine Ehre in der Hand zu halten – ah! er würde Ihnen mit eigner Hand das Herz aus der Brust gerissen haben!«
»So haben Sie ihm nichts von dem Geheimnis gesagt?« – »Lieber hätte ich alle Gifte verschluckt, die Mithridates trank, um sich vor Vergiftung zu schützen. Und nun sind wir an dem Punkte, wo ich Ihnen mitzuteilen habe, was ich tat!« – Aramis schritt durchs Zimmer und setzte sich dann wieder in den Lehnstuhl. – »Ich habe noch eins vergessen,« fuhr er fort, »Gott hat die beiden Zwillingsbrüder einander so ähnlich geschaffen, daß selbst die Mutter sie nicht voneinander unterscheiden könnte. Beide haben den gleichen Adel in den Zügen, genau denselben Wuchs, dieselbe Stimme, denselben Gang!« – »Ist es möglich?« rief Fouquet. »Doch die Denkweise, der Verstand, die Lebensansicht?« – »Darin sind sie ungleich. Das arme Opfer der Bastille ist, was die Charaktereigenschaften betrifft, seinem Bruder unendlich weit überlegen. Würde er aus dem Gefängnis geholt und auf den Thron gesetzt, so hätte Frankreich vielleicht, seit es besteht, keinen König gekannt, der an Adel der Gesinnung und an Geist mit diesem zu vergleichen wäre.«
Fouquet legte auf einen Augenblick die von einem so furchtbaren Geheimnis niedergedrückte Stirn in beide Hände. – »Und auch in bezug auf Sie,« fuhr Aramis fort, »besteht ein Unterschied zwischen den beiden Königen; denn der letztgeborne Sohn kennt keinen Herrn Colbert.« – Der Oberintendant sah auf. – »Ich verstehe. Sie schlagen mir eine Verschwörung, einen Staatsstreich vor,« sagte er mit stockender Stimme. »Sie sprachen davon, den Sohn Ludwigs XIII., der gefangen sitzt, den Platz mit dem, der auf dem Throne sitzt, vertauschen zu lassen. Allein das ist ein Umsturz, der das ganze Reich über den Haufen werfen kann. Den Baum mit den zahllosen Wurzeln, den man König nennt, kann man nicht so ohne weiteres ausreißen und durch einen anderen ersetzen.«
»Mein Freund,« entgegnete Aramis im Tone einer leichten Vertraulichkeit, »wie macht es denn Gott, wenn er an die Stelle eines Königs einen andern setzt?« – »Gott!« rief der Minister. »Gott gibt seinem Vollzieher Befehl, den Verurteilten zu ergreifen und fortzuführen, um dann den Triumphator auf den erledigten Thron steigen zu lassen. Sie vergessen aber, dieser Bevollmächtigte Gottes heißt Tod. Haben Sie etwa vor, Herr d'Herblay–?« – »Sie gehen über das Ziel hinaus. Monseigneur!« antwortete Aramis. »Wer spricht davon, Ludwig XIV. in den Tod zu senden? Ich wollte damit nur sagen: Gott vollbringt das alles ohne Umsturz, ohne Aergernis. Er bedarf dazu nur eines auserwählten Mannes, dem er seinen Willen einflößt. Mit einem Worte. Freund! wenn ein Umsturz oder ein Aergernis geschehen mußte, um den Gefangenen der Bastille mit dem König den Platz tauschen zu lassen, so fordere ich Sie auf, mir das zu beweisen.«
»Was?« schrie Fouquet, blässer als das Taschentuch, mit dem er sich die Stirn abwischte. »Was sagen Sie da?« – »Gehen Sie in das Zimmer des Königs,« antwortete Aramis. »Sie wissen nun das Geheimnis. Ueberzeugen Sie sich davon, daß der Gefangene der Bastille im Bette seines Bruders liegt.« – »Und der König?«
stammelte Fouquet. – »Der, der gestern noch König war?« antwortete d'Herblay. »Ueberzeugen Sie sich! Er ist in der Bastille an dem Platze, den seit so langer Zeit sein Opfer innegehabt.« – »Himmel! und wer hat ihn hingebracht?« – »Ich! Und zwar auf die einfachste Weise. Diese Nacht habe ich ihn entführt und den andern an seine Stelle gesetzt. Ich glaube nicht, daß es Aufsehen gemacht hat. Ein Blitz, auf den kein Donner folgt, weckt niemand auf.« – Fouquet tat einen Schrei, als hätte ein Schlag ihn getroffen, und preßte den Kopf zwischen beide Hände. – »Das haben Sie getan?« stöhnte er. »Den König entthront und ins Gefängnis geschleppt. Und das ist hier in Vaux geschehen! Und in dieser Nacht?« – »Hier in Vaux – und in dieser Nacht zwischen zwölf und eins.« –
Der Ober-Intendant machte eine Bewegung, als wollte er sich auf den Bischof stürzen; doch er hielt an sich. – »In Vaux!« stammelte er. »In meinem Hause!« – »Ja! In dem Hause, das jetzt erst richtig das Ihre ist, seit es Ihnen Herr Colbert nicht mehr rauben kann,« entgegnete Aramis. – »In meinem Hause ward dieses Verbrechen verübt,« sagte Fouquet, ohne auf den Prälaten zu hören. – »Verbrechen?« wiederholte dieser betroffen. – »Dieses fluchwürdige Verbrechen!« fuhr Fouquet fort. »Dieses Verbrechen, das verdammenswerter ist als der Totschlag! Dieses Verbrechen, das für immer meinen Namen entehrt und zum Abscheu für Mit- und Nachwelt macht!«
»Ah, Sie sind ja nicht bei Sinnen, Herr!« entgegnete Aramis mit bebender Stimme. »Sie reden zu laut, geben Sie acht!« – »Ich will schreien, daß alle Welt mich hört!« versetzte der Minister. »Ja, Sie haben mich entehrt durch diesen Verrat, durch diese Gewalttat, die Sie an meinem Gaste unter meinem Dache verübten! O, welch ein Unglück für mich!« – »Ihr Gast?« rief Aramis außer sich. »Und trachtete Ihnen nach Vermögen und Leben? Vergessen Sie das?« – »Er war mein Gast, er war mein König!«
»Habe ist es mit einem Tollhäusler zu tun?« sprach Aramis und stand auf. – »Nein, sondern mit einem Ehrenmanne!« – »Narr, der Sie sind!« – »Mit einem Manne, der Ihr Verbrechen noch jetzt vereiteln wird!« – »Narr!« – »Mit einem Manne, der lieber stirbt, als daß er sich von Ihnen entehren läßt!« – Er trat ganz dicht an Aramis und sprach in gepreßtem Tone: »Ich gebe zu, Sie handelten in meinem Interesse, aber ich nehme das nicht an! Doch will ich Sie zu dieser Stunde nicht verdammen. Die Tür steht Ihnen noch offen.« – »Ihnen auch noch, aber nicht mehr lange!« rief Aramis mit prophetischer Stimme.
»Sie weissagen da richtig, Herr d'Herblay,« antwortete Fouquet ruhig. »Dennoch soll mich nichts aufhalten. Sie verlassen Vaux und Frankreich. Ich gebe Ihnen vier Stunden Frist, sich in Sicherheit zu bringen. Sie haben damit einen entscheidenden Vorsprung vor allen, die der König Ihnen nachsenden konnte. Diese Zeit wird Ihnen genügen, sich nach Belle-Ile zu flüchten, wo Sie Zuflucht finden werden. Gehen Sie! Solange ich lebe, soll Ihnen kein Haar gekrümmt werden.« – »Ich danke,« versetzte Aramis in düsterer Ironie. – »Reisen Sie also ab und – reichen Sie mir noch einmal die Hand. Retten Sie sich das Leben – ich werde meine Ehre retten.«
Aramis zog die Hand aus der Brust; die Nägel waren von Blut gerötet, denn er hatte sie in sein eigenes Fleisch gegraben. Aber er berührte die ihm dargereichte Hand Fouquets nicht. Er hob sie über des Ministers Haupt, stieß einen Fluch aus, spritzte ihm ein paar Tropfen seines Blutes ins Gesicht und verließ das Zimmer.
Fouquet eilte hinter ihm hinaus, bestellte seine besten Pferde und fuhr im Galopp nach Paris.
»Soll ich allein gehen?« murmelte Aramis, »oder soll ich den Prinzen benachrichtigen? Und was dann? Mit ihm abreisen? Diesen lebenden Beweis meiner Tat überall mit mir herumschleppen? Unmöglich! Aber was wird er ohne mich tun? Ohne mich kann er sich nicht halten – doch mit mir jetzt auch nicht mehr! O, so vollende sich das Verhängnis! Er war verdammt – er ist wieder verdammt – er wird für immer verdammt sein! O, du finstere, rätselhafte Macht, die man Genius des Menschen nennt, Gott oder Teufel – du bist unberechenbarer als der Föhn, du versehrst das All mit einem Hauche deines Odems, du richtest Felsenmassen auf und stürzest Gebirge nieder. Du spielst mit Mächten, die du selbst nicht einmal kennst, die dich vielleicht leugnen und sich an dir rächen. So bin ich denn verloren? Ich – verloren? Nach Belle-Ile flüchten? Und soll Porthos hierbleiben? Nein, ich will nicht, daß Porthos Ungemach erleide. Er ist ein Stück von mir. Sein Schmerz ist auch der meine. Porthos muß mit mir.«
Wenige Minuten später saßen die beiden Flüchtlinge schon zu Pferde – Porthos in dem Wahne, es handle sich um eine wichtige Mission, die der König ihnen aufgetragen.
Inzwischen jagte das Gespann Fouquets auf der Landstraße dahin und erreichte die Vorstadt Saint-Antoine.
Vor der Bastille ließ er halten, sprang heraus und wurde, als er sich als Finanzminister legitimiert hatte, ohne Umstände eingelassen und vor den Gouverneur geführt. Baisemeaux hatte seit dem letzten Besuch d'Herblays keine ruhige Minute gehabt. Die Ankunft Fouquets, der mit allen Zeichen furchtbarster Aufregung vor ihm erschien, versetzte ihn aufs neue in Schrecken. – »Mein Herr!« rief Fouquet. »Sie haben heute morgen den Bischof von Vannes gesprochen?« – »Ja, Monseigneur,« antwortete Baisemeaux. – »Und das sagen Sie so ruhig, wo es sich doch um ein entsetzliches Verbrechen handelt, an dem Sie mitschuldig sind?« – »Ein Verbrechen?« stöhnte Baisemeaux. »Ah, das wird immer schöner!« – »Ein Verbrechen! Ja! Für das Sie gevierteilt werden können, verstehen Sie mich? Führen Sie mich auf der Stelle zu dem Gefangenen!«
»Zu welchem Gefangenen?« stammelte Baisemeaux. – »Ah, Sie stellen sich unwissend?« rief Fouquet. »Gut, ich will annehmen, Sie wüßten nichts. Geständen Sie eine solche Mitschuld ein, so wären Sie ja auch verloren. Doch nochmals! Führen Sie mich auf der Stelle zu ihm!« – »Ja zu wem denn aber? Etwa zu Marchiali?« – »Marchiali? Wer ist das?« – »Der Gefangene, den Herr d'Herblay heute früh gebracht hat.« – »Man nennt ihn also Marchiali?« fragte der Oberintendant. – »Ja, unter diesem Namen wird er in den Büchern geführt,« antwortete Baisemeaux.
Fouquets Blick drang dem armen Gouverneur bis ins Herz, und der vollendete Menschenkenner las darin Unschuld und Aufrichtigkeit. Er erkannte, daß Baisemeaux nicht in das Geheimnis des Bischofs eingeweiht war. »Marchiali heißt also der Gefangene, den d'Herblay heute morgen hergebracht hat?« – »Ja, und wenn Monseigneur kommen, ihn abzuholen, so ist mir das lieb, denn ich wollte schon seinetwegen ans Ministerium schreiben. Er ist tobsüchtig geworden, wie es scheint. Er schreit wie toll und hat alles in seiner Zelle zertrümmert.« – »Ich will Sie allerdings von ihm befreien,« sprach Fouquet. »Führen Sie mich in seinen Kerker.« – »Monseigneur werden mir den königlichen Befehl vorlegen?« fragte der Gouverneur.
»Wie?« rief Fouquet. »Sie spielen den Gewissenhaften, Sie, der Sie die Gefangenen sonst so leicht entführen lassen? Zeigen Sie mir den Befehl, auf Grund dessen dieser Mann freigelassen worden ist.« – Baisemeaux legte den auf Seldon lautenden Befehl vor. – »Aber Seldon ist doch nicht Marchiali,« rief Fouquet. – »Marchiali ist ja auch nicht freigelassen worden,« sagte Baisemeaux. »Er ist hier.« – »Aber erst heute früh zurückgebracht worden, wie Sie selbst gesagt haben!« –
»Ich bleibe bei meiner Amtspflicht, Monseigneur,« sagte Baisemeaux ausweichend. »Mir ist ein Freilassungsbefehl für Seldon vorgelegt worden, und Seldon ist entlassen. Marchiali ist hier, und ohne ausdrücklichen Befehl des Königs darf ich niemand zu einem Gefangenen lassen.« – »Sie haben aber Herrn d'Herblay zu Marchiali gelassen,« versetzte der Minister. »Schweigen Sie, Baisemeaux, ich weiß das. Herr d'Herblay hat Sie beeinflußt, aber Herr d'Herblay hat ausgespielt und die Flucht ergreifen müssen. Wenn Sie bei Ihrer Weigerung beharren, lasse ich Sie mitsamt Ihren Offizieren auf der Stelle verhaften, oder ich gehe und komme mit 10 000 Mann und 30 Kanonen wieder, um Ihre verfluchten Türme in Grund und Boden zu schießen und ganz Paris gegen die Bastille aufzurufen. Und Sie selbst lasse ich an der Zinne des Eckturms aufknüpfen.«
»Mein Gott, sind Monseigneur verrückt geworden?« schrie der Gouverneur. – »Ich gebe Ihnen zehn Minuten Bedenkzeit. Sind Sie dann noch halsstarrig, dann gehe ich und führe aus, was ich eben sagte, ob Sie mich für verrückt halten oder nicht!« – »Monseigneur, halten Sie inne!« rief Baisemeaux, der sich nicht mehr zu helfen wußte. »Wohlan, ich lege die Sache in die Hände des Königs, der mag darüber urteilen, ob ich recht tat oder nicht, indem ich so vielen Schrecknissen nachgab. Auf! folgen Sie mir zu Marchiali!« – »Sehr wohl! Aber wir beide gehen ganz allein, verstanden,« sagte Fouquet. »Nun leben Sie wohl, es darf kein Mensch mit anhören, was ich mit diesem Marchiali zu reden habe!«
Baisemeaux senkte den Kopf und nahm die Schlüssel. Sie gingen beide über den Hof und nach dem Eckturm. Je näher sie kamen, um so deutlicher wurde das Geschrei hörbar, das der unglückliche Gefangene noch immer anstimmte. – »Was ist das?« rief Fouquet erschauernd. – »Das ist Ihr famoser Marchiali,« antwortete Baisemeaux. – Der Minister entriß ihm die Schlüssel, eilte zu der Tür, hinter der der Lärm erscholl, schloß auf und rief dem Gouverneur zu: »Bleiben Sie zurück, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist!« – »Ich will's auch gar nicht mit ansehen, wenn zwei solche Wüteriche zusammenkommen,« brummte der Gouverneur. »Einer wird den andern verschlingen.«
Das Geschrei des Gefangenen war so furchtbar, daß Fouquets Hände zitterten, während er das schwere Schloß öffnete. – »Zu Hilfe! zu Hilfe!« schrie es drinnen. »Ich bin der König! Herr Fouquet hat mich hierher bringen lassen! Zu Hilfe dem König gegen Fouquet! In den Tod mit Fouquet!« – Das heisere Brüllen zerriß dem Minister das Herz. Endlich hatte er das Schloß geöffnet und trat in die Zelle.
Als der Minister und der König einander erblickten, stießen beide einen Schrei aus. – »Kommen Sie, mich umzubringen?« rief Ludwig. – »Der König in diesem Zustande?« rief Fouquet. – Der junge Fürst bot in der Tat einen entsetzlichen Anblick: finster, bleich, das Haar zerwühlt, die Kleider zerfetzt, die Hände zerrissen, von Angst und Hunger verzehrt. Diese wenigen Stunden in der Bastille hatten alles Königliche seiner Erscheinung hinweggewischt; er war nichts als ein Elender, ein Phantom dessen, was er gewesen. Er packte eins der zertrümmerten Stuhlbeine und schwang es gegen Fouquet. – »Sire,« rief dieser, »erkennen Sie nicht mehr Ihren treuesten Freund?« – »Sie ein Freund von mir?« schrie der König, vor Rachedurst mit den Zähnen knirschend. – »Ihr untertäniger Diener!« antwortete Fouquet und warf sich zu seinen Füßen nieder. Und er umschlang seine Knie und schmiegte den Kopf an die zerrissenen Kleider. »Mein König! mein König!« rief er. »Sie haben viel leiden müssen?«
Ludwig schien jetzt erst zu erkennen, wie er aussah, und sich seiner Lage, seines Zustandes zu schämen. Er erblaßte. – »Kommen Sie, Sire!« rief Fouquet. »Sie sind frei.« – »Ha!« rief der König. »Sie machen mich frei, nachdem Sie sich erfrecht haben, mich gefangenzusetzen?« – »O, glauben Sie doch das nicht! Ich bin ohne jede Schuld!« rief Fouquet. Und schnell und mit Wärme erzählte er den ganzen Hergang. Ludwig hörte schweigend zu, und als Fouquet schwieg, sah er wie ein Träumender vor sich hin, so sehr stand er noch unter dem Banne der schrecklichen Gefahr, in der er geschwebt hatte. Dann richteten seine Gedanken sich auf das Geheimnis, das die Grundlage des ganzen Staatsstreiches gewesen war. – »Mein Herr!« rief er aus. »Diese Zwillingsgeburt ist ein Märchen. Wie kann man einen solchen Verdacht gegen meine Mutter aussprechen? Ich habe nur einen Bruder, das ist Monsieur.« – »Zum mindesten muß dieser Marchiali Eurer Majestät in der Tat sehr ähnlich sehen,« antwortete der Minister. »Denn alle haben sich von dieser großen Aehnlichkeit täuschen lassen, alle, Ihre Mutter, Sire, Ihre Offiziere, der ganze Hof.«
»In Vaux?« rief der König. »Ich will mit Truppen gegen sie alle ziehen und die schändlichen Verräter vernichten.« – »Majestät, die hierzu nötigen Befehle sind schon erteilt. In einer Stunde können Sie an der Spitze von 10 000 Mann stehen.« – »Was? Sie haben dazu schon Anordnungen getroffen?« rief der König und ergriff Fouquets Hand mit einer Rührung, an der man erkennen konnte, wie tief bisher sein Mißtrauen gegen diesen Mann gewesen war. – »Allein, Sire,« fuhr Fouquet fort, »es wird nicht nötig sein, davon Gebrauch zu machen, denn das Haupt des Unternehmens, der Mann, der dies alles ausgeführt hat, ist von mir entlarvt worden.«
»Sie haben diesen falschen Prinzen gesehen?« rief Ludwig. – »Nein,« antwortete Fouquet. »Er ist nicht die Seele dieser Tat, er ist nur ein Werkzeug. Der Mann, der dieses furchtbare Verbrechen entworfen und ausgeführt hat, ist Herr d'Herblay, der Bischof von Vannes.«
»Ihr Freund!« rief Ludwig. – »Er war mein Freund,« antwortete Fouquet edel. »Ich wußte nichts von dem schändlichen Vorhaben.« – »Und wer war sein Helfershelfer? Wer war der Riese, der mit seiner herkulischen Kraft drohte?« – »Das muß Baron du Vallon gewesen sein.« – »Ha! Ich werde die Schuldigen züchtigen, einen wie alle!« rief Ludwig. – »Sire, erwägen Sie!« entgegnete Fouquet. »Ein Prozeß würde in diesem Falle die Ehre des Throns beeinträchtigen. Der erhabene Name Annas von Oesterreich darf nicht vor ein Gericht gezogen werden. Königliches Blut darf nicht auf dem Schafott fließen.« – »Wie? Sie glauben an diese Zwillingsgeburt?« rief der König. »Das ist eine Erfindung d'Herblays, die sein Verbrechen noch erschwert, wenn dies möglich ist. Er und sein Genosse müssen sterben, und sterben muß dieser Pseudoprinz, das elende Werkzeug des Verwegenen!«
»Sire, was ihn anbetrifft, so werden Sie die Ehre Ihrer Krone wahren, ich menge mich da nicht hinein. Nur eines wage ich anzudeuten, Sire,« antwortete Fouquet. »Ehe Sie Ihrem Zwillingsbruder Philipp von Frankreich den Kopf abschlagen lassen, sprechen Sie mit Ihrer Mutter. Was aber d'Herblay und du Vallon anbetrifft, so bitte ich für sie um Gnade!« – »Gnade für die Meuchelmörder?« rief der König. – »Zwei Rebellen, Sire, weiter nichts.« – »Und Ihre Freunde? Ja ich verstehe. Doch die Sicherheit meines Reiches erheischt es, daß ich die Schuldigen bestrafe.«
»Ich erinnere Eure Majestät daran,« sagte Fouquet bescheiden, »daß ich Ihnen eben die Freiheit gegeben und das Leben gerettet habe. Und hätte Herr d'Herblay die Rolle eines Mörders spielen wollen, so hätte er heute früh Eure Majestät unterwegs nur durch einen Pistolenschuß zu töten brauchen, und alles wäre abgetan gewesen.« – Ludwig XIV. fuhr zusammen. – »Ein Pistolenschuß in den Kopf,« setzte Fouquet hinzu, »hätte das Gesicht der Leiche bis zur Unkenntlichkeit zerschmettert, und niemand würde in dem Toten den König von Frankreich erkannt haben. Dann würde d'Herblay mir auch nicht seinen Plan enthüllt haben. Nachdem der wahre König beseitigt, hätte der falsche König sich an seine Stelle gesetzt, und kein Mensch hätte das Geheimnis entdeckt. Sicherheit für alle Zeiten, Straflosigkeit und den Erfolg seiner Tat – das alles hätte sich d'Herblay mit diesem Pistolenschuß verschafft. Danken Sie also auch ihm, Sire, daß man Sie noch retten kann!«
Fouquet wollte den König rühren, aber er erreichte das Gegenteil. Dieses stolze Gemüt vermochte nicht den Gedanken zu ertragen, daß ein Sterblicher sein Leben in der Hand gehabt habe. Er fühlte sich tief gedemütigt, und jedes Wort, durch das Fouquet die Begnadigung seiner Freunde zu erlangen hoffte, war ein Tropfen Gift, in das empörte Herz des Königs geträufelt. Mit Ungestüm wendete er sich an Fouquet und rief: »Mein Herr, wie können Sie mich um Gnade für diese Leute bitten? Warum auch tun Sie es? Sie haben es gar nicht nötig. Ich bin ja hier in der Bastille, und man hält mich für den wahnsinnigen Marchiali, der sich für den König ausgibt. Aendern Sie einfach nichts daran! Lassen Sie den Verrückten hier im Kerker, und der neue König wird nichts gegen Herrn d'Herblay und Herrn du Vallon tun.«
»Majestät,« antwortete Fouquet trocken, »wenn ich einen neuen König hätte machen wollen, würde ich in Vaux geblieben sein, statt zu Ihrer Rettung hierher zu eilen. Das ist doch einleuchtend. Majestät sind im Zorn, sonst würden Sie nicht denjenigen beleidigen, der Ihr treuester Diener ist und Ihnen den wichtigsten Dienst geleistet hat.« – Ludwig erkannte, er war zu weit gegangen, denn noch hatten sich ihm die Tore der Bastille nicht geöffnet, während sich allmählich die Schranken auftaten, hinter denen der edelsinnige Fouquet seinen Zorn zurückhielt. – »Ich habe das nicht gesagt, Herr Fouquet,« sprach er, »um Sie zu demütigen, sondern nur um festzustellen, daß ich gegen mein Gewissen handeln müßte, wenn ich diese Verbrecher straflos ließe. Es sei denn, Sie legen mir Bedingungen auf, zu denen ich mich verpflichten soll, ehe Sie mich freilassen.«
»Majestät, ich habe unrecht,« antwortete Fouquet. »Ich errege in der Tat den Anschein, als wollte ich eine Gnade erzwingen. Das tut mir sehr leid, und ich bitte Sie um Verzeihung.« – »Ihnen ist vergeben, Herr,« antwortete der König. »Aber Verzeihung für d'Herblay und du Vallon erlangen Sie nie, solange ich lebe. Reden Sie nie mehr davon.« – »Sire, ich werde gehorchen,« antwortete Fouquet kurz. »Auch sah ich voraus, Sie würden den beiden Ihre Gnade versagen, und habe demzufolge meine Maßregeln getroffen. Herr d'Herblay hat sich mir offenbart und mir dadurch das Glück verschafft, meinen König und mein Vaterland zu retten. Ich konnte ihn nicht zum Tode verdammen, indem ich ihn dem Zorn Eurer Majestät auslieferte. Ich habe ihm und Herrn du Vallon meine besten Pferde und vier Stunden Vorsprung gegeben. Eure Majestät können sie nicht mehr einholen. Sie werden Belle-Ile erreichen, wo ich ihnen ein Asyl zugestanden habe.« – »Sie vergessen, Belle-Ile haben Sie mir geschenkt.« – »Doch nicht, damit Sie da meine Freunde verhaften.« – »Sie nehmen es mir wieder?« – »Dann ja, Majestät.« – »Meine Musketiere werden es in Besitz nehmen.« – »Weder Ihre Musketiere noch Ihre ganze Armee, Sire,« erwiderte der Minister. »Belle-Ile ist uneinnehmbar.«
Der König wurde blaß, und ein Blitz flammte aus seinen Augen. In diesem Moment war das Schicksal Fouquets besiegelt. Er fühlte es, allein er gehörte nicht zu denen, die ihr Leben höher einschätzen als ihre Ehre. Er hielt dem tückischen Blicke des Königs stand. Ludwig bezwang seine Wut und sagte nach kurzem Schweigen: »Lassen Sie uns nach Vaux gehen.« – »Ich stehe zu Eurer Majestät Befehl,« antwortete Fouquet mit einer tiefen Verbeugung. »Doch, bitte, erst zum Louvre, Majestät, damit Sie die Kleider wechseln können.«
Und sie gingen von dem verblüfften Baisemeaux fort, der schon einmal Marchiali hatte gehen sehen und sich die wenigen Haare ausriß, die ihm noch verblieben waren.
7. Kapitel. Philipp von Frankreich
Inzwischen hatte der falsche König in Vaux seine Rolle weitergespielt. Er gab Befehl, zu dem Morgenempfange die Herrschaften hereinzulassen, die im Vorzimmer warteten. Er entschloß sich, diesen Befehl zu erteilen, obwohl d'Herblay nicht da war. Da der Prinz nichts davon wußte, daß d'Herblay überhaupt nicht wiederkommen würde, so wollte er ohne seinen Schutz und Rat kühn den Anfang machen. Er ließ daher die Türflügel öffnen, und mehrere Personen traten ein. Er hatte ja seit einigen Tagen das Benehmen seines Bruders sorgfältig studiert und ahmte nun den König so trefflich nach, daß niemand Verdacht schöpfen konnte. Nun sah er Anna von Oesterreich, seine Mutter, zugleich mit Monsieur und Madame, näherkommen. Hinter ihnen zeigte sich Saint-Aignan.
Philipp betrachtete seine Mutter. Er fand sie schön und glaubte in den Furchen ihres Antlitzes noch jetzt Spuren des Schmerzes zu entdecken, den ihr das Opfer eines Sohnes bereitet hatte. Er gelobte sich, sie zu lieben und seine Qualen nicht entgelten zu lassen. Mit Rührung musterte er seinen Bruder. Von ihm hatte er ja nichts zu fürchten. Man konnte ihn als Nebenzweig am Stamme wachsen lassen; denn ihm war es genug, Geld zu haben und dem Vergnügen zu leben; er kannte keine ehrgeizigen Pläne.
Mit leichtem Beben reichte er Lady Henriette die Hand. Ihre Schönheit entzückte ihn, aber in dem kalten Blick ihrer Augen las er etwas, das ihn warnte, vor ihr auf der Hut zu sein. – Er fürchtete, die Königin würde kommen, doch ließ sie sich glücklicherweise entschuldigen.
Anna von Oesterreich begann zu sprechen. Sie ließ sich über den Empfang aus, den Herr Fouquet dem Hause Frankreich bereitet hätte, ohne dabei aus ihrer Feindseligkeit gegen ihn ein Hehl zu machen. Dann erkundigte sie sich unter allerlei kleinen mütterlichen Schmeicheleien nach dem Befinden des Königs. Zum Schlusse fragte sie, ob er sich noch weiter mit jenen Rechnungen und Quittungen Mazarins befaßt habe.
»Saint-Aignan,« sprach Philipp, »erkundigen Sie sich nach dem Befinden der Königin.« Es waren seine ersten Worte, und das Ohr der Mutter hörte der Stimme eine leichte Verschiedenheit gegen die Stimme ihres andern Sohnes an. Sie faßte Philipp scharf und fest ins Auge. Er hielt dem Blicke stand und fuhr fort: »Hoheit, ich höre nicht gern Schlechtes über Herrn Fouquet. Sie wissen das recht wohl.« – »Ich habe ja auch nur gefragt, wie Sie über ihn denken,« antwortete Anna.
»Sire,« ließ sich Henriette vernehmen, »ich habe Herrn Fouquet immer gern gehabt. Er ist ein wackerer Mann und hat auch einen sehr guten Geschmack.« – »Ich habe auch gar nichts gegen ihn,« setzte Monsieur hinzu. »Er ist kein Geizhals. Alle Anweisungen werden bar ausgezahlt, und man bekommt von ihm soviel Geld, wie man haben will.« – »Es rechnet eben hier jeder zuviel für sich,« warf die alte Königin ein, »niemand denkt dabei an den Staat. Und Herr Fouquet, das wird niemand leugnen, richtet den Staat zugrunde.« – »O, Mutter!« rief Philipp dazwischen, »legen auch Sie eine Lanze für Herrn Colbert ein? Es ist ja, als hörte man Ihre alte Freundin, die Frau von Chevreuse, reden.«
Anna von Oesterreich erblaßte und biß sich auf die Lippe. »Was sagen Sie da von Frau von Chevreuse?« versetzte sie. »Und wie sind Sie nur heute gegen mich gelaunt?« – »Frau von Chevreuse hatte immer gegen irgendwen zu intrigieren, Mutter,« erwiderte Philipp. »Und hat Sie Ihnen nicht letztens einen Besuch gemacht?« – »Sie sprechen zu mir in einer Weise, daß ich Ihren Vater zu hören glaube,« sagte Anna gekränkt. – »Mein Vater haßte Frau von Chevreuse, und mit Recht,« antwortete Philipp. »Ich kann sie auch nicht leiden, und sollte sie sich sehen lassen, um, wie ehemals, Zwietracht zu säen, unter dem Vorwande, Geld zu erbetteln, so würde ich –« – »Nun, was denn?« fuhr Anna von Oesterreich stolz auf. – »So würde ich sie aus dem Lande jagen, und mit ihr alle Geheimniskrämerei!«
Er hatte die Tragweite dieses furchtbaren Wortes nicht ermessen oder wollte vielleicht dessen Wirkung prüfen. Anna von Oesterreich schien einer Ohnmacht nahe; sie starrte ihn fassungslos an und streckte die Arme aus, als suche sie einen Halt. Ihr Sohn eilte zu ihr und drückte sie an die Brust.– »O, wie grausam Sie heute gegen mich sind!« stammelte sie. – »Ich spreche ja nur von Frau von Chevreuse, weil ich weiß, daß Sie Geldes wegen zu Ihnen gekommen ist und Ihnen ein gewisses Geheimnis verkaufen wollte.« – »Ein gewisses Geheimnis –?« stieß Anna hervor, von neuem schreckensbleich.
»Ja, ein Geheimnis, das Herrn Fouquet betrifft,« fuhr Philipp fort. »Es soll sich dabei um eine Unterschlagung handeln, aber das ist alles falsch. Frau von Chevreuse kam erst zu Herrn Fouquet selbst und ging dann zu Herrn Colbert. Nicht zufrieden damit, daß sie von ihm für das angebliche Geheimnis 200 000 Livres erhalten, ging sie noch zu Ihnen und versuchte auch an dieser Stelle etwas zu erpressen. Ich habe also wohl recht, wenn ich dieser Furie zürne. Wenn Gott gewisse Verbrechen begehen ließ, welche bis jetzt unbestraft blieben, und wenn Gott sie in den Schatten seiner Nachsicht hüllte, so werde ich es nicht dulden, daß Frau von Chevreuse sich anmaßt, die Absichten Gottes zu durchkreuzen.«
Die letzten Worte erschütterten die Königin-Mutter tief. Ihr Sohn fühlte Mitleid mit ihr und küßte ihre Hand; doch sie ahnte nicht, daß er ihr mit diesem Kusse die entsetzlichen Leiden verzieh, die er durch ihre Schuld acht Jahre lang hatte ertragen müssen.
Rings herrschte Schweigen, dann sprach Philipp in heiterem Tone: »Wir reisen heute noch nicht ab. Ich habe es mir anders überlegt. Sie, liebe Mutter, sollen erst mit Herrn Fouquet Frieden schließen.« – »Ich bin ihm ja gar nicht böse,« antwortete sie. »Ich fürchte nur seine Verschwendungssucht.« – Der Pseudokönig sah sich um, er suchte d'Herblay, auf den er mit lebhafter Ungeduld wartete. Lady Henriette glaubte, die Blicke beträfen die Lavallière, die vermißt würde, und um den König zu peinigen, fragte sie spitz: »Wen suchen denn Majestät?«
»Liebe Schwester,« antwortete er, »ich warte auf einen ausgezeichneten Mann, einen sehr geschickten Ratgeber, den ich Ihnen allen vorstellen möchte. Ah, d'Artagnan, treten Sie näher!«
Der Musketier kam herein. – »Wo ist denn Ihr Freund, der Bischof von Vannes?« fragte Philipp. »Ich warte auf ihn, man soll ihn holen.« – D'Artagnan war verblüfft, denn man hatte ihm gesagt, Herr d'Herblay sei in geheimer Mission weggeschickt worden. Er vermutete nun, der König wünsche, daß niemand etwas davon erfahre, und antwortete: »Sire, wünschen Sie dringend Herrn d'Herblay –?« – »Dringend ist nicht das rechte Wort,« unterbrach ihn der König. »Es wäre mir lieb, ihn zu sehen, aber es hat keine Eile. Ich wünsche auch mit Herrn Fouquet zu sprechen.«
Herr von Saint-Aignan kehrte mit befriedigenden Nachrichten von der Königin zurück, die, abgesehen von einer leichten Unpäßlichkeit, sich durchaus wohl fühlte. Es war Philipp sehr lieb, daß sie nicht kam – aber es war ihm nicht lieb, daß Aramis noch immer nicht erschien. Die Unterredung kam ins Stocken. Mit seinen Gedanken und Besorgnissen beschäftigt, vergaß Philipp, die königliche Familie zu verabschieden, und die Herrschaften wurden ungeduldig. Anna von Oesterreich wandte sich gegen ihren Sohn und flüsterte ihm ein paar Worte auf spanisch zu. – Philipp erschrak und wurde blaß; denn diese Sprache verstand er gar nicht.
In diesem kritischen Augenblick geschah etwas völlig Unerwartetes. Das Zimmer war von Halbdunkel erfüllt, da die dicht zugezogenen Vorhänge das Licht nicht hereinließen. Die Königin-Mutter hielt Philipp bei der Hand und wartete auf eine Antwort. Madame lehnte gähnend in ihrem Stuhl. Monsieur zupfte gelangweilt an seinen Manschetten. Da erschien auf der Türschwelle Herr Fouquet, sah herein, ohne daß man ihn bemerkte, lüftete die Portiere und ließ Ludwig XIV. eintreten.
Philipp, dessen Blick auf die Tür geheftet war, da er auf Aramis wartete, erblickte sein Ebenbild und stieß einen Schrei aus. Alle Anwesenden sahen nach der Tür. Inzwischen war Herr Fouquet blitzschnell zu den Fenstern gelaufen und hatte die Vorhänge zurückgerissen, so daß mit einem Male das volle Tageslicht jäh den Saal durchflutete. Ludwig XIV. war bis in die Mitte vorgeschritten und maß mit brennendem Blicke seinen Zwillingsbruder.
Anna von Oesterreich sah von einem zum andern. Die Aehnlichkeit zwischen diesen beiden Männern war so vollständig, daß man glauben konnte, der eine sei nur ein Spiegelbild, nur ein zauberischer Reflex des andern. Daher las man auch auf allen Gesichtern maßlose Verwunderung und Verwirrung, und in diesem Moment mag wohl keiner der Anwesenden gewußt haben, welcher von den beiden eigentlich der König sei.
Fouquet teilte dieses Erstaunen, sah er doch den Usurpator zum ersten Male. Aramis hatte recht gehabt!
Der Minister erkannte auf den ersten Blick, daß der falsche König ebenso reinen Blutes sei, wie Ludwig XIV., und daß er, Fouquet, ein Narr gewesen, den genial angelegten Staatsstreich des Jesuitengenerals zu vereiteln. In diesem Augenblick, wo alle, die an dieser Szene teilnahmen, von verworrenen Gedanken und Vorstellungen ergriffen wurden, sagte sich Fouquet, daß Ludwig XIV., der Undankbare, die edelmütige Tat nicht verdiene, durch die er ihm das Leben rettete und sich selbst, da er gerettet war, aufs neue ins Verderben stürzte. Je vollendeter die Aehnlichkeit sei, um so größer sei ja in den Augen Ludwigs die Schuld und das Verbrechen der Täter und aller, die irgendwie daran beteiligt gewesen.
Ludwig XIV. unterbrach plötzlich das todesbange Schweigen, das auf jenen allgemeinen Schrei der Verblüffung gefolgt war. Er trat vor Anna von Oesterreich hin, die nun die ganze Wahrheit begriff, und rief: »Mutter, erkennen Sie Ihren Sohn nicht, da hier keiner den König zu erkennen scheint?« – Darauf wandte sich auch Philipp, an allen Gliedern bebend, zu der Königin-Witwe und rief, die Arme ausbreitend: »Mutter, erkennen Sie Ihren Sohn nicht?« – So standen beide vor der unglücklichen Frau, die nur einen neuen Schrei ausstoßen konnte und dann ohnmächtig wurde. Ludwig vermochte diese Szene, die er als tödlichen Schimpf empfand, nicht länger zu ertragen. Er stürzte auf d'Artagnan zu, der wie traumverloren an der Wand lehnte und sich das ganz tolle Unternehmen, das Aramis da ausgeführt hatte, klarzumachen versuchte.
»Musketier! Her zu mir!« schrie Ludwig. »Sehen Sie uns beiden ins Gesicht! Wer ist bleicher, er oder ich?« – D'Artagnan fuhr auf. Er bewegte den Kopf, als wenn er etwas Schweres von sich schüttelte. Dann trat er an Philipp heran, legte ihm die Hand auf die Schulter und sprach: »Monsieur! Sie sind verhaftet.«
Philipp rührte sich nicht vom Fleck. Er sah starr seinen Bruder an und warf ihm in einem erhabenen Schweigen all das Unglück, all das Elend vor, das er schon erduldet hatte, das er in Zukunft noch erdulden sollte. Gegenüber dieser stummen Sprache verließ den König die Kraft. Er zog seinen andern Bruder, den Herzog von Orléans, und Henriette mit sich fort und vergaß seine Mutter, die in ihrem Stuhle lag und ihren bedauernswerten Sohn zum zweiten Male verdammen ließ.
Der Unglückliche trat zu ihr hin und sprach: »Wenn ich nicht Ihr Sohn wäre, würde ich Ihnen fluchen, daß Sie mich solches Elend erleiden lassen!« – D'Artagnan hörte diese Worte, und ein Schauer rieselte ihm durchs Gebein. Er verneigte sich vor dem jungen Prinzen und sprach tiefergriffen: »Monseigneur, halten zu Gnaden – ich bin Soldat, nichts weiter. Ich habe dem, der eben hinausging, den Treueid geleistet.« – »Dank, Herr d'Artagnan! Doch was ist mit Herrn d'Herblay geschehen?« – »Er ist in Sicherheit,« antwortete eine Stimme. »Und solange ich lebe, wird niemand ihm ein Leid tun.«
»Herr Fouquet!« rief der Prinz und lächelte traurig. – »Monseigneur!« sprach der Minister, sich auf ein Knie niederlassend. »Verzeihen Sie mir, aber jener, der eben hinausgegangen ist, war mein Gast.« – »Wackere Freunde und edle Herzen!« murmelte der Prinz. »Ach, eine Welt, wo es das gibt, muß doch schön sein. Vorwärts, d'Artagnan, ich gehöre Ihnen.« – Colbert trat herein und überreichte d'Artagnan einen Befehl. Der Musketier las das Papier und zerknitterte es. – »Was ist es?« fragte der Prinz. – Da reichte der Kapitän es ihm, und Philipp las: »Herr d'Artagnan hat den Gefangenen nach der Insel Santa-Margareta zu bringen und ihm eine eiserne Maske vors Gesicht zu legen, welche festgelötet werden soll, so daß der Gefangene sie zeit seines Lebens nicht abnehmen kann.«
»Ich bin bereit,« sprach Philipp resigniert.
»Aramis hatte recht,« flüsterte Herr Fouquet dem Musketier ins Ohr. »Dieser hat ebensoviel von einem König wie der andere.« – »Mehr noch,« versetzte d'Artagnan. »Nur fehlen ihm Leute wie ich und Sie.«
8. Kapitel. Die eiserne Maske
Rudolfs Verlangen, Frankreich zu verlassen und in fremdem Lande in den Kampf zu ziehen, fand rasch Erfüllung. Der Herzog von Beaufort – auch ein alter Bekannter der vier Musketiere – rüstete für Ludwig eine Flotte und ein Heer aus, um einen Eroberungszug in Nordafrika zu unternehmen. Bei ihm war nun Athos Fürsprecher für seinen Sohn, und Beaufort ernannte Rudolf, von dem er durch den Prinzen von Condé schon viel Gutes gehört hatte, zu seinem Adjutanten. Er sandte ihn nach Toulon, um dort Mannschaft anzuwerben und die Schiffe segelfertig zu machen. Rudolf trat ohne Säumen die Reise an, und Athos begleitete ihn, um den Abschied noch so lange wie möglich hinauszuschieben.
Ehe Vater und Sohn Blois verließen, sahen sie Aramis und Porthos wieder, die auf der Flucht nach Belle-Ile waren. Der Bischof konnte in Blois keine Pferde auftreiben. Da der Herzog von Beaufort gerade in dieser Gegend Mannschaften anwarb, so hatte man ihm alle brauchbaren Pferde zugeführt. Die Flüchtlinge waren in größter Verlegenheit, als sich d'Herblay des Grafen de la Fère erinnerte, dessen Schloß nur ein kurzes Stück von Blois entfernt war. Ihr Besuch konnte freilich nur von kurzer Dauer sein, da sie es eilig hatten. Dennoch fand Aramis Zeit, Athos alles, was geschehen war, zu erzählen. Athos war sprachlos, aber er zauderte nicht, seinen Freunden die besten Gäule zu geben, die er besaß, und schied mit herzlichem Händedruck, namentlich von Porthos, der sich in seinen Mantel wickelte mit den Worten: »Nicht wahr, ich bin ein Glückskind? Der König wird mich zum Herzog machen.« – Denn Aramis hatte ihn noch immer nicht dem Wahne entrissen, daß alles, was sie täten, im Dienste Ludwigs XIV. geschähe.
Rudolfs Wunde war noch nicht vernarbt, obwohl Athos alle Ueberredungskünste aufbot, ihm begreiflich zu machen, daß der Schmerz über eine erste Untreue kaum jemals einem Liebenden erspart bleibe. Bragelonne konnte es nicht fassen. – »Ich werde mich nie,« sagte er immer wieder, »an den Gedanken gewöhnen, Luise, die reinste, offenherzigste der Frauen, habe einen so ehrbaren und aufrichtig liebenden Mann, wie ich bin, in so niedriger Weise betrügen können. Luise soll eine schamlose Mätresse sein? Ach, mein Vater, das ist ein Gedanke, der mir das Herz zerreißt, der mich noch töten wird.«
Da wandte Athos ein verzweifeltes Mittel an. Er verteidigte Luisens Verrat. – »Hätte sie sich in den König verliebt, nur weil er der König ist, dann würde sie verdienen, eine schändliche Dirne genannt zu werden. Aber sie liebt ihn, weil er jung und schön ist. Sie hat ihre Schwüre, er seinen Rang vergessen. Die Liebe entschuldigt alles, Rudolf.«
Solche Gespräche führten sie auf ihrer Reise nach Toulon. Sie machten 50 Meilen und mehr am Tage. In vierzehn Tagen waren sie am Ziel. Unterwegs erfuhren sie von einem königlichen Offizier, der mit einem geheimnisvollen Gefangenen nach Toulon gekommen sei. Verschiedene Einzelheiten ließen Athos vermuten, daß es sich hier nur um d'Artagnan handeln könne; und da er von Aramis die Geschichte des mißlungenen Staatsstreichs kannte, so lag der Schluß nahe, daß der Gefangene eben jener mysteriöse Zwillingsbruder Ludwigs XIV. sei, der auf Befehl des Königs von dem Kapitän der Musketiere ins Exil gebracht würde. Er hütete sich indessen die Spur mit auffälligem Eifer zu verfolgen, da er d'Artagnan dadurch zu schaden fürchtete. In Antibes verloren sie die Spur, um sie auf ganz überraschende Weise wiederzufinden. Der Graf de la Fère beschloß einen Abstecher nach der Insel Santa Margareta zu machen, in der Hoffnung, dort mit seinem alten Freunde zusammenzutreffen, dem auch Rudolf vor seiner Reise nach Afrika noch einmal die Hand schütteln wollte.
Santa Margareta ist unbewohnt, und als Athos und Rudolf den Fuß an den Strand setzten, glaubten sie, ein kleines Paradies zu betreten, beim Anblick des breiten Gürtels von früchteschweren Orangen- und Feigenbäumen, der das Gestade säumte. Bei jedem Schritt, den sie landeinwärts machten, stoben Rebhühner oder wilde Kaninchen auf. Die einzigen Menschen, die dort lebten, waren der Gouverneur und eine acht Mann zählende Besatzung, die das kleine Fort mit den acht verrosteten Kanonen innehatten. Dieser Gouverneur war also ein glücklicher Pflanzer, der Weintrauben, Feigen, Oliven und Apfelsinen erntete, ohne daß sein Garten ihm Mühe gemacht hätte. Einen guten Nebenverdienst bezog er aus seinen Beziehungen zu den Schmugglern, denen er in den Buchten des Eilands insgeheim Unterschlupf gewährte.
Athos und Rudolf schritten ein Weilchen längs des Zaunes hin, der den Garten umschloß, doch trafen sie niemand, der sie zum Gouverneur hätte führen können. In einiger Entfernung – zwischen dem zweiten und dem dritten Hofe – sah Athos einen Soldaten gehen, der einen Korb auf dem Kopfe trug und im Schatten des Schilderhauses verschwand. Der Graf glaubte, der Mann habe jemand etwas zu essen gebracht, und hoffte, er werde zurückkommen, so daß man ihn rufen könnte. Da hörte er selbst ein Geschrei und sah im Rahmen eines Fensters etwas Weißes, wie eine Hand, sich bewegen und im selben Augenblick etwas Blendendes, einer Waffe gleich, aufzucken und durch die Luft fliegen. Eine silberne Platte fiel zu ihren Füßen in den Sand, und Rudolf hob sie rasch auf. Sein Auge fiel sogleich auf eine am Boden der Schüssel eingekratzte Schrift, und er las folgende Worte in französischer Sprache:
»Ich bin der Bruder des Königs von Frankreich – heute gefangen, morgen wahnsinnig. Französische Edelleute und Christen, betet zu Gott für die Seele und den Verstand des unglücklichen Sohnes Ludwig XIII.«
Rudolf ließ die Schüssel fallen. Gleichzeitig erklang ein Schrei vom Turme der kleinen Festung herüber. Bragelonne bückte sich blitzschnell und zwang seinen Vater dasselbe zu tun. Ein Musketenrohr zeigte sich über der Brüstung, ein Schuß fiel, und eine Kugel schlug dicht neben den beiden Reisenden in den Sand. Nach einigen Minuten erklang ein Trommelwirbel, und dann marschierten aus dem Tor die acht Musketiere der Festung, rückten vor, machten sich schußfertig und legten auf Befehl eines Offiziers auf die fremden Männer an.
»Donnerwetter!« schrie Athos. »Werden hier französische Kavaliere meuchlings niedergeknallt?« – Als der Offizier diese Stimme hörte, hob er rasch die Hand, befahl den Soldaten die Waffen zu senken und eilte mit dem Rufe: »Athos! Rudolf!« heran. Es war d'Artagnan, der sie im nächsten Augenblick an die Brust drückte. »Was bedeutet das?« fragte Athos erstaunt. »Potzblitz, ich wollte euch erschießen lassen, Freunde,« antwortete d'Artagnan. »Eine Sekunde noch, und ihr wart geliefert. Ein Glück, daß ich euch erkannt habe!«
»Aber warum schoß man überhaupt auf uns?« – »Wetter noch einmal, Sie haben zur Hand genommen, was der Gefangene Ihnen zuwarf,« erwiderte d'Artagnan. »Und er hatte etwas darauf geschrieben!« Mit diesen Worten bückte sich der Kapitän nach der Schüssel und las die Inschrift. »O, mein Gott!« rief er. »Sie sind verloren, wenn der Gouverneur ahnt, daß Sie das hier haben lesen können, daß Sie es verstanden haben. Ich werde Sie für Spanier ausgeben, die kein Wort Französisch können. Das ist das einzige Mittel, Sie vorm Tode oder im besten Falle vor ewiger Gefangenschaft zu retten.«
»So ist es wahr, was man über diesen Gefangenen spricht?« murmelte Athos. Doch d'Artagnan unterbrach ihn unruhig. »Still, um Gotteswillen!« rief er. »Dort kommt der Gouverneur. Mein Herr,« wandte er sich an diesen, »ich stelle Ihnen hier zwei spanische Kapitäne vor, die ich neulich in Ypern kennen gelernt habe.« – »Sehr wohl,« sagte der Gouverneur mit einer Verbeugung, nahm die Schüssel und wollte selbst die Schrift lesen, als d'Artagnan ihm die Platte rasch entriß und die Buchstaben mit der Spitze seines Degens zerkratzte. – »Was tun Sie da?« rief der Gouverneur. »Darf ich das nicht lesen?«
»Es ist Staatsgeheimnis,« erwiderte der Musketier. »Sie wissen, laut Befehl des Königs ist jeder, der in dieses Geheimnis eindringt, mit dem Tode zu bestrafen. Wenn Sie wollen, lasse ich Sie gern lesen, aber gleich darauf erschießen.« – Athos und Rudolf standen schweigend daneben und gaben sich den Anschein, als verständen sie nichts, so sehr erstaunt sie auch waren über das, was sie gehört hatten. – »Und sollten die Herren kein Wort verstanden haben?« meinte der Gouverneur. – »Wenn Sie auch Brocken von dem, was wir sprechen, verstehen, so ist alles Geschriebene ihnen doch ein Rätsel,« antwortete der Gaskogner schlagfertig. »Es ist Ihnen ja wohl auch bekannt, ein adeliger Spanier darf nicht lesen lernen.«
Der Gouverneur mußte sich damit zufrieden geben. Allein er war zähe. »Die Herren werden mir die Ehre geben, mit mir im Fort zu dinieren,« sagte er. – »Ich wollte sie eben selbst dazu auffordern,« sagte d'Artagnan, der in Wahrheit seine Freunde so rasch wie möglich von der Insel wegbringen wollte. – Im Fort angelangt, traf der Gouverneur einige Anordnungen zur Bewirtung seiner Gäste, und Athos benutzte diesen Augenblick des Alleinseins, um d'Artagnan um Aufklärung zu bitten.
»Da ist nicht viel zu erklären,« sagte der Chevalier. »Ich habe einen Gefangenen hierher gebracht, den niemand sehen und sprechen darf. Er hat sich nun mit Ihnen in Verbindung zu setzen gewußt, und infolgedessen –. Aber Sie glauben natürlich nicht an den Unsinn, den dieser Mensch geschrieben hat?« – »Ich glaube doch daran,« antwortete Athos. »Umsonst haben doch Sie nicht den strengen Befehl erhalten, jedermann zu töten, der in dieses Geheimnis eindringt. Warum solche Maßregeln, wenn nichts dahinter steckt? Der König will nicht, daß das Volk erfahre, auf wie schändliche Weise er und seine Familie diesen unglücklichen Sohn Ludwigs XIII. aus dem Wege geräumt haben.«
»Ah, Freund, glauben Sie doch nicht solche Ammenmärchen, sonst widerrufe ich, daß ich Sie für einen verständigen Mann halte,« sagte d'Artagnan. »Weshalb sollte ein Sohn Ludwigs XIII. nach der Insel Santa Margareta geschafft werden?« – »Danach fragen Sie Aramis,« antwortete Athos. – »Aramis?« rief der Musketier verblüfft. »Haben Sie mit Aramis gesprochen?« – »Ja, ich sah ihn und Porthos auf ihrer Flucht nach Belle-Ile, und Aramis hat mir alles erzählt.«
»Nun, da sehen Sie wieder, wie erbärmlich es mit der menschlichen Weisheit beschaffen ist,« brummte der Gaskogner. »Ein nettes Geheimnis, das schon etwa zwanzig Menschen bekannt ist. Mag kommen, was Gott gefällt! Ich habe die dunkle Ahnung, als müßten alle, die mit diesem Geheimnis verknüpft sind, eines elenden Todes sterben! Aber was hat Sie überhaupt hierhergeführt?«
»Wir kamen, um Ihnen Lebewohl zu sagen,« antwortete der Graf. – »Wie das? Geht Rudolf fort?« – »Ja, mit Herrn von Beaufort nach Afrika.« – »Er ist noch immer traurig?« – »Zu Tode betrübt,« sprach Athos, »und er wird daran sterben.« – D'Artagnan schwieg und kaute an seinem Schnurrbart. »Warum lassen Sie ihn reisen?« fragte er. – »Weil er will.« – »Und warum gehen Sie nicht mit ihm?« – »Ich will ihn nicht sterben sehen. Sie wissen, Freund, es gibt wenig, wovor ich mich fürchte, aber wenn ich daran denke, ich müßte eines Tages die Leiche meines Sohnes sehen, so packt mich eine namenlose Angst.«
»Wie? Sie, der Mann, der alles gesehen hat, was der Mensch auf dieser Welt überhaupt sehen kann, Sie fürchten sich davor, Ihren Sohn tot zu sehen? Freund, der Mensch muß hienieden auf alles gefaßt sein, alles hinnehmen, allem kühn entgegentreten.« – »Ich bin alt und lebensmüde geworden, Freund,« erwiderte Athos »Ich mache mir nichts daraus, selbst zu sterben; aber ich sehe nicht gern die, die ich liebe, dahingehen. Wer stirbt, gewinnt, wer sterben sieht, verliert. Und ganz genau zu wissen, man wird denjenigen, den man über alles liebt, niemals wiedersehen – ach ja, ich bin eben alt, es fehlt mir an Mut. Doch ich will Gott nicht lästern, es ist schon genug, einem König geflucht zu haben.«
»Hm!« brummte d'Artagnan, überrascht über die Tiefe dieses Schmerzes, denn er hatte nicht geglaubt, daß »die Geschichte mit der kleinen Lavallière« ein so tragisches Ende nehmen sollte. – »Sehen Sie ihn nur an,« fuhr Athos fort. »Wie traurig er dreinschaut. Wie finster, wie furchtbar entschlossen. Er hat seine Rechnung gemacht, und es ist nichts mehr daran zu ändern. Er flieht den Hof, Paris, Frankreich, um nichts mehr zu sehen, weil er nicht will, daß seine Liebe in ihm sterbe. Er will das Mädchen, das die Gottheit seiner Jugend gewesen, in Ewigkeit liebbehalten, und deshalb geht er allem aus dem Wege, was etwa angetan sein könnte, sie vom Altar seines Herzens herabzustoßen.«
Sie schwiegen, denn Rudolf trat zu ihnen. Er hatte abseits gesessen und, in Gedanken versunken, zum Fenster hinausgeblickt. – »Herr d'Artagnan,« sprach er leise, »Sie kehren nach Paris zurück. Darf ich Sie um einen Dienst bitten? Wollen Sie Fräulein von Lavallière meinen letzten Gruß bringen?« – D'Artagnan nickte. »Was soll ich ihr sagen?« – »Die letzten Worte, die ich ihr sende,« antwortete Rudolf, »sind diese: Statt Ihnen zu fluchen, liebe ich Sie noch immer und sterbe.« – D'Artagnan sah auf. Er wollte Einspruch erheben, doch Rudolf ließ ihn nicht zu Worte kommen. »Sie werden ihr das sagen, nicht wahr?« drang er in ihn. – »Gewiß, gewiß, doch wann?« – »An dem Tage,« erwiderte Rudolf, »an welchem Sie ihr auch das Datum meines Todes angeben können.« – Darauf trat er rasch wieder zur Seite.
Der Gouverneur ging vorüber, und d'Artagnan zog seine Freunde in eine dunkle Ecke. – »Was gibt es wieder?« fragte Athos. – »Sie werden den Gefangenen sehen,« flüsterte d'Artagnan, »er kommt eben aus der Kapelle zurück.« –
Und im Scheine eines Wetterleuchtens, das den Himmel purpurrot färbte, sah man sechs Schritte hinter dem Gouverneur, ernst und langsam, einen jungen Mann schreiten, der schwarz gekleidet war und vor dem Gesicht eine Maske aus braunem Stahl trug, die mit einer den ganzen Kopf umschließenden, fest angelöteten Kappe aus dem gleichen Metall zusammenhing. Das Feuer des Himmels zeichnete matte Reflexe auf der blanken Oberfläche ab, und dieses Funkeln schien die grimmigen Blicke darzustellen, die der Unglückliche statt der Flüche schleuderte.
Der Jüngling blieb stehen und sah nach dem Horizont, atmete die laue Regenluft ein und stieß einen Seufzer aus, der wie ein tiefes Stöhnen klang. »Kommen Sie!« rief der Gouverneur ungeduldig. »Kommen Sie, Monsieur!« – »Sagen Sie Monseigneur!« rief Athos aus der Ecke hervor, in so feierlichem Tone, daß der Gouverneur heftig erschrak. Athos forderte Ehrfurcht vor der gefallenen Majestät. – »Wer hat gesprochen?« rief der Gouverneur. – »Ich,« sagte d'Artagnan und trat rasch vor. »Sie wissen, so lautet der Befehl.«
»Nennen Sie mich weder Monsieur noch Monseigneur,« sprach der Gefangene mit einer Stimme, die Rudolf im Innersten erschütterte und rührte; »nennen Sie mich Verfluchter!« – Und er ging weiter; die eiserne Pforte schloß sich hinter ihm. – »Dieser Mensch,« murmelte Rudolf, ihm nachschauend, »ist noch hundertmal unglücklicher als ich!«
Achter Teil. »Der Staat bin ich!«
1. Kapitel. Letzte Grüße
Ein Befehl Ludwigs XIV. rief d'Artagnan nach Paris zurück. Er brachte seine Freunde nach Toulon und nahm hier Abschied von ihnen. Lange hielt er sie umfangen, ohne ein Wort zu sprechen. Dann gab er dem Pferde die Sporen und jagte davon, ohne sich noch einmal umzuschauen. – »Ich hab's nicht über's Herz gebracht, ihnen zuzulächeln,« sprach er vor sich hin. »Das ist ein schlimmes Vorzeichen! Ich werde beide nicht wiedersehen.«
Die Straßen von Toulon waren von Soldaten und Pferden angefüllt. Herr von Beaufort betrieb die Einschiffung mit dem Eifer und der Geschicklichkeit eines geübten Truppenführers. Er prüfte selbst die Ausrüstung eines jeden Mannes, untersuchte jedes einzelne Pferd, guckte in jedes Flinten- und Kanonenrohr und überzeugte sich von der Beschaffenheit jedes Munitionskastens. Rudolf hatte soviel zu tun, daß ihm keine Zeit zu trüben Gedanken blieb. Die Schiffe waren fertig zur Ausfahrt.
An dem letzten Abend, den sie für sich genießen durften, gingen Vater und Sohn auf die hohen Berge, die die Stadt Toulon überragen. Ein herrliches Schauspiel bot von hier aus die Stadt, das weite Meer, die Schiffe im Hafen, welches alles der Mond mit zauberhaftem Schimmer übergoß.
»Mein Sohn,« sprach der Vater, »jetzt, wo wir scheiden sollen, kommt mir der Gedanke, ich hätte nicht recht getan, dich in so einseitiger Weise zu erziehen, dich nur in ernstem, strengem Sinne denken und handeln zu lehren. Ich hätte dich an ein Leben der Freude, der Gesellschaft, des Geräusches gewöhnen sollen.« – »Ich weiß, weshalb Sie das sagen, mein Vater,« antwortete Bragelonne. »Doch Sie irren sich. Was ich jetzt bin, das haben nicht Sie aus mir gemacht, die Liebe hat es getan, und diese Liebe hat mich schon ergriffen, als ich fast ein Kind noch war. Die Beharrlichkeit aber, mit der ich nun daran hänge, ist der Grundzug meines Charakters. Was die Vergangenheit jetzt noch an Glück für mich enthält, was die Zukunft noch an Hoffnung für mich bietet – das liegt in Ihrer Person, mein Vater. Nein, ich habe nichts an dem Leben auszusetzen, das Sie mir zu führen gestattet haben. Ich segne Sie, Vater, und liebe Sie innig.«
»Deine Worte tun mir wohl, Rudolf. Aber künftig soll es anders sein. Wir werden, wenn du zurückkommst, nicht mehr so einsam leben; ich werde dir das Geld überlasten, das mein Landbesitz abwirft, und du wirst damit das Leben eines Kavaliers von Welt führen können, abwechslungsreich, geräuschvoll und vielseitig. Und du wirst mir dann, ehe ich ins Grab sinke, noch den Trost bescheren, daß unser Stamm nicht verlöscht.« – »Ich werde tun, was Sie, mein Vater, mir befehlen.« – »Du bist in diesem Feldzug Flügeladjutant, Rudolf, wirst dich also nicht ernsten Gefahren auszusetzen brauchen.« fuhr Athos fort. »Du hast in andern Kriegen oft genug bewiesen, wie wacker du im Feuer stehen kannst. Schone dich hier; denn es geht gegen Barbaren, gegen Meuchelmörder, und es bringt wenig Ruhm, in einem Hinterhalt sein Leben zu lassen.«
»Ich bin klug und habe immer Glück gehabt,« sagte Rudolf mit einem Lächeln, das dem armen Vater ins Herz schnitt. »Ich habe zwanzig Schlachten mitgemacht und nur eine Schramme davongetragen.« – »Und dann mußt du dich noch vorm Fieber hüten,« sagte Athos. »Das ist ein böses Leiden. Der König Ludwig der Heilige bat Gott, ihm lieber einen Pfeil vom Bogen eines Mohren als das Fieber zu schicken. Herr von Beaufort hat mir schon gesagt, daß Nachrichten von dir mit seinen persönlichen Depeschen mitgehen können, die alle vierzehn Tage nach Frankreich abgesandt werden. Tu wirst mich dann nicht vergessen.« – »Nein, Vater!« rief Rudolf mit erstickter Stimme.
»Und wirst du bisweilen an mich denken?« – »O, in jeder Nacht, Vater! In meiner Kindheit sah ich Sie oft im Traume lächelnd eine Hand über mein Haupt halten – und deshalb habe ich auch immer so sanft und ruhig schlafen können – ehemals.« – »Wir lieben uns zu sehr,« sagte Athos, »als daß nicht, nun wir uns trennen, ein Teil unserer beiden Seelen, der meinen mit dir, der deinen mit mir ziehe und dort weile, wo wir weilen werden. Wenn du traurig bist, Rudolf; so wird auch mich Traurigkeit beschleichen, und wenn du mit Lächeln an mich denkst, so kannst du dir immer sagen, du sendest mir von dort einen Strahl Freude herüber.« – »Froh zu sein, verspreche ich Ihnen nicht,« antwortete Rudolf. »Aber ich versichere Ihnen, es wird keine Stunde vergehen, ohne daß ich an Sie denke, keine Stunde, solange ich lebe.«
Athos umarmte seinen Sohn und hielt ihn fest umschlungen.
Ein Geräusch trennte sie. Grimaud, der seinem Herrn von weitem gefolgt war, trat herzu. – »Ah, guter Alter!« rief Rudolf. »Du willst uns sagen, daß es Zeit sei abzureisen.« – »Allein?« fragte Grimaud mit einem Blick auf Athos. – »Du hast recht,« rief Athos. »Nein, Rudolf soll nicht allein in das fremde Land ziehen. Er soll einen Freund mitnehmen, der ihn tröstet und an alles Liebe erinnert, das er hier zurückläßt.« – »Mich?« fragte Grimaud. – »O, wie gern!« rief Rudolf. »Aber du siehst, man geht schon zu Schiffe, und du bist nicht vorbereitet.« – »Doch,« antwortete Grimaud und wies den Schlüssel seines Reisekoffers vor. – »Du kannst aber doch den Herrn Grafen nicht allein lassen,« sagte Bragelonne noch, »bist du doch dein Lebtag noch nie von ihm gegangen.« – Grimaud sah Athos an und murmelte: »Ihm wird es so lieber sein.« – Und Athos nickte stumm.
In der Stadt wirbelten die Trommeln, schmetterten die Trompeten. Man sah die Regimenter durch die Straßen zum Hafen ziehen.
Eine halbe Stunde später waren Rudolf und Grimaud an Bord, und Athos stand allein am Gestade. Die Schiffe verließen langsam eins nach dem andern die Reede und steuerten dem Meere zu. Athos verlor das Fahrzeug, das seinen Sohn trug, nicht aus den Augen. Er sah ihn an der Strickleiter hängen, die er erklommen hatte, um seinem Vater noch recht lange sichtbar zu bleiben. Die Gestalt ward kleiner und kleiner, glich nur noch einem Punkt, einem Nebelfleck und verschwand. Dann verlor sich auch die Spitze des Mastbaums am Horizont, und Athos kehrte, matt wie ein Kranker, in seine Herberge zurück.
Inzwischen war d'Artagnan auf schnellen Pferden nach Paris geeilt, um sich dem König zur Verfügung zu stellen. Er erhielt den Befehl, mit seinen Musketieren nach Nantes zu reiten, wo die Versammlung der Generalstände stattfinden sollte, und vor allem Herrn Fouquet im Auge zu behalten. Ludwig fürchtete, der Oberintendant könne von Nantes aus nach Belle-Ile entschlüpfen, und da er entschlossen war, ihn nicht fliehen zu lassen, sondern seine Rechnung sofort nach der Stände-Versammlung mit ihm abzuschließen, so legte er seinem Kapitän betreffs der Person Fouquets ganz besondere Wachsamkeit ans Herz. Beruhigt verließ der Musketier den König. Er hatte schon während der ganzen Reise mit Schrecken daran gedacht, daß Ludwig XIV. ihn nun wohl nach Belle-Ile schicken würde, um Aramis und Porthos zu verhaften und seiner Rache zu überliefern. Indem er sich der Trauer de la Fères und Bragelonnes erinnerte, gestand er sich mit Unwillen, daß diesem jungen, rücksichtslosen König nun doch noch alle seine alten Freunde zum Opfer fallen würden. Und ihn, d'Artagnan, bestimmte das Los zum Vollstrecker. Hatte doch wahrlich nicht viel gefehlt, so hätte er auf der Insel Santa Margareta Athos und Rudolf niederschießen lassen. Dann kehrten seine Gedanken zu dem armen Zwillingsbruder zurück, der so grausam verurteilt worden war. Beklommenen Herzens betrat er daher den Palast, stellte er sich dem König vor – aber die Person dieses Monarchen übte ihren alten Zauber auf ihn aus. Nachdem er mit ihm gesprochen, schien dem Kapitän nichts selbstverständlicher, nichts richtiger, als seine Befehle pünktlich zu vollziehen.
Ehe d'Artagnan den Louvre verließ, sprach er auch mit Luise von Lavallière. Er traf sie in einer Galerie, wo sie mit mehreren Hofdamen spazieren ging. Sie empfing nämlich in ihrer Eigenschaft als anerkannte erste und einzige Mätresse des Königs jetzt von allen Seiten die schwärmerischsten Huldigungen und hatte sozusagen ihren kleinen Hofstaat für sich. Obwohl d'Artagnan nie ein Freund von Weibern gewesen war, so mochten die Damen ihn doch gern leiden, denn er wußte sich ebenso gebildet zu unterhalten wie tapfer zu schlagen, und der Ruf seiner Tapferkeit und ritterlichen Gesinnung erwarb ihm neben der Freundschaft der Männer die Bewunderung der Frauen.
Die Ehrenfräulein riefen ihn nun gleich herbei, denn man wußte, daß er eine Zeitlang fern von Paris gewesen war, und hoffte allerlei Interessantes von ihm zu hören. Man bestürmte ihn mit Fragen: wohin die Reise ihn geführt hätte – warum man ihn so lange nicht gesehen – was er Neues zu erzählen habe.
Er antwortete, er komme aus dem Lande der Orangen. Es war damals noch eine Zeit, wo eine Reise von hundert Meilen schon ein Problem war, dessen Lösung oftmals der Tod bildete. – »Aus dem Lande der Orangen?« rief Fräulein von Tonnay-Charente. »Also aus Spanien?« – »Bewahre!« – »Dann vielleicht von Malta?« – »Da sind Sie schon näher, Fräulein,« entgegnete d'Artagnan, »ich will Sie nicht in Ungewißheit lassen. Ich komme aus dem Hafen, wo Herr von Beaufort eben die Fahrt nach Afrika antritt.« – »Haben Sie die Armee, die Flotte gesehen?« – »Alles.« – »Haben wir Freunde dabei?« fragte die Tonnay-Charente gleichgültig, aber doch in einem Tone, der die Absichtlichkeit dieser Frage erkennen ließ.
»Ja,« antwortete d'Artagnan, »die Herren von Guillotière, von Mouchy und von Bragelonne sind dabei.« – Die Lavallière erbleichte. – »Ei was?« rief die boshafte Athenais, »Herr von Bragelonne ist in den Krieg gezogen? Wissen Sie, was ich davon halte? Alle Männer, die diesen Feldzug mitmachen, tun es aus Verzweiflung, aus unglücklicher Liebe und in der Erwartung, die Mohrinnen weniger grausam zu finden als die weißen Schönen.« – Einige Damen lachten; die Lavallière wußte nicht, was sie tun sollte; die Montalais hustete energisch.
Ein Weilchen herrschte tiefes Schweigen, dann wandte Athenais von Tonnay-Charente sich an Luise von Lavallière und sagte: »Wissen Sie, Luise, daß Sie da eine schwere Sünde auf dem Gewissen haben? Der junge Mann war Ihr Bräutigam. Er hat Sie geliebt, und Sie haben ihn von sich gestoßen.« – »Ein ehrbares Mädchen,« sprach die Montalais dazwischen, »darf einem jungen Manne den Abschied geben, wenn sie ihn nicht liebt. Es ist besser, als ihn dennoch zu heiraten.«
»Darin besteht auch nicht die Sünde Luisens,« erwiderte Athenais, »sondern darin, daß dieser Mann nun ihretwegen in den Krieg zieht und den Tod sucht. Wenn er stirbt, so haben Sie ihn getötet, das ist die Sünde.« – Luise preßte die eisige Hand auf die Stirn. Sie griff nach dem Arm des Kapitäns. »Sie wollten mir doch etwas sagen, Herr d'Artagnan?« fragte sie. – »Was ich Ihnen zu sagen hatte, Fräulein,« antwortete der Chevalier, »hat Ihnen eben Fräulein von Tonnay-Charente gesagt, zwar etwas grob, aber doch so, daß ich nichts hinzuzufügen habe.«
Luise seufzte tief und verließ ihn und die Damen, um in die Einsamkeit ihres Zimmers zu flüchten.
2. Kapitel. Das Ende des Herrn Fouquet
Der Oberintendant traf am Abend in Nantes ein, und noch an demselben Abend, gegen zehn Uhr, ließ d'Artagnan sich bei ihm melden. Obwohl Fouquet bei der gegenwärtigen Lage der Dinge in dem Kapitän der königlichen Musketiere seinen schlimmsten Feind hatte erkennen sollen, hatte sich doch zwischen beiden eine Art Freundschaft begründet, die auf gegenseitiger Achtung beruhte. Fouquet hatte in der Tat die Absicht gehabt, nach Belle-Ile zu entfliehen. Er war auf einem jener Fahrzeuge, die auf dem Loire-Flusse der Binnenschiffahrt dienen, nach Nantes gekommen, und auf der ganzen Strecke war ihm ein zweiter solcher Kahn gefolgt, und zwar so hartnäckig, daß man ihn nicht für ein zufällig die gleiche Fahrt machendes Schiff halten konnte. Fouquet, auf diese Begleitschaft aufmerksam gemacht, sich durch ein Fernrohr und erkannte an Bord jener Gabarre Herrn Colbert. Nun war für ihn die Lösung des Rätsels gefunden. Sein Todfeind verfolgte ihn zu Wasser, wie d'Artagnan ihn zu Lande verfolgt haben würde. Das Herz dieses edeln und stolzen Mannes lehnte sich nun dagegen auf, vor einem Colbert zu entfliehen, er ließ den Entschluß, sich nach Belle-Ile einzuschiffen, fallen und blieb in Nantes, um der Stände-Versammlung beizuwohnen und aufs neue den furchtbaren Kampf mit dem Zorne Ludwigs XIV. aufzunehmen.
Als nun d'Artagnan sich bei ihm melden ließ, empfing er ihn, obwohl er von der Reise erschöpft war. – »Monseigneur, ich habe die Ehre, mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen?« sprach der Gaskogner höflich. –
»Schlecht, schlecht,« antwortete der Minister, »ich trinke nur noch Gerstenwasser mit Süßholz.« – »Sie sollten vor allen Dingen schlafen,« meinte der Chevalier. – »Schlafen? Wo Sie hier sind? Denn Sie kommen doch hier ebenso im Namen des Königs wie in Paris?« – »Lassen Sie doch den König aus dem Spiele, Monseigneur,« erwiderte der Musketier. »Wenn ich im Namen der Majestät komme, werden Sie mich eintreten sehen, mit der Hand am Degen, und ich werde in zeremoniösem Tone rufen: »Im Namen des Königs, Sie sind verhaftet!«
Fouquet fuhr zusammen, so natürlich und erschütternd klangen die Worte des Gaskogners. – »Wir sind noch nicht soweit,« fuhr d'Artagnan fort, »und ich habe auch noch nichts davon reden hören. Der König sollte Sie von Herzen gern haben.« – »Jedenfalls hätte ich Sie gern haben sollen,« entgegnete Fouquet. »Zehn Jahre lang haben wir am Hofe gelebt, ohne uns kennen zu lernen. Ich habe jährlich Millionen ausgegeben, aber Sie haben nichts davon empfangen, und erst jetzt, wo ich vorm Ruin stehe, werde ich auf Sie aufmerksam. Ich hätte mich Ihres Dienstes versichern und Sie reich machen sollen.«
»Sie sprechen von Ihrem Ruin,« antwortete d'Artagnan. »Ich kann nur sagen, der König hat kein böses Wort über Sie gesprochen. Er hat mich nur beauftragt, nach Nantes zu gehen und eine Brigade Musketiere mitzunehmen, was mir überflüssig zu sein scheint, da die Stadt völlig ruhig ist.« – »Eine Brigade?« rief Fouquet. »Also 96 Reiter. Das wird ja wohl genügen, um mich zu verhaften. Und welche Befehle haben Sie in bezug auf meine Person?« – »Gar keine, Monseigneur.«
»Herr d'Artagnan, es handelt sich für mich darum,« sprach Fouquet ernst, »Ehre und Leben zu retten. Sie hintergehen mich doch nicht?« – »Keineswegs,« antwortete der Gaskogner, »es gibt da wohl einen allgemeinen Befehl, keinen Wagen und kein Schiff ohne einen vom König unterzeichneten Patz aus Nantes herauszulassen, aber das ist einfache Polizeimaßregel, mit der Sie nichts zu tun haben. Auch tritt dieser Befehl erst in Kraft, sobald der König selbst in Nantes angelangt ist. Sie sehen also –?«
Fouquet dachte nach. D'Artagnan sprach in gleichgültigem Tone weiter: »Sie sehen also, Sie sind ganz Ihr eigener Herr. Ich habe wohl das Schloß hier sorgsam zu bewachen, aber das ist eine Order, die stets erteilt wird. Ich habe auch die Stadttore und den Fluß absperren zu lassen, aber erst wenn der König hier ist. Wenn hier jemand wäre, der das Weite suchen wollte, so könnte er sich keine günstigere Gelegenheit wünschen. Keine Polizei, keine Wache, keine Befehle, freie Land- und Wasserstraßen. Was wollen Sie mehr? Und ich will Ihnen jeden Gefallen tun, Herr Fouquet, den Sie von mir verlangen können, während ich nur einen kleinen Gegendienst beanspruche, nämlich den, einen Gruß an meine Freunde Aramis und Porthos auszurichten, falls Sie nach Belle-Ile fahren sollten, wie Sie zu tun berechtigt sind, ohne noch die Hauskleidung zu wechseln, die Sie anhaben.«
Nach diesen Worten verneigte sich d'Artagnan und ging hinaus. Er war noch auf der Treppe, als Fouquet klingelte und seinem Diener zurief: »Meine Pferde! Mein Schiff!« – Darauf kleidete er sich in aller Eile selbst an und ließ Herrn Gourville, seinen Sekretär, kommen. »Wir reisen auf der Stelle!« befahl er. – »Es ist zu spät,« antwortete Gourville. »Hören Sie?« – Von draußen scholl Trompetenklang und Trommelwirbel. – »Was bedeutet das, Gourville?« – »Der König kommt an.« – »Der König!« – »Er ist im Fluge gereist und hat sein Pferd totgeritten, um acht Stunden eher hier zu sein, als wir gerechnet haben.«
»Dann sind wir verloren!« stöhnte Fouquet. »Wackrer d'Artagnan, dein Rat kommt zu spät.« Und der Minister ließ sich festlich kleiden, um den König willkommen zu heißen.
Ludwig XIV. wurde in großem Pomp zum Schlosse geleitet. Vorm Portal sah man ihn leise mit d'Artagnan sprechen, der ihm den Steigbügel hielt. Dieser trat dann den Weg zu Fouquets Wohnung an, aber er ging so langsam, als wenn er seine Schritte zählen wollte. – »Hm!« brummte d'Artagnan, als er den Minister erblickte, »Sie sind noch hier?« – Fouquet konnte nur mit einem Seufzer antworten. – »Der König ist eben angekommen,« sagte d'Artagnan. – »Ich habe es gesehen, und diesmal kommen Sie wohl in seinem Namen?«
»Um zu fragen, wie Sie sich befinden und zu melden, daß Sie, wenn es Ihre Gesundheit irgend erlaubt, sich alsbald ins Schloß begeben möchten,« antwortete der Kapitän. »Ja, Herr Fouquet, nun ist Majestät da, nun gibt es keine offenen Land- und Wasserstraßen mehr. Die Parole beherrscht jetzt mich wie Sie!«
Fouquet seufzte noch einmal, dann stieg er mit d'Artagnan in die Kutsche und fuhr zum Schloß. Als er ausstieg, trat aus der Menge, die die Freitreppe umringte, um all die vornehmen Herren zu sehen, die zum König befohlen waren, ein Mann hervor und überreichte dem Minister einen Brief. Fouquet las das Schreiben, schien zu erschrecken, steckte das Kuvert in die Tasche und begab sich in die Gemächer des Königs. Man ließ ihn zehn Minuten warten, was allein schon eine empfindliche Kränkung für den Oberintendanten war.
Der Minister las das Briefchen inzwischen noch einmal. – »Es ist etwas gegen Sie im Werke,« hieß es darin, »im Schlosse wird man nichts wagen, aber vielleicht bei Ihrer Rückkehr. Ihr Haus ist schon von Musketieren umstellt. Wenn Sie noch als freier Mann das Schloß verlassen, so kehren Sie gar nicht mehr in Ihre Wohnung zurück, sondern gehen Sie zur Esplanade, wo ein Pferd für Sie bereitsteht.«
Fouquet erkannte die Schrift seines Sekretärs Gourville und dankte ihm im stillen für seinen Eifer. Er zerriß das Papier in kleine Stücke und warf sie von der Terrasse hinab, wo der Wind sie zerstreute. D'Artagnan kam hinzu, als die letzten Fetzen zur Erde flatterten. – »Mein Herr,« sagte der Musketier, »der König erwartet Sie.« –
Der Oberintendant schritt durch den Korridor, wo die Herren von Brienne, von Rose und von Saint-Aignan, auf Befehle des Königs wartend, herumstanden. Es fiel Herrn Fouquet auf, daß sie ihn kaum beachteten; sie grüßten ihn nicht einmal. Er erkannte an dem Benehmen dieser Höflinge die Stimmung, die beim König selbst gegen ihn herrschte. Aber er richtete den Kopf stolz empor und trat mit ruhiger Entschlossenheit vor Ludwig XIV., der am Schreibtische saß und, ohne aufzublicken, nach Herrn Fouquets Befinden fragte.
»Ich habe Fieber,« antwortete der Minister, »aber ich stehe Eurer Majestät zu Dienst.« – »Die Stände versammeln sich morgen,« sprach Ludwig. »Haben Sie eine Ansprache vorbereitet?« – »Nein, doch kann ich aus dem Stegreif reden, denn ich kenne die Staatsgeschäfte so gut, daß ich nicht in Verlegenheit kommen kann. Aber warum haben Majestät Ihrem ersten Minister das nicht in Paris gesagt?« – »Sie sind krank, ich will Sie nicht mehr anstrengen.« – »Mich strengt keine Arbeit an,« erwiderte Fouquet. »Und da hiermit der Augenblick gekommen ist, Eure Majestät um eine Erklärung zu bitten –« – »Um was für eine Erklärung, Herr Fouquet?« – »Ueber die Gesinnung Eurer Majestät gegen meine Person. Sire, ich bin verleumdet worden und muß Sie bitten, eine gerichtliche Untersuchung gegen mich in die Wege zu leiten. Ich selbst werde dabei als Kläger gegen einen Mann auftreten, der mich bei Eurer Majestät immer wieder in Mißkredit bringt.« – »Herr Fouquet, ich habe das Anklagen nicht gern.« – »Doch wenn man beschuldigt wird, Sire, soll man sich da nicht rechtfertigen dürfen?« – »Ich erkläre Ihnen, ich beschuldige Sie nicht.«
Fouquet trat zurück. – »Er hat seinen Entschluß gefaßt,« dachte er. »So halsstarrig ist nur jemand, der nicht mehr zurück will. In diesem Augenblick die Gefahr nicht sehen, hieße blind sein, und nur ein Tor würde wehrlos abwarten.« – Und laut fragte er: »Haben Majestät mich zu einer Arbeit befohlen?« – »Nein, Herr Fouquet, ich habe Ihnen nur den einen Rat zu erteilen, ruhen Sie sich aus. Die Ständeversammlung wird bald vorüber sein, und dann gedenke ich Ihnen volle Ruhe zu vergönnen.« – »Haben Sie mir in betreff dieser Ständeversammlung irgend etwas zu sagen?« – »Nein, Herr
Fouquet.« – »Mir, dem Finanzminister, gar nichts?« – »Ruhen Sie aus, das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe. Sie sind krank, Sie müssen sich pflegen.«
»Sire, dann darf ich vielleicht auch darum bitten, der Ständeversammlung fernbleiben zu dürfen, da Eure Majestät so sehr besorgt um meine Gesundheit sind?« antwortete er. »Ich werde den morgigen Tag im Bett zubringen und mir etwas gegen mein Fieber verschreiben lassen.« – »Ich gestatte Ihnen das gern, Herr Fouquet. Sie haben Urlaub, und ich werde Ihnen meinen Leibarzt schicken.« – »Ich danke,« antwortete Fouquet mit einer tiefen Verbeugung. »Und da Majestät in Nantes sind, so werden Sie mir vielleicht das Glück gewähren, nun von Belle-Ile Besitz zu ergreifen, das Sie von mir anzunehmen geruht haben?« – Er sah bei diesen Worten dem König fest ins Gesicht. Ludwig errötete und antwortete: »O, ich habe nicht etwa deswegen meine Musketiere mitgebracht.«
»Sire,« erwiderte der Minister lächelnd, »das kann ich mir denken. Brauchen doch Majestät auch nur mit einem Spazierstock in der Hand Belle-Ile zu betreten, um alle Befestigungen fallen zu machen.« – »Pst!« rief Ludwig. »Diese schönen Festungswerke sollen ja gar nicht fallen; sie können mir noch gute Dienste gegen England und Holland leisten. Nun ja, ich werde nach Belle-Ile fahren. Haben Sie Fahrgelegenheiten in Bereitschaft?« – Fouquet durchschaute diesen Schachzug, der ja eigentlich auch eine ziemlich plumpe Finte war. – »Nein, Sire,« antwortete er, »ich wußte ja nicht, daß Majestät so sehr schnell hierher kommen würden. Es ist für nichts gesorgt. Ich habe fünf Schiffe, aber sie liegen alle hier und dort im Hafen, und bis man sie hier haben kann, vergehen mindestens 24 Stunden. Soll ich durch einen Kurier eins herbestellen?«
»Warten Sie bis morgen,« versetzte der König. »Lassen Sie erst das Fieber vorübergehen.« – »Es ist wahr,« sagte Fouquet, der nunmehr des Königs Absicht klar durchschaute. »Wer weiß, ob wir nicht bis morgen tausend andere Ideen haben?«
»Herr Fouquet, Sie sind ernstlich krank,« sprach der König. »Ihre Zähne klappern vor Fieber. Gehen Sie! Es soll Sie jemand in Ihre Wohnung begleiten.« – »Majestät sind sehr gütig,« antwortete Fouquet. »Ich würde mich jetzt allerdings gern eines Armes bedienen.«
»Herr d'Artagnan!« rief Ludwig XIV. – »O, Sire,« unterbrach Fouquet ihn mit traurigem Lächeln, »der Kapitän der Musketiere soll mich in meine Wohnung bringen? Eine zweideutige Ehre! Man wird überall sagen, Sie hätten mich verhaften lassen.« – »Verhaften?« rief Ludwig und erblaßte. Als d'Artagnan eintrat, gab er ihm nun den Befehl, Herrn Fouquet einen seiner Musketiere zum Begleiter zu überlassen. – »Es ist nicht nötig,« sprach der Minister, »mein Sekretär Gourville genügt mir.« – Er verbeugte sich und ging langsam hinaus, wie jemand, der einen Spaziergang antritt. – »Ich bin gerettet!« dachte er, als er unangefochten aus dem Schlosse gelangte. »Ja, treuloser König, du sollst Belle-IIe sehen, aber erst, wenn ich nicht mehr dort bin!«
D'Artagnan war beim König geblieben. – »Folgen Sie Herrn Fouquet auf hundert Schritt,« rief Ludwig ihm zu. »Wenn er in seine Wohnung zurückgekehrt ist, so verhaften Sie ihn in meinem Namen, stecken ihn in eine Kutsche und sorgen dafür, daß er unterwegs mit niemand reden, noch auch Zettelchen hinauswerfen kann.« – »Das ist sehr schwer, Sire,« entgegnete der Musketier. »Herr Fouquet muß Luft haben, ich kann also weder das Fenster immer geschlossen halten, noch ihm einen Mantel übers Gesicht ziehen.« – »Sie nehmen eine vergitterte Kutsche,« antwortete der König. – »Sehr wohl, aber die hat man nicht im Handumdrehen.«
»Sie ist schon fertig und steht bespannt unten,« sprach der König. – D'Artagnan zog die Brauen hoch, verbeugte sich und antwortete: »Das ist etwas anderes, Sire. Und wohin ist Herr Fouquet zu schaffen?« – »Zunächst nach Schloß Angers,« antwortete der König. »Das Weitere findet sich.« – »Ich bitte um den schriftlichen Befehl,« sagte der Musketier. – »Auch er liegt schon fertig hier,« sprach Ludwig XIV. und reichte dem Kapitän die Urkunde.
D'Artagnan ging hinaus. Von der Terrasse herab sah er Herrn Gourville, der über den Hof schritt und eine weit heitre Miene zur Schau trug, als die Umstände es eigentlich zu erlauben schienen. Das fiel dem scharfsinnigen Gaskogner sofort auf. Er erinnerte sich des Briefes, den man dem Oberintendanten in die Hand gedrückt; er erinnerte sich, daß Fouquet ihn zerrissen. Und er ging in den Hof hinab und hob aufs Geratewohl eins von den Papierstückchen auf. Er las darauf das eine Wort: »Pferd«, schob den Hut ein wenig von der Stirn und stieg gedankenvoll die große Freitreppe hinab. Da flog sein Blick über die Ebene, die man von dem hochgelegenen Schloß weithin überschauen konnte, und er sah auf der Heerstraße, die sich wie ein weißes Band durch die Felder hinzog, einen Punkt, der sich rasch entfernte. Sein scharfes Auge erkannte ein Pferd und einen Reiter im Sattel. Seine raschen Gedanken verknüpften diese Erscheinung sofort mit dem heitern Gesicht Gourvilles und mit dem Worte »Pferd« und den Papierstückchen. – »Das ist Fouquet – und er entflieht mir,« sprach er vor sich hin, und mit gewaltigen Sätzen kehrte er in den Schloßhof zurück, riß ein Pferd aus dem Stalle, befahl, die vergitterte Kutsche in ein Wäldchen außerhalb der Stadt zu bringen, und verließ das Palais durch das Ausfahrttor. Dann sprengte er auf der Landstraße dahin; aber er nahm nicht denselben Weg, den Herr Fouquet genommen, sondern folgte nach wenigen Minuten schon dem Ufer der Loire, wodurch er etwa zehn Minuten an Zeit zu gewinnen hoffte. Da Fouquet auf der allerdings etwas ebeneren Landstraße zuletzt auch zum Flusse gelangen mußte, so glaubte d'Artagnan, er würde ihn dort einholen. Er rechnete auch damit, daß Herr Fouquet, wenn er sich nicht verfolgt sah, dem Pferde etwas Ruhe gönnen würde.
Der Kapitän ritt lange Zeit am Ufer hin, ohne den Flüchtling sehen zu können. Er hatte den Wind im Gesicht, und seine Augen tränten. Er galoppierte so scharf, daß der Sattel unter ihm zu glühen schien. Er drückte dem Tiere so oft und so wütend die Sporen in den Leib, daß es vor Schmerz laut wieherte. Hinter den Hufen prasselte ein Regen von Sand und Steinen auf. Aber immer wieder, wenn d'Artagnan sich im Steigbügel aufrichtete, sah er noch nichts als Baumwipfel und Luft. Wie rasend jagte er weiter.
»Ich! Ich!« stieß er keuchend zwischen den Zähnen hervor, »ich soll von einem Gourville übertölpelt worden sein! Man wird sagen, ich sei altersschwach geworden, und der König wird denken, ich hätte mir von Fouquet eine Million zahlen lassen und ihm dafür zur Flucht verhelfen.« – Und wieder bohrte er die Sporen in die Weichen des Pferdes, das mit gewaltigen Sprüngen vorwärtsschoß.
Da sah er vor sich zwischen den Bäumen etwas Weißes: Fouquets Schimmel! – D'Artagnan atmete auf. Wenn er ihn sah, so war er auch sein, so sollte er ihm auch nicht mehr entkommen. Er ließ das Tier ein wenig langsamer laufen, damit es erst einmal wieder zu Atem kam, und folgte dem Schimmel. Fouquet hatte sein Pferd noch nicht übermäßig angestrengt, da er bisher auf der glatten Heerstraße geritten war. D'Artagnan lenkte jetzt auch schnurgerade auf die Straße zu, auf welcher nun die eigentliche Jagd erst beginnen sollte.
Der harte Boden erdröhnte unter den Hufschlägen, und Fouquet sah sich um. Hundert Schritte hinter sich erblickte er seinen Feind, der sich tief auf den Hals seines Renners beugte. Der Minister zog den Zügel straff und schoß im Nu seinem Verfolger um weitere hundert Schritt voraus. Daran erkannte nun d'Artagnan, wie schwierig es sein würde, ihn einzuholen. Ein noch kräftiges Pferd und ein abgehetztes, das nach wenigen Schritten vielleicht zusammenbrach. Und in der Tat vermochte er dem Minister nicht um eines Fußes Breite näherzukommen, so wild er sein Tier auch antrieb. »Mag es krepieren,« knirschte er, »aber kriegen muß ich ihn!«
Er fing an, das Maul des armen Tieres mit der Kandare zu zerreißen, während er mit den Sporen in der blutigen Haut wühlte. Nun näherte sich das todesmatte Pferd dem andern auf Pistolenschußweite. – »Halten Sie an!« schrie d'Artagnan, »Sie sind verhaftet im Namen des Königs!« – »Dazu müssen Sie mich erst haben,« antwortete Fouquet lakonisch und jagte weiter. – »Halten Sie an!« schrie d'Artagnan abermals, »oder ich schieße!« – »So schießen Sie!« rief Fouquet zurück. – »Soll ich Sie meuchlings morden, zum Teufel?« brüllte der Musketier. »Soll ich Sie hinterrücks niederknallen? Ergeben Sie sich!« – »Lieber sterbe ich,« versetzte Fouquet.
»Nein,« keuchte d'Artagnan, »ich bin kein Meuchelmörder!« und schleuderte die Pistole von sich. Mit einem gewaltigen Ruck trieb er sein Pferd bis auf zehn Schritte an den Flüchtling heran, aber es schwankte alsbald wieder, und Fouquet gewann einen neuen Vorsprung. Der Musketier schien sein Pferd fast zwischen den Knien zu tragen, aber er sah, daß er unterliegen müsse. Da riß er die zweite Pistole aus dem Halfter, zielte und schoß. Das Pferd Fouquets, ins Kreuz getroffen, stürzte mit wildem Gebrüll weiter. D'Artagnans Pferd sank im selben Augenblick tot zu Boden.
»Ich bin entehrt!« schrie d'Artagnan. »Herr Fouquet, Sie haben auch Pistolen, steigen Sie ab und schießen Sie sich mit mir!« – Herr Fouquet antwortete nicht und sprengte weiter. – Nun fing d'Artagnan an, hinter seinem Feinde herzulaufen, er warf Hut, Rock und Wehrgehenk von sich, um nicht behindert zu sein. Der Schimmel röchelte und rannte nur noch in einzelnen Sätzen weiter; der Musketier kam ihm näher. Nun ging das Pferd nur noch im Schritt, eine Blutspur hinter sich lassend. D'Artagnan, dem die Brust zu springen drohte, lief mit seiner letzten Kraft, packte Fouquet am Bein und schrie: »Ich verhafte Sie im Namen des Königs! Zerschmettern Sie mir den Schädel, wir haben beide unsere Pflicht getan.«
Allerdings hätte wohl in diesem Augenblick der noch nicht entkräftete Fouquet den halb ohnmächtigen Kapitän niederschlagen können; doch nein! Er sprang aus dem Sattel, ließ das Pferd weiterwanken, das nach wenigen Schritten röchelnd zusammenbrach, und erfaßte d'Artagnans Arm. »Ich bin Ihr Gefangener,« sagte er. »Gestatten Sie, daß ich Sie stütze, Sie fallen um.« – »Dank!« stöhnte der Musketier, dem wirklich der Boden unter den Füßen zu schwinden schien. Der Minister brachte ihn zu einer nahen Böschung, dort sank d'Artagnan zu Boden. Der andere schöpfte aus dem Graben ein wenig Wasser in seinem Hute und besprengte die Schläfen des Kapitäns.
D'Artagnan kam zu sich; er sah Fouquet vor sich knien. – »Was?« knurrte er. »Sie sind nicht entflohen? Sie haben sich meine Schwäche nicht zunutze gemacht? O, Herr Fouquet, der wahre König, wenn man nach dem Edelsinn urteilt, ist nicht Ludwig im Louvre, nicht Philipp auf der Margareteninsel, sondern Sie, der Verdammte!« – »Wir müssen zu Fuß nach Nantes zurück,« antwortete der Ober-Intendant mit melancholischem Lächeln, »unsere Pferde sind beide tot.« – »Den Teufel auch!« seufzte d'Artagnan, »das ist ein elender Tag!« – Sie gingen langsam, Arm in Arm, bis sie ein Gehölz erreichten. – »Ich habe einen Wagen hier für Sie,« sagte der Kapitän, die Augen niederschlagend. »Der König schickt ihn.«
Als der Minister den vergitterten Kasten sah, rief er aus: »Das ist ein Gedanke, der von keinem Biedermanne ausgegangen ist. So etwas hätte ich dem König denn doch nicht zugetraut. Und wozu dieses Gitter?« – »Damit Sie keine Briefchen hinauswerfen können,« antwortete d'Artagnan, in einem Tone, als schäme er sich seines Königs. – »Sehr sinnreich!« antwortete der Oberintendant. »Und wohin bringen Sie mich?« – »Nach Schloß Angers,« antwortete der Kapitän traurig.
*
Es war zwei Uhr nachmittags. Ludwig XIV. wartete ungeduldig auf d'Artagnans Rückkehr. Seine Höflinge hatten unter dieser Stimmung viel zu leiden. – »Ist Herr d'Artagnan noch nicht zurück?« fuhr er Herrn Colbert an. »Sie besonders sollten wissen, wo er so lange bleibt?« – »Majestät haben mir nicht gesagt, wohin Sie ihn schicken,« antwortete Colbert. – »Herr,« versetzte Ludwig, »es gibt Dinge, die einem niemand zu sagen braucht. Man muß sie erraten. Sie besonders.« – Er hatte diese Worte kaum gesprochen, als im Vorzimmer die heisere Stimme des Kapitäns erklang. Blaß und erregt trat er herein.
»Majestät,« sprach er, »haben Sie meinen Musketieren Befehle erteilt?« – »Ich? Nicht einen,« antwortete Ludwig. – »Dann ist es also dieser Herr dort,« sagte der Musketier, auf Herrn Colbert zeigend, »auf dessen Geheiß das ganze Haus Fouquets umgedreht, seine Dienerschaft mißhandelt, seine friedliche Wohnung verwüstet wird! Alle Wetter! das ist ein schändlicher Befehl!« – »Mein Herr!« unterbrach ihn Colbert. – »Mein Herr«! rief d'Artagnan. »Der König allein hat meinen Musketieren zu befehlen, verstehen Sie! Ich verbiete es Ihnen, und in Gegenwart des Königs lassen Sie es sich gesagt sein: Edelleute, die den Degen tragen, sind keine Federfuchser.«
»D'Artagnan! D'Artagnan!« murmelte der König.
»Das ist erniedrigend, Sire!« rief der Kapitän. »Meine Soldaten sind entehrt. Ich kommandiere nicht über Zahlenschinder und Intendanzsekretäre! Meine Musketiere haben seit heute morgen das Haus des Herrn Fouquet umstellt, und nachdem nun dieser Herr für seinen Vorgesetzten von gestern einen eisernen Käfig hat machen lassen, hat er auch noch seinen Schergen die Weisung erteilt, die Papiere des Oberintendanten in Beschlag zu nehmen. Warum zwang man meine Musketiere, an dieser Plünderung teilzunehmen und zu Mitschuldigen an dieser Gemeinheit zu werden? Den Teufel auch, wir dienen dem König, nicht aber Herrn Colbert!«
»Ich habe im Interesse meines Königs gehandelt,« sprach Colbert mit bewegter Stimme. »Es tut mir weh, von einem Offizier des Königs so behandelt zu werden, obendrein an einem Orte, wo die Ehrfurcht vor dem König mir verbietet, mich zu rächen.« – »Die Ehrfurcht vor dem König,« rief d'Artagnan mit flammenden Augen, »betätigt man zuvörderst darin, daß man seine Autorität achtet und seine Person liebt. Jeder, der von ihm mit einer Machtbefugnis belehnt wird und diese Befugnis mißbraucht, stellt den König bloß und trägt dazu bei, daß die Völker die Hand verfluchen, die sie segnen sollen. Muß Ihnen ein Soldat, dessen Herz in vierzigjährigen Ungewittern hart geworden ist, diese Lehre erteilen? Muß das Erbarmen von mir, die Wildheit von Ihnen ausgehen? Sie haben die Freunde des Herrn Fouquet verhaften lassen – Sie haben sich an Unschuldigen vergriffen.«
»Ich bin nur gegen die Mitschuldigen des Herrn Fouquet vorgegangen,« versetzte der Intendant. – »Wer sagt Ihnen, Herr Fouquet habe Mitschuldige? Wer sagt Ihnen, er sei selbst schuldig?« rief d'Artagnan. »Das weiß der König allein: seine Gerechtigkeit ist nicht blind. Sie greifen dieser Gerechtigkeit vor, und das nennen Sie Ehrfurcht vor Ihrem König?« Er kehrte dem Intendanten den Rücken und trat ins Vorzimmer. Aber Ludwig XIV., der noch nicht recht wußte, welche Partei er ergreifen sollte, und dem gleichwohl diese Zurechtweisung Colberts nicht unlieb war, rief ihn zurück. »Entledigen Sie sich zuvörderst Ihres Auftrages, Kapitän,« sprach er, »ehe Sie gehen, sich auszuruhen.« Gleichzeitig gab er Colbert einen Wink, auf einige Augenblicke ins Vorzimmer zu treten, und der gedemütigte Intendant schritt mit finsterm Gesicht, zu Tode beleidigt, an der stolz emporgerichteten Gestalt des Musketiers vorbei.
»Sire,« sprach d'Artagnan ruhig, »Sie sind ein junger König. An der Morgenröte erkennt der Mensch, ob der Tag schön oder unangenehm werde. Wie sollen aber die Völker, über die Gott Sie gesetzt hat, Ihre Regierung beurteilen, wenn Sie zwischen sich und Ihrem Minister Haß und Gewalttat herrschen lassen? Doch genug von Vorstellungen, die nutzlos sind, die Ihnen vielleicht ungebührlich erscheinen. Ich habe Herrn Fouquet verhaftet.« – »Ich finde, Sie haben sehr viel Zeit dazu gebraucht.« – D'Artagnan sah den König finster an und antwortete: »Ich habe mich schlecht ausgedrückt. Ich hätte vielmehr sagen sollen: ich bin von Herrn Fouquet gefangengenommen worden.« – Ludwig sah erstaunt auf, aber d'Artagnan ließ ihm keine Zeit zu fragen. Er erzählte ihm mit malerischer Offenherzigkeit das Abenteuer mit dem Ober-Intendanten. Ludwig fühlte sich gedemütigt durch den Edelsinn dieses Verfolgten, der zehnmal hätte entfliehen können und dennoch das Gefängnis vorzog, weil er genau wußte, daß er mit diesem Opfer seinem königlichen Feinde ein gut Teil seines Ruhmes entzog.
»Daraus geht, für mich wenigstens, hervor, ein solcher Mann kann nicht der Feind des Königs sein. Das erkläre ich freimütig. Majestät. Ich weiß, was Sie mir antworten werden, und verneige mich ehrerbietig: Staatsgründe! Wohl, diese sind sehr beachtenswert. Und deshalb habe ich auch den mir erteilten Befehl vollzogen, obgleich ich tausendmal lieber Herrn Fouquet zur Freiheit verholfen hätte.«
»Wo ist er in diesem Augenblick?« – »Auf der Straße nach Angers – in seinem vergitterten Wagen.«
»Warum haben Sie ihn auf der Straße verlassen?«
»Weil Majestät mir nicht befohlen haben, nach Angers zu gehen. Der beste Beweis dafür, daß ich hier gebraucht werde, liegt ja wohl auch darin, daß Sie mich eben suchen ließen. Und dann hatte ich noch einen andern Grund. Ich habe nämlich Herrn Fouquet in der Obhut eines meiner Musketiere zurückgelassen, weil er gewiß keinen Fluchtversuch machen würde, wenn ich bei ihm geblieben wäre. Und es ist mein lebhafter Wunsch, er möchte die Gelegenheit benützen.«
»Sind Sie verrückt, Herr d'Artagnan?« rief Ludwig XIV., die Arme über der Brust kreuzend. »Selbst wenn man das Unglück hat, solche Ueberspanntheiten zu denken, man spricht sie doch nicht aus.« – »Frei und offen, Sire! Denken Sie etwa, ich sei nach allem, was Herr Fouquet für mich und für Sie getan hat, sein Feind? Nein, Sire, geben Sie ihn nie in meine Obhut, wenn Sie wollen, daß er hinter Schloß und Riegel bleibe! So gut versichert der Käfig auch sei, der Vogel würde schließlich doch ausfliegen.«
»Ich bin erstaunt,« sprach der König finster, »daß Sie sich nicht dem Dienste dessen gewidmet haben, den Herr Fouquet auf meinen Thron setzen wollte. Dort würden Sie finden, was Sie suchen: Zuneigung und Erkenntlichkeit. In meinem Dienst, Herr, findet man nur einen Gebieter.« – »Hätte Herr Fouquet Sie nicht aus der Bastille geholt,« antwortete d'Artagnan fest, »so wäre nur ein einziger Mann hingegangen, Sie zu befreien, nämlich ich. Das wissen Sie recht gut, Sire.«
Der König hielt inne. Gegen diese freimütige, wahre Sprache seines Kapitäns ließ sich nichts einwenden. Er erinnerte sich jenes Abends, wo dieser selbe d'Artagnan sich hinter den Vorhängen seines Bettes versteckt hielt, als das Volk von Paris unter der Führung des Kardinals von Retz sich davon überzeugen wollte, ob der König sich im Palais Royal befände; er erinnerte sich jenes Tages, an dem er diesem selben d'Artagnan mit der Hand zuwinkte, als er bei seiner Rückkehr nach Paris in die Notre-Dame-Kirche fuhr. Er erinnerte sich jenes Tages, wo der Wackere ihm in Blois den Dienst aufkündigte, und der Zeit, da Mazarin starb und er ihn wieder zu sich rief. Und er fand, daß dieser Mann stets bieder, tapfer und treu gewesen sei.
Ludwig XIV. ging zur Tür und rief Herrn Colbert herein. – »Sie haben bei Herrn Fouquet Haussuchung halten lassen?« redete er ihn an. »Was ist dabei herausgekommen?« – »Die Papiere sind mir überbracht worden,« antwortete Colbert. – »Ich will sie sehen. Geben Sie mir Ihre Hand!« sprach der König. – »Meine Hand, Majestät?« – »Ja, daß ich sie in die des Herrn d'Artagnan lege. Sie kennen diesen Mann hier nicht, Herr Kapitän,« wandte er sich an den Gaskogner. »Lernen Sie ihn schätzen.« – »Majestät!« stammelte Colbert. Und er sah d'Artagnan an, mit einem Gesicht, das völlig verschieden von dem war, welches man bisher an ihm gesehen; er sah freundlich, heiter, strahlend drein, seine Augen unter den dichten Brauen nahmen einen edlen, lichtvollen Ausdruck an. Colbert wußte, daß er von diesem Moment an keinen Fouquet mehr über sich hatte, und aus dem Intrigant wurde der weitsichtige, das Wohl des Volkes fördernde Staatsmann, der sein eigenes System zum Siege über ein anderes, von ihm verworfenes, geführt hatte.
»Majestät hat mit diesen Worten bewiesen, welch feiner Menschenkenner Sie sind,« sprach er. »Die schroffe Opposition,« setzte er hinzu, sich an d'Artagnan wendend, »die ich bisher gegen gewisse Mißbräuche und infolgedessen auch gegen gewisse Persönlichkeiten durchgeführt habe, beweist nichts weiter, als daß es mein Streben ist, meinem König ein großes Reich zu schaffen, meinem Lande eine große Wohltat zu bereiten. O, Herr d'Artagnan, ich habe sehr viele Pläne und Ideen. Sie werden die Sonne finanzieller Wohlfahrt aufgehen sehen, und ich hoffe, wenn auch nicht die Freundschaft, so doch die Achtung meiner Gegner zu erringen.«
Der Musketier verneigte sich höflich vor Colbert. Der König entließ sie, als er sie versöhnt sah, und sie gingen zusammen fort. – »Herr d'Artagnan,« sprach Colbert draußen, »Sie irren, wenn Sie meinen, ich verfolge Herrn Fouquet. Ich wollte ihm nur die Finanzen entreißen, das ist alles. Und das ist nun gelungen. Nun soll es anders werden in Frankreich. Alles Gold des Landes wird unter meiner Verwaltung sein, und es soll sich vervielfältigen, statt zu zerrinnen. In meinem Besitz wird auch nach dreißig Jahren noch nicht ein Pfennig sein, dafür aber wird es neue Gebäude, neue Häfen, ja neue Städte geben. Ich werde eine Seemacht gründen und Handelsschiffe schaffen, die Frankreichs Namen nach den fernsten Erdteilen tragen sollen: ich will Bibliotheken und Akademien gründen, die Frankreich zur größten geistigen Macht der Welt erheben sollen. Sehen Sie, das sind die Gründe, weshalb ich so gegen Herrn Fouquet gekämpft habe. Und wenn Frankreich groß und stark ist, dann werde ich zu ihm gehen und sprechen: Verzeihen Sie mir!«
Der König rief d'Artagnan zurück und befahl ihm, zwanzig Musketiere nach Angers zu schicken, welche Herrn Fouquet nach Paris und in die Bastille transportieren sollten. – D'Artagnan wollte schon fragen, ob der König ihm mißtraue, weil er nicht ihm den Befehl erteilte, da setzte Ludwig hinzu: »Und Sie, Herr Kapitän, nehmen auf der Stelle Besitz von Belle-Ile. Setzen Sie sofort mit zahlreicher Mannschaft in See! Ich selbst mag die Insel nicht sehen. Sie haben mir nur die Schlüssel der Festung zu bringen. Und wenn Sie diesen Auftrag gut ausführen, so wird Ihnen der Marschallstab zuteil werden.«
»Weshalb sagen Sie: wenn ich ihn gut ausführe?« fragte d'Artagnan. – »Weil es sehr schwierig ist.« – »Inwiefern, Majestät?« – »Sie haben Freunde auf Belle-Ile, und für Männer wie Sie ist es keine Kleinigkeit, über den Leichnam eines Freundes zu schreiten.« – D'Artagnan antwortete nicht; er verneigte sich und ging hinaus. Eine Viertelstunde später brachte Colbert ihm den schriftlichen Befehl, Belle-Ile zu erobern, im Falle des Widerstandes in die Luft zu sprengen und keinen einzigen der Besatzung – das war besonders hervorgehoben – entschlüpfen zu lassen.
»Ein Marschallstab gegen das Leben zweier Freunde!« murmelte der Gaskogner. »Ei, meine Freunde sind nicht so dumm wie Gimpel und werden nicht auf die Leimrute des Vogelstellers warten. Ich will ihnen Zeit lassen davonzufliegen. Armer Porthos, armer Aramis! nein! mein Glück soll euch keine Feder aus den Flügeln kosten.« – Darauf rief d'Artagnan die königliche Armee zusammen und ging in Paimboeuf zu Schiffe. Ohne Zeitverlust wurden die Segel gehißt, und man nahm Kurs auf Belle-Ile.
3. Kapitel. Auf Belle-Ile
Aramis und Porthos standen am Gestade der See, und der Bischof schaute auch an diesem Tage wie an allen, seit sein großer Plan gescheitert, voll banger Unruhe gen Westen über die See hinaus. Sein leuchtender Blick durchmaß wie der eines Falken den Luftraum und suchte noch über den Horizont hinauszudringen. Vor einigen Tagen waren alle Fischerbarken auf die Fahrt ausgegangen, und bisher war nicht eine zurückgekehrt. Der kluge d'Herblay wußte, was das zu bedeuten hatte, und erwartete nun die Ankunft königlicher Schiffe, denn solche mußten den Fischerbooten begegnet sein und sie von Belle-Ile fernhalten. Am schwersten lastete es auf seiner Seele, daß der gutmütige Porthos noch immer nichts ahnte, und der Mann, der tausend Ränke gesponnen und sich durch unzählige schwere Lagen leicht zurechtgefunden hatte, wußte nun nicht, wie er diesem großen Kinde die Wahrheit klarmachen sollte. Dennoch mußte es geschehen, sobald eine feindliche Flotte herankam. In der letzten Zeit drang auch Porthos mehr mit Fragen in ihn als bisher. Es hatte den Anschein, als wenn die Dinge ihm selber nicht mehr geheuer erschienen.
Plötzlich rief Aramis aus: »Porthos! Sehen Sie dorthin!« – »Ei,« rief der Riese, »mir scheint, die Fischerbarken kommen endlich zurück! Ich habe mir schon den Kopf zerbrochen, weshalb sie so lange ausblieben.« – »Das sind keine Fischerbarken, das sind königliche Kriegsschiffe!« rief Aramis. Und er zählte: »Drei, vier, sechs! wahrlich, eine ganze Flotte!« – »Hurrah!« schrie Porthos, »also schickt man uns endlich Verstärkung! Nun mag der falsche König herankommen!«
Aramis hatte den Kopf in beide Hände vergraben, dann sah er auf und rief: »Porthos! lassen Sie Alarm schlagen!« – Der Baron machte große Augen, aber er entfernte sich, um den Befehl des Freundes auszuführen, war er es doch nicht anders gewöhnt, als den Anordnungen des weisen Prälaten sich zu fügen.
Nun füllten sich die Hafendämme mit Neugierigen und Bewaffneten; die Artilleristen rückten mit Lunten heran, die Wälle, die Batterien wurden besetzt. Porthos beobachtete mit Verwunderung diese Zurüstungen zu einer energischen Gegenwehr. Aramis sah nach den Schiffen aus, die allmählich näher kamen. Doch erst als es Nacht geworden war, befanden sie sich in Kanonenschußweite von der Insel und gingen nun vor Anker. Trotz der Finsternis wurde alsbald ein Boot ausgesetzt und an Land gerudert. Der Führer der Jolle hielt einen Brief in der Hand, den er in der Luft schwenkte, und schien jemand zu suchen, an den er diese Mitteilung abgeben sollte. Als ein paar Soldaten ihn anhielten, verlangte er vor Herrn d'Herblay geführt zu werden.
Aramis stand auf dem Quai. Er erkannte in ihm einen Fischer von Belle-Ile, der mit den andern Barken zusammen vor kurzem ausgefahren war. Der Mann erzählte nun, sie seien alle gefangengenommen worden. – »Von wem?« fragte Aramis. – »Von einem Schnellsegler des Königs,« war die Antwort. – »Welches Königs?« warf Porthos dazwischen. »Des echten oder des falschen?« – »Erzähle weiter!« gebot Aramis, als der Fischer den Baron verständnislos ansah. – »Wir wurden also alle gefangengenommen,« wiederholte der Mann, »und nun schickt man mich hierher, um Ihnen zu sagen und zu melden, daß die hier eingetroffene Flotte Befehl hat, Belle-Ile zu blockieren und keinen Mann der Besatzung entwischen zu lassen.« – »Und wer ist der Befehlshaber?« fragte d'Herblay. – »Der Kapitän der Musketiere, Herr d'Artagnan.«
»D'Artagnan!« rief Porthos; »aber dann ist ja alles gut!« – »Hast du selbst mit ihm gesprochen?« fragte Aramis den Fischer. – »Ja, und er läßt Sie zu sich an Bord bitten.« – »So laß uns hingehen!« rief Porthos. »Laß uns zu unserm Freunde gehen!« – »Bist du von Sinnen?« entgegnete der Bischof. »Woher willst du wissen, ob das nicht eine Falle ist?« – »Die uns der falsche König stellt?« fragte Porthos. – »Jawohl, und das ist am Ende gar nicht d'Artagnan, der uns zu sich ruft!« setzte Aramis hinzu. – »Sie haben immer recht,« meinte der Baron.
»Gehen Sie an Bord zurück,« sagte d'Herblay zu dem Fischer, »und sagen Sie ihm, ich ließe den Herrn bitten, zu uns auf die Insel zu kommen. Wenn er sich weigere, so würden wir von unsern Kanonen Gebrauch machen.« – »Sollen wir auf d'Artagnan und seine Leute schießen?« rief Porthos. – »Ich sagte Ihnen doch, er ist's vielleicht gar nicht,« antwortete der Bischof. – »Donnerwetter, jetzt verstehe ich schon gar nichts mehr!« seufzte der Riese. – »Ich werde Sie aufklären, der Augenblick ist nun gekommen,« sagte Aramis, während der Fischer sich entfernte. »Setzen Sie sich auf diese Lafette und hören Sie mir zu.« – Und er faßte Porthos bei der Hand und begann ihm alles zu sagen, begann es mit den Worten: »Porthos, einem so biederen Manne wie Sie soll man nichts vorflunkern. Also heraus mit der Wahrheit! Ich habe Sie betrogen.«
»Sie haben mich betrogen?« rief der Baron. »Geschah es zu meinem Besten?« – »Wenigstens glaubte ich das felsenfest, Porthos.« – »Nun denn, so haben Sie mir einen Dienst erwiesen oder doch erweisen wollen. Freund,« antwortete der gutmütige Riese. »Ich danke Ihnen, und worin haben Sie mich betrogen?« – »Indem ich in Wahrheit dem Usurpator diente, gegen den Ludwig XIV. in jenem Augenblick alle Kräfte aufbot.«
»Wie? Also dienten Sie nicht dem wirklichen Ludwig XIV.?« – »Sehr richtig! Und daraus geht hervor, mein armer Porthos –« – »Daraus geht hervor,« vollendete der Baron, »wir sind Rebellen. Und somit ist die Herzogswürde, auf die ich hoffte, heidi! Denn von einem Usurpator will ich sie nicht haben. Sie taten unrecht, Aramis, mich in diesem Punkte zu täuschen. Ich habe so fest darauf gehofft! Kannte ich Sie doch als einen Mann von Wort! Ich bin also nun mit meinem König, mit Ludwig XIV., zerfallen?«
»Ich werde das wieder ins rechte Gleis bringen, Freund,« antwortete Aramis. »Sie haben ja nichts eigenmächtig getan, ich war das Haupt des Komplotts.
Mich allein trifft die Schuld. Sie haben ja im besten Glauben gehandelt. Ich rief Sie, und Sie folgten mir. Mein größter Fehler, Porthos, war, ich handelte aus Egoismus.« – »Sehen Sie, dieses Wort liebe ich,« versetzte Ballon. »Und da Sie bloß in Ihrem Interesse gehandelt haben, so kann ich Ihnen unmöglich gram sein, das ist ja so natürlich.« Mit diesen Worten drückte er seinem Freunde herzlich die Hand.
Aramis fühlte sich klein vor dieser naiven Seelengröße. Er mußte sich beugen vor dieser Ueberlegenheit des Herzens, die stets mächtiger ist als Größe des Geistes.
Eine Donnerstimme unterbrach ihr Gespräch. – »Das ist d'Artagnan,« sagte Porthos. – »Ja, ich bin es,« antwortete der Kapitän und eilte herbei. Ein Offizier folgte ihm auf dem Fuße. Als d'Artagnan die Hälfte der Stufen erstiegen hatte, die zu dem Wehrdamme emporführten, rief er Aramis und Porthos zu: »Lassen Sie Ihre Leute zurücktreten, und zwar so weit, daß sie nicht mehr hören können, was ich spreche.« – Porthos gab diesen Befehl, der alsbald befolgt wurde. – Der Kapitän drehte sich hierauf zu seinem Begleiter um und sagte: »Mein Herr, wir sind jetzt nicht mehr auf dem königlichen Schiffe, wo Sie eben noch in so anmaßendem Tone mit mir gesprochen haben.« – »Herr Kapitän, das ist keine Anmaßung,« erwiderte der Offizier. »Ich habe meine Befehle, und denen gehorche ich. Mir wurde aufgetragen, Ihnen überallhin zu folgen, das tue ich hiermit!«
»Mein Herr!« unterbrach d'Artagnan ihn mit Ungestüm, »genug nun! ich gestattete Ihnen, mir nach Belle-Ile zu folgen. Doch nun machen Sie halt! Ich kümmere mich gar nicht drum, ob Sie gewisse Befehle von Herrn Colbert oder von sonstwem haben. Sie fallen mir zur Last, das ist alles, und ich werde mich dagegen schützen. Sie haben hier einen Mann vor sich, der d'Artagnan heißt, und Sie stehen auf einer Treppe, die dreißig Fuß tief in die salzige Flut reicht. Das ist eine schlimme Stellung für jemand, der d'Artagnan lästig wird.«
»Ich habe meinen Dienst zu versehen,« antwortete der Offizier, die Achseln zuckend. – »Mein Herr, diejenigen, die Sie mit diesen besonderen Befehlen versahen, haben mich beleidigt. Ich kann mich aber nicht an sie halten, denn sie sind mir fern; ich muß mich an Ihre Person halten, und das werde ich tun, seien Sie versichert! Wenn Sie einen Schritt weiter hinter mir hertun, ich schwöre es bei meinem Namen, so spalte ich Ihnen den Schädel mit dem Schwerte oder werfe Sie ins Meer! Geschehe, was mag! Sechsmal in meinem Leben bin ich in Zorn geraten, und alle sechs Male habe ich den getötet, der mir da gegenüberstand!« – Der Offizier erblaßte bei dieser schrecklichen Drohung, antwortete aber: »Als ich Soldat wurde, wußte ich, daß ich im Dienst mein Leben lassen müsse.« – D'Artagnan stieg die Treppe weiter hinauf – der Offizier bekreuzte sich fromm und folgte ihm. Porthos und Aramis, die ihren d'Artagnan kannten, stießen einen Schrei aus und stürzten herbei, um den Streich aufzuhalten, den sie schon zu hören glaubten. Aber der Musketier nahm das Schwert in die linke Hand. – »Herr,« sagte er zu dem Offizier. »Sie sind ein tapferer Mann. Sie müssen aber das, was ich Ihnen jetzt sagen werde, besser begreifen als das, was ich Ihnen eben gesagt habe.« – »Reden Sie, Herr Kapitän,« sagte der Offizier schlicht. – »Die Herren dort, gegen die Sie Befehle haben, sind meine Freunde,« sprach der Musketier.
»Lassen Sie mich ohne Zeugen mit ihnen sprechen.« – »Mein Herr,« antwortete jener, »wenn ich nachgebe, so breche ich mein Wort – wenn ich nicht nachgebe, handle ich Ihnen zuwider. Das eine ist so schlimm wie das andere. Also gehen Sie und reden Sie mit Ihren Freunden. Verzeihen Sie mir, daß ich aus Liebe zu Ihnen, den ich achte und ehre, eine gemeine Handlung begehe, indem ich meine Pflicht vergesse.« – Der Gaskogner schlang gerührt den Arm um den Nacken des jungen Mannes und stieg zu seinen Freunden hinauf. Der Offizier wickelte sich in seinen Mantel und setzte sich auf die feuchten Stufen, die mit Seetang überzogen waren.
»So stehen die Dinge,« sagte d'Artagnan zu seinen Freunden. »Nun urteilt selbst!« Und alle drei umarmten sich. »Sie sehen, alles, was von Belle-Ile kommt, wird abgefangen, und niemand darf unangefochten hier landen. Eine Flucht ist unmöglich. Der König will Sie fangen – und wird Sie fangen. Ich hatte nun die Absicht, Sie beide auf mein Schiff zu rufen, dort zu behalten und dann entwischen zu lassen. Aber ich muß jetzt damit rechnen, daß sich, wenn ich auf mein Schiff zurückkehre, einer meiner Offiziere als mein Vorgesetzter entpuppt, der mit geheimen Befehlen gegen mich ausgerüstet, vielleicht sogar befugt ist, mich im Notfall des Kommandos zu entsetzen. Was also soll ich für Sie tun?«
»Nehmen Sie Porthos mit,« sprach Aramis. »Er wird dem König beweisen, daß er ganz unschuldig war. Ich aber bleibe hier und bürge Ihnen, daß ich mich erst nach sehr energischem Widerstand ergeben werde.« – »Ich muß mir das überlegen,« erwiderte Porthos. »Einstweilen bleibe ich.« – »Dann wollen wir uns vorerst Lebewohl sagen,« sprach d'Artagnan. »Auch ich muß nachdenken, und ich hoffe, Ihnen bald einen guten Gedanken mitteilen zu können.« Er schüttelte den Freunden die Hand und kehrte mit dem Offizier, den Herr Colbert ihm zum Wächter bestellt hatte, auf sein Schiff zurück.
Unterwegs zerbrach er sich den Kopf, um einen Ausweg zu finden, und fand auch einen. Als er an Bord stieg, war sein Entschluß gefaßt. Er berief seinen Kriegsrat, der aus acht Offizieren bestand, nämlich aus einem Hauptmann der Seesoldaten, einem Major der Artillerie, einem Ingenieur, dem jungen Offizier und vier Leutnants.
»Meine Herren,« sprach d'Artagnan, »ich habe mir Belle-Ile angesehen. Es ist stark befestigt, hat eine gute Garnison und kann lange Gegenwehr leisten. Ich will daher zwei von den ersten Offizieren der Garnison herüberkommen lassen, um mit ihnen zu unterhandeln. Mir erscheint eine friedliche Einigung als das beste. Sind Sie auch dieser Meinung?« – »Herr Kapitän,« antwortete der Artillerist, »also haben wir wohl auf einen Widerstand Belle-Iles zu rechnen?« – »Allerdings, obgleich es nicht Herr Fouquet ist, der die Insel verteidigt, denn den habe ich gestern verhaftet,« versetzte d'Artagnan. »Aber diese Verhaftung ist hier ruchbar geworden, und alle Leute auf Belle-Ile hängen an Fouquet und erblicken in ihm ihren Herrn und König. Sie werden ihm treu bleiben bis in den Tod. Deshalb will ich mit den Offizieren sprechen, will ihnen zeigen, wie stark unsere Schiffe sind, und Ihnen eröffnen, daß sie im Falle eines Widerstandes keine Gnade zu erhoffen haben. Ich denke, sie werden sich ohne Kampf ergeben, und die Festung, deren Eroberung uns viel Blut kosten würde, fällt vielleicht ohne Schwertstreich in unsere Hände.«
Die Offiziere blickten einander an, als wollten sie sich gegenseitig um Rat befragen, da trat der Offizier vor, der d'Artagnan nach Belle-Ile begleitet hatte, und legte ein Papier vor, das die Aufschrift trug: »Befehl Nr. 2.« Der Kapitän nahm es und las: »Es wird hiermit Herrn d'Artagnan aufs strengste verboten, einen Kriegsrat zu versammeln, bevor Belle-Ile sich ergeben hat und die Besatzung gefangengenommen oder über die Klinge gesprungen ist. Gezeichnet ..... Ludwig XIV.«
D'Artagnan bezwang mit Gewalt die Wut, die in ihm emporstieg, und sagte mit anmutigem Lächeln: »Sehr wohl, Herr! Die Befehle des Königs sollen befolgt werden.« – Er schwieg ein Weilchen, dann fuhr er fort: »Da der König einen andern mit Befehlen gegen mich ausgerüstet hat, so genieße ich nicht mehr sein Vertrauen und bin unwürdig, dieses Kommando weiterzuführen. Ich werde also auf der Stelle meinen Abschied einreichen. Ich fordere Sie infolgedessen auf, mit mir nach der französischen Küste zurückzukehren. In einer Stunde ist Flut, dann kann die Rückfahrt angetreten werden. Wollen Sie ohne Oberhaupt hier bleiben, so würden Sie die Streitkräfte gefährden, die der König mir anvertraut hat. Ich nehme an, Herr,« wandte er sich an den jungen Offizier, »Sie haben diesmal keinen Gegenbefehl.«
D'Artagnan triumphierte schon, als er diese Worte aussprach; denn wenn die Blockade unterbrochen war, so würden seine Freunde, dachte er, bald Gelegenheit finden, nach Spanien zu entfliehen. Nachher mochte der König getrost einen anderen nach Belle-Ile schicken, der würde das Nest leer finden.
Allein der junge Offizier reichte d'Artagnan abermals
einen Befehl, und der Musketier las: »Sobald Herr d'Artagnan erklärt, er wolle den Befehl niederlegen, so soll er nicht mehr als Haupt der Expedition betrachtet werden. Die ihm unterstellten Offiziere brauchen ihm von diesem Augenblick an keine Folge mehr zu leisten. Vielmehr soll Herr d'Artagnan alsbald nach Frankreich zurückkehren und zwar unter der Aufsicht des Offiziers, dem diese Sonderbefehle anvertraut werden, als dessen Gefangenen er sich zu betrachten hat. Gezeichnet – – Ludwig XIV.«
D'Artagnan erblaßte; das alles war so klug, so weitsichtig berechnet, daß er sich seit dreißig Jahren wieder einmal an die unbeugsame Logik, an den Scharfblick des großen Richelieu erinnert fühlte. Er sann nach. Dann dachte er: »Ich zerreiße diesen Befehl, wer kann sich mir dann widersetzen? Und ehe der König durch seinen Vertrauten etwas davon erfährt, habe ich meine Freunde gerettet. Mutig vorwärts! Mein Kopf gehört nicht zu denen, die man wegen Ungehorsams vom Rumpfe schlägt. Also wollen wir ungehorsam sein!«
Aber in diesem Augenblick sah er, daß alle andern Offiziere denselben Befehl lasen, den er in der Hand hatte. Der junge Offizier hatte jedem eine Abschrift gegeben. Also auch der Fall des Ungehorsams war vorhergesehen worden und somit vereitelt. – »Herr Kapitän,« sprach der Offizier, »ich nehme an, Sie werden mir ohne Widerstand folgen.« – »Selbstverständlich,« versetzte d'Artagnan, mit den Zähnen knirschend. Alsbald wurde auch ein Boot ausgesetzt. »Nach dem Abgang des Kapitäns,« sprach der Offizier zu dem Hauptmann der Seesoldaten. »überträgt Seine Majestät Ihnen das Oberkommando. Hier ist Ihre Vollmacht.«
D'Artagnan, der Mann von Eisen, senkte zum erstenmal in seinem Leben kleinlaut den Kopf. Er stieg in das kleine Fahrzeug, das mit einem günstigen Wind im Segel Frankreich zusteuerte. Die Barke flog wie eine Schwalbe dahin. Bald zeigte sich am nächtlichen Himmel die französische Küste. D'Artagnan hatte noch immer Hoffnung, zeitig genug in Nantes einzutreffen, um beim König mit all seiner Beredsamkeit die Sache seiner Freunde zu führen. – »Junger Mann,« sprach er zu dem Offizier, »ich würde viel drum geben, die Instruktionen des neuen Kommandanten zu kennen. Er hat doch vorderhand Frieden zu halten, nicht wahr?« – Er hatte kaum ausgesprochen, da hallte der Donner eines Kanonenschusses über das Meer hin, ein zweiter und ein dritter folgten.
»Das Feuer auf Belle-Ile ist eröffnet,« sagte der Offizier.
Der Kiel des Bootes knirschte im Küstensande.
4. Kapitel. Der Tod eines Titanen
Als d'Artagnan seine Freunde verlassen hatte, machten auch sie sich auf den Weg, um an ihre Posten zu gehen. Porthos richtete sich mühsam auf, aber beim ersten Schritt versagten ihm die Beine den Dienst, und er mußte sich noch einmal setzen. – »Aramis,« rief er, »das ist ein böses Zeichen. Daran erkenne ich, es geht mit mir zu Ende.« – »Nicht doch!« versetzte d'Herblay. »Die Ueberraschung ist Ihnen nur in die Glieder gefahren.« – »Ich weiß das besser,« beharrte jener. »Mein Großvater war zweimal so stark wie ich; aber bei einer Jagd fühlte er plötzlich, daß ihm die Beine schwach wurden – ein Uebel, das er nie zuvor gekannt hatte. Er raffte sich dennoch auf und pirschte weiter. Da begegnete ihm ein Wildschwein; er schoß mit der Armbrust und fehlte das Ziel. Das Tier fiel über ihn her und schlitzte ihm den Leib auf. Er war auf der Stelle tot.«
»Das ist noch kein Grund, für Ihre Person zu fürchten,« antwortete der Bischof. – »Hören Sie weiter!« fuhr Porthos fort. »Mein Vater war noch einmal so stark wie ich. Müdigkeit war ihm fremd. Aber als er eines Tages von Tisch aufstand, waren ihm die Beine schwach. Er trotzte dieser Schwachheit wie mein Großvater, und statt zu Bett zu gehen, ging er in den Garten. Bei den ersten Stufen wiederholte sich der Schwächeanfall, mein Vater fiel hin und schlug mit dem Kopf auf eine eiserne Klammer, die ihm in die Schläfe drang. Er war auf der Stelle tot.«
»Das sind zwei seltsame Zufälle, Porthos, aber wir können daraus immer noch nicht folgern, daß es Ihnen ebenso ergehen werde,« erwiderte Aramis. »Uebrigens stehen Sie jetzt schon wieder so stolz und fest da wie noch nie. Sie könnten ein Haus auf den Schultern tragen.«
»Ich fühle mich allerdings auch sehr dazu aufgelegt; aber diese Schwäche, währte sie auch nur einen Augenblick, ist für mich trotz allem ein untrügliches Zeichen. Ich fürchte mich nicht, allein ich liebe das Leben. Ich habe hübsche Landgüter und ein schönes Vermögen, das würde ich gern noch eine Zeitlang genießen. Und dann habe ich auch Freunde, die ich liebe: d'Artagnan, Athos, Rudolf und Sie!« – Der ehrliche Porthos nahm sich nicht einmal die Mühe, d'Herblay zu verhehlen, welchen Rang unter den Freunden er ihm zuerteilte.
»Wir werden auch noch lange leben,« antwortete Aramis, ihm die Hand drückend, »und der Welt noch viele Jahre das Muster von seltenen Männern sein. D'Artagnan wird uns befreien. Er will seinen Abschied einreichen, und die Verwirrung, die sein Rücktritt vom Kommando hervorrufen muß, will er benutzen, uns entschlüpfen zu lassen. Das ist sein Plan, und ich habe auch schon eine Barke an den Ausgang der unterirdischen Grotte Locmaria rollen lassen. Von dort aus können wir, sobald es Nacht ist, die See erreichen.« – »Das ist ein guter Gedanke,« sagte Porthos. »Hoffen wir also das Beste!«
Da erklang das Geschrei: »Zu den Waffen!« – Eine Menge von Männern und Frauen eilte herbei, Fackeln irrten hin und wieder, die Soldaten rückten an ihre Plätze. – »Die Flotte kommt heran!« schrie ein Bewaffneter, der Aramis erkannt hatte. – »Dann beginnt der Kampf! Auf, verteidigen wir uns!« schrie Aramis.
»Auf in den Kampf!« brüllte Porthos mit Donnerstimme. Und beide liefen zur nächsten Batterie.
Man sah Schaluppen mit Militär herankommen, sie näherten sich von drei Richtungen her, um an drei verschiedenen Punkten zugleich zu landen. Im nächsten Augenblick hatten nur noch die Kanonen das Wort; der Donner zerriß die Luft, der Rauch trieb wie dichter Nebel über die See und das Land hin. Der erste Angriff wurde siegreich zurückgeschlagen, nur ein Boot der Königlichen erreichte die Küste, mußte jedoch unter schweren Verlusten sofort umkehren.
»Porthos! Wir brauchen einen Gefangenen!« rief Aramis, und der Riese eilte zum Strande, warf sich mitten in den Knäuel der Flüchtenden und packte einen davon beim Kragen. Indem er ihn wie einen Schild vor der Brust trug, ging er rückwärts schreitend zu den Seinen zurück. »Hier ist ein Gefangener,« sprach er. – »Ihre Beine haben sich trefflich bewährt,« lachte Aramis. – »Ich habe ihn nicht mit den Füßen gefangen,« sagte Porthos traurig, »sondern mit den Armen.«
Es war ein Offizier, und Aramis begann ihn ins Verhör zu nehmen. Nun erfuhren sie, daß d'Artagnan nach Niederlegung des Kommandos sofort als Gefangener nach Frankreich gebracht worden sei, und daß sie von seiner Seite nichts mehr zu hoffen hätten. Aramis fragte sodann, was man mit den Leuten von Belle-Ile tun wolle, wenn man sie besiegt hätte. – »Der Befehl lautet, diejenigen, die den Kampf überleben, aufzuknüpfen.« – Aramis und Porthos blickten einander an. – »Ich bin zu leicht für den Galgen,« meinte d'Herblay. »Leute, wie ich bin, henkt man nicht.« – »Und ich bin zu schwer,« setzte Porthos hinzu, »bei mir reißt der Strang.« – »Ihnen beiden,« sagte der gefangene Offizier, »hätten wir jedenfalls die Vergünstigung gewährt, sich die Todesart auszuwählen.« – »Sehr gütig!« entgegnete Aramis.
Von neuem erklang Kanonendonner, und das scharfe Knattern von Musketen mischte sich darein. Schrecklich hallte das Getöse von den Felsen der Insel wider. – »Potz Wetter, was ist das?« rief Aramis. – »Der erste Angriff, den Sie zurückgeschlagen haben, war ein Scheinmanöver, das Sie veranlassen sollte, alle Ihre Kräfte hierher zu konzentrieren. Inzwischen sind wir an einer minder stark besetzten Stelle siegreich eingedrungen,« sagte der Gefangene lächelnd. – Aramis sank zurück. »Dann sind wir verloren,« stöhnte er dumpf. Und während das Geschrei der Kämpfenden näher heranbrauste, wandte er sich an die Soldaten, die rings an ihren Posten standen, und rief: »Freunde, keinen Widerstand mehr! Er wäre nutzlos und würde euch zum Verderben gereichen! Ergebt euch der Gnade des Königs! Der König ist Euer Herr! Der König ist der Abgesandte Gottes! Denkt nicht ferner mehr daran, Herrn Fouquet an dem König zu rächen. Opfert nicht nutzlos Weib und Kind, Freiheit, Besitz und Leben! Nieder mit den Waffen! Die Soldaten des Königs sind in Belle-Ile eingedrungen, und wenn ihr euch zur Wehr setzt, so wird es kein redlicher Kampf mehr sein, sondern nur noch ein Gemetzel, das keiner von euch überleben wird! Ich befehle euch im Namen des Allmächtigen, unterwerft euch der Gnade Ludwigs XIV.!«
Nach dieser Ansprache wandte er sich an den Offizier, der die Beweggründe dieser plötzlichen Umwandlung von energischem Widerstand zu wehrloser Ergebung nicht begreifen konnte. »Mein Herr!« setzte d'Herblay hinzu, »Sie sind frei, kehren Sie zu den Ihren zurück.« – »Mein Herr,« antwortete der Offizier, »Sie retten auf diese Weise wohl alle diese Einwohner, aber weder sich noch Ihren Freund.« – »Auch wir hoffen, die Gnade des Königs nicht vergebens anzuflehen,« antwortete Aramis. – »Gnade?« rief Porthos wild. »Was ist das für ein Wort?« – »Meine Herren,« sprach der Offizier, »der Befehl lautet ausdrücklich –« – »Herr,« unterbrach ihn Aramis, der fürchtete, Porthos könnte in seinem Zorn etwas von der geplanten Flucht ausschwatzen, »ich bin Bischof – ein Bischof kann nicht ohne weiteres gerichtet werden.« – »Allerdings,« erwiderte der Offizier.
»Diese Chance hätten Sie noch für sich.« – Darauf verneigte er sich und ging.
Die Grotte von Locmaria war ein natürlicher unterirdischer Gang, der ein gutes Stück landeinwärts lag und bis hart ans Gestade der See führte. Im letzten Teile lag er allerdings nicht mehr unter der Erde, war aber durch ein Gewirr von übereinandergestürzten Steinblöcken so trefflich verdeckt, das man unter völliger Deckung das Meer erreichen konnte. Aramis und Porthos verließen den Wall und machten sich im Schutze der Nacht auf den Weg. Mit jener Rücksichtslosigkeit, die in schwierigen Lagen dem Bischof zu eigen war, überließ er es unbedenklich den Leuten von Belle-Ile, sich mit den Königlichen auseinanderzusetzen, wie sie wollten.
»Lieber Freund,« sprach Porthos, sich verschnaufend, »da wären wir! Aber sprachen Sie nicht von drei Fischern, die hier ein Boot für uns in Bereitschaft halten sollten? Ich sehe jedoch niemand.« – »Sie warten im Innern der Höhle,« antwortete Aramis. Sie traten ein, gekrümmten Rückens schritten sie in die feuchte, pechschwarze Höhle, und d'Herblay ließ einen Ruf, ähnlich dem der Nachteule, erschallen. Ein gleicher erklang als Antwort. – »Sind Sie es, Yves?« fragte der Bischof. – »Ja, Monseigneur, mit Goennec und seinem Sohne.« – »Ist alles bereit?« – »Alles, bischöfliche Gnaden!«
Sie zündeten bei diesen Worten eine Laterne an, und man sah nun ein Boot zwischen den Steinen liegen. Aramis untersuchte es beim matten Schein der Kerze, überzeugte sich, daß es alles enthielt, was er mit sich nehmen wollte, prüfte die Flinten, die Munition und das kleine Faß Pulver, das man im Heck verstaut hatte, und befahl dann, das Fahrzeug fortzutragen. Obwohl es gut beladen war mit Proviant, Wein in Schläuchen, Waffen und anderen Bedarfsartikeln, war es doch leicht, da es einer jener schlanken, hochbordigen Kähne war, die man besonders auf Belle-Ile mit großem Geschick anzufertigen verstand. Die drei Männer hoben es bis zur Höhe des Knies empor und schoben es nun ruckweise, immer wieder absetzend, Schritt für Schritt vorwärts. Das ging langsam, aber man mußte sich gedulden. Schließlich wurde das Ende des unterirdischen Ganges erreicht. Hier versperrte ein gewaltiger Steinblock den Ausgang, an dessen Schwere die Kräfte der drei Fischer versagten.
Porthos trat heran, stemmte den Rücken und die gewaltigen Schultern gegen das Hemmnis und bohrte die Füße in den Sand des Grundes. Dann hob er sich langsam empor, und der Stein lockerte sich in seinem festen Gefüge, Erde prasselte hernieder, Wurzeln zerrissen wie Bindfäden, die Platte ging in die Höhe und kollerte nach außen herum, das Dämmerlicht des grauenden Tages schimmerte in die Höhle hinein.
Aramis stieg als erster hervor, um Ausschau zu halten. Dann ließ er die Fischer mit Hilfe des Barons den Kahn hinausschieben, und die Männer trugen ihn nun leichter und schneller auf dem ebenen Boden im Schutze der Steinwände weiter, um ihn dann das letzte kurze Stück über das Ufer hin auf hölzernen Rollen ins Wasser zu schieben. Aramis und Porthos schickten sich an, ihnen zu folgen, als, gehetzt von mehreren bellenden Hunden, plötzlich ein Fuchs in die Oeffnung der Grotte schoß.
»Potz Wetter!« rief d'Herblay, »das ist eine Meute! Und hören Sie, da sind auch menschliche Stimmen! Sie kommen hierher. Wir wollen vorsichtshalber in die Höhle zurückkehren.« – Sie schlüpften rasch hinein, da brausten auch schon die Hunde heran, die hinter dem Fuchs hersetzten, und sprangen durch den schmalen Gang. Draußen aber vernahm man Pferdegetrappel und lautes Geschrei. »Es sind Offiziere der königlichen Garden,« sprach Aramis. »Sie haben zufällig einen Fuchs aufgestöbert, und da sie Zeit zum Jagen haben, so gibt es also auf Belle-Ile schon nichts mehr zu tun. Die Besatzung hat sich ergeben.« – »Die Jäger werden den Hunden folgen und hierherkommen,« sagte Porthos. – »Und uns hier finden, freilich,« setzte Aramis hinzu. »Aber wir werden sie hinter den Steinen erwarten und niedermachen, sobald sie hereinkommen. Das wird zehn Minuten dauern.«
Und er griff nach der Pistole und nahm den Dolch zwischen die Zähne. Der Bischof von Bannes war wieder der Musketier von ehedem geworden.
Die Jäger kamen heran. Aramis und Porthos eröffneten durch eine Lücke des Gesteins das Feuer und streckten mit vier Schüssen vier Feinde nieder. Aber sie konnten nicht hindern, daß zwei der Reiter, erschrocken über den unvermuteten Angriff, mit lautem Geschrei entflohen. Sie wollten nun zuerst ohne weiteres zu dem Boot eilen, das die Fischer inzwischen fast bis ins Wasser gebracht hatten, Allein Aramis hielt seinen Freund zurück. Es war aussichtslos, in diesem Augenblick zu entfliehen. Die Schüsse waren gehört worden, die Reiter riefen Hilfe herbei, und was nützte es, ins Boot zu kommen und in See zu stechen. Sie wurden dann ja doch verfolgt, eingeholt und gefangen genommen. Dagegen gab es kein Mittel. Sie mußten sich zurückziehen, die feindliche Abteilung, die gegen sie anrücken würde, erwarten und ihr Leben so teuer wie möglich verkaufen.
Sie hatten im Innern der Grotte doch wenigstens eine einigermaßen sichere Stellung und konnten es im Schutze steinerner Pfeiler und finsterer Gänge mit einer großen Ueberzahl aufnehmen.
Sie blieben hinter den Steinblöcken, bis sie ihre Feinde heranrücken sahen. Aramis zählte 75 Mann. – »Was ist da zu tun?« murmelte er und wühlte mit Wut in seinen ergrauenden Haaren. – »Wir können keinen offenen Kampf mit ihnen wagen,« antwortete Porthos. »Aber wir wollen sie in die Höhle locken. Dort stellen wir uns hinter den steinernen Pfeilern auf, und alle, die herankommen, schlagen wir nieder, ehe sie erkennen, wo wir stecken. Wie dünkt Sie das?« – »Ausgezeichnet, lieber Freund,« erwiderte Aramis. »Ich bin sehr dafür, nur fürchte ich, die Hälfte wird Angst bekommen und draußen bleiben. Wir müssen aber alle vernichten. Bleibt nur ein einziger übrig, so sind wir verloren.« – »Also wie locken wir sie da heran?« – »Indem wir uns gar nicht rühren, lieber Porthos,« sagte d'Herblay. – »Und für den Notfall,« setzte Porthos hinzu, »haben wir noch das Faß Pulver, das die Fischer in der Grotte zurückgelassen haben, um das Boot zu erleichtern.« – »Das wollen wir aber möglichst wieder mit ins Boot nehmen,« meinte Aramis. »Und nun ans Werk, ich höre Stimmen!« – Porthos zog sich in die zweite Wölbung der Höhle zurück, Aramis kroch in die dritte. Der Riese hob die schwere Eisenstange vom Boden auf, mit der man das Boot vorwärts bewegt hatte. Sie wog etwa fünfzig Pfund, und er handhabte sie wie einen Spazierstock.
Man hörte jetzt ein Kommandowort, und alsbald sprangen 25 Mann von den oberen Felsen herab und drangen in die erste Höhlung vor. Dort legten sie an und schossen in die zweite hinein. Der Knall dröhnte in der Wölbung, die Kugeln prasselten gegen die Steinwände. Der Rauch erfüllte die Gänge. Da aber die Salve gar keinen Erfolg hatte, befahl der Führer den Leuten weiter vorzudringen. Porthos stieß einen Seufzer aus und hob die Eisenstange. Schwer hob und senkte sie sich zehnmal, und zehn Leichen lagen am Boden. Die Soldaten sahen in der Finsternis nichts. Sie hörten nur Geschrei und immer wieder eine Stimme, die aus einer noch tieferen Höhle ihnen zurief: »Kommt nur heran! Kommt nur heran!« – So drangen immer wieder neue Feinde vor, und immer wieder fiel die mörderische Eisenstange auf sie hernieder.
Nun aber hatte sich der Kapitän draußen eine Fackel aus Tannenzweigen gemacht und kam mit Licht herein. Soldaten folgten ihm. Aber bei dem Anblick, der sich ihnen bot, flüchteten sie voll Entsetzen. Der Kapitän selbst erschrak zu Tode, als er die Menge von Leichen erblickte und doch niemand sah, der sie getötet haben konnte. Er tat noch einen Schritt in den blutigen Knäuel hinein. Da packte ihn eine Faust, die aus dem Dunkel hervorschoß, bei der Kehle. Die Fackel entfiel seiner Hand und verlosch knisternd in einer Lache von Blut. Eine Sekunde später lag die Leiche des Kapitäns neben dem verkohlten Tannenzweig. Alles das geschah auf zauberhafte Weise, als wenn dort drinnen eine rätselhafte, menschenmordende Maschine arbeitete. Die Soldaten wagten sich nicht mehr herein und beratschlagten, was sie tun sollten.
Porthos schöpfte Atem. Er wartete, die Eisenstange in der Hand. Da hörte er die Stimme seines Freundes. »Kommen Sie,« flüsterte Aramis. »Nehmen Sie dieses Fäßchen Pulver, ich habe eine Lunte hineingesteckt. Werfen Sie es mitten unter unsere Feinde, es wird ihrer aller Tod sein.« – »Brennen Sie an!« sprach Porthos. – »Warten wir, bis sich alle versammelt haben, und dann sollen Sie wie Jupiter ihren Blitz schleudern.« – »Brennen Sie an!« wiederholte Porthos. – »Ich eile inzwischen zu den Bretagnern und helfe ihnen alles fertig machen. Sie kommen dann nach, so rasch Sie können. Bis zu ihrer Ankunft wird alles bereit sein, und wir fahren dann gleich ab.« – »Brennen Sie an,« sagte Porthos ein letztes Mal. – Aramis gab ihm das Faß und den brennenden Schwamm und kroch selbst zum Ausgang der Höhle. – Wie ein Leuchtkäfer glühte das Stückchen Schwamm in der Finsternis – der erste Funke eines ungeheuren Brandes – dann glomm die Lunte auf, und während Aramis den Steingang entlangkroch, erstieg Porthos die Wand, hob das Fäßchen hoch empor und zeigte sich in seiner Riesengestalt den verblüfften Feinden. Sie sahen diesen Recken. Geschwärzt von Rauch, bespritzt von Erde und Blut, glich er mehr einem Dämon der Tiefe als einem Menschen. Sie glaubten Vulkan selbst vor sich zu sehen, und sie erkannten den Gegenstand, den die Erscheinung schwang, sahen die brennende Lunte und stoben mit furchtbarem Angstgeschrei auseinander. Doch zu spät! Im mächtigen Bogen, von beiden Armen des Riesen geschleudert, flog das Pulverfaß mitten zwischen sie und explodierte mit einem Krach, der Himmel und Erde einzureißen schien.
Aber so tödlich das gräßliche Wurfgeschoß für die Feinde war, so verhängnisvoll ward es für Porthos selbst. Die Felsenwand, auf deren oberem Rande er stand, senkte sich jäh hernieder, die Steine barsten wie Tannenbretter unter der Axt, und während vor ihm ein entsetzliches Geschrei erklang und in wimmernden Lauten erstarb, während lodernde Flammen hoch emporflackerten und eine riesige Rauchwolke rings die Luft erfüllte, sah sich Porthos in die Tiefe gerissen, Steine, Sand und Erdklumpen hagelten auf ihn hernieder, und bis zum halben Leibe war er zwischen Felsentrümmern eingeklemmt.
Die Explosion der Pulvermassen hatte in diesem Teil der Insel das Antlitz der Erde verändert; die Grotte war aufgerissen worden, die Steinblöcke hatten sich an vielen Stellen auseinandergebreitet, an andern wieder zusammengehäuft. Es war kein unterirdischer Gang mehr da, sondern nur noch ein Gewirr von größeren und kleineren Steinhaufen, und einer von diesen hatte sich um Porthos her gebildet, der nun vor sich die Freiheit sah, den Strand des Meeres und Aramis mit den drei Fischern, die ihn erkannten und ihm zuwinkten. Aber hinter sich hatte er eine schwere Masse Gestein, die er nur mit Aufbietung aller Kraft zurückhielt und die ihm das Genick zu zerquetschen drohte.
»Kommen Sie, kommen Sie!« riefen die Fischer. – »Schnell, schnell!« rief Aramis und streckte die Hände vor, als wollte er seinen Freund zu sich heranziehen.
Der Riese wühlte mit beiden Fäusten zwischen den Steinen. Er reckte Schultern und Hals, um die Last, die ihn von hinten niederdrücken wollte, zurückzuschieben. Aber er vermochte es nicht. Seine Arme beugten sich, sein Kopf senkte sich tiefer und tiefer. Das stämmige Dach seiner Schultern gab nach. – »Porthos! Porthos!« rief Aramis. »So komm doch!« – »Noch warten!« keuchte der Herkules, »noch warten!« – Als d'Herblay die röchelnde Stimme vernahm, sprang er aus dem Kahn und eilte, aller Gefahr ungeachtet, seinem Freunde zu Hilfe. Die Fischer folgten ihm, und alle vier fielen nun über die Steinblöcke her, gegen die Porthos vergebens ankämpfte. Aber sie waren machtlos, sie konnten nicht einmal versuchen, ihn hervorzuziehen, denn beim ersten Ruck wäre der Steinkoloß vollends herniedergestürzt.
»Zu schwer!« stöhnte Porthos. Dann sah er mit traurigem Lächeln Aramis an und murmelte: »Die Beine! die Beine!« – Sein Kopf sank auf die Brust – Schaum trat ihm vor den Mund – man hörte ein knackendes Geräusch – dann sank der Steinblock über ihn und begrub ihn zur Hälfte unter sich. Ihm nach prasselten eine Masse von kleineren Steinen, die die ganze Gestalt des Toten bedeckten.
Aramis, an allen Gliedern bebend, beugte sich hernieder und horchte. Nichts – kein Röcheln mehr – der Riese schlief den Todesschlaf in dem Grab, das Gott ihm nach seiner Größe gemacht hatte.
Der Bischof kehrte mit seinen Freunden zum Boote zurück, langsamer, als er hergekommen. Sie griffen in die Ruder, und in schneller Fahrt flog die Barke über den glatten Meeresspiegel hin. Aramis sah noch immer nach der Stelle, wo die Grotte von Locmaria in ihrem Zusammenbruch die letzte Ruhestätte seines treuen Porthos gebildet hatte. Und so oft er auch versuchte, seine Gedanken auf den Ernst seiner Lage zu konzentrieren, sie kehrten immer wieder zu Porthos zurück, zu dem Stärksten und Einfältigsten der berühmten vier, welcher nun als erster hatte sterben müssen, zermalmt von einem blöden Stein.
Und ihm, dachte er bei sich, ihm, der an allem schuld war, der diesen gutmütigen Freund hintergangen hatte, ihm war die Flucht geglückt – doch nein! sie glückte auch ihm nicht! Denn als er nun den Kopf hob, sah er, daß ein Schiff das Boot verfolgte!
»Monseigneur, man setzt uns nach,« sagte Yves, der Fischer. – Aramis sah nach dem weißen Punkte, den das Segel des feindlichen Kreuzers am Horizont bildete, und nickte düster vor sich hin. Er antwortete nichts und vergrub wieder das Gesicht zwischen den Händen.
»Monseigneur, wir sind verloren!« sprach nach einer Weile der Fischer wieder. »Barmherziger Himmel, sie schießen auf uns!«
Eine Dampfwolke zeigte sich unter den Segeln, breitete sich aus, wie eine Blume, die sich entfaltet, und verflog; dann sah man etwa hundert Meter vor dem Hinterteil des Bootes eine Kugel ins Meer sausen, eine Furche im Wasser aufwühlen und verschwinden, gleich einem Steine, den ein Knabe über einen Teich schwippt. –
»Monseigneur, sie bohren uns in Grund!« rief der Fischer und warf sich mit den andern vor Aramis auf die Knie. »Geben Sie uns Absolution, Herr Bischof!«
»Ihr vergeßt, sie können euch sehen,« sagte d'Herblay. – »Es ist wahr,« antworteten die Seemänner, sich ihrer Schwachheit schämend. »Befehlen Sie, Monseigneur, wir sind bereit, für Sie zu sterben!« – »Wir warten auf sie,« sagte Aramis ruhig. »Es bleibt uns nichts weiter übrig.« – Sie ließen die Ruder ruhen und zogen das Segel ein. Das feindliche Schiff kam mit Windeseile heran. Die ganze Mannschaft stand auf Deck, die Waffen in der Hand, die Kanoniere sah man an den Stücken, die brennenden Lunten bereithaltend. Man hätte meinen mögen, sie seien auf dem Punkte, eine Fregatte zu entern, nicht aber ein Boot anzuhalten, in welchem sich nur vier Menschen befanden.
»Ergebt euch!« rief der Kapitän. – Aramis nickte nur mit dem Kopfe, und Yves, der Fischer, winkte mit seinem Taschentuche. – »Dreien von euch schenke ich das Leben!« rief der Kapitän. »Einem aber nicht, und das ist Chevalier d'Herblay.« – »Hören Sie, Monseigneur?« rief Yves. – »Ja,« antwortete der Bischof. – »Was sollen wir tun?« – »Annehmen!« Und Aramis spielte mit seinen weißen Fingern in dem grünlich schwarzen Wasser, als wenn er überlegte, ob er sich ergeben oder ertränken solle. – »Wir nehmen es an!« rief Yves. »Wer aber bürgt uns dafür, das Ihr Wort haltet?« – »Mein Name und mein Stand,« rief der Kommandant zurück. »Ich bin Leutnant der königlichen Fregatte Pomona und heiße Constant von Pressigny!«
Der Bischof hatte sich schon mit halbem Leibe über den Bord des Bootes geneigt. Als er diesen Namen hörte, richtete er sich auf. Mit leuchtenden Augen und einem geheimnisvollen Lächeln rief er: »Werft die Strickleiter!«
Er faßte sie als erster und kletterte hinauf. Die Fischer folgten, das Boot ließ man mit den Wellen treiben. Festen Schrittes trat Aramis auf den Kommandanten zu, sah ihn starr an und machte mit der rechten Hand ein geheimnisvolles Zeichen. Leutnant von Pressigny erblaßte, zitterte und trat zurück. Darauf hob Aramis die Rechte und ließ ihn den Stein eines Ringes sehen, den er an dieser Hand trug. Und der Kommandant ergriff diese Hand, neigte sich über sie und küßte sie, wie man die Hand eines Kaisers küßt. Er führte den seltsamen Gefangenen in seine Kajüte.
Die drei Fischer sahen sich verwundert an, die Schiffsmannschaft verhielt sich schweigend. Fünf Minuten später wurde der zweite Leutnant in die Kajüte gerufen, und als er wiederkam, erscholl der Befehl, gen Süden zu steuern. Die Leute gehorchten ohne Widerrede, obwohl man, um nach Belle-Ile zurückzukehren, Kurs nach Norden hätte nehmen müssen.
Aramis erschien auf Deck und setzte sich auf ein zusammengerolltes Segel. In Träume versunken, sah er nach der Richtung aus, in der Belle-Ile lag. Yves, der Fischer, näherte sich ihm ehrfurchtsvoll und fragte leise: »Monseigneur, wohin geht die Fahrt?« – »Nach Spanien,« antwortete Aramis kurz. – Yves schüttelte den Kopf; hatte er doch beim Mondschein auf den Wangen des Bischofs Tränen gesehen.
Ja, Aramis weinte. Es waren die ersten Tränen, die aus diesen Augen rannen. Und sie galten dir, guter Porthos!
5. Kapitel. »Ich bin der Kopf«
D'Artagnan kehrte in bitterster Entrüstung nach Nantes zurück. Er begab sich sofort ins Schloß und verlangte den König zu sprechen. Als er aber das Vorzimmer betrat, kam Herr von Gevres, ein Gardeoffizier, ihm entgegen und ersuchte ihn sehr höflich, sich ruhig zu verhalten, da Majestät noch schlafe. – »Wann wird der König aufstehen?« fragte d'Artagnan. – »In zwei Stunden etwa,« antwortete der Offizier. »Er ist die ganze Nacht auf gewesen.« – Der Musketier ging und kam in zwei Stunden wieder. Man sagte ihm nun, der König säße beim Frühstück. – »Mein Anliegen ist so wichtig,« erwiderte er, »daß der König mich während des Essens anhören wird.« – Herr von Brienne, der Kammerherr vom Dienst, antwortete, Majestät habe ausdrücklich befohlen, während der Mahlzeit niemand vorzulassen. –
»Sie wissen wohl nicht, Herr,« sagte d'Artagnan, »daß ich zu jeder Zeit Einlaß habe?« – »Aber nicht hier in Nantes,« erwiderte der Höfling. »Majestät hat hier eine andere Hausordnung bestimmt.« – »Wann ist der König fertig mit dem Frühstück?« fragte der Musketier.
»Das weiß man nicht.« – D'Artagnan fühlte, wie ihm die Wut zu Kopfe stieg. Er fürchtete, durch eine unbedachte Handlung alles zu verderben, und ging.
»Der König will mich nicht empfangen, das ist ganz klar.« dachte er. »Er denkt, ich könnte ihm unangenehme Dinge sagen. Und inzwischen belagert man Belle-Ile, erobert es, fängt meine Freunde, hängt sie auf. Tod und Teufel! Aramis wird sich zu helfen wissen, um ihn ist mir nicht bange; aber Porthos, der gute Porthos! Ob ich zu Colbert gehe? Ja, ich will ihm einen Schreck einjagen!« Und er eilte zu Colberts Wohnung, wo er erfuhr, der Intendant arbeite mit dem König. – »Also zurück zum Schlosse!« sprach der Musketier.
Herr von Lyonne, der Sekretär, kam aus dem Vorzimmer, trat auf d'Artagnan zu und sagte, Majestät habe sich vorgenommen, die ganze Nacht hindurch zu arbeiten, und es sei streng angeordnet worden, niemand zu ihm zu lassen. – »Wenn dem so ist,« rief nun d'Artagnan mit überlauter Stimme, »wenn der Kapitän der Musketiere nicht mehr wie früher zum König darf, dann ist entweder der König gestorben oder der Kapitän in Ungnade gefallen. In beiden Fällen braucht man ihn nicht mehr. Gehen Sie also zum König, Herr von Lyonne, Sie stehen ja in Gunst, und sagen Sie ihm, ich bitte um meinen Abschied.« – Lyonne ging und kam wieder.
»Was hat der König gesagt?« rief d'Artagnan. – »Majestät haben gesagt, es sei gut.«
»Es sei gut!« rief der Gaskogner. »Also er nimmt meinen Abschied an? So bin ich frei! Nun denn, Gott befohlen! Leb wohl, o Schloß, leb wohl, Korridor und Vorzimmer! Ein Bürger, der endlich aufatmen kann, ruft euch Valet zu!« – Er sprang die Treppe hinab und eilte in den Gasthof, wo er logierte. Er befahl, ein Pferd zu satteln und Proviant zurechtzulegen, denn er wollte am Abend um acht Uhr die Reise nach Vannes antreten. Zu dieser Zeit wollte er denn auch zu Pferde steigen, als Herr von Gevres mit zwölf Gardisten im Gasthofe erschien.
»Guten Abend, Herr d'Artagnan!« rief er. »Man sollte meinen, Sie wollten fortreiten? Vortrefflich, daß ich Sie noch treffe.« – »Suchten Sie mich?« fragte der Gaskogner. »Etwa gar im Namen des Königs?« – »Mein Gott, ja.« – »Sie sollen mich wohl verhaften, wie ich vor ein paar Tagen Herrn Fouquet verhaften mußte?«
»O nicht doch!« – »Warum kommen Sie dann mit zwölf Mann zu mir?« – »Ich mache eben meine Runde,« antwortete Herr von Gevres lächelnd. »Da treffe ich Sie gerade und fordere Sie auf, mit mir zu kommen.«
»Wohin denn?« – »Zum König.«
»Gut!« rief d'Artagnan. »Also vorwärts. Verhaftete kommen zwischen den sechsten und siebenten Mann.« – »Da ich Sie aber nicht verhafte,« antwortete Gevres, »so tun Sie mir den Gefallen, mit mir zusammen hinterdrein zu reiten.« – »Sehr wohl, Herzog, und ich muß gestehen,« sagte d'Artagnan, »wenn ich je eine Runde zu Ihnen hin hätte reiten müssen, so würde ich ebenso höflich mit Ihnen verfahren sein. Und was will der König?«
»O, er ist wütend!« – »Hat er sich die Mühe genommen, in Wut zu geraten, so wird er sich auch die Mühe nehmen, wieder ruhig zu werden,« sagte der Gaskogner. »Ich werde daran nicht sterben, das versichere ich Ihnen.« – »Nein, aber –« – »Aber man wird mich dem armen Fouquet Gesellschaft leisten lassen, meinen Sie? Ei, er ist ein wackrer Mann. Wir werden gut miteinander auskommen.« – »Kapitän, wir sind am Ziele,« antwortete Gevres. »Bewahren Sie Ihre Ruhe.«
»Ei, wie höflich Sie sind!« entgegnete der Chevalier. »Man sagt, Sie wünschten Ihre Garden mit meinen Musketieren vereint zu sehen. Hier scheint sich eine Gelegenheit dazu zu bieten.« – »Ich werde mich hüten, einen solchen Anlaß zu benützen; denn wenn ich Ihr Nachfolger würde, nachdem ich Sie verhaftet habe –« – »Ah, Sie gestehen also, daß Sie mich verhafteten –?« – »Nein, nein!« – »Nun, so sagen wir wieder, Sie haben mich nur angetroffen. Wenn Sie also mein Nachfolger würden, nachdem Sie mich angetroffen – was dann?« – »Dann würden Ihre Musketiere beim ersten Scharfschießen aus Versehen nach mir hinknallen.« – »Den Teufel auch, das könnte passieren,« murmelte d'Artagnan, »die Schlingel hängen an mir!«
Man hörte im Kabinett den König laut mit Colbert sprechen. Herr von Gevres blieb an d'Artagnans Seite. Das Gerücht, der Kapitän der Musketiere sei verhaftet worden, verbreitete sich im Schlosse. Und nun sah man, wie zur guten alten Zeit Ludwig XIII., die Musketiere sich im Hofe zusammenscharen, die Offiziere traten zu Gruppen zusammen, und dumpfes Murmeln pflanzte sich fort bis in die Korridore. »Es wäre doch wunderbar,« dachte d'Artagnan, »wenn meine Prätorianer mich zum König von Frankreich ausriefen. Wie würde ich darüber lachen!« Allein im selben Moment verstummte alles. Die Soldaten, die Offiziere, die Höflinge – alle zerstreuten sich, verloren sich, verschwanden; ein einziges Wort hatte genügt, die Gärung zu beschwichtigen: es gab kein Ungewitter, keinen Aufruhr mehr. Der Kammerherr vom Dienst hatte in den Hof hinabgerufen: »Ruhe! Man stört den König!«
»Es ist aus,« murmelte d'Artagnan, »die Musketiere von heute sind nicht mehr die Musketiere von ehedem!«
»Herr d'Artagnan zum König!« rief der Kammerherr.
Der König kehrte der Tür den Rücken zu, aber in einem vor ihm hängenden Spiegel konnte er mit einem Blick sehen, wer eintrat. Er verzog keine Miene, als er d'Artagnan kommen sah, sondern breitete mit ruhiger Hand das grünseidene Tuch über seine Papiere, das dazu diente, seine Dokumente unberufenen Augen zu entziehen. Der Gaskogner kannte dieses Manöver und stellte sich so, daß der König ihn im Spiegel nicht mehr sehen konnte und infolgedessen fragen mußte: »Ist Herr d'Artagnan nicht hier?« – »Hier bin ich,« antwortete der Musketier vortretend.
»Nun, mein Herr,« sprach der König, sein klares Auge auf den Chevalier heftend, »was haben Sie mir zu sagen?« – »Ich, Sire?« entgegnete jener. »Nichts, außer daß Sie mich verhaften ließen und ich eben hier bin.« – Der König wollte entgegnen, er habe ihn nicht verhaften lassen, doch erschien ihm diese Phrase einer Ausrede gleichzukommen, und er schwieg. D'Artagnan schwieg ebenfalls.
»In welchem Auftrage hatte ich Sie nach Belle-Ile geschickt, Herr?« sprach der König dann. »Sagen Sie mir das gefälligst.« – »Sie wollen also wissen, was ich in Belle-Ile getan habe?« versetzte der Gaskogner, den festen Blick des Königs erwidernd. »Das weiß ich nicht, Sire. Danach muß man mich nicht fragen. Danach muß man die endlose Reihe von Offizieren fragen, denen man unzählige Befehle aller Art mitgab, während man mir, dem Führer der Expedition, gar keinen bestimmten Auftrag gab.« –
Der König antwortete pikiert: »Herr, man erteilte Befehle nur solchen Leuten, welche man für treu hielt.«
»Es mußte mich wundernehmen,« fuhr der Kapitän fort, »daß ein Mann, der dem Range nach so hoch steht wie ein Marschall von Frankreich, unter die Befehle von sechs Leutnants gestellt wird, die wohl zu Spionen taugen mögen, nicht aber zu Führern einer kriegerischen Expedition. Ich kam hierher, Eure Majestät um Aufklärung zu bitten, aber der Zutritt wurde mir verweigert – ein letzter Schimpf, der mich veranlaßte, den Dienst Eurer Majestät zu verlassen.« – »Herr,« rief der König, »Sie glauben immer noch in einer Zeit zu leben, wo die Könige sich nach ihren Untergebenen zu richten hatten. Sie vergessen, daß ein König nur Gott Rechenschaft über seine Handlungen schuldig ist.«
»Das vergesse ich durchaus nicht, Sire,« antwortete der Chevalier gekränkt. »Ich begreife nicht, inwiefern es beleidigend für einen König ist, wenn ein ehrbarer Mann ihn fragt, in welcher Hinsicht er ihm schlecht gedient habe.« – »Sie haben mir schlecht gedient, indem Sie meine Feinde beschützten,« rief Ludwig XIV. – »Wer sind Ihre Feinde?« versetzte der Gaskogner. – »Die Männer, gegen die ich Sie geschickt habe!« – »Zwei einzelne Männer – Feinde Ihrer ganzen Armee! Kaum glaublich, Majestät!« – »Sie haben an meinem Willen nicht herumzudeuten!« – »Aber ich habe an meine Freundschaften zu denken!«
»Wer seinen Freunden dient, dient nicht seinem Herrn!« rief der König. – »Ich habe das so wohl eingesehen, Sire, daß ich um meinen Abschied bat,« antwortete d'Artagnan. – »Und ich habe ihn angenommen,« sprach der König. »Doch ehe ich mich von Ihnen trenne, wollte ich Ihnen beweisen, daß ich mein Wort zu halten weiß.« – »Majestät haben mehr als Wort gehalten,« entgegnete der Gaskogner kalt, »denn Sie ließen mich verhaften, und das hatten Sie mir nicht einmal versprochen.« – Ludwig XIV. nahm diesen Hohn verächtlich auf. – »Sie sehen, wozu mich Ihr Ungehorsam getrieben hat,« sagte er gelassen.
»Mein Ungehorsam!« rief d'Artagnan, vor Zorn erglühend. – »Das ist noch gelinde ausgedrückt,« versetzte Ludwig. »Ich wollte Rebellen fangen und bestrafen. Hatte ich danach zu fragen, ob diese Rebellen Ihre Freunde seien?« – »Aber ich hatte danach zu fragen!« erwiderte der Chevalier. »Es war grausam von Eurer Majestät, mich auf den Fang von Freunden auszuschicken, welche ich Ihrem Galgen überliefern sollte!« – »Es war eine Probe, Herr, die ich mit einem Manne anstellte, der sich immer meinen treuen Diener nannte und als solcher mein Brot ißt. Die Probe ist schlecht ausgefallen, Herr!«
»Nun, für diesen einen schlechten Diener, den Majestät damit verlieren,« versetzte der Kapitän bitter, »haben Majestät zehn gefunden, die an demselben Tage ihre Probe bestanden haben. Nun ja, Sire! ich bin ein rebellischer Mensch, wenn sich's darum handelt, etwas Böses zu tun, und es war etwas Böses in meinen Augen, zwei
Männer zu Tode zu hetzen, um deren Leben Fouquet, Ihr Retter, Sie gebeten hatte. Obendrein waren diese Männer meine Freunde. Aber warum mußten Sie mich verdächtigen, ehe ich etwas getan hatte? Warum mußten Sie mich mit Spionen umgeben? Warum mich vor der Armee entehren? Sie hatten mir Ihr ganzes Zutrauen geschenkt, dreißig Jahre lang habe ich an Ihnen gehangen, ich habe Ihnen tausend Beweise der Ergebenheit und Aufopferung gegeben, und nun mußte ich 3000 Soldaten gegen zwei einzelne Männer ins Feld führen!«
»Ja, vergessen Sie denn, was diese Männer an mir getan haben?« rief der König in dumpfem Tone, »daß ich durch diese Männer um ein Haar verloren gewesen wäre?« – »Und vergessen Sie denn, Sire, daß ich noch da war?« rief d'Artagnan. – »Genug, genug, Herr d'Artagnan, mit diesen persönlichen Rücksichten, die meinen höheren Rücksichten im Wege sind! Ich gründe einen Staat, in welchem es nur einen Herrn geben soll. Das habe ich mir einstmals gelobt; das habe ich Ihnen einstmals versprochen. Jetzt ist der Augenblick gekommen, mein Versprechen einzulösen. Sie sollen nach Ihrem Geschmack und um Ihrer Freundschaft willen befugt sein, meine Pläne zu vereiteln und meine Feinde zu retten? Nein! entweder Sie gehorchen mir, oder Sie verlassen mich! Suchen Sie sich einen Herrn, der dazu Ja und Amen sagt. Ich glaube es gern, mancher andere König würde sich Ihnen fügen, mit dem Hintergedanken, daß er es ja immer in der Hand habe, Sie eines Tages dorthin zu schicken, wo Herr Fouquet jetzt weilt. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und für mich sind Dienste, die man mir geleistet, ein geheiligter Anspruch auf meine Dankbarkeit und auf milde Beurteilung, wenn ich strafen muß. Herr d'Artagnan, Ihnen soll zur Strafe für Ihren Mangel an Disziplin nur diese Lektion zuteil werden. Nachdem ich nicht ebenso gnädig gewesen bin wie meine Vorgänger, will ich nun auch nicht ebenso brutal sein. Noch andere Gründe veranlassen mich, milde mit Ihnen zu verfahren: erstens sind Sie ein Mann von Geist, Einsicht und Herz und werden dem ein guter Diener sein, der Sie zu zähmen vermocht hat; zweitens haben Sie jetzt keinen Grund mehr zur Insubordination; denn inzwischen haben meine Soldaten die Rebellen von Belle-Ile gefangengenommen oder getötet.«
D'Artagnan erblaßte. »Gefangen oder getötet!« rief er. »O, Sire, wenn das wahr wäre, so würde ich vergessen, das Sie mir eben Gerechtes und Großmütiges gesagt haben, und Sie einen barbarischen König, einen unnatürlichen Menschen nennen! Aber ich vergebe Ihnen diese Worte,« setzte er mit stolzem Lächeln hinzu, »ich vergebe sie dem jungen Fürsten, der noch nicht weiß, noch nicht beurteilen kann, was Männer wie d'Herblay, wie du Vallon, wie ich sind! Gefangen oder getötet? Ha, sagen Sie mir dann auch, wieviel Geld, wie viele Menschen es Sie gekostet hat, und lassen Sie uns den Gewinn nach dem Einsatz berechnen!«
Der König trat voll Zorn dicht vor ihn. »Herr! Sie antworten mir da wie ein Rebell!« rief er. »Wer ist König von Frankreich? Ich oder ein anderer?« – »Sire!« versetzte der Musketier kalt, »ich erinnere mich, daß Sie diese Frage eines Morgens in Vaux an viele Leute gestellt haben, die alle nichts darauf zu antworten wußten, während ich Ihnen Antwort gab. Wenn ich den König an jenem Tage erkannt habe, wo es gar nicht so leicht war, so halte ich es für unnötig, diese Frage heute an mich zu stellen, wo ich mit Eurer Majestät allein bin.«
Ludwig XIV. schlug die Augen nieder; die Erinnerung an den unglücklichen Philipp war ihm peinlich. Ein Offizier trat ein und reichte dem König eine Depesche; er öffnete sie, las und erblaßte. – »Herr d'Artagnan,« sagte er rasch entschlossen, »was man mir hier meldet, das sollen Sie später erfahren. Es ist besser, Sie hören es aus dem Munde Ihres Königs als von anderer Seite. In Belle-Ile ist gekämpft worden.«
»Ah,« sagte der Gaskogner ruhig, aber sein Herz schlug so heftig, als wollte es die Brust zersprengen. – »Und bei diesem Kampfe habe ich 106 Mann verloren,« fuhr der König fort. – D'Artagnans Augen flammten auf vor Freude und Stolz. – »Und die Rebellen?« fragte er. – »Sind entflohen,« antwortete der König. – D'Artagnan stieß einen Schrei des Triumphes aus. – »Gemach!« setzte der König hinzu. »Meine Flotte hat Belle-Ile so eng umstellt, daß sie nicht entschlüpfen können. Wenn man sie aufgreift, hängt man sie.« – »Und wissen sie das?« fragte d'Artagnan erbebend. – »Wie Sie es gewußt haben, wie ganz Frankreich es weiß.«
»Dann werden sie sich nicht lebendig fangen lassen, Sire, dafür bürge ich.« – »So wird man sie tot aufgreifen, was auf dasselbe hinauskommt,« versetzte der König. »Ich habe Ihnen gesagt,« fuhr er fort, »ich würde Ihnen eines Tages ein wohlgeneigter, edeldenkender, wortgetreuer König sein. Sie sind nun der einzige noch von früher her, der eins von beiden verdient: meinen Zorn oder meine Freundschaft. Eines von beiden soll Ihnen zuteil werden je nach Ihrem Verhalten. Und das entscheidet sich heute. Herr d'Artagnan, wollen Sie einen Mann zum König haben, der sich vor hundert andern durch nichts auszeichnet? Und könnte ein so schwacher König das Große ausführen, das meinem Geiste vorschwebt? Haben Sie je einen Künstler mit widerspenstigem Werkzeug große, ewige Werke schaffen sehen? Herr d'Artagnan, ich allein bin Herr in meinem Reiche, und ich will Diener haben, die die Ergebenheit, den Gehorsam bis zum Heroismus steigern – mögen sie auch nicht den Geist haben, den Sie besitzen! Was liegt daran, ob sie Geist haben. Gott gibt den Geist nicht den Füßen und den Armen, sondern dem Kopfe. Und dem Kopfe gehorcht alles übrige. Der Kopf bin – ich!«
D'Artagnan erschrak. Ludwig XIV. sprach weiter, als hätte er nichts bemerkt, obwohl dieses Erschrecken ihm keineswegs entgangen war. – »Wir beide schließen jetzt die Rechnung ab, die an jenem Tage offenbleiben mußte, wo Sie mich in Blois so klein und schwach fanden. Wissen Sie mir Dank, Herr, daß ich niemand die Tränen der Wut und der Beschämung entgelten lasse, die ich damals vergossen habe! Sehen Sie sich um, die großen Häupter sind gebeugt. Nun müssen auch Sie sich beugen – oder ins Exil gehen. Treffen Sie Ihre Wahl! Wenn Sie nachdenken, werden Sie sich vielleicht sagen, dieser König sei doch ein edler Mensch, denn er lasse Sie, der Sie im Besitz des gefährlichsten Staatsgeheimnisses sind, als einen Mißvergnügten dennoch unangefochten ziehen. D'Artagnan, warum haben Sie vor der Zeit ein Urteil über mich gefällt? Richten Sie heute abend über mich und seien Sie dann so streng wie Sie wollen!«
Verblüfft, stumm, schwankend stand der alte Krieger vor dem jungen Fürsten. Er erkannte in ihm einen Gegner, der seiner würdig war. Das war nicht mehr Hinterlist, das war feinste Berechnung: das war nicht mehr Gewalttätigkeit, das war Kraft; nicht mehr Zorn, sondern Wille; nicht mehr Ruhmrederei, sondern Urteil. Der junge Mann, der Fouquet zu Boden geschmettert hatte, beugte nun auch den starren Nacken d'Artagnans.
»Nun, was zaudern Sie?« fragte der König. »Sie haben Ihren Abschied eingereicht – soll ich ihn verweigern? Ich gebe zu, es ist schwer für einen alten Kapitän, etwas zurückzunehmen, was er im Groll gesprochen hat.«
»O, das ist das Schwerste nicht,« entgegnete der Musketier traurig. »Das Schwerste ist, ich bin alt gegen Sie, und ich bin durch viele, viele Jahre an manches gewöhnt, das sich nicht leicht ablegen läßt. Sie brauchen künftig Höflinge, die Ihnen was vormachen können, Hanswurste, die sich für das, was Sie Ihre großen Werke nennen, abstechen lassen. Wohl, wohl, groß werden diese Werk sein, ich fühle es – aber mein Gott, wenn ich sie doch nicht für gar so groß halten könnte! Ich habe unter Richelieu und Mazarin gedient, ich habe mich mit Ihrem Vater zusammen am Feuer von Larochelle versengt, mein Leib ist voller Wunden gewesen, durchlöchert wie ein Sieb, und ich habe zehnmal eine neue Haut bekommen, wie eine Schlange. Nachdem ich lange Zeit unter Schmähungen und Ungerechtigkeit zu leiden hatte, bekam ich endlich ein Kommando, das früher wenigstens insofern einigen Wert hatte, als man damit das Recht erhielt, mit dem König von der Leber weg zu reden. Aber künftighin wird es mit Ihrem Musketier-Kapitän anders bestellt sein. Er wird nur eine Art Türhüter sein dürfen. Wahrlich, Sire, für dieses Geschäft tauge ich schlecht. Glauben Sie nicht, ich hegte einen Groll wider Sie! O nein, Sie haben mich gezähmt, wie Sie sagen – aber der gezähmte d'Artagnan ist auch nicht mehr der frühere, ist nicht mehr so stark, so unbeugsam, so wagemutig. Was meinen Sie? Wird es nicht lächerlich sein, wenn ich nun noch den Kopf hochtrage, wo ich doch nichts weiter hier soll, als den Staub Ihrer Teppiche schlucken? Sire, Sie haben Höflinge genug, streuen Sie ihnen Puder in die Haare, setzen Sie ihnen goldene Borten auf die Röcke, und Sie können jederzeit Herzöge, Pairs, Marschälle haben. Das sind die besten Diener – sie tun alles für die Hand, die sie füttert. Doch was schwatze ich das alles aus? Der König ist mein Herr – o, Sie wußten recht wohl, ich kann ohne einen König, dem ich diene, nicht leben! Nun denn, mein König will, daß ich ein Höfling werde, Verse drechsle und mit seidenen Schuhen seinen Parkettfußboden glatt schleife – Donnerwetter! das ist schwer, aber ich habe Schwereres vollbracht! Ich werde es tun. Warum? Geld habe ich – mein Ehrgeiz ist befriedigt. Darin also liegt der Grund nicht! Nein, ich bleibe, weil ich es seit dreißig Jahren gewöhnt bin, nach den Befehlen meines Königs zu fragen und ihn sagen zu hören: Guten Abend, d'Artagnan! mit einem Lächeln, das ich mir noch nie erbettelt habe. Nun aber werde ich es mir erbetteln – Sire, sind Sie zufrieden?«
Und langsam neigte sich der graue Kopf des Kriegsmannes hernieder. Der König legte lächelnd die weiße Hand darauf und sagte voll Stolz: »Dank, alter treuer Diener und lieber Freund! Von heute ab habe ich keine Feinde mehr in Frankreich, ich muß dich also in ein fremdes Land schicken, damit du dir den Marschallstab verdienst. Das soll geschehen, sobald sich die Gelegenheit bietet. Ich bürge dir dafür. Bis dahin iß mein bestes Brot und schlaf ruhig.«
»Und die armen Leute auf Belle-Ile?« fragte d'Artagnan. »Zumal einer, der so gut und so tapfer ist?« – »Bittest du um Gnade für sie?« – »Auf den Knien. Majestät!« – »Nun denn, bring ihnen meine Gnade, wenn es noch Zeit ist. Du bürgst mir aber für sie.« – »Mit meinem Leben, Sire.« – »Gehen Sie. Morgen kehre ich nach Paris zurück. Eilen Sie, daß Sie wieder hier sind, denn ich will Sie allzeit um mich haben.« – »Seien Sie unbesorgt, Sire!« rief d'Artagnan und küßte die Hand des Königs.
Er reiste auf der Stelle nach Belle-Ile, kehrte zurück und begleitete den König nach Paris. Aber obwohl er 24 Stunden lang die sorgsamsten Erkundigungen eingezogen, hatte er doch nichts Gewisses erfahren können. Man erzählte ihm nur alles, was die beiden tatkräftigen Männer, seine Freunde, auf der Insel gegen eine ganze Armee ins Werk gesetzt hätten, und daß sie schließlich auf einem Boote die Flucht ergriffen hätten, von einer königlichen Fregatte hart verfolgt. Darüber hinaus war nichts Genaues mehr zu ermitteln. Das Geheimnis des Felsengrabes von Locmaria ward ihm nicht kundgemacht. Er sah sich also auf das Gebiet der Vermutungen gestoßen; doch was sollte er denken? Die Fregatte war nicht zurückgekehrt – Stürme hatten zwar auf der See geherrscht, allein das Schiff war sehr seetüchtig, wie er hörte, und niemand nahm an, daß es untergegangen sein könnte. Mehr wußte d'Artagnan nicht, als er wieder in Nantes eintraf.
Nach Paris zurückgekehrt, war Ludwig eben erst aufgestanden und hatte gefrühstückt, als der Kapitän seiner Musketiere, blaß und aufgeregt, vor ihm erschien.
»Sire, mir ist ein großes Unglück widerfahren,« sagte er. »Ich habe eben einen Brief erhalten, der mir mitteilt, daß einer meiner Freunde, Baron du Vallon, auf Belle-Ile ums Leben gekommen ist.« – »Das wußte ich,« sagte der König. – »Sie wußten es und verschwiegen es mir?« rief der Musketier. – »Ich wollte Ihnen keinen Schmerz bereiten, mein Freund. Sie hätten vielleicht gestern noch geglaubt, ich wolle über Ihr Unglück triumphieren.
Ich weiß, Herr du Vallon liegt unter den Trümmern von Locmaria begraben, und Herr d'Herblay hat mir ein Schiff mitsamt der Mannschaft weggenommen, um sich nach Bayonne bringen zu lassen. Aber ich wollte, Sie sollten das durch unmittelbare Erkundigung erfahren, damit Sie sich überzeugt hielten, daß Ihre Freunde mir heilig sind, daß der Mensch in mir sich gern den Menschen opfert, da der König in mir so oft gezwungen ist, die Menschen seiner Majestät und Macht zu opfern.«
»Aber, Sire, woher wissen Sie–?« – »Woher wissen Sie es nun selbst?« – »Durch einen Brief, den mir Aramis aus Bayonne geschickt hat.« – »Und ich durch einen Brief, der acht Stunden vor dem Ihrigen von Colbert aus bei mir eintraf. Nicht wahr, ich bin gut bedient?« – »Ja, Sire, aber Sie werden das nun nicht mißbrauchen –« – »D'Artagnan,« antwortete Ludwig XIV. lächelnd, »ich könnte Herrn d'Herblay noch in Spanien verhaften lassen, allein er ist frei und wird frei bleiben.« – »O, Sire,« sprach der Musketier, »so gütig werden Sie nicht immer denken; es wird sich eine Stimme finden, die Sie von diesem Edelmut abzubringen suchen wird.« – »Sie irren, d'Artagnan, der Rat, Herrn d'Herblay nicht weiter zu verfolgen, rührt von Colbert selbst her. Und ich will Ihnen noch ein weiteres Geheimnis offenbaren, das der eigentliche Grund ist, weshalb Herr d'Herblay unangefochten bleiben muß. Ihr guter Freund, Aramis, der Musketier, der Bischof von Vannes, der Staatsverbrecher von Vaux, ist General des Jesuitenordens. Herr Colbert hat das durch Frau von Chevreuse erfahren.«
D'Artagnan riß die Augen weit auf und stieß nur ein lautes »Ah!« der höchsten Verwunderung hervor.
»Ich habe Ihnen noch mehrere gute Nachrichten mitzuteilen; aber Sie sollen sie erst in dem Augenblick hören, wo ich mit meinen Abrechnungen fertig sein werde. Ich sage nur, ich will Ihr Glück begründen – und das ist keine leere Phrase.« – »Tausend Dank, Sire, ich kann warten!« antwortete der Musketier. »Machen Sie einstweilen die armen Leute glücklich, die schon seit langem in Ihrem Vorzimmer warten, um Ihnen eine Bittschrift zu Füßen zu legen.« – »Wer sind sie?« – »Feinde Eurer Majestät – Freunde des Herrn Fouquet,« sagte d'Artagnan. – »Wie heißen sie?« – »Gourville, Pelisson und der Dichter Lafontaine.« – »Was wollen sie?« – »Ich weiß es nicht.« – »Wie kommen sie?« – »In Trauer.« – »Was tun sie?« – »Sie weinen.« – »Sie mögen eintreten,« sprach der König, die Stirn runzelnd.
D'Artagnan hob den Vorhang auf, der den Eingang in das Königszimmer verhüllte, und rief in den Vorsaal: »Hereinführen!« – Darauf erschienen drei Männer, bei deren Annäherung die im Vorsaal weilenden Höflinge entsetzt zurückwichen, als fürchteten sie, durch die Berührung mit diesen Freunden eines Geächteten besudelt zu werden. D'Artagnan aber schritt auf sie zu und reichte einem von ihnen die Hand. So führte er sie vor den Lehnstuhl des Königs. Ludwig ließ sie sich vorstellen. Pelisson weinte nicht mehr; aber er hatte den Tränen nur gewehrt, um deutlich sprechen zu können und von Seiner Majestät besser verstanden zu werden. Gourville biß sich auf die Lippe, um aus Ehrfurcht vor dem König keine Träne mehr sehen zu lassen. Lafontaine konnte das Schluchzen nicht unterdrücken und preßte das Taschentuch vors Gesicht.
Der König stand würdevoll und leidenschaftslos vor
ihnen. Er machte eine Bewegung, welche besagte: »Nun, so rede doch einer!« und sah mit gerunzelter Stirn von einem zum andern. Pelisson krümmte sich bis zur Erde, und Lafontaine kniete sogar nieder, wie man es in der Kirche tut. Das peinliche Schweigen fing an, nicht das Mitleid, sondern die Ungeduld des Königs wachzurufen. – »Herr Pelisson,« sprach er kurz. »Herr Gourville und Sie, Herr – –« er nannte Lafontaine nicht beim Namen – »es mißfällt mir, daß Sie vor mich treten, um für einen der größten Verbrecher zu bitten, den meine Gerechtigkeit bestrafen mußte. Ein König läßt sich nur durch Tränen der Unschuld und durch die Reue des Schuldigen rühren. Ich werde aber weder an die Reue des Herrn Fouquet noch an die Tränen seiner Freunde glauben, denn der eine ist bis ins Herz hinein verderbt, und die andern müssen fürchten, mich in meinem eigenen Palast zu beleidigen. Deshalb, Herr Pelisson und Herr Gourville, sagen Sie kein Wort, das nicht laut die Ehrfurcht bezeugt, die Sie meinem Willen zollen!«
»Sire,« antwortete Pelisson, bei diesen furchtbaren Worten zitternd, »uns führt nur die Absicht her, Eurer Majestät unsere tiefste Demut und Ergebenheit zu beteuern. Die Gerechtigkeit Eurer Majestät ist streng, alle Welt muß sich Ihren Beschlüssen beugen. Auch wir beugen uns in der Ehrfurcht und der aufrichtigen Liebe, die alle Untertanen dem König schuldig sind. Fern liegt es uns, den Mann zu verteidigen, der das Unglück hatte, Eure Majestät zu beleidigen. Ein Mann, der sich Ihre Ungnade zugezogen hat, kann uns wohl ein Freund bleiben, für den Staat aber ist er ein Feind. Wir werden ihn weinend der Strenge des Königs überlassen.«
Beschwichtigt durch diese überzeugenden Worte und ihren demutsvollen Ton, antwortete Ludwig XIV: »Im übrigen wird mein Parlament urteilen. Ich strafe nicht, ohne daß das Verbrechen nachgewiesen wird. Meine Gerechtigkeit hat neben dem Schwert auch eine Wage. Was haben Sie von mir zu erbitten?«
»Sire,« sprach Pelisson, »der Angeklagte hinterläßt Frau und Kinder. Das Vermögen, das man noch bei ihm vorfand, reicht kaum hin, seine Schulden zu decken. Seine Frau ist seit seiner Verhaftung von aller Welt verlassen. Die Hand Eurer Majestät schlägt ebenso wie die Hand Gottes. Wenn der Herr über eine Familie die Plage des Aussatzes verhängt, so meidet jeder die Wohnung des Aussätzigen. Nur bisweilen wagt sich ein todesmutiger Arzt über die Schwelle und setzt sein Leben ein, um die Unglücklichen zu heilen. Sire, mit aufgehobenen Händen und auf den Knien flehen wir zu Ihnen, wie zu einer Gottheit: Frau Fouquet hat niemand mehr auf dieser Welt, keinen Freund, keinen Helfer, sie weint in ihrem ausgeplünderten Hause, verlassen von allen, die in den Tagen des Glücks ihre Tür belagert haben. Der Unglückliche, den Ihr Zorn getroffen hat, erhält wenigstens von Ihnen trotz seiner Schuld Speise und Trank. Aber Frau Fouquet, welche die Ehre hatte, Sie an ihrem Tische zu empfangen, Frau Fouquet, die Gemahlin des ehemaligen Finanzministers, Frau Fouquet hat kein Brot mehr!«
Das Grabesschweigen, das während dieser Worte geherrscht hatte, wurde von Schluchzen und Weinen unterbrochen, selbst d'Artagnan, dem die Brust zersprang, als er dieses demütige Flehen hörte, drehte sich um und kaute heftig an seinem Schnurrbart. Das Auge des Königs blieb trocken, aber seine Wangen röteten sich, sein Blick verlor ein wenig die ihm eigene imponierende Sicherheit. »Was wünschen Sie also?« fragte er bewegt.
»Wir bitten Eure Majestät in aller Demut,« fuhr Pelisson fort, »um Erlaubnis, Frau Fouquet die 2000 Pistolen leihen zu dürfen, die wir und einige frühere Freunde ihres Gemahls zusammengesteuert haben, um die Witwe vor äußerster Not zu schützen.« Als Pelisson die Frau des noch lebenden Fouquet eine Witwe nannte, erblaßte der König; sein Stolz sank, das Mitleid drängte sich aus dem Herzen auf seine Lippen. Er warf einen Blick der Rührung auf die zu seinen Füßen schluchzenden Männer und erwiderte: »Gott verhüte, daß ich mit den Schuldigen die Unschuldigen treffe! Wer bezweifelt, daß ich für die Schwachen Barmherzigkeit übrig hätte, der kennt mich schlecht. Tun Sie für Frau Fouquet, was Ihr Herz Ihnen eingibt, meine Herren, lindern Sie ihr Leid, soweit sie können. Gehen Sie, meine Herren, gehen Sie!«
Sie standen auf; doch hatten sie nicht die Kraft mehr, dem König zu danken, der übrigens ihre feierlichen Verbeugungen nur flüchtig erwiderte und sich rasch hinter seinen Lehnstuhl zurückzog. – »Gut!« sprach d'Artagnan zu dem jungen Fürsten, der ihn fragend ansah. »Wenn Sie nicht schon die Devise hätten, die Ihre Sonne ziert, so würde ich Ihnen die folgende empfehlen: Sanft gegen die Schwachen, streng gegen die Starken!« – Der König lächelte und ging in den Vorsaal. Auf der Schwelle sprach er zu d'Artagnan: »Sie sind beurlaubt. Bringen Sie die Angelegenheiten Ihres verstorbenen Freundes du Vallon in Ordnung.«
6. Kapitel. Rudolfs und Athos' Tod
Während alle diese Ereignisse die einst unzertrennlichen vier Musketiere auseinanderbrachten, weilte Athos, Rudolfs und Grimauds beraubt, allein in Blois, und die Einsamkeit rieb seine Kräfte auf und machte ihn in kurzer Zeit zum Greise. Schmerzen und Beschwerden, die er früher nie gekannt, stellten sich nun plötzlich ein, Schwermut, Gram und Verzweiflung überkamen ihn immer unwiderstehlicher. Der Graf de la Fère, der Mann des Krieges, war bei allem Ungemach, das er erlitten, bei allen Gefahren, die er bestanden, bis in sein 62. Lebensjahr hinein ein Jüngling geblieben. Als er seinen Sohn verloren, war er in acht Tagen ein alter Mann geworden.
Noch immer schön, obwohl gebeugt, noch immer edel, obwohl tieftraurig, sanftmütig und wankend unter seinen erbleichenden Haaren, schritt er allein, ein Bild der Verlassenheit, im Park seiner Besitzung auf und ab. Er bestieg kein Pferd mehr, er nahm keinen Degen mehr zur Hand, er ritt nicht mehr auf die Jagd – er machte nur noch täglich einen kurzen Spaziergang, sonst saß er still und regungslos in seinem Stuhle oder lag wohl gar im Bett. Seine Diener erschraken, wenn sie ihn so teilnahmlos sahen; sie fürchteten alles Ernstes für seinen Verstand, und als er gar anfing, tagsüber mitten über seinen Träumereien einzuschlafen, da holten sie einen Arzt. Der aber konnte nicht helfen; er erfuhr nicht einmal die Ursache dieser Umwandlung des Grafen.
»Herr,« sprach der wackere Mann schließlich, um einen letzten Versuch zu machen, den Kranken zum Reden zu bringen, »Sie sind ein guter Christ. Würden Sie sich das Leben nehmen?« – »Niemals, Doktor,« antwortete Athos. – »Nun denn, Sie tun es, wenn Sie in diesem Zustande bleiben,« sagte der Doktor, »das ist Selbstmord. Also werden Sie gesund.« – »Ich bin ja gar nicht krank,« entgegnete de la Fère. »Ich habe mich nie so wohl gefühlt, ich liebe den Himmel, die Sonne und meine Blumen wie nie zuvor.«
»Aber Sie nähren einen verborgenen Gram!« – »Verborgen? Nicht doch! Mein Sohn ist in der Ferne, das ist mein Kummer, daraus mache ich gar kein Hehl.«
»Aber Ihr Sohn lebt, ist rüstig und hat eine glänzende Zukunft vor sich,« rief der Arzt. »Leben Sie für ihn!« – »O, seien Sie unbesorgt, solange Rudolf noch nicht tot ist, werde ich am Leben bleiben.« – »Wie meinen Sie das?« – »Ganz einfach. Ich lasse das Leben sozusagen in der Schwebe, Doktor. Verlangen Sie doch von einer Lampe nicht, daß sie brenne, wenn kein Funke an den Docht gelegt wird. Verlangen Sie nicht von mir, daß ich ein Leben voll Licht und Geräusch führe, solange mein Sohn fort ist. Ich vegetiere, ich halte mich bereit, ich warte. Ich bin wie ein Soldat, der auf seine Einschiffung wartet; er gehört noch nicht dem Fahrzeug an, das ihn aufs Meer tragen soll, doch auch nicht mehr ganz der Erde, von der er scheiden soll. Sein Gepäck ist bereit – er schaut nach dem fernen Horizont und wartet. So steht es mit mir. Sobald der Ruf erschallt, breche ich auf. Von wannen wird dieser Ruf ausgehen? Vom Leben oder vom Tode?«
Der Doktor kannte diese feste, eiserne Seele, und da er wußte, daß Arzeneien ein Unding wären, so ging er fort, nachdem er der Dienerschaft empfohlen hatte, ihren Herrn keinen Augenblick allein zu lassen. In der Nacht nach dem Besuch des Doktors träumte Athos von Rudolf: Der junge Mann kleidete sich in seinem Zelt an, um auf eine Expedition zu gehen, mit der Herr von Beaufort ihn betraut hatte. Er war traurig und schnallte sich langsam das Schwert um. – »Was hast du?« fragte ihn sein Vater zärtlich. – »Ich bin betrübt, daß Porthos gestorben ist,« antwortete Rudolf. »Das schmerzt mich hier ebenso tief, wie es Sie dort schmerzt.« – Athos erwachte; der Tag brach an, und man meldete ihm alsbald, ein Brief aus Spanien sei angekommen. – Er erkannte die Schrift d'Herblays. »Aramis schreibt mir,« sagte er, öffnete den Umschlag und las.
»Porthos ist tot!« rief er nach den ersten Zeilen. »O, Rudolf, daran erkenne ich, du hältst dein Versprechen, du gibst mir Nachricht!« – Und von kaltem Schweiß übergossen, sank er ohnmächtig auf sein Bett.
Als er zu sich kam, schämte er sich fast, daß ein solches Traumgesicht ihn so erschüttert habe. Er vollendete die Lesung des Briefes, der ihm von den Vorgängen auf Belle-Ile Kunde gab, und beschloß, nach Pierrefonds zu reisen und dann mit d'Artagnan nach der Insel zu fahren, wo er die Stelle besichtigen wollte, an welcher der treue, gute Porthos den Tod gefunden. Aber kaum hatten seine Diener ihn angekleidet, froh, ihn zu einer Reise entschlossen zu sehen, kaum war das Pferd gesattelt, so fühlte Athos sich plötzlich wieder von Schwäche befallen und vermochte keinen Schritt zu tun. Man brachte ihn auf eine Bank, wo er sich niederließ, den Kopf in beide Hände nahm und eine ganze Stunde in einem halb bewußtlosen Zustande verharrte. Als er aufstehen konnte, nahm er Suppe und Wein zu sich. Er stieg dann wirklich mühsam in den Sattel und ritt fort.
Nach hundert Schritten begann er heftig zu zittern. »Halten wir an, gnädiger Herr,« sagte der Diener, der ihn begleitete, »Sie werden blaß.« – »Das soll mich nicht hindern, den einmal eingeschlagenen Weg fortzusetzen,« antwortete Athos und ließ dem Pferd den Zügel. – Aber nach wenigen Schritten schon blieb das Tier ein zweitesmal stehen, anscheinend von selbst und gegen den Willen seines Herrn. – »Ein Etwas will, daß ich nicht weiterreite,« sprach Athos. »Schnell – alle Kräfte verlassen mich – hilf mir herab, sonst falle ich aus dem Sattel.« Der Bediente fing den Herabsinkenden in den Armen auf. Da sie noch nicht weit vom Hause entfernt waren, konnte er die andern Diener herbeirufen, und man führte nun den Grafen in sein Zimmer zurück, wo er sich sofort wohler fühlte. Dennoch kam er auf seinen Entschluß zurück und ließ sich das Pferd wieder vorführen. Als er die Hand an den Zaum legte, bäumte sich das Tier, riß sich los und lief ein Stück weit weg. Athos schüttelte den Kopf. – »Ich soll daheim bleiben,« sagte er, »das ist klar. Also fügen wir uns.«
Er kehrte ins Haus zurück und legte sich zu Bett. Er schlummerte ein, aber der Schlaf war nicht erquickend. Der Tag verging; Athos hatte bestimmt Nachrichten aus Afrika erwartet, aber es kam kein Brief an. Wenn der Kurier nicht infolge einer geringen Verspätung über Nacht anlangte, dann mußte der Graf, da Depeschen aus Afrika nur alle acht Tage befördert wurden, eine neue Woche qualvoller Ungewißheit erdulden. Während er dies bedachte, schlief er ein, und mitten in die Gefilde von Afrika ward er im Geist geführt. Er sah den trocknen Wüstensand zu seinen Füßen, er fühlte die brennende Sonne des Südens auf seiner Haut, und heißer Wind blies gegen seine glühende Stirn an.
Auf dem dürren Gelände lag eine kleine Ortschaft, aus der dichter Rauch aufwirbelte, Flammen schossen gen Himmel, ein roter Wirbel umhüllte alles. Gräßliches Geschrei zerriß die Luft. Balken stürzten, Steine prasselten hernieder. Aber obwohl ein schreckliches Gewirr von Stimmen erscholl, sah man doch kein menschliches Antlitz. Aus der Ferne klangen Kanonenschüsse herüber, Musketensalven knatterten, das Meer brüllte, Getier flüchtete in langen Sätzen über den Boden – und doch sah man keinen Soldaten mit Lunte oder Flinte, keinen Hirten jener Tiere, keinen Bewohner der Gegend.
Die Nacht brach herein – ein sternenheller Himmel stand über der Szene der Verwüstung, tiefes Schweigen lag über der Landschaft. Der Mond ging auf, und in seinem bleichen Lichte sah Athos nun Leichen ringsum am Boden liegen. Angst und Schrecken ergriffen ihn, als er die Uniformen französischer Soldaten erkannte und die Musketen erblickte, mit dem Zeichen der Lilie am Schaft. Und im Traum schritt Athos von einer Leiche zur andern und neigte sich über alle diese toten Gesichter herab, und diejenigen, die nach unten gekehrt waren, drehte er herum. Den er suchte, fand er nicht.
Während sein Auge nach allen Seiten umherirrte, sah er plötzlich eine weiße Gestalt erscheinen, die ein zerbrochnes Schwert in der Hand hatte und langsam, mit herabhängenden Armen, mit starrem Blick herankam. Da erkannte er Rudolf. Athos wollte schreien, aber die Kehle war ihm zugeschnürt. Die Erscheinung winkte ihm auch zu schweigen, indem sie einen Finger auf den Mund legte. Dann wich sie zurück, und Athos, wie gebannt, folgte ihr. Rudolf schien den Boden nicht zu berühren; mühelos schwebte er dahin, während die Füße des Grafen von Gestrüpp und dornigem Gesträuch zerrissen wurden. Erschöpft hielt er inne, doch Rudolf winkte noch immer. So folgte er ihm abermals, bis er den Gipfel eines Hügels erstiegen hatte. Von der höchsten Kuppe hob sich die weiße, lichte Gestalt Rudolfs im Schimmer des Mondes duftig ab. Athos streckte die Hände aus – da hob die Erscheinung sich von der Erde auf und begann zum Himmel emporzuschweben.
Athos stieß einen Schrei aus und erwachte. Im selben Augenblick wurde an die Tür geklopft. Der Graf richtete sich auf und rief: »Ein Kurier aus Afrika, nicht wahr?« – »Nein, gnädiger Herr!« antwortete eine Stimme, bei deren Klang Athos zu Tode erschrak.
»Grimaud!« stöhnte er. – Und der Schweiß rann ihm über die abgezehrten Wangen herab. – Grimaud erschien auf der Schwelle, doch nicht mehr der Grimaud von früher, ja nicht einmal der, der mit Rudolf zusammen das Schiff betreten hatte. Ein bleicher, hagerer Greis mit weißem Haar, der sich an den Türpfosten lehnte, um nicht umzufallen. Diese beiden Männer, die so viele Jahre gemeinsam verlebt, so vieles zusammen getragen hatten, diese zwei Freunde, die dem Herzen nach einer so edel waren wie der andere, wenn auch durch Geburt und Vermögen ungleich – diese beiden verstummten jetzt, als sie einander erblickten. An der Veränderung, die mit ihnen vorgegangen, erkannten sie, was geschehen war. In demselben Tone, in dem Athos im Traum zu Rudolf gesprochen, wandte er sich nun an Grimaud: »Rudolf ist tot, nicht wahr?« – Hinter Grimaud standen zitternd die Diener, sie hörten die furchtbare Frage ihres Herrn; man hätte glauben mögen, in dem tiefen Schweigen, das auf einen Augenblick herrschte, alle Herzen schlagen zu hören.
»Ja!« antwortete Grimaud. – Athos hob die Augen zu Rudolfs Bilde empor, das über seinem Bette hing – und die Wirklichkeit verlor sich für ihn. Dieses Bild wurde in seinen Augen eins mit jener weißen Gestalt in der Wüste. Er lächelte, er sah Rudolf vor sich durch die Luft gen Himmel schweben, wie eben noch im Traum. Die Hände über der Brust gefaltet, den Blick auf das Bild geheftet, ging Athos, geführt von der reinen, keuschen Seele seines Sohnes, ins Paradies ein. Leise, so daß man ihn kaum verstand, murmelte er die Worte: »Hier bin ich.« Dann sank er zurück. Liebreich war der Tod diesem Gerechten gegenübergetreten: Er hatte ihm Krämpfe und Zuckungen erspart, er ließ ihn hinübergehen mit dem Lächeln eines Mannes, der eine süße Melodie hört. Die Ruhe seiner Züge, der Friede seines Antlitzes, seiner ganzen Haltung ließen seine Dienerschaft lange daran zweifeln, ob er auch wirklich gestorben sei.
Alle entfernten sich – nur Grimaud blieb, und man ließ ihn auch dort, denn man fürchtete, er würde beim ersten Schritt aus dem Zimmer hinaus tot umfallen. Der Alte kauerte sich vor dem Bette seines toten Herrn nieder und saß dort regungslos – er hätte nicht sagen können, wie lange. Da erklang eine Stimme, vibrierend wie Stahl. »Athos! Athos!« – Grimaud erhob sich und ging dem Manne entgegen, der mit kriegerischem Schritt herangestürmt kam. »Herr d'Artagnan!« rief er.
»Wo ist Athos?« rief der Musketier. – Grimaud nahm ihn bei der Hand und führte ihn stumm ans Bett, von dessen weißem Tuch schon die fahle Farbe des Leichnams abstach.
D'Artagnan schrie nicht auf – er röchelte nur dumpf. Er preßte die Fäuste auf die Brust und senkte tief das Haupt. Dann kniete er nieder und legte das Ohr auf
das Gewand des Toten. Kein Laut – kein Atemzug! – Grimaud setzte sich ans Fußende und drückte die Lippen auf das Laken, das über den starren Füßen seines Gebieters lag. Der in Tränen zerfließende, in stummem Schmerz hingesunkene Greis bot das rührendste Schauspiel dar, das d'Artagnan je in seinem vielbewegten Leben gesehen hatte.
Der Musketier küßte Athos auf die Stirn und drückte ihm mit zitternden Fingern die Augen zu. Dann setzte er sich ans Kopfende, ohne Scheu vor diesem Toten, der zu Lebzeiten dreißig Jahre lang liebreich und wohlwollend gegen ihn gewesen war. Er versenkte sich in die Erinnerungen, die das edle Antlitz des Grafen in ihm wachrief, von denen die einen freundlich waren wie das Lächeln des Toten, die andern starr, finster und düster, wie der Tod selbst.
Da stand er auf – mit einem Male übermannte ihn der Schmerz, er brach in herzzerreißendes Schluchzen aus und stürzte hinaus, die Faust gegen die Lippen pressend, um das Weinen zu unterdrücken. Nach einer Weile ging er wieder hinauf und rief Grimaud an, der regungslos an derselben Stelle geblieben war. Der treue Mensch kam heran und folgte d'Artagnan.
»Grimaud«, sprach der Musketier, den Greis bei den Händen nehmend, »ich fand den Vater tot – nun sage mir, wie der Sohn starb.«
Grimaud nahm einen Brief aus der Tasche, der an Athos gerichtet war. D'Artagnan kannte die Schrift des Herzogs von Beaufort, erbrach das Siegel und las im ersten Schein des dämmernden Tages, was der Herzog in seiner steifen, unbeholfenen Schülerschrift an Athos schrieb. – »Lieber Graf! Inmitten eines großen Triumphes trifft uns ein großes Unglück: der König hat einen seiner tapfersten Offiziere verloren, ich einen Freund, Sie einen Sohn. Herr von Bragelonne hat einen glorreichen Tod gefunden. Empfangen Sie meinen traurigen Gruß, lieber Graf! Der Himmel verhängt über uns die Prüfungen je nach der Größe unseres Herzens. Die Prüfung, die jetzt Ihnen zuteil wird, ist sehr schwer, aber nicht über Ihre Kraft. – Ihr Freund Herzog von Beaufort.«
An diesen Brief schloß sich ein vom Sekretär des Prinzen geschriebener Bericht: eine rührende, getreue Schilderung der Episode, die den Faden zwischen zwei Herzen zerschnitt. Gewöhnt an Schlachten und Kriegsgeschichten, gefeit gegen wehmütige Vorfälle, erschauerte d'Artagnan dennoch, als er nun vom Tode Rudolfs las, vom Tode des geliebten Kindes, das auch er wie einen Sohn gehalten hatte:
»Am frühen Morgen erging der Befehl zum Angriff. Die Soldaten der Normandie und der Picardie besetzten die Stellung an den grauen Felsen, an deren Abhängen sich die Bastionen von Gigelli erheben. Die Artillerie eröffnete die Schlacht; die Lanzenknechte gingen mit erhobenen Piken vor, die Musketiere hatten die Gewehre im Arm. Der Prinz folgte mit einer starken Reserve den Vorrückenden.
Neben ihm ritten die ältesten Kapitäne und die Adjutanten.
Herr von Bragelonne erhielt den Befehl, an der Seite Seiner Hoheit zu bleiben.
Die feindlichen Kanonen hatten sich nach einigen mißlungenen Schüssen besser gerichtet, und ein paar Kugeln trafen jetzt Leute aus der Umgebung des Prinzen. Die Regimenter rückten gegen die Wälle vor und erlitten einen übeln Empfang. Der Ansturm geriet ins Stocken, zumal unsere Artillerie die Truppe mangelhaft unterstützte. Sie mußte von unten nach oben schießen, was für die Tragweite wie für die Treffsicherheit ungünstig war. Der Prinz sah dies und befahl den in der kleinen Bucht ankernden Fregatten, von dort aus ein regelmäßiges Feuer gegen die Festung zu eröffnen. Diesen Befehl zu überbringen, erbot sich Herr von Bragelonne; allein Monseigneur weigerte sich, ihm den Auftrag zu erteilen. Der Sergeant, der abgeschickt wurde, war glücklich bis an das Gestade des Meers gelangt, als zwei Schüsse aus langen Büchsen vom Feinde abgegeben wurden und ihn niederstreckten.
Der Prinz sprach darauf zu Herrn von Bragelonne: ›Sie sehen, ich erhalte Ihnen das Leben. Sagen Sie das später dem Grafen de la Fère, er wird mir Dank wissen.‹
Der junge Mann lächelte traurig und antwortete: ›Allerdings, Hoheit. Ohne Ihr Wohlwollen läge ich jetzt dort, wo der Sergeant liegt – doch wohl ihm! er hat Ruhe.‹ – ›Bei Gott!‹ rief der Prinz, ›man möchte glauben, der Mund wässere Ihnen; aber bei der Seele Heinrichs IV., ich habe Ihrem Vater versprochen, Sie lebendig zurückzubringen, und so Gott es zuläßt, will ich mein Wort halten.‹ Herr von Bragelonne errötete und erwiderte: ›Verzeihung, Hoheit, ich habe stets gern jede Gelegenheit ergriffen, mich auszuzeichnen, und es ist süß, das Lob seines Generals zu erringen, zumal wenn dieser General der Herzog von Beaufort ist.‹
Inzwischen hatte der Kommandant der Flotte erkannt, worum es sich handle und eröffnete das Feuer von selbst. Die Araber, nun von zwei Seiten beschossen, erhoben ein furchtbares Geschrei, ihre Häuser stürzten ein, Brand und Tod griffen um sich. Da warfen sie sich im Galopp unserer Infanterie entgegen, die mit gefällten Lanzen diesen Angriff abwies. Zurückgeworfen, sprengten sie auf den Generalstab ein, der in diesem Augenblick ganz ohne Deckung war. Die Gefahr war groß; Monseigneur zog den Degen; die Offiziere seines Gefolges begannen den Kampf.
Nun konnte Herr von Bragelonne das Verlangen sättigen, das ihn von Anbeginn dieses Feldzugs erfüllte. Er focht an der Seite des Prinzen und tötete im Handumdrehen drei Araber. Mit furchtbarem Ungestüm stürzte er sich auf die Feinde; es schien, als wollte er sich im Waffengetümmel, im blutigen Gemetzel berauschen. Man schlug die Angreifer zurück, und Monseigneur rief Herrn von Bragelonne zu einzuhalten. Er mußte das hören, denn wir alle hörten es. Er hielt jedoch nicht inne, sondern verfolgte den Feind und sprengte gegen die Verschanzungen. Wir wunderten uns über diesen Ungehorsam, und Monseigneur rief mit erhobener Stimme: ›Zurück, Herr von Bragelonne! Wo wollen Sie hin? Zurück, ich befehle es Ihnen!‹
Aber Herr von Bragelonne ritt weiter auf die Palisaden los. – ›Halt! Halt im Namen Ihres Vaters!‹ rief der Prinz, so laut er konnte. – Bragelonne wandte nur den Kopf nach uns um und zeigte uns ein von Schmerz verzerrtes Gesicht, allein er ritt weiter. Da begriffen wir, er war nicht mehr Herr seines Pferdes – das Tier ging mit ihm durch.
›Musketiere!‹ schrie der Herzog, ›schießt auf sein Pferd! Hundert Pistolen dem, der es trifft!‹ – Aber niemand wagte es; denn es war sehr schwer, das Pferd zu treffen und den Reiter nicht zu verwunden. Da trat ein Soldat vor, ein sehr geschickter Schütze, legte an, schoß und traf das Tier in das Kreuz, denn wir sahen die weiße Decke sich vom Blute röten. Aber es stürzte nicht, es raste nur um so wilder weiter. Man schrie ihm zu, er solle sich vom Sattel werfen. Er war nun schon auf Pistolenschußweite bis an den feindlichen Wall herangekommen; eine Salve krachte auch schon und umhüllte ihn mit einer Wolke von Rauch. Als der Dampf sich zerteilte, sahen wir ihn zu Fuße, sein Pferd lag am Boden. Die Araber forderten ihn auf, sich zu ergeben. Er aber schüttelte den Kopf und schritt ruhig weiter auf die Palisaden zu. Das war sehr unbesonnen, aber die ganze Armee wußte ihm Dank, daß er nicht einen Schritt zurückwich, obwohl er den Tod vor Augen hatte. Als er so weiterschritt, klatschten ihm die Regimenter Beifall.
Eine zweite Salve zerriß die Luft; der Vicomte von Bragelonne verschwand abermals im Pulverrauch. Doch als diesmal der Qualm verflogen war, sahen wir ihn nicht mehr auf den Füßen; er lag im Grase, und die Araber stürzten aus den Verschanzungen hervor, um zu ihm zu eilen und ihm den Kopf abzuschneiden, wie es die Ungläubigen mit den Leichen machen.
Da rief der Herzog: ›Grenadiere, Lanzenknechte, laßt euch diesen edeln Toten nicht rauben!‹ Und er lief selbst mit geschwungenem Degen auf die Feinde los. Die Soldaten eilten ihm nach, und ein furchtbarer Kampf entspann sich um den Leichnam des Herrn von Bragelonne. Die Araber verloren 160 Mann, wir 50, aber wir trugen den Toten mit uns fort. Und der Erfolg, den wir in diesem Kampf errungen, war entscheidend, denn die Regimenter gingen nicht wieder zurück, sondern drangen noch weiter vor und stürmten die Palisaden. Um drei Uhr hörte der Feuerwechsel auf, das Handgemenge begann und währte zwei Stunden. Um fünf Uhr aber waren wir Herren an allen Punkten, der Feind ergriff auf der ganzen Linie den Rückzug, und auf der höchsten Stelle des Berges wehte das Banner der Lilie.
Nun konnten wir erst Herrn von Bragelonne betrachten; er hatte acht Schußwunden, allein er atmete noch. Der Herzog ließ sofort seine Aerzte kommen und versprach jedem tausend Louisd'ors, wenn sie ihn retteten. Sie sondierten die Wunden. Dabei schlug Herr von Bragelonne noch einmal die Augen auf und sah die Aerzte mit starren Blicken an. Und nun schien er ganz bei Bewußtsein und zu hören, wie die Aerzte zu Monseigneur sagten: Drei Wunden seien allerdings tödlich, da aber der Kranke eine kräftige Natur habe und die Barmherzigkeit Gottes unendlich sei, so bestehe noch Hoffnung, daß der Totgeglaubte am Leben erhalten würde. Aber man dürfe ihn nicht einmal mit den Fingern anrühren; schon daran könne er sterben.
Der Herzog rief erfreut: ›O, Bragelonne, wir werden dich retten!‹ – Ein düsteres Lächeln huschte über die Lippen des Verwundeten. – Eines Abends nun, als man glaubte, der Kranke sei aus dem Schlummer erwacht, trat einer der Lazarettgehilfen in das Zelt und kam mit lautem Geschrei herausgestürzt. Wir eilten herzu, der Prinz mit uns, und wir sahen Herrn von Bragelonne auf der Erde liegen, in einer Blutlache schwimmend. Er bewegte sich nicht mehr. Man hob ihn auf und fand in seiner rechten Hand eine blonde Haarlocke.«
An diesen Bericht schlossen sich mehrere Mitteilungen über den Verlauf der Expedition und die Unterwerfung der Araber. D'Artagnan las das nicht mehr. Für ihn hatte der Brief nach der Schilderung von Rudolfs Tode kein Interesse mehr. »Unglückliches Kind!« stöhnte er. »Ein Selbstmord!« Und indem er zu den Fenstern hinaufsah, hinter denen Athos den ewigen Schlaf hielt, sagte er: »Sie haben einander Wort gehalten. Sie sind im Tode vereint.«
Am folgenden Tage kamen die Landleute und die Edelherren der Umgebung an, um an der Leichenfeier teilzunehmen. D'Artagnan schloß sich ein – er wollte mit niemand sprechen. Der sonst so unbeugsame Geist war durch diese zwei Todesfälle niedergeschmettert. Er schrieb an den König und bat um Verlängerung des Urlaubs. Nur von Grimaud ließ er sich bedienen, sonst durfte niemand zu ihm.
Der treue Alte trat ein und winkte dem Chevalier, ihm zu folgen. Er führte ihn in das Zimmer des Grafen und deutete auf das leere Bett, dann schritt er mit ihm zum Salon, wo der Landessitte gemäß der Tote aufgebahrt worden war. Doch d'Artagnan blieb betroffen stehen, denn er erblickte zwei Särge, und in dem einen sah er Athos, in dem andern Rudolf von Bragelonne liegen.
»Rudolf war hier!« rief der Gaskogner. »Und das hast du mir nicht gesagt, Grimaud!« – Der Alte schüttelte den Kopf, hob sacht das Laken und zeigte d'Artagnan die Wunden, aus denen das Leben des Jünglings entflohen war.
Der Kapitän wandte sich schluchzend ab. Und da Grimaud nichts weiter sagte, so fragte er auch nicht. Später dachte er daran, daß der Sekretär Beauforts noch vieles geschrieben, was er nicht mehr gelesen hatte. Er nahm den Bericht noch einmal zur Hand und las nun alles bis zu Ende. Da stand im letzten Abschnitt folgendes:
»Der Herzog hat Bragelonnes Leiche nach arabischer Weise einbalsamieren lassen und ein Schiff beordert, das den Sarg unter Obhut des treuen Dieners, der dem jungen Manne gefolgt war, auf der Stelle nach Frankreich bringt.«
»Nun, so werde ich auch dir die letzte Ehre erweisen können, armer Junge,« sprach d'Artagnan zu sich. »Ich alter nichtsnutziger Mann werde den Staub auf deine Stirn streuen, die ich vor zwei Monaten noch geküßt habe. Gott hat es so gewollt. Du selbst hast es gewollt. Ich habe kein Recht zu weinen. Du hast dir den Tod gewählt, weil du ihn dem Leben vorzogst.«
Eine große Menge Volkes, Landleute, Edelherren und Bürger nahmen an dem Begräbnis teil. Die kleine Kapelle, die Athos zu seiner letzten Ruhestätte bestimmt hatte, lag im äußersten Teil des Parks, von Pappeln und Maulbeerbäumen, Flieder und Weißdorn umstanden. Bienen umschwärmten das blühende, und duftende Gesträuch, Finken und Rotkehlchen sangen in den Zweigen ihre lieblichen Melodien.
Schweigsam bewegte sich der Leichenzug nach dieser Stätte, und als man die Särge hinabgesenkt in die ehrwürdige alte Gruft, als man den Toten das letzte Lebewohl zugerufen, zerstreute sich die Menge, tiefergriffen, und leise sprachen die Leute untereinander von den Tugenden des Vaters, von den Hoffnungen des Sohnes und von seinem traurigen Ende. Der Klang des Glöckleins, das der Ministrant läutete, verlor sich in der Ferne.
D'Artagnan blieb allein zurück. Er lehnte an einem Baum und starrte nach der kleinen Kapelle hin, die so viel Teures in sich schloß. Da sah er eine Frauengestalt am Boden knien. Sie preßte weiße Hände mit schlanken Fingern vor das Gesicht. D'Artagnan trat geräuschlos näher, um diese Betende nicht zu stören und gleichwohl zu erkennen, wer sie sei. Da er jenseits des Parkzauns jetzt eine Kalesche mit Kutscher und Dienern halten sah, deren Anfahrt er in seiner Träumerei nicht gehört hatte, erriet er, daß es eine Dame von Stand sei. Sie betete inbrünstig, und d'Artagnan hörte ein paarmal von ihren Lippen leise, doch eindringlich das Wort: »Verzeih! verzeih!«
Er wollte hinzutreten, um sie anzusprechen und ihrer Trauer zu entreißen, da sah sie auf, und er erkannte Luise von Lavallière. Sie hob ihr von Tränen überflutetes Gesicht zu ihm empor und nannte ihn beim Namen. – »Sie hier?« sprach der Kapitän dumpf. »Ich hätte lieber ihn und Sie mit Blumen geschmückt im Hause des Grafen de la Fère gesehen. Die beiden da hätten weniger Tränen vergossen – auch Sie und ich.«
»Mein Herr!« schluchzte sie. – »Denn Sie, nur Sie,« fuhr der Unerbittliche fort, »haben diese beiden Männer unter die Erde gebracht.«
»O, schonen Sie meiner!« rief sie. – »Fern sei es von mir, eine Frau zu beleidigen oder sie für nichts zum Weinen zu bringen, aber es muß gesagt werden,« setzte er hinzu, »für den Mörder ist kein Platz am Grabe seiner Opfer.« – Sie wollte antworten. – »Was ich Ihnen da sage,« sprach er hart, »das würde ich dem König selbst sagen.« – Sie faltete die Hände und antwortete: »Ich weiß, ich habe Herrn von Bragelonne in den Tod getrieben. Gestern erfuhr man es bei Hofe. Ich bin die vierzig Meilen hergeeilt, um den Grafen um Verzeihung anzuflehen, da ich ihn noch am Leben glaubte, um auf Rudolfs Grabe Gott zu bitten, daß er mir alles Ungemach schicken möge, das ich verdiene. Und nun muß ich sehen, daß der Tod des Sohnes auch den Tod des Vaters nach sich gezogen hat, daß ich mir somit zwei Verbrechen vorzuwerfen habe und doppelter Strafe verfallen bin!«
»Soll ich Ihnen wiedersagen, Fräulein, was Herr von Bragelonne mir in Antibes sagte, als er schon ans Sterben dachte?« sagte der Musketier. »Stolz und Koketterie haben sie schlecht gemacht, ich verzeihe ihr, während ich sie verachte. Wenn sie aus Liebe fiel, so vergebe ich ihr mit der Beteuerung, keiner hat sie je so geliebt wie ich!«
»Sie wissen, ich wollte mich einmal schon aus Liebe ins Kloster zurückziehen,« erwiderte sie. »Sie wissen, was ich damals gelitten habe; heute aber leide ich noch viel mehr, denn damals hoffte und wünschte ich immer noch. Heute aber habe ich nichts mehr zu hoffen und zu wünschen. Mit diesem Toten sinken alle meine Freuden ins Grab. Vor Gewissensbissen getraue ich mich nicht mehr zu lieben, und ich fühle es, der, den ich liebe, wird mich – o, es ist gerechte Vergeltung – alle Martern empfinden zu lassen, die ich dem andern bereitet habe. O, klagen Sie mich nicht an, Herr d'Artagnan, ich beschwöre Sie! Ich bin ein vom Stamme gerissener Zweig – ich habe keinen Halt mehr auf dieser Welt. Ich liebe noch immer bis zur Raserei, und so gottlos bin ich in dieser Liebe, daß ich sie noch jetzt auf dem Grabe dieses Toten bekenne. Diese Liebe ist für mich wie eine Religion. Nur noch kurze Zeit wird mein Glück währen, vielleicht besteht es schon heute nicht mehr. Sie werden mich bald verlassen, bestraft sehen, wie Sie es nicht schlimmer wünschen können. Vielleicht ist dieser Doppelmord schon jetzt gesühnt.«
Ein königlicher Offizier, in welchem d'Artagnan von Saint-Aignan erkannte, kam zu Pferde, hielt jenseits des Zaunes an und erklärte, er sei beauftragt. Fräulein von Lavallière zum König zurückzuholen, der vor Ungeduld und Eifersucht außer sich sei. Luise entließ ihn mit einer Handbewegung, und er ritt zu dem Kutscher.
»Sie sehen, Fräulein,« sprach d'Artagnan, den Saint-Aignan nicht bemerkt hatte, da er von dem dichten Laub eines Strauchs verdeckt war, »Sie sehen, noch währt Ihr Glück.«
»Sie werden es eines Tages bereuen,« antwortete die Lavalliere, »daß Sie so schlecht über mich dachten. Sie werden mich so viel leiden sehen, daß Sie der erste sein werden, mich zu bemitleiden.« Darauf kniete sie abermals nieder, faltete die Hände und sprach: »Zum letzten Male, verzeihe mir, Rudolf, mein Bräutigam! Ich habe unsere Bande zerrissen. Wir beide müssen daran vor Schmerz sterben. Du bist vorangegangen, ich fürchte mich nicht, dir zu folgen. Sieh, ich bin nicht feige gewesen, ich habe schon Mut genug gezeigt, indem ich hierher kam, dir dieses letzte Lebewohl zuzurufen. Gott ist mein Zeuge, Rudolf, ich hätte mein Leben hingegeben, das deine zu erkaufen. Meine Liebe aber konnte ich dir nicht geben. Nochmals: vergib mir!«
Sie pflückte einen Zweig, steckte ihn in die Erde, wischte die Tränen aus den Augen und ging zu ihrem Wagen. D'Artagnan sah Kutsche, Diener und Reiter verschwinden, kreuzte die Arme über der Brust und sprach vor sich hin: »Wann wird die Reihe an mich kommen? Was bleibt dem Menschen, wenn Jugend, Liebe, Ruhm, Freundschaft, Kraft und Reichtum dahin sind? Der Felsen, unter dem Porthos schläft, der alles das besaß, was ich eben nannte – das Moos, unter dem Athos und
Rudolf schlafen, die noch viel mehr besaßen! Na! immer weiter Schritt vor Schritt! Wenn die Stunde kommt, wird Gott es mir sagen, wie er es den andern gesagt hat.« – Er berührte mit der Fingerspitze die vom Tau des Abends nasse Erde, bekreuzte sich wie mit Weihwasser und schlug allein – allein für immer – den Weg nach Paris ein.
7. Kapitel. Luisens Ende
Vier Jahre waren nach dem Begräbnis der Grafen de la Fère und von Bragelonne verflossen. In der Umgebung von Blois, wo Ludwig XIV. bei Madame zu Gast war, fand eines Tages königliche Jagd statt, und der Kapitän der Falken ritt mit dem Kapitän der Windspiele den hohen Herrschaften voraus. Die beiden Aemter, die diese Herren innehatten, gehörten zu den am besten besoldeten Chargen des Hofs und wurden stets nur Herren aus dem Feudaladel zuteil.
»Sieh da!« rief der Falkonier, »dort kommt der Kapitän der Musketiere. So ist er schon wieder zurück aus Pignerol. Er hat sich gesputet.« – »Herr d'Artagnan altert nie,« sagte der andere, »er sitzt noch im Sattel wie ein Jüngling. Willkommen, Herr Graf!«
Für d'Artagnan war dieser Titel schon nichts Neues mehr; er führte ihn seit drei Jahren. Er redete die beiden Herren freundlich an wie jemand, der einen höheren Rang einnimmt, während sie ihn mit großem Respekt begrüßten. – »Sie haben die 200 Meilen bis Pignerol rasch hin und her gemacht, Herr Graf,« sagte der Kapitän der Windspiele. »So ist nun Herr Fouquet dort. Mich wundert das! Das Parlament hat ihn schuldig gesprochen, und der König begnadigt ihn nun zu lebenslänglichem Gefängnis. Das ist viel Milde für jemand, der den König bestohlen hat.« – »Herr,« antwortete d'Artagnan grob, »wenn man mir sagte, Sie hätten Ihren Hunden die Brotrinden weggegessen, so würde ich es nicht glauben. Wenn Sie aber gar deshalb zu Geißelhieben und Kerker verurteilt worden wären, so würde ich Sie bemitleiden und nie dulden, daß jemand übel von Ihnen spräche. Ich schwöre Ihnen, so ehrbar Sie auch sein mögen, Sie sind es nicht in höherem Maße, als der arme Herr Fouquet es war.«
Der Kapitän der Windspiele senkte den Kopf und schluckte die Lektion ohne Widerrede hinunter.
»Werden wir eine lange Jagd haben?« wandte d'Artagnan sich an den Kapitän der Falken. – »Nein,« antwortete dieser, »der König macht sich nicht viel daraus, er tut es nur, um den Damen Kurzweil zu bereiten.« – »Ah!« machte der Musketier. »Sie lächeln so sonderbar. Ich weiß nichts Neues mehr. Ich bin einen Monat fort gewesen und komme eben erst wieder. Als ich ging, trauerte man um den Tod der Königin-Mutter. Der König schien untröstlich, aber alles nimmt ein Ende. Er ist jetzt nicht mehr traurig, wie mir scheint. Desto besser! Wer ist denn alles mit von der Partie? Wie geht es der Herzogin von Orléans? Wie geht es der Königin?«
»Besser, Herr Graf.« – »So ist sie krank gewesen?«
»Seit dem letzten Verdruß, den es gegeben hat, war sie leidend.« – »Verdruß? Welcher Art?« – »Seit dem Tode ihrer Schwiegermutter fühlte die Königin sich vernachlässigt und beklagte sich beim König, der ihr zur Antwort gab: Schlafe ich nicht jede Nacht bei Ihnen, Majestät? Was wollen Sie mehr?« – »Ah,« rief d'Artagnan, »so haßt sie die Lavallière noch immer?« – »O, die Lavallière nicht mehr,« versetzte der Falkonier. – »Wen denn?«
Der Klang der Jagdhörner machte dem Gespräch ein Ende. Die beiden Herren ritten mit den Hunden und den Vögeln fort. D'Artagnan blieb allein. Nach wenigen Minuten war die Jagdgesellschaft heran. Der König erschien in einer Schar von Herren und Damen. Hinter den Reitern und Reiterinnen sah man drei Kutschen, in denen die Damen saßen. Die erste Kutsche war die der Königin: doch es saß niemand darin. D'Artagnan, der Fräulein von Lavallière suchte, blickte in die zweite Kutsche und sah sie dort mit zwei Ehrendamen. Alle drei schienen sich sehr zu langweilen. An der Seite des Königs aber, wo bisher Luise ihren Platz gehabt hatte, bemerkte d'Artagnan eine andere Frauengestalt: eine stolze, blendende Schönheit. Sie sprach ein paar Worte, und ihre Umgebung zollte ihr durch einmütiges Lachen lauten Beifall – das sicherste Zeichen dafür, daß sie schon in allerhöchster Gunst stand. – »Ah, die Tonnay-Charente,« murmelte d'Artagnan, »die seit kurzem mit Herrn von Montespan verheiratet ist.«
Ludwig XIV. erblickte d'Artagnan. »Wieder zurück, Graf?« rief er, »warum habe ich Sie noch nicht gesehen?« – »Majestät schliefen schon, als ich gestern abend zurückkehrte, und waren noch nicht wach, als ich heute morgen meinen Dienst antrat.« – »Immer derselbe,« sagte Ludwig lächelnd. »Ruhen Sie sich aus, ich befehle es Ihnen, und heute abend speisen Sie mit mir.«
Ein Gemurmel der Bewunderung umschwirrte den Musketier – man drängte sich zu ihm, denn von dem König zu Tisch geladen zu werden, war eine große Ehre. Der König ritt weiter, und d'Artagnan sah sich alsbald von einer anderen Gruppe umringt, in deren Mitte er Colbert erblickte. – »Guten Tag, Herr Graf!« rief der Minister, »Sie sind zur Tafel geladen? Da werden Sie einen ehemaligen Freund von Ihnen wiedersehen.« – »Einen ehemaligen Freund?« antwortete d'Artagnan und versenkte sich schmerzlich in die düsteren Fluten der Vergangenheit, die für ihn so viele Freundschaften und Feindschaften verschlungen hatte. – »Den Herzog von Alameda,« fuhr Colbert fort, »den Unterhändler Spaniens, der heute morgen angekommen ist.« – »Den Namen höre ich zum ersten Male,« sagte d'Artagnan verwundert. »Wer ist das?«
»Ich bin es!« antwortete eine Stimme, und ein Greis mit schneeweißem Haar und gebeugtem Rücken stieg aus der dritten Kutsche. – »Aramis!« rief d'Artagnan verblüfft. Er sprang vom Pferde und ließ sich ohne Widerstreben von den zitternden Armen des alten Seigneurs umfassen. – Colbert ritt fort und ließ die beiden Freunde allein.
»So sind Sie hier?« rief d'Artagnan. »Sie, der Rebell, der Geächtete, der Staatsverbrecher?« – »Ich bin in Frankreich und speise mit dem König,« antwortete d'Herblay lächelnd. »Nicht wahr, nun fragen Sie, wozu die Treue auf der Welt frommt? Lassen wir die Lavallière darauf antworten, die hier an uns vorüberfährt. Sehen Sie, wie ihr von Tränen schimmerndes Auge nach dem König blickt, der mit der Frau von Montespan vorausreitet.« – Sie plauderten während der ganzen Jagd miteinander. D'Artagnan ritt neben der Kutsche d'Herblays her, welche von ihrem Führer so geschickt gelenkt wurde, daß sie gerade in dem Moment zur Jagdgesellschaft zurückkam, als der Falke den Reiher gestoßen hatte und der König vom Pferde sprang. Zu gleicher Zeit schwang sich Frau von Montespan aus dem Sattel. Der Falke war mit dem Reiher in einer kleinen Umfriedung niedergefallen, in deren Mitte man eine alte Kapelle erblickte, rings von dichten Sträuchern und Bäumen umgeben. Während die Gesellschaft um diese Einfriedung einen Kreis bildete, trat der König hinein, um der Sitte gemäß den von dem Falken festgehaltenen Reiher abzufangen und ihm die erste Feder zu entreißen.
»Wissen Sie, wohin der Zufall uns geführt hat?« sprach d'Artagnan zu Aramis. »Bei dieser Kapelle liegen Leute begraben, die wir gekannt haben,« – »Ha!« rief der Bischof erbleichend, und trat mit dem Musketier durch eine kleine Seitenpforte in die Kapelle. »Wo ruhen sie?« – »Sehen Sie das Kreuz unter der Zypresse dort?« antwortete d'Artagnan. »Doch gehen Sie jetzt nicht hin. Der König ist eben dort, weil der Reiher dicht neben das Doppelgrab gefallen ist.«
Sie blieben im Schatten stehen und sahen nun, ohne selbst gesehen zu werden, das blasse Antlitz der Lavallière, die, hingerissen von Eifersucht, aus der Kutsche gesprungen und in die Umfriedung eingedrungen war. Hier sah sie nun, hinter einen Baum geschmiegt, wie der König lächelnd die Hand der Frau von Montespan ergriff und küßte. Dann schmückte er ihren Hut mit der ersten Feder, die er dem Reiher ausgerissen hatte. Sie lächelte ebenfalls und küßte nun auch ihm die Hand. Da errötete der König vor Freude, und aus seinen Augen leuchtete Liebe und Verlangen. – »Und was schenken Sie mir?« fragte er. – Sie brach ein Zweiglein von der Zypresse und bot es dem von seliger Hoffnung berauschten König dar.
»Das ist ein trauriges Geschenk,« murmelte Aramis, »denn die Zypresse beschattet ein Grab.« – »Ja, und zwar das Grab Rudolfs von Bragelonne,« setzte d'Artagnan hinzu, »der hier neben seinem Vater schlummert.« – Ein Seufzer erklang in der Stille dieses Ortes; Luise von Lavallière sank ohnmächtig über das Grab hin. – »Arme Frau!« murmelte d'Artagnan, »wie groß wird ihr Leid in Zukunft sein!«
Am Abend saßen d'Artagnan und d'Herblay an der königlichen Tafel. Der König war sehr zuvorkommend gegen Madame, denn man trieb zu dieser Zeit hohe Politik. Man stand kurz vor der Eröffnung des Krieges mit Holland. Der spanische Unterhändler war zu dem Zweck herübergekommen, um ein Neutralitätsbündnis zwischen Spanien und Frankreich abzuschließen, und von Madame erwartete Ludwig nichts Geringeres als ein gleiches Bündnis mit England. Es ward ihm nicht schwer, sie zu einer Reise nach London zu bestimmen, und sie verlangte als Gegendienst nichts weiter, als daß er ihr versprechen sollte, den Grafen von Guiche, der seit langem vom Hofe verbannt war, zurückzurufen und an seiner Statt den ihr verhaßten Chevalier von Lorraine, der beständig zwischen ihr und Monsieur Feindschaft säte, ins Exil zu schicken. Damit hatte Ludwig sich ihre Fürsprache am englischen Hof leichten Kaufs erworben.
Ludwig XIV. sah sich um, und sein königlicher Blick fiel auf Monsieur, seinen Bruder, der mit Mißtrauen nach ihm und seiner Frau geschaut und sich über ihr langes angelegentliches Gespräch gewundert hatte. – »Mein lieber Bruder,« sprach der König, »ich bin mit dem Chevalier von Lorraine sehr unzufrieden. Sie werden ihm den Rat geben, ein paar Monate auf Reisen zu gehen.« – Diese Worte fielen wie eine Lawine über den armen Herzog von Orléans her, der seinen Günstling vergötterte und ohne ihn nicht leben zu können glaubte. – »Wodurch hat der Chevalier Ihr Mißfallen erregt?« fragte er. – »Das werde ich Ihnen sagen, wenn er abgereist ist,« antwortete Ludwig, »und während Madame in England ist.« – »Was? Madame geht nach England?« rief Monsieur erstaunt. – »Ja, in acht Tagen, lieber Bruder,« erwiderte der König, lächelte seinem Bruder zu und wandte sich an Colbert und Aramis, die inzwischen miteinander verhandelt hatten.
»Nun,« rief er, »werden wir auf Spaniens Neutralität rechnen können?« – »Frankreich mit Holland zu entzweien, entspricht ganz unserer Politik,« antwortete der Herzog von Alameda. »Aber ein Krieg mit Holland wird ein Seekrieg, und in einem solchen wird Frankreich nur obsiegen können, wenn England sich neutral verhält.« – »Dafür ist gesorgt,« sagte Ludwig lächelnd. – »Und dann gehört dazu eine stärkere Flotte, als Frankreich sie besitzt,« fügte Aramis hinzu. – Colbert zog eine Liste aus der Tasche und antwortete: »Hier ist ein Verzeichnis der französischen Schiffe. Wir verfügen über 35 Kreuzer. Daraus werden jetzt schon drei Geschwader gebildet. Bis zum Ende dieses Jahres aber werden wir 50 Linienschiffe haben.« – »Potzwetter!« rief d'Artagnan und riß die Augen auf. »Das ist viel, Herr Colbert. Aber wie steht es mit der Ausrüstung? Wir haben keine Gießerei in Frankreich.«
»Ah,« antwortete der Staatsmann lächelnd, »in anderthalb Jahren habe ich es dahin gebracht, daß wir das alles in Frankreich haben. Sie kennen Herrn d'Infreville nicht? Er gießt jetzt Kanonen für mich in Toulon. Und Sie kennen Herrn Forant nicht? Er hat, die Zeit des Friedens benützend, in Holland selbst für mich Blei, Pulver, Holz, Lunten, Granaten, Schiffsteer und dergleichen in großen Mengen aufgekauft. Das ist um sieben Prozent billiger gewesen, als wenn ich es hier selbst hergestellt hätte. Und Sie kennen auch Herrn Destouches nicht? Das ist ein Mann, der den Schiffsbau aus dem Grunde versteht, und er überwacht jetzt die Herstellung von sechs Schiffen zu je 78 Kanonen. Sie sehen also, ich weiß meine Leute zu finden, und der König wird, wenn es zum Kriege kommt, über eine sehr tüchtige Flotte gebieten. Ob aber die Landmacht gut bestellt ist, das wissen Sie, Herr d'Artagnan, besser als irgendwer.«
Aramis und der Musketier blickten einander an und bewunderten die stille, geheimnisvolle Arbeit, die dieser Mann in so kurzer Zeit geleistet hatte. Colbert lächelte gerührt über diese stumme Schmeichelei, die beste von allen. – »Wenn wir in Frankreich nichts davon erfahren haben,« sprach d'Artagnan, »im Auslande weiß man es erst recht nicht.«
»Und, Herr Herzog,« fuhr Colbert fort, »wenn Spanien neutral bleibt, so wird es England auch tun.« – »In diesem Falle bürge ich für Spaniens Neutralität,« antwortete Alameda. – »Das wird Ihnen den Orden des goldenen Vlieses eintragen, Herr Herzog,« sprach Colbert. Aramis verneigte sich. – »Und Sie, Herr d'Artagnan,« fuhr Colbert fort, »hätten Sie Lust, unsere Landarmee gegen die Holländer zu führen? Ihnen wird das den Marschallstab bringen.« – D'Artagnan wurde blaß vor Freude und griff zitternd nach dem Feldzugsplane, den Colbert ihm reichte.
»Der König wird aus diesem Feldzug als Sieger hervorgehen oder mich nimmer wiedersehen,« sprach er und drückte mit Wärme die Hand des Ministers.
Am folgenden Tage nahm Aramis Abschied von d'Artagnan. Sie lagen sich lange in den Armen. – »Wir müssen uns nun für vier lieben,« sprach der Musketier. »Wir sind nur noch zwei.« – »Und mich wirst du vielleicht nicht mehr wiedersehen, lieber d'Artagnan,« sagte Aramis. »Ich bin alt, ausgelöscht, dem Tode nahe.«
»Ah, du wirst mich überdauern,« rief der Musketier. »Die Diplomatie heißt dich leben. Mir aber gebietet die Ehre zu sterben.« – »Bah, Herr Marschall,« sagte Aramis, »wir werden nicht eher sterben, als bis wir von Freude und Ruhm gesättigt sind.« – »O, Herr Herzog,« antwortete d'Artagnan lächelnd, »ich habe kein Verlangen mehr.« – Und sie umarmten sich ein letztes Mal.
8. Kapitel. D'Artagnans Tod
Die Bündnisse mit Spanien und England waren vollzogen, der Krieg mit Holland begann. Im Frühjahr rückte die Landarmee aus. Sie marschierte in wundervoller Ordnung auf das feindliche Gebiet hinüber. D'Artagnan führte das Kommando über ein Korps von 12000 Mann Kavallerie und Infanterie und hatte den Sonderbefehl, Friesland zu erobern. Er blieb in diesem Feldzuge seiner früheren Gewohnheit treu, vom Lande des Feindes zu leben, seine Soldaten singen zu lassen, den Feind weinen zu machen. Der Kapitän der Musketiere setzte seinen Stolz darein zu zeigen, daß er sein Handwerk verstehe. Er manöverierte mit so großem Geschick, daß er keine einzige Schlappe erlitt und in einem Monat zwölf kleine Festungen eroberte. Er stand vor der dreizehnten, die sich seit fünf Tagen hielt. Er ließ nun Minen legen und Sturm laufen. An den König sandte er einen Boten und erstattete Bericht über seine letzten Erfolge. Seine Majestät erinnerte daraufhin Herrn Colbert daran, daß man Herrn d'Artagnan ein Versprechen zu halten habe, und daß es, weil er die seinen so trefflich einlöste, nun an der Zeit sei, dies auszuführen.
Demzufolge schickte Herr Colbert den Offizier, der d'Artagnans Brief gebracht hatte, zurück und gab ihm einen von ihm selbst geschriebenen Brief mit und ein Kästchen aus goldverziertem Ebenholz, das zwar klein war, aber etwas sehr Wichtiges zu enthalten schien, da er dem Boten eine Bedeckung von fünf Mann mitgab. Der Offizier kam vor der Festung an und ließ sich sofort zu Herrn d'Artagnan führen, der persönlich die Arbeit an neuen, weit vorgeschobenen Laufgräben leitete.
Die hohe Gestalt d'Artagnans überragte alle andern. Die goldenen Tressen seines Hutes und seiner Uniform leuchteten in der Sonne. Er kaute an seinem weißen Schnurrbart und klopfte ab und zu den Staub ab, mit den die den Sand aufwühlenden feindlichen Kugeln seinen Rock überschütteten. Inmitten des heftigen Feuers wurde mit Schaufeln und Spaten fleißig gearbeitet, und der General gab seinen Leuten das beste Beispiel der Tapferkeit, indem er, unbekümmert um das furchtbare Pfeifen, das rings die Luft erfüllte, die Arbeiten selbst leitete. Nach drei Stunden meldete ihm der Hauptmann der Pioniere, der Laufgraben sei fertig.
Der Mann hatte diese Worte kaum gesprochen, als ihm eine Kanonenkugel das Bein wegriß. Er sank in d'Artagnans Arme.
Der General hob den Verwundeten empor und stieg mit ihm in den Laufgraben hinab. Laut jubelten die Soldaten, als sie das sahen. Ein Fieber des Mutes ergriff alle, sie stürzten vorwärts, und der neue Graben war im Nu dicht gefüllt. Mit so jäher Gewalt erfolgte nun der Sturm, daß der Feind nicht standzuhalten vermochte. Man eroberte die äußeren Böschungen. Die vordersten feindlichen Geschütze fielen in die Hände der Franzosen. Dort aber kam der Kampf zum Stehen. Die Holländer verteidigten zäh jeden Fußbreit des Bodens.
D'Artagnan hielt inne, und sein Falkenauge überflog die Situation. Da hörte er eine Stimme neben sich: »Mein Herr, ich komme von Herrn Colbert.« – Der General nahm das Schreiben entgegen, öffnete es und las: »Herr d'Artagnan, der König beauftragt mich, Ihnen Ihre Ernennung zum Marschall von Frankreich hiermit kundzutun. Es ist Ihr Lohn für die guten Dienste und für die Siege, zu denen Sie Ihre Truppe geführt haben. Mögen Sie auch noch die Belagerung, die Sie inzwischen begonnen haben, mit Erfolg zu Ende führen!«
Der General sah auf und erkannte, daß seine Soldaten abermals weiter vorgedrungen waren. – »Es geht zu Ende,« sagte er. »in einer Viertelstunde ist die Festung unser.«
Dann fuhr er fort zu lesen: »Das Kistchen, Herr d'Artagnan, ist ein Geschenk von mir. Nehmen Sie das kleine Kunstwerk freundlich entgegen. Ich empfehle mich Ihrer Wohlgeneigtheit. Allzeit der Ihre ...
Colbert.«
D'Artagnan, trunken vor Freude, hielt das Kästchen in den Händen, aber als er es öffnen wollte, geschah eine furchtbare Explosion auf den Wällen, und er sah auf. »Seltsam!« sprach er, »ich sehe noch nicht das Lilienbanner auf den Zinnen, ich höre noch nicht das Trommelzeichen der Uebergabe.« – Er schickte dreihundert frische Soldaten in den Sturm und befahl eine neue Bresche zu schießen.
Darauf sah er wieder das Kästchen an. Er sagte sich, er habe, was darinnen sei, ehrlich verdient. Er öffnete es – da brauste aus der Festung eine Kanonenkugel heran, traf ihn mitten in die Brust und streckte ihn ins Gras nieder, wobei aus dem Kästchen der Marschallstab hervorrollte und in seine gelähmte Rechte glitt. Er versuchte aufzustehen – aber die Kräfte verließen ihn. Es erhob sich lautes Geschrei unter den Offizieren seines Stabes. Man beugte sich zu ihm nieder und sah, daß seine Brust mit Blut bedeckt war, während Todesblässe sein edles Antlitz überzog.
Gestützt auf die Arme, die sich von allen Seiten nach ihm ausstreckten, hob er sich noch einmal empor und blickte nach der Festung hin. Da sah er die weiße Fahne auf dem Hauptwall wehen; und sein für das Geräusch des Lebens schon taubes Ohr vernahm noch den Trommelwirbel, der den Sieg verkündete.
Seine Hand schloß sich krampfhaft um den mit Sammet umschlossenen, mit goldenen Lilien bestickten
Marschallstab, er sah darauf herab, da er nicht mehr die Kraft hatte, den Blick gen Himmel zu erheben, und dann sank er nieder. Man hörte ihn die folgenden Worte murmeln, welche den Umstehenden wie eine Zauberformel erklangen – Worte, die einst auf Erden so viel bedeutet hatten und die jetzt niemand mehr als dieser Sterbende verstand:
»Athos! Porthos! auf Wiedersehen! Aramis! lebwohl auf immer!«
Ende.
Alexandre Dumas, 1847
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Das Dekameron, Fiammetta, Die Nymphe von Fiesole. Giovanni Boccaccio
Pinocchio. Carlo Collodi
Oliver Twist, David Copperfield . Charles Dickens
Der Idiot, Die Brüder Karamasow, Verbrechen und Strafe. Fjodor Dostojewski
Die Abenteuer des Sherlock Holmes . Arthur Conan Doyle
Die Drei Musketiere, Zwanzig Jahre nachher . Alexandre Dumas
Die Rote Lilie. Anatole France
Faust. Eine Tragödie, Die Leiden des jungen Werther. Johann Wolfgang von Goethe
Der Mantel. N. Gogol
Der Glöckner von Notre-Dame, Die Elenden. Victor Hugo
Der Process, Die Verwandlung. Franz Kafka
Martin Eden, Ruf der Wildnis. Jack London
Moby-Dick; oder: Der Wal. Herman Melville
Also sprach Zarathustra. Friedrich Nietzsche
Eugen Onegin, Pique Dame. Alexander Puschkin
Der Altertümler. Walter Scott
Othello, der Mohr von Venedig. William Shakespeare
Väter und Söhne. Iwan Turgenew
Die Abenteuer des Tom Sawyer. Mark Twain
Das Bildnis des Dorian Gray. Oscar Wilde
Der Amokläufer, Brennendes Geheimnis, Schachnovelle. Stefan Zweig