Victor Hugo
Über das Buch
Paris 1482: Die schöne Zigeunerin Esmeralda wird von vielen Männern geliebt, allen voran vom Erzdiakon Claude Frollo. Dieser scheint von ihr regelrecht besessen zu sein. Als Esmeralda ihn zurückweist, klagt er sie als Hexe an. Kann Quasimodo, der missgestaltete und taube Glöckner von Notre-Dame, Esmeralda vor dem Scheiterhaufen retten?
Ein Meisterwerk der französischen Romantik und eine Liebeserklärung an Paris.
Über den Autor
Der französische Schriftsteller Victor- Marie Hugo wurde am 26. Februar 1802 in Frankreich geboren. Schon als Jugendlicher begann Hugo zu schreiben. 1823 wurde Hugos erster Roman veröffentlicht, worauf er eine jährliche königliche »Pension« erhielt, mit der er seine kleine Familie ernähren konnte. Hugos politische Gesinnung war durch bedeutende Wandlungen gekennzeichnet: Zunächst überzeugter Royalist, wanderte er später zur äußersten Linken. 1851 musste Hugo nach einem Staatsstreich flüchten und ging ins Exil. Im Mai 1885 starb er und fand im Pantheon in Paris seine letzte Ruhestätte. Sein Werk »Der Glöckner von Notre-Dame« erschien 1831 und gilt noch heute als einer der größten historischen Romane der Romantik.
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Der Glöckner von Notre-Dame . Victor Hugo
Vorwort des Verfassers
Vor einigen Jahren, als der Verfasser dieses Buches die Kirche Notre-Dame besuchte oder vielmehr genau durchforschte, sah er in einem dunkeln Winkel eines Turmes das Wort ‘ANAGKH* in die Mauer gegraben. Diese griechischen und vor Alter geschwärzten Buchstaben waren tief in den Stein geschnitten. Ihr eigentümlich gotischer Charakter und ihre Stellung ließen erkennen, daß die Inschrift im Mittelalter entstanden war. Dies alles, besonders aber der düstere, verhängnisvolle Sinn des Wortes machte auf den Verfasser tiefen Eindruck.
Er suchte zu erraten, welche schmerzgebeugte Seele nicht von der Erde scheiden wollte, bevor sie dieser alten, ehrwürdigen Kirche solch Brandmal eines Verbrechens oder Unglücks aufgedrückt hatte.
Seitdem ist die Mauer neu übertüncht worden und die Inschrift ist verschwunden. Seit zweihundert Jahren verfährt man ja auf diese Weise mit den wunderbaren Kirchen des Mittelalters. Verstümmelungen dringen von innen und außen auf sie ein, der Priester läßt sie anstreichen, der Architekt sie abkratzen; endlich stürzt das Volk herbei und reißt sie nieder.
Außer dem vergänglichen Denkmal, das der Verfasser dieses Buches dem geheimnisvollen Wort im düstern Turm von Notre-Dame hier weiht, ist gegenwärtig jegliche Spur des unbekannten Schicksals verschwunden, das jenes Wort so schwermütig andeutete. Die Person, die dies Wort auf die Mauer zeichnete, erlosch schon seit Jahrhunderten aus den Menschengeschlechtern, das Wort erlosch an der Mauer der Kirche, vielleicht wird auch die Kirche einst von der Erde verschwinden.
Dies Wort ward die Veranlassung zu diesem Buche.
Im März 1831.
1. Der große Saal
Am Morgen des 6. Januar 1482 erwachten die Pariser beim Lärm aller Glocken, die im dreifachen Bereiche der Altstadt, der Universität und der Südstadt sämtlich und laut erklangen. Übrigens ist dies kein Tag, dessen die Geschichte einer Erwähnung würdigte. In dem Ereignis, das seit der Morgenröte Bürger und Glocken von Paris in Bewegung setzte, lag eben nichts Außerordentliches, das der Aufzeichnung wert war. Es galt weder einen Sturm der Picardier oder Burgunder, noch einen Einzug unseres sehr gefürchteten Herrn, des Königs, noch endlich ein Hängen von Dieben oder Diebinnen von seiten der Gerichtsbarkeit zu Paris. Es war nicht einmal der einer Gesandtschaft, mit Stickerei und Federbüschen geschmückt. Erst vor zwei Tagen hatten die flamländischen Gesandten, welche die Ehe des Dauphins und der Margarete von Flandern schließen sollten, zum großen Verdruß des Kardinals von Bourbon ihren Einzug in Paris gehalten; denn dieser mußte dem König zu Gefallen den bäurischen Schwarm flamländischer Bürgermeister mit heiterem Antlitz empfangen und sie in seinem Hotel von Bourbon mit einem sehr schönen Moralitäts-, Lust- und Possenspiel bewirten, während ein Platzregen seine prächtigen Wandteppiche vor seiner Tür überschwemmte.
Am 6. Januar war das ganze Volk von Paris, wie Jehan von Troyes erzählt, durch eine doppelte, seit undenklichen Zeiten vereinigte Feier in Bewegung gesetzt, durch den Tag der heiligen drei Könige und das Narrenfest. An dem Tage brannte ein Freudenfeuer auf dem Grèveplatz; ein Maibaum war an der Kapelle von Braque aufgepflanzt, und ein Mysterium wurde im Justizpalast gegeben. Am Tage vorher war dies auf den Kreuzwegen von den Leuten des Herrn Prévot, in schönen Röcken von veilchenblauem Kamelott mit weißen Kreuzen auf der Brust, öffentlich ausgerufen worden. Häuser und Buden waren geschlossen und das Gedränge der Bürger und Bürgerinnen wogte schon seit dem Morgen von allen Seiten auf einen der bezeichneten Orte zu. Jeglicher hatte sich seinen Platz schon gewählt, der eine das Freudenfeuer, der andere den Maibaum, ein anderer das Mysterium. Zum Ruhme des alten gesunden Menschenverstandes der Pariser Maulaffen müssen wir hier berichten, daß der größere Teil des Gedränges zum Freudenfeuer, das für die Jahreszeit durchaus sich geeignete, oder zum Mysterium hinwogte, das im wohlverschlossenen und bedeckten Hauptsaale des Palais gegeben werden sollte. Die Neugierigen waren sämtlich übereingekommen, den armen Maibaum ohne Blütenschmuck ganz allein im Januarwinde auf dem Kirchhof der Kapelle von Braque klappern zu lassen.
Hauptsächlich strömte das Volk in die Zugänge des Justizpalastes; denn man wußte, die vor zwei Tagen angekommenen flamländischen Gesandten würden bei der Vorstellung des Mysteriums und bei der Wahl des Narrenpapstes, die ebenfalls im Hauptsaal des Palais geschehen sollte, gegenwärtig sein.
Es war nicht leicht in das Innere zu dringen, obgleich der Saal damals für den größten bedeckten Raum in der ganzen Welt galt. Der mit Volk gefüllte Platz vor dem Palast bot den Neugierigen an den Fenstern der Häuser den Anblick eines Meeres, wohin fünf oder sechs Straßen, gleich Mündungen von Flüssen, stets neue Fluten von Köpfen ausgossen. Die Wogen dieses stets schwellenden Gedränges brachen sich an den Ecken der Häuser, die hier und da gleich Vorgebirgen in das unregelmäßige Becken des Platzes vorsprangen. Im Mittelpunkt der gotischen Vorderseite des Palastes wogte auf der großen Treppe ein doppelter Strom Hinauf- und Hinabsteigender auf und nieder, der, nachdem er sich unter dem mittleren Auftritt gebrochen, in breiten Wellen die Seitenabhänge hinabfloß. So rieselte es die Haupttreppe hinab unaufhörlich auf den Platz, wie ein Wasserfall in einen See. Geschrei, Lachen, Trampeln von tausend Füßen erweckte ungeheuren Lärm. Von Zeit zu Zeit ward dieser verdoppelt; der Strom, der das Gedränge zur Haupttreppe trieb, brauste zurück und wirbelte. Der Rippenstoß eines Bogenschützen oder das Pferd eines Sergeanten der Prévoté, der die Ordnung wiederherstellte, verursachte diese Wirren. An den Türen, an den Fenstern, zu den Dachluken heraus, auf den Dächern wimmelten zu Tausenden wackere Bürgerfiguren, ruhig und ehrenfest, den Palast, die Menge anguckend, ohne weitere Ansprüche; denn von der Pariserschaft begnügt sich die Mehrzahl, nur die Zuschauer zu beschauen; eine Mauer, hinter der sich irgend etwas ereignet, ist für uns schon ein hinreichender Gegenstand der Neugier.
Wenn der Leser damit einverstanden ist, so wollen wir versuchen, den Eindruck wiederzugeben, der auf ihn gewirkt hätte, wenn er, mit uns über die Schwelle jenes großen Saales treibend, mitten in das Gewühl geraten wäre. Im ersten Augenblick summt es uns in den Ohren, schwimmt es uns vor den Augen, über unsern Häuptern erhebt sich ein doppeltes Spitzgewölbe, mit hölzernen Bildwerken ausgetäfelt, mit goldnen Lilien auf azurnem Grunde bemalt; unsere Füße betreten einen Estrich von wechselweis gelegten, schwarzen und weißen Marmorplatten. Einige Schritte weit von uns erhebt sich ein ungeheurer Pfeiler, weiterhin ein zweiter, – ein dritter, – in der ganzen Länge des Saales sieben, die in der Mitte seiner Breite die Kerne des Doppelgewölbes stützen. Rings um die vier ersten Pfeiler Kaufbuden voll Glaswaren und Flitterstaat; um die drei letzteren sehen wir Eichenbänke, abgerieben und blankgeputzt von den Hosen der Prozessierenden und von den langen Röcken der Anwälte. Die hohen Mauern des Saales rings entlang, in den Räumen zwischen den Türen, den Fenstern, den Pfeilern zeigen sich in unabsehbarer Reihe die Bildsäulen aller Könige von Frankreich seit Pharamund, – einige faulenzerisch-schlaftrunken mit niedergeschlagenen Blicken und schlaff herabhängenden Armen, – so viele andere wieder gewaltig und kriegerisch, Haupt und Hände gen Himmel gewandt. Ferner blendet uns aus den langen in Spitzbogen auslaufenden Fenstern der tausendfarbige Glanz der Glasmalerei; an den weiten Ausläufen des Saales prunken die reichen, mit feiner Bildhauerarbeit geschmückten Pforten. Den Eindruck zu vollenden schimmert alles – Gewölbe, Pfeiler, Mauern, Gesims, Getäfel, Türen, Statuen – von oben bis unten in der Farbenpracht des Goldes und Azurs, – obgleich schon in jenem Zeitpunkt, da wir den Saal in Gedanken betreten, etwas angedunkelt.
Man versetze sich nun in diesen unermeßlichen länglichen Saal, erhellt von dem bleichen Lichtschimmer eines Januartages, gewaltsam in Besitz genommen von einer buntscheckigen lärmenden Menge, die die sieben Pfeiler umflutet, – und man wird eine, wenn auch noch etwas wirre Vorstellung von dem ganzen Gemälde haben, dessen sonderbare Einzelheiten wir alsobald genauer anzugeben versuchen wollen.
Von den beiden Enden dieses ungeheuren Vierecks nahm das eine jene berühmte Marmorplatte aus einem einzigen Stück ein, die so lang, so breit und so dick war, daß (um uns des Stils der alten Schriften zu bedienen, der einem Gargantua Appetit gemacht hätte) „eine ähnliche Marmorschnitte“ auf der ganzen Welt nicht wieder zu finden war; am andern Ende sah man die Kapelle, in der Ludwig XI. sich, kniend vor der heiligen Jungfrau Maria, in Stein hatte abbilden lassen, und wohin er auch, ohne sich darum zu kümmern, das in der Reihe der königlichen Bildsäulen nunmehr zwei Blenden leer blieben, die Standbilder Karls des Großen und Ludwigs des Heiligen schaffen ließ, zweier Heiligen, von denen er annahm, daß sie, als Könige von Frankreich, im Himmel großes Ansehen haben müßten. Diese Kapelle atmete ganz jenen reizenden Geschmack der kostbaren Baukunst, der wunderbaren Skulptur, der feinen und grundgediegenen Meißelarbeit, in der wir den Charakter der Endzeit gotischer Kunst erkennen und der bis gegen die Mitte des 16. Jahrhunderts sich selbst noch in den phantastischen Werken des damals modern gewordenen Stils findet. Ein besonderes Meisterstück, was Zartheit und Grazie betraf, war die kleine gotische Rose über dem Portal, – man nannte sie einen Stern mit Kanten. In der Mitte des Saales, gegenüber der großen Türe, lehnte sich eine mit Goldstoff behangene Estrade an die Wand; man hatte für die Estrade vermittelst eines Fensters, das zu dem heimlichen Gang der goldenen Kammer gehörte, einen eigenen Eingang hergerichtet; sie war zu Plätzen für die zum Besuch des Mysteriums eingeladenen flamländischen Gesandten und für andere hohe Personen bestimmt. Die früher benannte Marmorplatte war der Ort, wo man herkömmlicherweise das Mysterium aufführte; von früh an war sie zu diesem Zwecke hergerichtet worden; die prachtvolle, aber von den Absätzen der Parlamentsschreiber bereits ganz zerkratzte Riesentafel trug jetzt ein ziemlich hohes Holzgerüst, dessen obere Fläche den Blicken aller Zuschauer im ganzen Saal gleich günstig gelegen, als Bühne dienen sollte, während das Innere, durch Teppichwände verkleidet, den bei der Darstellung beteiligten Schauspielern eine Art von Garderobe bieten mußte; eine ganz naiv von außen angelegte Leiter vermittelte den Verkehr zwischen der letzteren und der Bühne und gab ihre steilen Sprossen für die Auftritte und Abgänge der Handelnden her; da gab es doch wirklich kein so unvorhergesehenes Kommen, keine so unerwartete Entwicklung, keinen so heimlich vorbereiteten Knalleffekt, der nicht gehalten gewesen wäre, sich auf dieser Leiter hinauf zu bemühen. Unschuldig ehrwürdiges Kindesalter der Kunst und der Maschinerie!
Vier Sergeanten des Bailli vom Palast standen, als beeidigte Aufseher aller Volksfreuden, an Festtagen wie bei Hinrichtungen, an den vier Ecken der Marmorplatte. Erst mit dem zwölften Glockenschlage der Mittagstunde, nach der großen Uhr des Palastes, sollte die Vorstellung beginnen; – ohne Zweifel ziemlich spät für eine Bühnenvorstellung; indessen, man mußte nun einmal die den Gesandten gelegene Stunde wählen.
Jene ganze Volksmenge wartete nun schon seit Tagesanbruch. Eine gute Anzahl dieser wackern Schaulustigen klapperte seit so geraumer Zeit aus Frost mit den Zähnen vor der großen Treppe des Palastes; etliche versicherten sogar, die Nacht unter dem großen Tor zugebracht zu haben, um ja gewiß zuerst hineinzukommen. In jedem Augenblick schwoll die Menge an und begann, wie ein Gewässer, das seine durchschnittliche Höhe überschritt, längs der Wände emporzusteigen, rings um die Pfeiler anzuwachsen, sich über die Gesimse, Fensterbrüstungen, über alle architektonischen Vorsprünge, über alle Reliefs der Skulptur zu verbreiten. Da mußten dann Unbequemlichkeit, Ungeduld, Langweile, da mußte die Freiheit eines Tages des Zynismus und der Narretei, die durch Ellenbogenstöße oder Tritte wohlbeschlagener Schuhe aufgerüttelten Händel, die Ermüdung als Folge des langen Wartens dem unruhigen Lärmen dieser eingeschlossenen, festgepfropften, gepreßten, zerwalkten, beinahe erstickenden Menschenmenge den Charakter von Bitterkeit aufprägen. Man hörte nichts als Klagen und Flüche über die Flamländer, den Prévot des Handelsstandes, den Kardinal von Bourbon, den Hausvogt vom Palast, Frau Margarete von Österreich, die bestockten Trabenten, über Kälte, Hitze, schlechtes Wetter, – und über den Bischof von Paris, den Narrenpapst, die Pfeiler, die Statuen, über die geschlossene Tür hier, über das offene Fenster dort, – alles zum großen Spaß der Banden von Studenten und Lakaien, die in der Menge hin und wieder wie ausgesät waren, unter das allgemeine Mißbehagen noch ihre besonderen Einfälle und Spötteleien mengten und dadurch die allgemeine üble Laune noch sozusagen wie mit Nadelstichen spickten.
Ein Rudel solcher lustigen Kobolde hatte, nachdem sie die Scheiben eines Fensters eingeschlagen, verwegen auf einem Gesimse Posten gefaßt und trieb von da aus, alles musternd, seinen Spott mit allem, was drinnen und draußen im Saal und auf dem Platze wimmelte. Aus ihren Grimassen, aus ihrem schallenden Gelächter, aus ihren drolligen Zurufen, die sie von einem Ende des Saales zum andern an ihre Kameraden richteten und von diesen erwidert bekamen, ließ sich leicht abnehmen, daß diese jungen Musensöhne die Langeweile und Ermüdung der übrigen Anwesenden nicht teilten und es verstanden, zu ihrer besonderen Ergötzlichkeit einstweilen das, was unter ihren Augen vorging, zu einem Schauspiel zu gestalten, wobei sie das andere geduldig erwarten konnten.
„Bei meiner Seele, das seid Ihr, Johannes Frollo de Molendino!“ schrie einer von ihnen, ganz von der Art eines kleinen blonden Kobolds, von einem netten spitzbübischen Wesen, der sich an das Akanthus-Schnitzwerk eines Kapitäls angerankt hatte; „mit Recht heißt Ihr Johann von der Mühle, denn Eure zwei Arme und zwei Beine haben ganz das Ansehen von vier Windmühlenflügeln, die just im Gange sind. Wie lange seid Ihr denn schon hier?“
„Bei des Teufels Mitleid!“ versetzte Johannes Frollo, „über vier Stunden schon, und ich hoffe, daß sie mir einst an meiner Zeit im Fegefeuer abgezogen werden; ich hörte die acht Sänger des Königs von Sizilien den ersten Vers des Siebenuhr-Hochamts in der heiligen Kapelle anstimmen.“
„Nette Sänger!“ nahm der andere das Wort, „haben Stimmen, noch spitzer als ihre Mützen. Der König hätte, bevor er dem heiligen Johannes eine Messe stiftete, doch zuerst anfragen sollen, ob dieser ehrliche Mann – der heilige Johann – den lateinischen Psalmgesang im provenzalischen Akzent vertragen kann?“
„Das ist nur, damit diese verdammten Sänger des Königs von Sizilien angestellt wurden; deshalb hat er’s getan“, belferte ein altes Weib in der Menge unten am Fenster. „Ich bitt Euch nur: tausend Pariser Livres für eine Messe! Und noch obendrein auf den Pacht der Halle der Seefische in Paris.“
„Still, Alte!“ beschwichtigte ein dicker gewichtiger Mann, der an der Seite einer Fischverkäuferin sich die Nase zuhielt. „Das war ganz in der Ordnung, die Messe zu stiften. Oder wollt Ihr, daß der König in seine Krankheit zurückfallen sollte?“
„Brav gesprochen, Meister Gilles Lecornu, königlicher Hofkürschner“, schrie der kleine Student, der sich am Kapitäl angeklammert hielt. Ein lautes Gelächter aller Studenten bewillkommnete den verdrießlichen Namen des armen Kürschners der Röcke des Königs.
„Lecornu! (Der Gehörnte.) Gilles Lecornu!“ riefen die einen. – „Cornutus et hirsutus!“* sagte ein anderer. – „Ja gewiß!“ begann der kleine Teufel des Kapitäls aufs neue. „Was lacht ihr? Das ist der ehrsame Mann Gilles Lecornu, Prévot vom Hotel des Königs, Sohn des Meisters Mahiet Lecornu, ersten Hüters des Waldes Vincennes, sämtlich Bürger von Paris, sämtlich vom Vater bis auf den Sohn verheiratet.“
Das Gelächter ward verdoppelt. Ohne ein Wort zu erwidern, bemühte sich der dicke Kürschner, sich den von allen Seiten auf ihn gerichteten Blicken zu entziehen; allein er schwitzte und schnaubte vergeblich; er glich einem Keil, der ins Holz getrieben wird; alle seine Bemühungen befestigten nur um so mehr sein breites, apoplektisches, von Ärger und Zorn glühendes Gesicht zwischen den Schultern seiner Nachbarn. Endlich kam einer von diesen, ebenso dick, kurz und ehrwürdig wie er selbst, ihm zu Hilfe.
„Verflucht! Studenten sprechen so unverschämt mit Bürgern! Zu meiner Zeit hätte man sie mit Knütteln geprügelt und dann auf den Prügeln verbrannt!“
Der ganze Haufe brach in Gelächter aus.
„Holla! He! Wer plärrt dieses Lied? Wer ist der Uhu des Unheils? – Wart, ich erkenne dich! Du bist Meister Andry Musnier. – Weil er einer von den vier geschworenen Buchhändlern der Universität ist. – In seiner Bude ist überall die Zahl vier. Vier Nationen, vier Fakultäten, vier Feste, vier Prokuratoren, vier Wähler, vier Buchhändler. – Ja, ja“, fiel Jehan Frollo ein, „wir müssen Ihnen vier Teufel auf den Hals schicken. Musnier, wir verbrennen deine Bücher, – Musnier, wir prügeln deinen Bedienten, – Musnier, wir zerzausen deine Frau – die gute dicke Oudarde – die so frisch und munter ist, als wäre sie schon Witwe.“
„Der Teufel mag Euch holen“, brummte Meister Andry Musnier.
„Meister Andry, schweig“, fiel Jehan ein, der noch immer auf dem Kapitäl hing, „oder ich falle dir auf den Kopf.“
Meister Andry schlug die Augen auf, schien einen Augenblick lang die Höhe des Pfeilers und die Schwere des Schelms zu messen, multiplizierte diese Schwere mit dem Quadrat ihrer Geschwindigkeit und schwieg.
Jehan fuhr triumphierend fort, als Herr des Schlachtfeldes: „Ja, ja, das tu ich, ob ich auch der Bruder eines Archidiakonus bin.“
„Schöne Herren, unsere Oberen in der Universität! Sie machen nicht einmal an einem Tage, wie heute, unsre Privilegien geltend! Maibaum und Freudenfeuer in der Stadt, Mysterien, Narrenpapst und flamländische Gesandte in der Altstadt, in der Universität nichts!“
„Der Platz Maubert ist ja groß genug“, bemerkte einer der Schreiber, über das Fensterbrett gebeugt. – „Nieder mit dem Rektor, den Wählern und Prokuratoren!“ rief Johannes. – „Heute abend“, fiel ein anderer ein, „muß man auf dem Champ-Gaillard von den Büchern des Meisters Andry ein Freudenfeuer machen! – und mit den Pulten der Schreiber! – und mit den Stäben der Pedelle! – und mit den Spucknäpfen der Dekane – und mit den Schränken der Prokuratoren – und mit den Backtrögen der Wähler! – und den Fußschemeln des Rektors!“
„Nieder mit ihnen!“ begann der kleine Jehan aufs neue kreischend, „nieder mit Meister Andry! Nieder mit den Pedellen und Schreibern, Theologen, Ärzten und Dekretisten! Nieder mit den Prokuratoren, Wählern und dem Rektor!“
„Das Ende der Welt ist nah“, brummte Meister Andry, sich die Ohren verstopfend. – „Beiläufig gesagt, da kommt der Rektor über den Platz“, rief einer von denen, die am Fenster saßen.
Alle wandten sich dem Platze zu. – „Ist es wahrhaftig unser ehrwürdiger Rektor, Meister Thibaut?“ fragte Jehan Frollo de Moulin, der, an einen Pfeiler im Innern geklammert, nicht sehen konnte, was außerhalb vorging.
„Ja, ja“, erwiderten alle andern, „er ist’s, Meister Thibaut, der Rektor.“ Wirklich war es der Rektor mit allen Würdenträgern der Universität, die in Prozession der Gesandtschaft entgegengingen und in dem Augenblick über den Platz des Palais kamen. Die in das Fenster gedrängten Studenten empfingen sie im Vorbeigehen mit Spott und ironischem Beifallgeklatsch. Der Rektor, der an der Spitze marschierte, erhielt die erste Lage. Sie war heftig. „Guten Tag, Herr Rektor! Hallo! He! Guten Tag! – Der alte Spieler, wie kommt’s, daß er hier ist! Er hat seine Würfel verlassen können! – Wie er auf dem Maultier trottet! Dies hat nicht so große Ohren, wie er selbst. – Hallo! He! Guten Tag, Herr Rektor! Tybalde aleator! Alter Pinsel! Alter Pinsel! Gott schütze dich hast du oft gestern nacht die doppelte Sechs geworfen? – Wohin, Thibaut? Was drehst du der Universität den Rücken und trottest zur Stadt?“ – „Gewiß sucht er eine Wohnung in der Straße Thibautodé!“ rief Jehan de Moulin. Die ganze Bande wiederholte den Witz mit Donnerstimme und wütendem Händeklatschen.
Dann kam die Reihe an die übrigen Würdenträger. „Nieder mit den Pedellen, nieder mit den Stabträgern! – Sage doch, Robin Poussepain, wer ist doch der da? – Gilbert de Suilly, Gilbertus de Soliaco, Kanzler des Kollegiums von Autun. – Hier ist mein Schuh; du hast einen besseren Platz, als ich, schmeiß ihn dem da an den Kopf. – Nieder mit den sechs Theologen und ihren weißen Oberkleidern! – Das sind Theologen? „Ich dachte, es wären sechs weiße Gänse! – Nieder mit den Ärzten! – Nieder mit den Kardinal- und Quodlibetar-Disputationen! – Da! Ein Kopfputz von mir, Kanzler von G. Geniève; du hast mir unrecht getan. – Ja, ja. Er gab meine Stelle in der Normandie dem kleinen Ascanio Falzaspada, der zur Provinz Bourges gehört, weil er Italiener ist.“ – „Das ist nicht recht!“ riefen alle Studenten. „Nieder mit dem Kanzler von G. Geniève! – Ho! He! Meister Joachim Ladehors! Ho! He! Louis Dahuille! Lambert Hoctement! – Der Teufel erwürge den Prokurator der deutschen Nation! – und die Kapläne der Sainte-Chapelle mit ihren grauen Pelzen! – Seu de pellibus grisis furratis!* – Hallo! He! Die Meister in den Künsten! Alle schönen schwarzen und alle schönen roten Kappen! – Der Rektor hat an ihnen einen schönen Schweif. – Jehan, die Kanonici von S. Genoveva!“ –
„Wie glücklich sind doch jene, alles zu sehen“, sagte seufzend Johannes de Molendino, noch immer auf dem Kapitäl sitzend.
Endlich neigte sich der geschworene Buchhändler der Universität, Meister Andry Musnier, zum Ohre des Kürschners der Kleider des Königs mit den Worten:
„Ich sage Euch, Herr, das Ende der Welt ist nahe. Man sah nie solche Ausgelassenheit der Studenden. Die verfluchten Erfindungen des Jahrhunderts richten alles zugrunde, die Kanonen, Serpentinen, Bombarden und vor allem die Buchdruckerkunst, diese andere Pest aus Deutschland. Keine Manuskripte! Keine Bücher! Der Druck tötet den Buchhandel! Das Ende der Welt ist nah.“
„Das sehe ich auch am Absatz der Sammetstoffe“, sagte der Kürschner.
In dem Augenblick schlug die Glocke zwölf Uhr. Die ganze Masse stieß mit einer Stimme ein „Ah“ aus. Die Studenten schwiegen. Plötzlich entstand eine große Umwandlung, eine große Bewegung der Hände und Füße, ein allgemeines Donnern von Schnupfen und Husten, alles stellte sich zurecht, reckte, richtete und gruppierte sich. Dann herrschte tiefes Schweigen, alle Hälse blieben ausgestreckt, jeder Mund stand offen, alle Blicke wurden zur Marmortafel gerichtet – nichts erschien. Die vier Sergeanten des Bailli standen starr, unbeweglich, wie vier mit Farbe bestrichene Statuen, da. Alle Augen richteten sich hierauf zu der den flamländischen Gesandten zurückbehaltenen Estrade. Die Tür blieb verschlossen. Die Estrade leer. Seit dem Morgen erwartete die Volksmenge drei Dinge, den Mittag, die flamländische Gesandtschaft, das Mysterium. Nur der Mittag hatte sich pünktlich eingestellt.
Das war zuviel auf einmal. Man wartete eine, zwei, drei, vier, fünf Minuten, eine Viertelstunde. Nichts kam zum Vorschein. Der Ungeduld folgte Zorn. Heftige Reden gingen herum, allerdings nur mit leiser Stimme. – „Das Mysterium, das Mysterium!“ murmelte man dumpf. Die Köpfe gerieten in Gärung. – Ein Sturm, der freilich nur dumpf brüllte, schwebte über der Volksmasse. Jehan de Moulin schlug die ersten Funken.
„Das Mysterium! Zum Teufel mit den Flamländern!“ rief er mit aller Kraft seiner Lungen, indem er sich wie eine Schlange um das Kapitäl wand.
Das Volk klatschte mit den Händen. „Das Mysterium!“ rief es ihm nach, „und Flandern hole der Teufel!“
„Das Mysterium! Zum Teufel mit den Flamländern“, schrie er aufs neue, „oder mir scheint es zweckmäßig, zum Ersatz und anstatt der Komödie und Moralität den Bailli des Palais zu hängen.“ –
„Schön gesagt“, schrie das Volk, „beginnen wir das Hängen mit den Sergeanten!“
Es folgte ein lauter Zuruf. Die vier armen Teufel wurden blaß und sahen einander an. Die Volksmenge setzte sich gegen sie in Bewegung, und sie sahen schon, wie das gebrechliche hölzerne Geländer, das sie von ihr trennte, sich bog und unter dem Druck der Masse zu brechen schien.
Der Augenblick war kritisch. „Nieder mit ihnen! Nieder mit ihnen!“ rief man von allen Seiten.
In dem Augenblick erhob sich der Vorhang des Ankleidezimmers, das wir oben beschrieben haben, eine Person trat hervor, deren Anblick allein plötzlich die Menge aufhielt und wie durch einen Zauber ihren Zorn in Neugier verwandelte.
„Still! – Still!“ –
Die Person trat, an allen Gliedern zitternd und ohne das geringste Zeichen von Gemütsruhe, mit vielen Verbeugungen, die, je mehr sie vortrat, desto mehr Kniebeugungen glichen, bis an den Rand der Marmortafel. Unterdes hatte die Ruhe sich allmählich wieder eingefunden. Nur jenes leichte Geräusch war zurückgeblieben, das auch beim Schweigen der Menge stets emporsteigt.
„Ihr Herren Bürger und ihr Frauen Bürgerinnen“, sprach jener, „wir werden die Ehre haben, vor Seiner Eminenz dem Kardinal eine sehr schöne Moralität, welche heißt ‚Das gute Urteil der Frau Jungfrau Maria‘, zu deklamieren und darzustellen. Ich gebe den Jupiter. In diesem Augenblick begleitet Seine Eminenz die sehr achtbare Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Österreich, um die Rede des Herrn Rektors der Universität am Tore aux Baudets zu hören. Sobald Seine Eminenz erschienen ist, wollen wir anfangen.“
Gewiß konnte nur Jupiters Dazwischentreten die vier armen unglücklichen Sergeanten des Bailli vom Palais retten. Übrigens war der Anzug des Herrn Jupiter sehr schön und hatte dadurch, daß er alle Aufmerksamkeit der Menge auf sich zog, nicht wenig dazu beigetragen, das Volk zu beruhigen. Jupiter trug ein von schwarzem Samt bedecktes Panzerhemd mit vergoldeten Nägeln; seinen Kopf schmückte ein mit vergoldeten Silberknöpfen gezierter Helm und ohne den roten dicken Doppelbart, der beide Hälften seines Gesichts umhüllte, ohne die Rolle von vergoldeter Pappe, die, besät mit Flittern und starrend von langen Stücken Rauschgold, in seiner Hand ruhte, und worin die Kenneraugen sehr leicht den Donnerkeil erkannten, endlich ohne seine fleischfarbenen und mit Bändern auf griechische Weise geschmückten Füße, hätte er mit einem bretagnischen Bogenschützen vom Korps des Herrn Herzogs von Berry, in aller Strenge des Anzugs, den Vergleich aushalten können.
2. Peter Gringoire
Während seiner Ansprache verminderte sich indes von Wort zu Wort die durch das Kostüm hervorgerufene Befriedigung und Bewunderung; als er vollends an die unglückseligen Schlußworte kam: „Sobald Seine Eminenz, der Herr Kardinal, eingetroffen sein werden, werden wir anfangen“, verschlang lautes Spottgelächter seine Stimme.
„Beginnt auf der Stelle! Das Mysterium! Augenblicklich das Mysterium!“ schrie das Volk. Aus allen Stimmen heraus aber hörte man hauptsächlich unsern Johannes de Molendino, dessen Kehlenlaute den Spektakel durchgellten wie die Querpfeife bei einer Katzenmusik von Nîmes. „Fangt auf der Stelle an“, kreischte der Student.
„Fort mit Jupiter und dem Kardinal von Bourbon!“ brüllte Robin Poussepain und die andern Musensöhne, welche am Fenster saßen.
„Augenblicklich die Moralität!“ wiederholte die Menge, „gleich auf der Stelle! Sack und Strick für die Komödianten und den Kardinal!“ Der arme Jupiter ließ, ganz verstört, bestürzt und erblassend unter seiner Schminke, seinen Blitz fallen, nahm seinen Helm in die Hand, verbeugte sich und stammelte zitternd: „Seine Eminenz … die Gesandten … Frau Margarete von Flandern.“ … Er wußte, aus Furcht, gehängt zu werden, im Grunde nicht, was er sagen sollte. Vom Volk zum Hängen bestimmt – fürs Wartenlassen; vom Kardinal, wenn er nicht wartete: sah er zu beiden Seiten einen Abgrund oder vielmehr eine Galgen.
Glücklicherweise riß ihn plötzlich ein anderer aus der Verlegenheit und aus der Verantwortlichkeit. Eine Person, die bisher diesseits der Balustrade, in dem rings um die Marmortafel frei gehaltenen Raum gestanden, und die noch von niemand bemerkt worden war, weil der Durchmesser des Pfeilers, an den sie sich gelehnt hatte, ihre lange dünne Figur von jedermanns Gesichtskreis abschnitt, näherte sich jetzt, dem armen Schlachtopfer auf der Bühne ein Zeichen gebend, der Marmorplatte; es war ein großer, magerer, blasser, junger Mensch, der gleichwohl auf der Stirn und Wangen schon Runzeln hatte, seine Blicke leuchteten, um seine Lippen schwebte ein Lächeln, er trug eine schwarze, vom vielen Tragen glänzend geriebene Jacke. Der arme Schelm auf der Bühne aber bemerkte ihn nicht gleich.
Der neue Ankömmling trat einen Schritt näher und sprach: „Jupiter, mein lieber Jupiter.“ Der andere hörte ihn noch immer nicht.
Endlich schrie ihm der lange Blondkopf beinahe dicht unter die Nase:
„Michel Gilborne!“
„Wer ruft mich?“ erwiderte Jupiter, wie aus Träumen emporfahrend.
„Ich“, erwiderte der Mann in der schwarzen Jacke.
„Ach“, stöhnte Jupiter.
„Fangt nur gleich an“, fuhr der andere fort, „stellt das Publikum zufrieden, ich will’s auf mich nehmen, den Herrn Bailli zu besänftigen, und der wird mit dem Kardinal ein gleiches tun.“
Jupiter schöpfte wieder Luft.
„Meine Herren Bürger“, schrie er mit aller Kraft seiner Lunge zu der noch immer tobenden Menge, „augenblicklich werden wir anfangen.“
„Evoe, Jupiter! Plaudite cives!“ brüllten die Studenten, und das Volk jauchzte hintendrein.
Ein donnergleich betäubendes Händegeklatsch begleitete den Jubel, daß der Saal davon noch zitterte, selbst als Jupiter schon hinter seinem Teppich verschwunden war. Inzwischen hatte sich der Unbekannte, der wie durch Zauberei den Sturm (um mit unserem alten Corneille zu sprechen) so schnell in Meeresstille verwandelt, bescheiden ins Halbdunkel seines Pfeilers zurückgezogen und wäre daselbst ohne Zweifel ebenso unsichtbar, unbeweglich und stumm wie früher geblieben, hätten ihn nicht zwei junge Mädchen, die in den ersten Reihen der Zuschauer saßen und sein Gespräch mit Michel Gilborne-Jupiter belauscht hatten, aus seinem Versteck hervorgebeten.
„Meister!“ rief die eine. – „Schweigt, liebe Liénarde“, sagte ihre hübsche, blühende, geputzte Nachbarin. „Er ist kein Kleriker; er ist ein Laie; Ihr müßt nicht Meister, sondern Herr sagen.“ „Herr“, sagte Liénarde.
Der Unbekannte trat an das Geländer. „Was wünscht ihr Damen?“ fragte er mit dem Ausdruck eifriger Dienstfertigkeit.
„Oh nichts“, erwiderte Liénarde verlegen, „meine Nachbarin Gisquette wollte Euch etwas sagen.“
„Nein“, sagte Gisquette errötend, „Liénarde redete Euch Meister an; ich belehrte sie, sie müsse Herr sagen.“
Die beiden Mädchen schlugen die Augen nieder. Der Angeredete, welcher nichts anders wünschte, als ein Gespräch anzuknüpfen, betrachtete sie lächelnd.
„Ihr habt mir also nichts zu sagen, meine Damen?“
„Oh, durchaus nichts“, sagte Gisquette.
„Nichts“, sagte Liénarde.
Der schlanke blonde Mann trat ein wenig zurück; allein die beiden neugierigen Mädchen hatten keine Lust, die Gelegenheit zu schwatzen sich entschlüpfen zu lassen.
„Herr“, sagte Gisquette lebhaft, mit dem Ungestüm einer geöffneten Schleuse oder einer Partei ergreifenden Frau, „Ihr kennt also den Soldaten, der die Rolle unserer Frau, der heiligen Maria, im Mysterium spielt?“
„Ihr, meint die Rolle Jupiters“, erwiderte der Unbekannte.
„Ja“, sagte Liénarde, „wie dumm ist die! Ihr kennt also Jupiter?“
„Den Michel Giborne?“ fragte der Ungenannte. „Ja, meine Damen.“
„Wie prächtig ist sein Bart“, fragte Liénarde.
„Werden die schöne Sachen sprechen?“ fragte furchtsam Gisquette.
„Oh, sehr schöne, meine Damen“, erwiderte der Ungenannte ohne Bedenken.
„Was ist das Stück?“ fragte Liénarde.
„Das treffliche Urteil der Frau Jungfrau Moralität, meine Dame.“
„So, das ist was anderes“, erwiderte Liénarde.
Es folgte eine kurze Pause. Der Unbekannte unterbrach sie: „Es ist eine ganz neue und noch nicht aufgeführte Moralität.“
„Es ist also nicht dieselbe“, begann Gisquette aufs neue, „die man vor zwei Jahren beim Einzuge des Herrn Legaten hielt, wo drei schöne Mädchen auftraten …“
„Sirenen“, unterbrach sie Liénarde.
„Ganz nackte Mädchen“, fügte der junge Mann hinzu.
Liénarde schlug schamhaft die Augen nieder; Gisquette sah sie an und tat dann dasselbe.
Er fuhr lächelnd fort: „Das war schön anzuschauen. Aber heute gibt man eine Moralität, die für die Prinzessin von Flandern ganz besonders geschrieben wurde.“
„Werden Schäferlieder da gesungen?“ fragte Gisquette.
„Pfui“, antwortete der Unbekannte, „in einer Moralität! Ihr müßt die verschiedenen Arten des Schauspiels nicht verwechseln; das gehört in eine Posse.“
„Wie schade!“ begann Gisquette aufs neue. „Am Springbrunnen der Klapprose kämpften an dem Tage wilde Männer und Frauen in schönen Stellungen und sangen kleine Verschen und Schäferlieder.“
„Was sich für einen Legaten schickt, schickt sich nicht für eine Prinzessin“, sagte der Unbekannte in trockenem Ton.
„Neben ihnen“, erzählte Liénarde, „spielten Instrumente schöne Weisen. Und um die Vorübergehenden zu erfrischen“, sagte Liénarde, „spritzte der dreifache Mund des Springbrunnens Wein, Milch und Muskateller; jeglicher trank, der Lust hatte. Und nicht weit von der Klapprose, bei der Dreifaltigkeit, ward eine Passion von nicht redenden Personen gegeben.“
„Ob ich mich dessen erinnere!“ rief Gisquette. „Gott am Kreuz und die beiden Schächer rechts und links.“
Hier fingen die beiden Gevatterinnen, erhitzt von der Erinnerung an den Einzug des Legaten, zugleich zu sprechen an.
„Und bei dem Springbrunnen St. Innocenz stand ein Jäger, der beim Lärm der Hunde und Jagdhörner eine Hirschkuh verfolgte.“
„Und bei den Schlächterbuden standen die Gerüste, die die Bastille von Dieppe darstellten.“
„Weißt du noch, Gisquette, als der Legat vorrüberzog, lief man Sturm und schnitt allen Engländern die Kehlen ab.“
„Und als der Legat über sie hinschritt, ließ man mehr als zweihundert Dutzend aller Arten Vögel fliegen. Das war sehr schön, Liénarde.“
„Heute wird’s noch schöner sein“, unterbrach sie der junge Mann.
„Ihr versprecht uns das Mysterium wird schön sein?“ fragte Gisquette.
„Gewiß“, sagte er; dann fügte er mit nachdrücklichem Ton hinzu: „Ich bin der Dichter!“
„Wahrhaftig?“ fragten die beiden Mädchen voller Staunen.
„Wahrhaftig!“ erwiderte der Dichter, sich leicht räuspernd. „Das heißt, wir sind zwei, Jehan Marchand, der die Bretter fügte, das Gerüst aufschlug, und ich, der das Stück dichtete, ich heiße Peter Gringoire.“
Der Dichter des Eid hat gewiß nie mit größerem Stolze gesagt: Pierre Corneille. Inzwischen wartete die noch vor einigen Minuten so unruhige Volksmasse sanftmütig und traute dem Worte des Schauspielers; denn es ist eine ewige Wahrheit, und man kann sich noch täglich auf unseren heutigen Theatern erproben: das beste Mittel, ein Publikum zum geduldigen Warten zu bringen, ist die Versicherung, daß man sogleich anfangen wolle.
Der Student Johannes war aber nicht eingeschläfert. „Holla he!“ rief er plötzlich in die Stille der Erwartung hinein, die auf den Lärm gefolgt war. „Jupiter, Frau Jungfrau, Taschenspieler des Teufels! Foppt ihr uns? Das Stück! Das Stück! Fangt an oder wir fangen wieder an!“
Mehr war nicht erfordert. Eine Musik von hohen und tiefen Instrumenten ließ sich aus dem Innern des Gerüstes vernehmen, vier buntscheckig geputzte und geschminkte Gestalten traten hervor, klommen die steile Leiter hinan und stellten sich, als sie oben das Gerüst betreten hatten, vor dem Publikum, das sie mit tiefer Verbeugung grüßten, in einer Reihe auf. Das Mysterium begann.
Die vier Personen, nachdem sie für ihre Verbeugungen reichliche Bezahlung in Beifallklatschen erlangt hatten, begannen unter andächtigem Schweigen einen Prolog, mit dem wir den Leser gern verschonen. Übrigens beschäftigte sich das Publikum, wie dies heutzutage noch oft zu geschehen pflegt, mehr mit dem Anzug als mit der Rolle des Schauspielers; und in Wahrheit, dies war gerecht. Alle trugen halb weiß, halb gelbe Kleider, die sich nur durch den Stoff unterschieden. Der Rock des ersten war von Silber- und Gold-Brokat, der des zweiten von Seide, der des dritten von wollenem Tuch, der des vierten von Leinwand. Der erste Schauspieler hielt in der rechten Hand ein Schwert, der zweite ein Paar goldner Schlüssel, der dritte eine Wage, der vierte einen Spaten. Um auch den trägeren Auffassungsgaben, welche diese Attribute nicht gleich deuten könnten, zu Hilfe zu kommen, konnte man in großen, schwarzen und gestickten Buchstaben lesen, am Saume des Brokatkleides: Ich heiße Adel, am Saume des seidenen Rockes: Ich heiße Geistlichkeit, am Saume des wollenen: Ich heiße Kaufmannsstand, und am Saume des leinenen: Ich heiße Bauernstand. Das Geschlecht der beiden männlichen Allegorien war dem Scharfblick des Zuschauers durch kürzere Röcke und ein Barett angedeutet, während die beiden weiblichen Allegorien ein längeres Kleid und eine Haube auf dem Kopfe trugen.
Nur Böswillige konnten aus der Poesie des Prologs nicht entnehmen, daß Ackerbau an Handelsstand, Adel an Geistlichkeit vermählt war, daß beide glückliche Paare einen schönen Delphin von Gold gemeinschaftlich besaßen, den sie nur der Schönsten zusprechen wollten. Sie durchwandelten die Welt und suchten die Schönheit, und als sie nacheinander die Königin von Golconda, die Prinzessin von Trebisund, die Tochter des Groß-Khans der Tartarei verschmäht hatten, waren Bauernstand und Geistlichkeit, Adel und Kaufmannsstand nach Paris gekommen, ruhten aus auf der Marmortafel des Justizpalastes, und gaben dem ehrenwerten Publikum so viel schöne Sprüche und Sentenzen zum Besten, als man damals nur bei irgendeinem Examen, eine Disputation oder einer Feierlichkeit der Fakultät der Künste, wo die Magister und Baccalaurei zu Doktoren wurden, nur immer vorbringen konnte.
Alles war auch wirklich sehr schön. Aber es gab im ganzen Gedränge, über das die vier Allegorien ihre Flut von Metaphern wetteifernd hingossen, kein aufmerksameres Ohr, kein heftiger klopfendes Herz, kein heller blitzendes Auge, keinen weiter vorgestreckten Hals, als das Auge, Ohr, Herz und Hals des Dichters, jenes rechtschaffenen Peter Gringoire, der einen Augenblick vorher der Freude, seinen Namen den beiden hübschen Mädchen zu nennen, nicht hatte widerstehen können. Er war einige Schritte zurück hinter den Pfeiler getreten, dort sah, hörte und genoß er sein Werk in vollen Zügen. Das wohlwollende Klatschen, womit sein Prolog begrüßt war, durchzuckte noch immer seine Nerven, und er war in jene Art entzückter Selbstbetrachtung versunken, womit ein Schriftsteller zu horchen pflegt, wie alle seine Gedanken, einer nach dem andern, aus dem Munde des Schauspieles in das schweigende Publikum fallen. Oh du würdiger Mann, Peter Gringoire!
Es tut uns sehr leid, berichten zu müssen, jenes erste Entzücken ward sehr bald gestört. Kaum hatte Gringoire seine Lippen an den berauschenden Becher der Freude und des Triumphes gesetzt, als ein Tropfen Bitterkeit sich in den Trank mischte. Ein zerlumpter Bettler, der, in der Masse verloren, keine Einnahme hatte halten können und ohne Zweifel keine hinreichende Entschädigung in der Tasche seiner Nachbarn fand, war auf den Einfall gekommen, sich auf irgendeinen hervorragenden Punkt zu setzen, um Blicke und Almosen auf sich hinzulenken; deshalb war er mit Hilfe der Pfeiler der hinteren Erhöhung bis zum Karnies hinaufgeklettert, das das Geländer am unteren Teil umzog; dort saß er und nahm die Aufmerksamkeit und das Mitleid der Menge mit seinen Lumpen und einem scheußlichen Geschwür in Anspruch, das seinen rechten Arm bedeckte. Übrigens sagte er kein Wort.
Sein Schweigen ließ den Prolog ohne Hindernis seinen Fortgang nehmen, und es wäre keine unangenehme Störung dazwischengekommen, hätte es ein unglückliches Verhängnis nicht gewollt, daß der Student Johannes von der Höhe seines Pfeilers herab den Bettler mit seiner Ziererei bemerkte. Der junge Spaßvogel brach in schallendes Gelächter aus und rief, ohne sich um die Unterbrechung des Schauspiels und der allgemein gespannten Aufmerksamkeit zu kümmern, spöttisch aus: „Seht da den Krüppel von Bettler!“
Jeder, der einen Stein in einen Sumpf voller Frösche warf oder ein Gewehr in einen Vogelschwarm abschoß, kann sich einen Begriff von der Wirkung machen, die diese Worte brachten. Gringoire wurde wie durch einen elektrischen Schlag geschüttelt. Der Prolog ward abgebrochen; alle Köpfe wandten sich unruhig auf den Bettler, der, weit davon entfernt, sich aus der Fassung bringen zu lassen, in jenem Vorfall nur eine Veranlassung zu reichlicher Ernte sah und mit halbgeschlossenen Augen und kläglicher Stimme die Worte sprach: „Habt Erbarmen!“
„Bei meiner Seele“, erwiderte Johannes, „es ist Clopin Trouillefou. Holla, Freund! Dein Geschwür war dir am Bein unbequem; du hast es auf den Arm gelegt!“
Nach diesen Worten warf er mit der Geschmeidigkeit eines Affen einen kleinen Groschen in den schmierigen Filz, den der Bettler mit seinem kranken Arme hinhielt. Der Bettler empfing gleichgültig das Almosen wie den Spott und fuhr mit kläglicher Stimme fort: „Habt Erbarmen!“
Dieses Zwischenspiel hatte die Aufmerksamkeit der Zuhörer beträchtlich vom Stücke abgelenkt. Viele Zuschauer, Robin Poussepain und alle Gerichtsschreiber klatschten dem sonderbaren Zwiegespräch lauten Beifall, das mitten im Prolog der Student mit seiner kreischenden Stimme und der Bettler mit seinem einförmigen Geplärr soeben zum besten gaben. Gringoire war darüber sehr verdrießlich. Wie er sich vom ersten Erstaunen erholt hatte, ermannte er sich und rief den vier Personen auf der Bühne zu: „Fahrt fort! Zum Teufel! Fahrt fort!“ Die beiden Unterbrecher würdigte er nicht einmal eines verächtlichen Blickes.
In dem Augenblick fühlte er, wie man ihn an dem Zipfel seines Überrocks zupfte. Es war der schöne Arm der Gisquette, der durch das Gitter gedrungen war und auf diese Weise seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
„Herr“, sagte das Mädchen, „spielen jene weiter?“
„Gewiß“, erwiderte Gringoire, über die Frage etwas betroffen.
„In dem Fall, Herr“, fuhr sie fort, „haben Sie die Güte, mir zu erläutern …“
„Was sie sagen werden?“ unterbrach sie Gringoire. „Sehr gern; hört!“
„Nein, was sie bis jetzt gesagt haben.“
Gringoire tat einen Satz zurück, wie ein Mann, den man an einer Wunde empfindlich berührt hat.
„Der Teufel hole das dumme Mädchen!“ brummte er zwischen den Zähnen. Von dem Augenblick an hatte Gisquette bei ihm verspielt.
Unterdes hatten die Schauspieler seiner Ermahnung gehorcht, und das Publikum schickte sich wieder zum Hören an, als es bemerkte, sie setzten sich wieder in Bereitschaft zu deklamieren. Viele Schönheiten gingen ihm zwar bei der Lötung verloren, womit jene die beiden Teile des also gröblich durchgeschnittenen Stückes wieder zusammenbrachten. Gringoire hegte auch diesen bitteren Gedanken. Die Ruhe stellte sich aber allmählich wieder her; der Student schwieg, der Bettler zählte einiges Geld in seinem Hute, und das Schauspiel erhielt wieder die Oberhand.
Es war wirklich ein schönes Werk, und man könnte, wie es scheint, vermittels einiger Veränderungen noch jetzt damit Erfolg haben. Die Einleitung, ein wenig gedehnt und leer, das heißt hinsichtlich der Regeln, war einfach und Gringoire bewunderte ihre Klarheit vor dem aufrichtigen Heiligtum seines inneren Richterstuhls. Wie man sich denken kann, waren die vier Personen von ihrer Reise durch die vier Erdteile, auf der sie keine Gelegenheit fanden, sich ihren goldenen Delphin auf gute Manier vom Halse zu schaffen, ein wenig müde. Damit war denn ein Lob des wunderbaren Fisches und tausend zarte Anspielungen auf den jungen Bräutigam der Margarete von Flandern verbunden, der damals in trauriger Abgeschiedenheit zu Amboise lebte und sich nicht einfallen ließ, daß Bauernstand und Geistlichkeit, Adel und Kaufmannsstand um seinetwillen eine Reise um die Welt gemacht hatten. Genannter Delphin also war jung, schön, stark und vor allem der Sohn des Löwen von Frankreich, ein herrlicher Vorsprung aller königlichen Tugenden! Ich gestehe, diese kühne Metapher ist bewunderungswürdig, und die Naturgeschichte des Theaters wird an einem Tage der Allegorie und der königlichen Hochzeitsfeier auf keine Weise von einem Delphin, Sohn des Löwen, sich abschrecken lassen. Das ist eben das seltene und Pindarische Gemisch, das den Enthusiasmus beweist. Dennoch, um auch der Kritik ihren Teil zu lassen, hätte der Dichter diese schöne Idee in weniger als zweihundert Versen entwickeln können. Aber das Mysterium sollte von zwölf Uhr mittags bis vier Uhr nachmittags, nach dem Befehle des Herrn Prévot, dauern, und es mußte also doch etwas gesagt werden. Übrigens hörte man mit aller Geduld zu.
Plötzlich öffnete sich, mitten in einem Streite zwischen Madame Kaufmannsstand und Madame Adel, als Meister Bauernstand den wunderbaren Vers sprach:
Nie sah man in dem Wald ein mut’ger Tier, die Tür nach der unbesetzten Galerie, die bis dahin auf so ungeziemende Weise geschlossen blieb, auf eine noch bei weitem mehr ungeziemende Art, und die laute Stimme des Türhüters rief: „Seine Eminenz der Kardinal von Bourbon!“
3. Der Herr Kardinal
Armer Gringoire! Der Lärm aller doppelten Petarden am St. Johannistage, die Salve von zwanzig Hakenbüchsen, das Auffliegen des Pulvermagazins am Tore du Temple hätte ihm nicht so schmerzhaft die Ohren verletzt, als in diesem feierlichen und dramatischen Augenblick die wenigen Worte im Mundes des Torhüters: „Seine Eminenz der Kardinal von Bourbon!“
Peter Gringoire freilich hegte weder Furcht noch Verachtung gegen den Kardinal. Er besaß weder jene Schwäche, noch diese Frechheit. Ein wahrer Eklektiker, wie man gegenwärtig sagen würde, gehörte er zu den erhabenen und festen Geistern, die immer fest, ruhig und gemäßigt, stets in der Mitte bleiben und von Vernunft und liberaler Philosophie übersprudeln, aber zugleich die Kardinäle auch hoch zu achten wissen. Ein treffliches und nie unterbrochenes Geschlecht von Philosophen, denen die Weisheit gleich einer zweiten Ariadne ein Knäuel gab, das sie seit Anfang der Welt im Labyrinth der menschlichen Dinge entwickeln, findet man sie in allen Zeiten als dieselben, das heißt mit einigen Veränderungen nach den Zeitverhältnissen wieder.
In dem unangenehmen Eindruck, den des Kardinals Gegenwart bei Peter Gringoire erweckte, lag also weder Haß noch Verachtung; allein der Dichter fürchtete eine abermalige Störung des Stückes. Seine Besorgnis ward nur zu bald verwirklicht. Das Erscheinen Seiner Eminenz brachte das Publikum in Aufruhr. Alle Köpfe wandten sich zur Galerie. Keiner wollte weiter hören. „Der Kardinal! Der Kardinal!“ ertönte es aus jedem Munde; der unglücklich Prolog ward zum zweiten Male unterbrochen.
Der Kardinal verweilte einen Augenblick auf der Schwelle der Galerie. Während er seinen ziemlich gleichgültigen Blick auf das Publikum warf, verdoppelte sich der Lärm. Jeder wollte ihn besser sehen; es schien, jeder wollte seinen eigenen Kopf auf die Schultern seines Vordermannes stellen. Er war auch wirklich ein hoher Herr, und sein Anblick mußte wohl jedes andere Schauspiel aufwiegen. Karl, Kardinal von Bourbon, Erzherzog und Graf von Lyon, Primas von Gallien, war durch seinen Bruder Pierre, Herrn von Beaujeu, der die älteste Tochter des Königs geheiratet hatte, und seine Mutter Agnes von Burgund zugleich mit Ludwig XI. und mit Karl dem Kühnen verwandt. Der vorherrschende Charakterzug dieses Primas war der Sinn eines Höflings und Ergebenheit gegen die Gewalt. Man mache sich deshalb eine Vorstellung von den zahllosen Verlegenheiten, die ihn diese doppelte Verwandtschaft schuf, und von den zeitlichen Klippen, zwischen denen seine gleistliche Barke lavieren mußte, um weder an Ludwig, noch an Karl zu scheitern, jener Szylla und Charybdis, die den Herzog von Nemours und den Connetable von Saint-Pol bereits verschlungen hatte. Dem Himmel sei Dank, er hatte die gefährliche Fahrt glücklich vollbracht und war ohne Hindernis nach Rom gelangt. Allein ob auch im Hafen, erinnerte er sich eben, weil er im Hafen war, nie ohne Unruhe der Gefahren seines so lange unruhigen und mühsamen politischen Lebens.
Übrigens war er ein gutmütiger Mann; er führte das Leben eines lustigen Kardinals, erheiterte sich gern mit dem königlichen Gewächs von Challoan, gab hübschen Mädchen weit lieber Almosen als alten Weibern, und war deshalb beim Pariser Volke sehr beliebt. Wenn er ausging, umgab ihn stets ein kleiner Hof von Bischöfen und Äbten aus hohem Stamm, mit munterm und galantem Sinn, die im Notfall auch ein gutes Mahl nicht verschmähten; mehr als einmal nahmen die trefflichen und andächtigen Frauen von St. Germain d’Auxerre gar großes Ärgernis, wenn sie des Abends bei den erleuchteten Fenstern des Palais Bourbon vorüberwandelten und von denselben Stimmen, die ihnen die Vesper gesungen hatten, beim Gläserklang die bacchischen Worte Benedikts XII. vernahmen: „Bibamus papaliter.“
Ohne Zweifel bewahrte ihn diese durch so gerechte Ansprüche erworbene Volkstümlichkeit vor jedem üblen Empfang der Menge, die den Augenblick vorher noch so unzufrieden und zur Achtung gegen einen Kardinal um so weniger gestimmt war, da sie an demselben Tage sich einen Papst wählen wollte. Jedoch hegen die Pariser keinen langen Groll; außerdem hatten die guten Bürger über den Kardinal dadurch gesiegt, daß sie das Stück zur Aufführung brachten, und mit diesem Triumph waren sie zufrieden. Außerdem war der Herr Kardinal ein schöner Mann; er trug ein prächtiges rotes Kleid und nahm sich sehr gut darin aus; das heißt, er hatte alle Frauen für sich, folglich die bessere Hälfte des Publikums. Gewiß wäre es ungerecht und ein Zeichen von schlechtem Geschmack, einen Kardinal auszupfeifen, weil er im Schauspiele auf sich hatte warten lassen, wenn er ein schöner Mann war und sein rotes Kleid geschmackvoll trug.
Er trat also ein, grüßte die Versammlung mit jenem Lächeln der Großen für ihr Volk, das jene seit undenklichen Zeiten für die Menge voneinander geerbt haben. Langsamen Schrittes ging er auf seinen Sessel von Scharlachsamt zu und schien seinen Mienen nach an ganz andere Dinge zu denken. Sein Gefolge, das wir gegenwärtig seinen Generalstab von Bischöfen und Äbten nennen würden, brach in die Galerie, nicht ohne Verdoppelung des Lärms und der Neugier des Parterres, ein. Alle suchten sie sich einander zu zeigen und zu nennen. Keiner sparte Verachtung und Schimpfwörter. Die Studenten fluchten. Es war ihr Tag; der Tag der Narrheit, der jährlichen Saturnalien und Orgien der Parlamentsschreiber und Studenten. Jede Schändlichkeit war an diesem Tage geheiligt und erlaubt. Jeder hatte sich einen der neuen Ankömmlinge der Galerie zur Zielscheibe genommen, einen schwarzen, grauen, weißen oder violetten Chorrock. Johannes Frollo von Molendino hatte, als Bruder des Archidiakons, sich keck einen roten auserkoren und sang kreischend mit frechen Blicken auf den Kardinal: „Cappa repleta mero!“
Alle diese Einzelheiten, die wir hier zur Erbauung des Lesers genau berichten, wurden so sehr von dem allgemeinen Lärm verschlungen, daß sie in ihm untergingen, bevor sie zur Galerie gelangten. Übrigens hätte der Kardinal sich darum nicht gekümmert; denn die Freiheit dieses Tages lag in den Sitten. Übrigens bekümmerte ihn auch eine andere Sorge, und seine Mienen zeigten durchaus, wie sehr er davon eingenommen war, nämlich die Gesandtschaft von Flandern, die fast zugleich mit ihm die Galerie betrat. Er war zwar kein großer Politiker und überrechnete auch nicht die möglichen Folgen der Heirat seiner Kusine Madame Margarete von Burgund mit dem Dauphin von Vienne; auch nicht, wie lange das zusammengeleimte Einverständnis zwischen dem Herzog von Österreich und dem König von Frankreich währen würde; auch die sehr geehrte Gesandtschaft des Herrn Herzogs von Österreich machte dem Kardinal keine Sorgen, aber sie war ihm in jeder Hinsicht lästig. Es war in der Tat ein wenig hart, daß er, Karl von Bourbon, unbekannte Bürgersleute wohl empfangen und bewirten mußte; er, ein Kardinal, keine höheren Personen als Schöffen, er, ein Franzose und munterer Gesellschafter, Flamländer und Biertrinker, die sich ihres Gerstensafts nicht einmal öffentlich schämten. Dies war gewiß eine der langweiligsten Fratzen, die er zum Vergnügen des Königs schneiden mußte.
Er wandte sich mit genau berechneter Grazie (denn er hatte lange darauf studiert) zur Tür, als der Türhüter in lautem Baß hineinrief: „Die Herren Abgesandten des Herrn Herzogs von Österreich!“
Hierauf traten mit einem Ernst, der dem munteren geistlichen Gefolge des Kardinals in grellem Kontrast stand, die achtundvierzig Gesandten Maximilians von Österreich paarweise ein. An ihrer Spitze wandelten der ehrwürdige Vater in Gott, Jehan, Abt von Saint-Bertin, Kanzler des goldenen Vlieses, und Jacques de Goy, Herr Dauby, Hochamtmann von Gent. In der Versammlung herrschte eine von unterdrücktem Lachen begleitete Stille, um alle die sonderbar klingenden Namen und bürgerlichen Würden zu vernehmen, die jeglicher dieser Personen in unerschütterlicher Ruhe dem Türhüter mitteilte, der sie dann verstümmelt durcheinander ins Publikum hineinwarf. Es waren Meister Loys Roelof, Schöffe der Stadt Löwen; Herr Paul von Baeust, Herr von Voirmizelle, Präsident von Flandern; Meister Jehan Coleghens, Bürgermeister von Antwerpen; Meister Georg de la Moere, erster Schöffe der Kuen der Stadt Gent; Meister Gheldorf van der Haye, ein anderer Schöffe der genannten Stadt usw., Amtsleute, Schöffen, Bürgermeister; Bürgermeister, Schöffen, Amtsleute; sämtlich steif, schwerfällig, geputzt mit Samt und Damast, gehüllt in schwarzseidene Oberkleider mit dicken goldenen Quasten, übrigens gutmütige flamländische Köpfe, würdige und strenge Gestalten. Einer war jedoch davon ausgenommen. Seine Gesichtszüge waren fein, listig, klug, sein Mund zur Hälfte der eines Affen, zur andern Hälfte der eines Diplomaten. Der Kardinal ging ihm mit drei Schritten und einer tiefen Verbeugung entgegen, und dennoch hieß er nur Wilhelm Rym, Rat und Pensionär der Stadt Gent.
Wenige Personen wußten, was er war. Ein seltener Geist, wäre er in den Zeiten einer Revolution im Strome vorangeschwommen; allein im fünfzehnten Jahrhundert ward er auf schleichende Intrigen und auf ein Leben in den Minen beschränkt, wie der Herzog von St. Simon sagt. Übrigens wußte der erste Minierer Europas ihn nach Verdienst zu schätzen. Rym intrigierte mit Ludwig XI. auf vertrautem Fuße und steckte oft seine Hand in die geheimen Arbeiten des Königs. Allein alle diese Dinge waren der Volksmenge unbekannt, die über die Höflichkeit des Kardinals gegen diese schmächtige Gestalt erstaunte.
4. Meister Jakob Coppenole
Während der Ratsherr von Gent und die Eminenz beide eine tiefe Verbeugung austauschten und mit leiser Stimme einige Worte wechselten, erschien ein Mann von hohem Wuchs, mit breiten Schultern und großem Gesicht zugleich neben Rym, um einzutreten; er glich einem Bullenbeißer neben einem Fuchs. Seine Mütze von Filz und sein ledernes Wams stachen sonderbar gegen Samt und Seide ab, die ihn umgaben. Der Türhüter hielt ihn für einen verirrten Reitknecht und wies ihn zurück.
„He, Freund, bleibt zurück!“
Der Mann mit dem ledernen Wams stieß ihn mit der Schulter.
„Was will der Schuft!“ rief er mit so lauter Stimme, daß die Worte im ganzen Saale widerhallten, während das Publikum auf dies sonderbare Zwiegespräch aufmerksam lauschte.
„Siehst du nicht, wer ich bin?“
„Euer Name?“ fragte der Türhüter.
„Jakob Coppenole.“ – „Euer Stand?“ – „Strumpfmacher, im Schilde der drei Kettchen zu Gent.“ – Der Türhüter fuhr zurück. Es war noch erträglich, Schöffen oder Bürgermeister anzukündigen; aber einen Strumpfmacher, wie hart! Der Kardinal stand auf Dornen. Das ganze Publikum horchte und schaute. Schon zwei Tage quälte sich die Eminenz, jene flamländischen Bären zu lecken, um ihnen den notwendigen Anstand zu erteilen, dessen sie bedurften, um im Publikum zu erscheinen, aber jener Tölpel war doch zu hart! Wilhelm Rym aber nahte sich dem Türsteher mit seinem feinen Lächeln.
„Kündigt Meister Jakob Coppenole, den Schreiber der Schöffen der Stadt Gent, an“, sagte er ihm ins Ohr. – „Türsteher“, rief der Kardinal mit lauter Stimme, „kündigt Meister Jakob Coppenole an, den Schreiber der Schöffen der durchlauchtigen Stadt Gent.“
Das war ein Fehler. Wilhelm Rym hatte ganz allein die Schwierigkeit beseitigt, aber Coppenole hatte die Worte des Kardinals vernommen. „Nein, bei Gottes Kreuz“, rief er mit einer Donnerstimme; „Jakob Coppenole, Strumpfmacher! Hörst du, Türsteher? Nichts mehr, nichts weniger. Gottes Kreuz! Strumpfmacher ist schon genug. Der Herr Erzherzog hat mehr als einmal in meinem Laden seine Handschuh gekauft.“
Gelächter und Beifallklatschen vernahm man von allen Seiten. Ein Witz wird stets in Paris verstanden und entbehrt deshalb nie des Beifalls. Hierzu kam noch, daß Coppenole zum Volke gehörte, und daß das ihn umgebende Publikum aus dem Volke bestand. Auch kam ihr gegenseitiges Verständnis schnell, elektrisch zustande, gleichsam als befänden sich alle auf einem ebenen Boden. Die hochfahrende Tölpelei des flamländischen Strumpfmachers, wie er die Hofleute in Verlegenheit brachte und demütigte, hatte in allen plebejischen Gemütern ein unbestimmtes und im fünfzehnten Jahrhundert noch nicht deutliches Gefühl von Würde erweckt. Jener Strumpfmacher war ja ihresgleichen und hielt dem Herrn Kardinal die Stange. Gewiß, ein süßer Gedanke für arme Teufel, die an Gehorsam und Achtung gegen die Diener der Sergeanten des Bailli, des Abtes von Ste. Geneviève, des Schleppenträgers Sr. Eminenz gewöhnt waren.
Coppenole grüßte stolz die Eminenz, die dem mächtigen und von Ludwig XI. gefürchteten Bürger den Gruß erwiderte, während Wilhelm Rym, der verständige und boshafte Mann, wie Phillipp von Comines ihn nennt, beide mit spöttischem und überlegenem Lächeln betrachtete. Der Kardinal war außer Fassung und verdrießlich; Coppenole ruhig und hochfahrend, dachte vielleicht, sein Titel als Strumpfmacher sei ebensogut wie jeder andere, und Marie von Burgund, Mutter jener Margarete, die Coppenole heute verheiratete, hätte vielleicht ihn als Kardinal weniger gefürchtet, wie als Strumpfmacher; denn kein Kardinal hätte die Genter gegen die Günstlinge der Tochter Karls des Kühnen in Aufruhr gebracht, kein Kardinal hätte die Volksmasse mit einem Wort gegen ihre Bitten und Tränen gestählt, als die Herrin von Flandern ihr Volk am Fuße des Schafotts um ihr Leben anflehte; während der Strumpfmacher nur seinen Ellenbogen zu erheben brauchte, damit die Köpfe der erlauchten Herren Guy von Hymbercourt und Kanzler Wilhelm Hugonet auf den Boden rollten.
Übrigens war für den armen Kardinal noch nicht alles vorbei; er mußte den bittern Kelch, in so schlechter Gesellschaft sich zu befinden, bis auf die Hefe leeren. Der Leser hat gewiß den frechen Bettler noch nicht vergessen, der im Anfange des Gesprächs sich an die Fransen der Galerie des Kardinals angeklammert hatte. Die Ankunft der erhabenen Gäste brachte ihn durchaus nicht dahin, sie loszulassen; während die Prälaten und Gesandten sich als flamländische Heringe auf den Stühlen der Tribüne zusammenpackten, hatte er seine Beine gemächlich über den Balken gekreuzt. Die Unverschämtheit war unerhört; auch war er niemand im ersten Augenblicke, solange die Aufmerksamkeit von andern Dingen in Anspruch genommen wurde, aufgefallen. Er seinerseits merkte durchaus nichts; er wiegte sein Haupt mit der Sorglosigkeit eines Neapolitaners und wiederholte von Zeit zu Zeit maschinenmäßig: „Habt Erbarmen!“ Auch war er wahrscheinlich der einzige im ganzen Publikum, der bei dem Zank des Türstehers mit Coppenole nicht einmal geruht hatte, das Haupt zu wenden. Nun wollte der Zufall, daß der Meister Strumpfmacher aus Gent, mit dem das Volk schon so lebhaft sympathisierte, in der ersten Reihe der Galerie und zwar gerade über dem Bettler sich niedersetzte. Man erstaunte nicht wenig, als man erblickte, wie der flamländische Gesandte, nachdem er den Bettler unter seinen Augen genau betrachtet hatte, ihn freundschaftlich auf die mit Lumpen bedeckte Schulter klopfte. Der Bettler drehte sich um, Überraschung, Wiedererkennung, Herzensergießung prägte sich auf beiden Gesichtern aus; dann knüpfte der Strumpfmacher mit dem Bettler leise ein Gespräch an, ohne sich um die übrigen Zuschauer zu bekümmern; beide drückten sich die Hände, und die Lumpen Clopins brachten, auf dem goldgewirkten Brokat der Estrade ausgebreitet, denselben Eindruck hervor, wie eine Raupe auf einer Orange.
Die Neuheit dieses sonderbaren Auftritts erweckte einen so fröhlichen Lärm im Saale, daß der Kardinal ihn bald bemerken mußte; er lehnte sich hinüber, und da er von seinem Sitze aus nur unvollkommen den schmutzigen Kittel des Bettlers sehen konnte, glaubte er natürlich, der Bettler bitte um Almosen, und rief, empört über die Keckheit: „Herr Bailli des Palais, werft den Schuft in den Fluß!“
„Gottes Kreuz, Herr Kardinal“, rief Coppenole, ohne die Hand Clopins fahren zu lassen, „er ist einer meiner Freunde!“
„Brav! Brav!“ rief die Masse, und von dem Augenblick an besaß Meister Coppenole in Paris wie in Gent großen Kredit beim Volk; denn Leuten nach seinem Schnitt bleibt er nie aus, wenn sie so täppisch sind, wie Philipp von Comines sagt. Der Kardinal biß sich auf die Lippen. Er neigte sich zu seinem Nachbar, dem Abt von Ste. Geneviève, und sagte mit halblauter Stimme: „Schöne Gesandten schickt uns der Herr Erzherzog, um Madame Margarete anzukündigen.“ – „Eure Eminenz“, erwiderte der Abbé, „verliert Ihre Höflichkeit bei diesen flamländischen Schweinerüsseln. Margaritas ante porcos.“
„O nein“, sagte lächelnd der Kardinal. „Porcos ante Margaritam.“
Der kleine Hof im Chorrock war über dies Wortspiel entzückt; der Kardinal fühlte einige Erleichterung, denn mit Coppenole war er quitt; auch sein Witz fand Beifall.
Jetzt mögen diejenigen unserer Leser, die imstande sind, sich ein Bild oder eine Idee zu verallgemeinern, wie es im heutigen Stile heißt, die Frage erlauben, ob sie sich eine deutliche Vorstellung von dem Schauspiele bilden, welches das weite Rechteck des großen Saales in dem Augenblicke, bei dem wir verweilen, darbot. Mitten im Saal stand, an die westliche Mauer gelehnt, eine prächtige und breite Galerie mit Goldbrokat, auf die eine Menge von ernsten Personen, angekündigt von der kreischenden Stimme des Türhüters, durch eine kleine gotische Tür eingetreten waren. In den ersten Reihen saßen viel ehrwürdige Personen, in Hermelin, Samt und Scharlach gehüllt. Um die Galerie, die schweigend und ernst blieb, herrschte unten großer Lärm und großes Gedränge. Gewiß, das Schauspiel war merkwürdig und verdiente wohl die Aufmerksamkeit der Zuschauer. Was sollte aber dort unten, ganz am Ende, jene Bühne, mit vier buntscheckig gekleideten Personen oben und vier andern unten? Was bedeutete an der Seite der Bühne ein Mann mit blassem Gesicht und schwarzem Kleid? Ach, lieber Leser, es war Peter Gringoire und sein Prolog.
Von dem Augenblick an, wo der Kardinal hereintrat, hatte Gringoire sich unaufhörlich um das Heil seines Prologs gequält; zuerst hatte er den plötzlich abbrechenden Schauspielern eingeschärft, fortzufahren und die Stimme zu erheben; als er aber sah, daß niemand hörte, bat er sie selbst zu schweigen; seit einer Viertelstunde, ungefähr während der Zeit, während der die Unterbrechung dauerte, hatte er unaufhörlich mit dem Fuße gestampft, Gisquette und Liénarde angeredet; seine Nachbarn zur Fortsetzung ermutigt; alles vergeblich; keiner ließ vom Kardinal, der Gesandtschaft und der Galerie ab, dem einzigen Zentrum des ungeheuren Zirkels aller Blicke. Man muß auch glauben, und wir sagen es mit Bedauern, daß der Prolog in dem Augenblick lästig zu werden anfing, als Seine Eminenz erschien und auf so furchtbare Weise Störung verursachte. Übrigens wurde auf der Marmortafel, wie auf der Galerie, dasselbe Schauspiel gegeben, ein Konflikt zwischen Bauernstand und Geistlichkeit, zwischen Adel und Kaufmannsstand. Und viele Leute zogen es vor, ihn lebend, atmend, handelnd, sich stoßend, als Fleisch und Knochen in der flamländischen Gesandtschaft, dem bischöflichen Hofe, unter dem Kleid des Kardinals und Coppenoles Wams zu schauen, als geschminkt, geputzt, in Versen redend und in gelbe und weiße Tuniken, worein ihn Gringoire gesteckt hatte, eingewickelt. Als aber unser Dichter sah, die Ruhe sei ein wenig hergestellt, verfiel er auf eine Kriegslist, die alles hätte retten können. Er wandte sich zu einem Nachbar, einer braven, breiten und geduldigen Gestalt, mit den Worten: „Herr, wenn man doch wieder anfinge!“ – „Was?“ fragte sein Nachbar. – „Nun, das Mysterium.“ – „Wie es Euch beliebt, Herr.“ –
Dieser halbe Beifall genügte Gringoire. Er betrieb sein Geschäft selbst, mischte sich so gut wie möglich unter die Menge und fing an zu schreien: „He! Fangt wieder an! Fangt wieder das Mysterium an!“
„Teufel!“ rief Johannes von Molendino, „was singen die dort hinten? (Gringoire machte Lärm für vier.) Sagt, Kameraden, ist das Mysterium nicht schon aus? Die wollen wieder anfangen! Das ist nicht recht!“
„Nein, nein!“ riefen alle Studenten, „nieder mit dem Mysterium!“ Aber Gringoire vervielfältigte sich und schrie nur um so stärker: „Fangt wieder an!“
Dies Geschrei zog die Aufmerksamkeit des Kardinals auf sich. „Herr Bailli des Palais“, sagte er zu einem großen schwarzen Mann, der nicht weit von ihm entfernt stand, „riechen die Teufel den Weihkessel? Sie machen einen Höllenlärm.“
Der Bailli des Palais nahte sich Ihrer Eminenz und setzte ihr stotternd den Zwiespalt im Volk auseinander, nicht ohne ihr höchstes Mißvergnügen zu befürchten: wie Mittag vor Ihrer Eminenz da war, und wie die Schauspieler gezwungen wurden, anzufangen, ohne Ihre Eminenz erwarten zu können. Der Kardinal lachte laut. „Meiner Treu“, sagte er, „der Herr Rektor der Universität hätte wohlgetan, es ebenso zu machen. Was meint Ihr, Meister Wilhelm Rym?“
„Durchlauchtiger Herr“, erwiderte Wilhelm Rym, „seien wir zufrieden, der einen Hälfte glücklich entgangen zu sein. So haben wir immer gewonnen.“ – „Dürfen die Schurken ihre Posse fortspielen?“ fragte der Bailli. – „Nur weiter, mir gilt es gleich; ich will unterdes in meinem Brevier lesen.“
Der Bailli trat an den Rand der Galerie und rief, nachdem er durch eine Bewegung der Hand Stillschweigen geboten:
„Bürger und Einwohner! Um diejenigen, die wollen, daß man wieder anfängt, und auch diejenigen, die wollen, daß man aufhört, zu befriedigen, befiehlt die Eminenz, daß man weiterspiele.“
Beiden Parteien kostete es Überwindung, sich in dies Schicksal zu ergeben. Der Schriftsteller und das Publikum hegten darüber noch lange Groll gegen den Kardinal.
Die Schauspieler begannen aufs neue, ihre Verse zu deklamieren, und Gringoire hoffte wenigstens, der noch übrige Teil seiner Dichtung werde gehört werden. Doch ach, auch hierin ward er bald getäuscht, wie in den übrigen Träumen seiner Hoffnung. Im Publikum herrschte einige Stille; allein Gringoire hatte nicht bemerkt, daß in dem Augenblick, wo der Kardinal den Befehl zum Weiterspielen gab, die Galerie bei weitem noch nicht gefüllt war. Nach den flamländischen Gesandten kamen neue Personen, deren Namen, von der kreischenden Stimme des Türhüters mitten in den Dialog geschleudert, dort beträchtliche Verwüstung anrichteten. Man denke sich mitten in einem Drama das Gekreisch eines Türstehers als Parenthese zwischen zwei Versen! Es war unerträglich!
Gringoire ward über diese sonderbare Begleitung seiner Verse, durch die es schwer ward, dem Stück zu folgen, um so mehr empört, als er sich nicht verheimlichen konnte, wie die Teilnahme immer stieg, und wie seinem Werke weiter nichts fehlte, als daß man es hören konnte. Es war wirklich schwierig, sich eine innigere und mehr dramatische Verschlingung zu erdenken. Die vier Personen des Prologs klagten in ihrer furchtbaren Verlegenheit, als Venus in Person (vera incessu patuit dea) in einem schönen Kleide auftrat, worauf das Wappen der Stadt Paris, ein Schiff, gestickt war. Sie nahm jenen der schönsten Frau versprochenen Delphin für sich selbst in Anspruch. Jupiter, dessen Donner man im Ankleidezimmer schon brüllen hörte, kam herbei, sie zu unterstützen, und die Göttin war im Begriff, den Sieg davonzutragen, das heißt, einfach gesprochen, den Herrn Dauphin zu heiraten, als ein kleines, in weißen Damast gekleidetes Kind erschien, das, als deutliche Personifizierung der Prinzessin von Flandern eine Perle in der Hand trug, um mit Frau Venus zu kämpfen. Ein wahrer Theatercoup und zugleich die entscheidende Wendung des Stückes. Nach einigem Zank waren Venus, Margareta und die Allegorien übereingekommen, sich auf das scharfsinnige Urteil der heiligen Jungfrau zu berufen. Außerdem war noch eine schöne Rolle die Leiter hinaufgestiegen, Dom Pedro, König von Mesopotamien, aber bei den vielen Unterbrechungen konnte man nicht unterscheiden, wozu sie eigentlich da war.
Aber es ist um das Stück geschehen. Denn ach, Meister Coppenole, der Strumpfmacher, steht plötzlich auf, und Gringoire vernimmt, wie er mitten in allgemein gespannter Aufmerksamkeit die fluchwürdige Rede hält:
„Ihr Herrn Bürger und Junker von Paris! Gottes Kreuz, mir ist unbegreiflich, was wir hier treiben! Ich sehe dort im Winkel auf dem Gerüst Leute, die sich das Ansehn geben, als wollten sie sich schlagen; ich weiß nicht, ob das ein Mysterium ist, wie ihr’s nennt, aber es ist langweilig; sie zanken sich mit der Zunge und tun weiter nichts. Schon seit einer Stunde erwarte ich den ersten Schlag; nichts kommt; es sind Memmen, die sich mit Schimpfwörtern kratzen. Man hätte Faustkämpfer aus London und Rotterdam kommen lassen sollen; dann sähet ihr Faustschläge, die man weithin gehört hätte; das wäre schön! Aber dies da ist erbärmlich! Sie sollten wenigstens einen Mohrentanz oder eine andere Mummerei zum besten geben. Von dem da hat man mir nichts gesagt, sondern ein Narrenfest und die Wahl eines Narrenpapstes versprochen. Auch wir haben in Gent unsern Narrenpapst, und Gottes Kreuz! Hierin stehen wir keinem nach. Aber wir machen’s so: Man versammelt sich, wie hier; dann steckt jeder nach der Reihe seinen Kopf durch ein Loch und schneidet den andern eine Fratze; derjenige, dessen Fratze die häßlichste ist, wird unter dem Zuruf aller zum Papst gewählt. Das ist sehr spaßhaft. Wollt ihr, daß wir euern Papst nach der Sitte meines Landes wählen? Das ist immer weniger langweilig, als diese Schwätzer zu hören. Wollen sie ebenfalls ihre Fratze in der Luke schneiden, so sollen sie mitspielen. Was meint ihr, ihr Herren Bürger? Hier ist ein wunderliches Gemisch beider Geschlechter, und wir haben hier genug häßliche Gesichter, um eine schöne Fratze zu schneiden.
Der Vorschlag des Strumpfmachers ward mit solcher Begeisterung von den Bürgern aufgenommen, die sich geschmeichelt fühlten, Junker genannt zu werden, daß jeder Widerstand nutzlos war. Man mußte dem Strome folgen. Gringoire verbarg sein Antlitz mit beiden Händen.
5. Quasimodo
In einem Augenblick war alles bereit, Coppenoles Einfall zur Ausführung zu bringen. Bürger, Studenten und Gerichtsschreiber legten Hand ans Werk. Die der Marmortafel gegenüberliegende kleine Kapelle ward zum Theater für die Fratzen ausgewählt. Eine zerbrochene kleine Fensterscheibe in Form der gotischen Rosette über der Tür ließ einen steinernen Kreis offen, durch den, wie man übereinkam, die Bewerber den Kopf stecken sollten. Um dort hinaufzureichen, genügte es, auf die Tonnen zu klettern, die man, ich weiß nicht woher, herbeigeschafft und so gut wie möglich aufeinandergelegt hatte. Es war beschlossen, jeder Bewerber, Mann oder Weib (denn man konnte auch eine Päpstin wählen), sollte, um den Eindruck der Fratze jungfräulich und firsch zum besten zu geben, sich das Gesicht verhüllen und in der Kapelle verbergen, bis der Augenblick der Erscheinung gekommen wäre. In einem Augenblick war die Kapelle voll Bewerber, hinter denen man die Tür zuschloß.
Coppenole befahl, leitete und ordnete von seinem Platze aus alles. Während des Lärms hatte sich der Kardinal, ebenso wie Gringoire außer Fassung gebracht, mit seinem Gefolge unter dem Vorwande der Vesper und anderer Geschäfte entfernt, ohne daß die Volksmasse, die seine Ankunft in solche Aufregung versetzt, sich im geringsten um seinen Abgang bekümmerte.
Die Fratzen begannen. Die erste Figur, die in der Luke sich zeigte, hatte rote, aufgeschlagene Augenwimpern, einen Mund, der aufgerissen war wie ein Rachen, und eine Stirn, die an Runzeln den Husarenstiefeln aus Napoleons Herrschaft glich. Sie erweckte ein so unauslöschliches Gelächter, daß Homer jenes Publikum für seine Götter gehalten hätte. Eine zweite, dritte Fratze folgte, dann eine vierte, eine fünfte, und stets ward Gelächter und Freudengeschrei verdoppelt.
Es gab weder Studenten, noch Gesandte, noch Bürger, weder Männer, noch Weiber; es gab keinen Clopin Trouillefou, keinen Gilles Lecornu, keinen Robin Poussepain; jede Einzelheit erlosch in der allgemeinen Ausgelassenheit. Der ganze Saal war nichts als ein großer Schmelzofen von Frechheit und Lustbarkeit, wo jeder Mund ein Schrei, jedes Auge ein Blitz, jedes Gesicht eine Fratze war, alles schrie und heulte. Die sonderbaren Gesichter, welche in der Luke nacheinander mit den Zähnen knirschten, glichen in die Glut geschleuderten Bränden; von der glühenden Volksmasse erhob sich, wie der Dunst des Schmelzofens, ein scharfes pfeifendes Geräusch, lärmend wie die Flügel einer Wespe.
„Ho! He! Verflucht! – Sieh die Fratze! – Sie taugt nichts. – Eine andere! – Guillemette Maugerepuis, sieh das Ochsenmaul! Es fehlen ihm nur die Hörner. Dein Mann ist es nicht. – Eine andere Fratze! – Betrug! Man darf nur sein eigenes Gesicht zeigen! – Ich ersticke! – Da ist einer, dessen Ohren nicht hindurch können!“ Und so weiter.
Gringoire hatte sich indessen wieder gesammelt, nachdem der erste Augenblick der Niedergeschlagenheit vorüber war. Er stählte sich gegen sein Unglück. „Fahrt fort!“ hatte er zum drittenmal seinen Schauspielern, den Sprechmaschinen, zugerufen; dann schritt er mit großen Schritten vor der Marmortafel vorüber und faßte den Gedanken, auch seinerseits sich in der Luke der Kapelle zu zeigen, wäre es auch nur, um das Vergnügen zu haben, dem undankbaren Volk eine Fratze zu schneiden. – Aber nein, dachte er, das wäre meiner unwürdig; keine Rache! Kämpfen wir bis ans Ende! Groß ist der Einfluß der Poesie aufs Volk; ich führe es mir zurück! Sehen will ich, wer den Sieg gewinnt, die Fratzen oder die schönen Künste.
Ach, er war der einzige Zuschauer seines Stückes geblieben! Es war ihm noch schlimmer ergangen; denn er sah nur noch die Rücken. Aber nein, auch der ungeduldige dicke Mann, den er schon einmal im kritischen Augenblick um Rat fragte, stand mit dem Gesicht gegen die Bühne.
Gringoire ward im Grunde seines Herzens über die Treue seines einzigen Zuschauers gerührt. Er ging auf ihn zu, schüttelte ihn sacht am Arm, ihn anzureden; der brave Mann hatte sich nämlich auf das Geländer gestützt und schlief ein wenig. „Herr“, sagte Gringoire, „ich danke Euch!“ – „Wofür?“ fragte der dicke Mann gähnend. – „Ich sehe, was Euch langweilt“, begann der Dichter aufs neue; „der Lärm da hindert Euch, gemächlich zuzuhören. Beruhigt Euch. Euer Name soll dafür auf die Nachwelt kommen; beliebt es Euch, mir ihn zu nennen.“ – „Renauld Chateau, Siegelbewahrer des Châtelet von Paris, Euch zu dienen.“ – „Hier seid Ihr der einzige Repräsentant der Musen.“ – „Zu gütig, Herr.“ – „Ihr seid der einzige, der das Stück, wie es sich geziemt, gehört hat. Wie findet Ihr es?“ – „Oh, Oh!“ erwiderte die nur zur Hälfte erwachte Magistratsperson, „recht hübsch, in der Tat.“
Gringoire mußte sich mit diesem Lob begnügen; denn ein Donner des Beifalls, durchmischt mit wunderbarem Zuruf, durchschnitt ihr Gespräch. Der Narrenpapst war gewählt. – „Bravo!“ rief das Volk von allen Seiten, und wirklich strahlte eine wunderbare Fratze in dem Augenblick aus der Fensterluke. Nach allen fünfeckigen, sechseckigen, unregelmäßigen Gesichtern, welche in der Luke aufeinander gefolgt waren, ohne das Ideal des Grotesken, das sich in der trunkenen Einbildungskraft des Volkes gebildet hatte, zu verwirklichen, konnte nur eine so erhabene Fratze, welche die Versammlung jetzt blendete, alle Stimmen vereinigen. Meister Coppenole selbst klatschte Beifall, und Clopin Trouillefou, der ebenfalls ein Mitbewerber war (Gott weiß, wie hohen Grad der Häßlichkeit sein Gesicht erreichen konnte), gestand ein, er sei besiegt. Wir tun dasselbe und wollen es nicht versuchen, dem Leser von jener viereckigen Nase, dem verzogenen Mund, dem kleinen linken Auge mit roten struppigen Brauen, während das rechte unter einer ungeheuren Warze verschwand, eine Vorstellung zu geben. Die Zähne ragten hier und da, wie die Zinnen einer Festungsmauer, hervor; die Lippe war schwielig, und ein Zahn drängte sich hinein, gekrümmt wie der eines Elefanten; das Kinn war gabelförmig und der ganze Ausdruck des Gesichts ein Gemisch von Bosheit, Erstaunen und Trauer. Ist es möglich, so denke man sich dies alles in einem.
Der Zuruf war allgemein; man stürzte in die Kapelle und führte den glücklichen Narrenpapst im Triumph heraus. Aber da stieg Erstaunen und Bewunderung aufs höchste; denn die Fratze war ein Gesicht oder vielmehr die ganze Person war eine Fratze. Ein dicker, von roten Haaren starrender Kopf; zwischen beiden Schultern ein ungeheurer Höcker, dessen Rückwirkung vorn bemerklich war; ein System von so sonderbar gedrehten Hüften und Beinen, daß sie sich nur an den Knien berühren konnten und von vorn gesehen zwei gekreuzten Sicheln glichen, die in einer Faust gehalten werden; breite Füße, ungeheure Hände und bei aller dieser Entstellung ein furchtbar kräftiger, mutiger und behender Gang; eine sonderbare Ausnahme von dem ewigen Gesetz, wonach Kraft wie Schönheit aus Harmonie entspringt. Dies war der Papst, den die Narren sich wählten. Man konnte ihn für einen zerbrochenen und schlecht wieder zusammengefügten Riesen halten.
Als diese Zyklopenart auf der Schwelle der Kapelle erschien, als er unbeweglich, untersetzt, ebenso breit wie groß, viereckig auf der Basis, wie ein großer Mann sagt, dastand, erkannte ihn das Volk sogleich an seinem halb roten, violetten Oberkleid, das mit silbernen Glocken durchstrickt war, besonders aber an seiner vollkommenen Häßlichkeit, und rief einstimmig: „Das ist Quasimodo, der Glöckner! Quasimodo, der Bucklige von Notre-Dame! Quasimodo, der Einäugige! Quasimodo, der Krummbeinige!“
Man sieht, der arme Teufel brauchte nur unter seinen Spitznamen zu wählen. „Schwangere Weiber, nehmt euch in acht!“ riefen die Studenten; „oder alle, die ihr Luft habt, es zu werden“, meinte Johannes. Die Frauen verhüllten sich wirklich das Gesicht. „Oh, der häßliche Affe!“ sagte eine. – „So boshaft wie häßlich“, meinte eine andere. – „Es ist der Teufel“, fügte eine dritte hinzu. – „Unglücklicherweise wohne ich neben Notre-Dame; ich höre des Nachts, wie er auf den Dachtraufen herumklettert.“ – „Ja, mit den Katzen.“ – „Er klettert immer auf unsern Dächern.“ – „Wirft uns Steine durch den Kamin.“ – „Gestern schnitt er mir ein Gesicht durch meine Luke; ich erschrak, denn ich glaubte, es wäre ein Mensch.“ – „Oh gewiß, er schwärmt mit dem Teufel. Gestern ließ er einen Besen auf dem Blei meines Daches liegen.“ – „Oh, das scheußliche Gesicht des Verwachsenen!“ – „Oh, die häßliche Seele!“ – „Pfui!“ –
Die Männer dagegen waren entzückt und klatschten Beifall. Quasimodo, die Ursache des Lärms, stand düster und ernst im Tore der Kapelle und ließ sich bewundern. Ein Student (Robin Poussepain, wenn ich nicht irre) lachte ihm ins Gesicht und ging zu nahe auf in zu. Quasimodo begnügte sich damit, ihm beim Gürtel zu fassen und zehn Schritte weit von sich ins Gedränge zu schleudern, ohne jedoch ein Wort zu sagen. Meister Coppenole nahte sich ihm erstaunt: „Gottes Kreuz! Heiliger Vater! Du hast die schönste Häßlichkeit, die ich mein Leben lang sah. Du verdientest die Papstwürde zu Rom, wie zu Paris!“ Mit den Worten legte er ihm munter die Hand auf die Schulter; Quasimodo rührte sich nicht. Coppenole fuhr fort: „Du bist ein Schelm, mit dem es mich zu schmausen juckt, und sollte es mich auch ein neues Dutzend von zwölf Livres Tournois kosten. Was meinst du?“ Quasimodo erwiderte nichts. „Gottes Kreuz!“ sagte der Strumpfwirker, „bist du taub?“ Er war es wirklich. Quasimodo fing an, sich über Coppenoles Benehmen zu ärgern und wandte sich plötzlich zu ihm mit so furchtbarem Zähneknirschen, daß der flamländische Riese, wie ein Bullenbeißer vor einer Katze, zurückfuhr.
Hierauf bildete sich rings um die sonderbare Gestalt ein Kreis des Schreckens und der Achtung, der wenigstens fünfzehn Fuß vor ihr frei ließ. Ein altes Weib machte dem Meister Coppenole bemerklich, Quasimodo sei taub.
„Taub!“ sagte der Strumpfmacher mit grobem flamländischem Lachen; „Gottes Kreuz! Er ist ein ganz vollkommener Papst!“ – „Ja, ich kenne ihn“, rief Jehan, der endlich von seinem Säulenkapitäl hinabgestiegen war, um Quasimodo mehr in der Nähe sich zu besehen; „er ist der Glöckner meines Bruders, des Archidiakonus. – Guten Tag, Quasimodo.“ – „Ein Teufel von Menschen“, sagte Robin Poussepain, gequetscht durch seinen Fall. „Er erscheint und ist verwachsen; er geht und ist krummbeinig; er sieht und ist einäugig; Ihr sprecht mit ihm, und er ist taub. Wozu gebraucht der Polyphem da seine Zunge?“ – „Wenn er will, so spricht er“, sagte die Alte, „stumm ist er nicht; er ward nur taub vom Glockenläuten.“ – „Das fehlt ihm noch“, bemerkte Jehan. – „Er hat ein Auge zu viel“, fügte Robin Poussepain hinzu. – „Nein“, erwiderte scharfsinnig Jehan, „ein Einäugiger ist unvollständiger als ein Blinder; er weiß, was ihm fehlt.“
Unterdes hatten alle Bettler, Lakaien, Beutelschneider, mit Studenten vereint, die pappene Tiara und den Talar des Narrenpapstes aus dem Schranke der Gerichtsschreiber in Prozession geholt. Quasimodo ließ sich ohne die Stirn zu runzeln, mit stolzer Gelehrigkeit dieses Gewand anlegen; dann setzte man ihn auf eine bunte Bahre. Zwölf Offiziere aus der Narrenbrüderschaft hoben ihn auf ihre Schultern; und eine Art bitterer, verächtlicher Freude verbreitete sich über das düstere Antlitz des Zyklopen, als er unter seinen häßlichen Füßen alle die schönen, stattlichen und wohlgestalteten Männer erblickte. Dann setzte sich die zerlumpte und heulende Prozession in Gang, um nach alter Sitte die inneren Gänge des Palastes zu durchwandeln, bevor sie die Straßen und die Kreuzwege durchzöge.
6. Die Esmeralda
Wir berichten unsern Lesern mit Vergnügen, daß Gringoire und sein Stück sich währenddessen wacker hielten. Die von ihm angespornten Schauspieler hörten nicht auf, seine Komödie zu deklamieren, und er hörte auch nicht auf, auf seine Verse zu horchen. Er hatte jetzt den Entschluß gefaßt, die Aufführung bis zum Schluß durchzusetzen; denn er zweifelte noch nicht an der Wiederkehr der Aufmerksamkeit des Publikums. Dieser Funke von Hoffnung ward wieder belebt, als er Quasimodo erblickte und als Coppenole mit seinem lärmenden Gefolge des Narrenpapstes unter großem Geräusch den Saal verließ. Gottlob, dachte er, jetzt gehen die Unruhstifter davon; aber ach, die Unruhstifter waren das ganze Publikum; der ganze Saal war in einem Augenblick geleert.
Die Wahrheit zu sagen, einige Zuschauer blieben, zerstreut oder in Gruppen um die Pfeiler, noch zurück: Greise, Weiber und Kinder, die mit dem vergangenen Lärm sich begnügten. Einige Studenten saßen noch auf den Fenstersimsen und blickten auf den Platz.
Nun, dachte Gringoire, hier sind noch genug, um das Ende meines Mysteriums anzuhören. Es sind ihrer wenige, aber ein gebildetes, ein auserlesenes Publikum. Aber plötzlich blieb eine Symphonie aus, die beim Auftreten der heiligen Jungfrau den größten Eindruck machen sollte. Gringoire bemerkte, daß seine Musik mit der Prozession des Narrenpapstes abgegangen war. „Fahrt fort“, sagte er mit stoischem Gleichmut.
„Kameraden“, rief plötzlich einer der jungen Schelme auf den Fenstersimsen, „die Esmeralda, die Esmeralda!“
Dieses Wort hatte eine magische Wirkung. Alle, die noch im Saal geblieben waren, stürzten an die Fenster, kletterten die Mauern herauf, um zu sehen, und riefen: „Die Esmeralda! Die Esmeralda!“
Zugleich hörte man draußen einen großen Lärm des Beifalls.
„Was soll das? Die Esmeralda?“ sagte Gringoire, verzweifelnd die Hände faltend.
„Oh mein Gott! Es scheint, jetzt ist die Reihe an den Fenstern.“ Er wandte sich zu der Marmortafel und sah, daß die Vorstellung unterbrochen war. Dies war gerade der Augenblick, wo Jupiter mit seinem Blitze erscheinen sollte. Nun aber stand Jupiter unbeweglich unten am Theater.
„Michel Gibourne“, rief der gereizte Dichter, „steige hinauf! Was machst du da? Ist das deine Rolle?“ – „Ach“, sagte Jupiter, „ein Student hat die Leiter fortgenommen.“ Gringoire blickte hin; die Sache war nur zu wahr. Alle Verbindung zwischen dem Knoten und seiner Entwicklung war abgeschnitten. „Der Schuft“, murmelte er, „warum nahm er die Leiter?“ – „Um die Esmeralda zu sehen“, erwiderte Jupiter niedergeschlagen. „Er sagte: ‚Sieh da, eine Leiter, die zu nichts dient, und nahm sie fort.‘ “
Das war der letzte Schlag. Gringoire empfing ihn mit Ergebung. „Mag euch der Teufel holen“, sagte er zu den Schauspielern, „seid ihr bezahlt, bin ich’s auch!“ Dann trat er gesenkten Hauptes seinen Rückzug an; allein, wie ein General, der tapfer gekämpft hat, war er der letzte. Und als er dann die gewundene Treppe des Palais hinabstieg, murmelt er vor sich hin: „Ein Pöbel von Eseln und Schweinen sind diese Pariser!“ Sie kommen, ein Mysterium zu hören, und hören nichts! Sie bekümmern sich um alles, um Clopin Trouillefou; aber nicht um die Jungfrau Maria. Hätte ich das gewußt, ich hätte euch Jungfrau’n Marien gegeben! Und ich komme, Gesichter zu sehen, und sehe nur Rücken! Es ist wahr, Homerus hat einst in den griechischen Weilern gebettelt, und Naso starb in der Verbannung bei Moskowitern. Aber der Teufel soll mich schinden, wenn ich verstehe, was sie mit ihrer Esmeralda wollen. Was heißt das Wort? Es ist zigeunerisch.”
7. Von der Szylla in die Charybdis
Die Nacht pflegt im Januar früh zu beginnen. – Die Straßen waren schon dunkel, als Gringoire das Palais verließ. Dies Dunkel gefiel ihm; schon dauerte es ihm zu lange, eine kleine und einsame Gasse zu erreichen, um dort gemächlich nachzusinnen, damit der Philosoph den ersten Verband auf die Wunde des Dichters legte. Die Philosophie war außerdem sein einziger Zufluchtsort; denn er hatte keine Wohnung. Nach dem verunglückten Theaterstreich wagte er in seine Wohnung, in der Straße Grenier sur l’Eau, dem Tor au Foin gegenüber, nicht wieder heimzukehren; denn er hatte darauf gerechnet, daß der Herr Prévot ihm für sein Hochzeitsgedicht genug Geld geben würde, um die sechs Monate Miete, die er schuldig war, d. h. zwölf Sous, zu zahlen. Wie er sich eben anschickte, den Platz des Palais zu überschreiten, um das gewundene Labyrinth der Altstadt zu erreichen, sah er, wie die Prozession des Narrenpapstes ebenfalls das Palais verließ und mit großem Lärm, mit Fackeln und Musik quer über den Hof auf ihn zustürzte. Dieser Anblick reizte aufs neue die wunden Stellen seiner Eigenliebe: Er floh. Bei der Bitterkeit seines dramatischen Mißgeschicks erregte ihn jegliche Erinnerung an das Fest des Tages und brachte seine Wunde zum Bluten. Er wollte die Brücke Saint-Michel erreichen, dort liefen Kinder mit Feuerlanzen und Raketen hin und her.
„Der Teufel hole das Feuerwerk“, sagte Gringoire und wandte sich zum Pont-au-Change. Man hatte an den Häusern des Brückenkopfes drei Lappen befestigt, die den König, den Dauphin und Margarete von Flandern darstellten. Das Ganze ward von Fackeln erleuchtet. Das Volk staunte.
„Glücklicher Maler Jehan Fourbault“, sagte Gringoire mit schwerem Seufzer und wandte den Gemälden den Rücken, denn nun wollte er keck mitten in das Herz des Festes dringen und zum Grèveplatz gehen. Wenigstens, dachte er, finde ich dort wohl ein Freudenfeuer, mich daran zu wärmen, und kann dort zu Abend essen von einigen Krümchen der drei großen Wappen von Zucker, die man auf dem Büfett der Stadt errichtet hat.
8. Der Grèveplatz
Der Grèveplatz bot damals einen unheilvollen Anblick. Ein Galgen und ein Schandpfahl, die immer stehen blieben, oder, wie man damals sagte, eine Gerechtigkeit und eine Leiter, waren in der Mitte des Pflasters aufgeschlagen und trugen nicht wenig dazu bei, daß die Vorübergehenden den Blick von jenem unheilvollen Platze abwandten, wo so viele Menschen, blühend von Gesundheit und Leben, mit dem Tode rangen; wo fünfzig Jahre später jenes Fieber des S. Valliers, die Krankheit aus Schrecken vor dem Schafott entsprang. Die furchtbarste aller Krankheiten, weil sie nicht von Gott, sondern vom Menschen kommt.
Nur kurz sei gesagt, es ist ein tröstlicher Gedanke, daß die Todesstrafe, die vor dreihundert Jahren mit eisernen Rädern, steinernen Galgen, allen Werkzeugen des Mordens, auf dem Pflaster sich brüstend, den Grèveplatz, die Hallen, den Platz Dauphine, das Kreuz du Trahoir, den Schweinemarkt, das scheußliche Montfaucon, die Barrière der Sergeanten, den Katzenplatz, das Tor von St. Denis, Champeaux, die Tore St. Jacques und Baudets bedeckte, ohne der unzähligen Galgen der Prévots, des Bischofs, der Kapitel, Äbte und Priore, die Recht sprechen konnten, und der juristischen Ersäufungen im Seinefluß zu gedenken, es ist tröstlich, sage ich, daß die Todesstrafe gegenwärtig, nachdem sie allmählich alle Stücke ihres Wappens, ihren Luxus des Mordens, ihre Strafbarkeit der Entdeckungskraft, ihre Tortur, wofür sie alle fünf Jahre ein ledernes Bett im Grand-Châtelet neu verfertigte, gänzlich verloren hat; daß jene alte Lehnsherrin des Feudalstaates, aus unsern Gesetzten und Städten beinah vertrieben, von einem Gesetzbuch zum andern gehetzt und von einem Platze zum andern gejagt, im ungeheuren Paris nur einen entehrten Winkel des Grève, eine elende, verstohlen sich zeigende, sich schämende Guillotine besitzt, die stets zu befürchten scheint, auf der Tat ertappt zu werden: So schnell verschwindet sie nach Führung des Todesstreiches.
9. Besos para golpes*
Als Peter Gringoire auf dem Grèveplatz ankam, eilte er, sich dem Freudenfeuer, das prächtig mitten auf dem Platze brannte, zu nahen; aber ein beträchtliches Gedränge bildete schon einen Kreis um die Flamme. Wie er sich aber den Kreis in der Nähe ansah, bemerkte er, jener sei größer, als daß er sich nur am Feuer des Königs hätte wärmen können, und die Zuschauer wären nicht allein von der Schönheit der hundert Reisigbündel, die man verbrannte, herbeigezogen. Ein junges Mädchen tanzte in dem Raume, der zwischen dem Feuer und den Zuschauern freigelassen war. Ob das junge Mädchen Mensch, Fee oder Engel war, konnte Gringoire, wie sehr er auch skeptischer Philosoph und ironischer Dichter sein mochte, im ersten Augenblick nicht entscheiden, so sehr ward er durch die Erscheinung geblendet. Das Mädchen war nicht groß, schien es aber zu sein; denn ihr feiner Wuchs strebte kühn empor. Ihre Haut war braun, allein man erriet, daß sie beim Tageslicht im schönen goldenen Reflex der Frauen Roms und Andalusiens erglänzte. Auch ihr kleiner Fuß war andalusisch; denn er paßte genau und bequem in den engen, anmutvollen Schuh. Sie tanzte, wirbelte auf einem alten persischen Teppich, der nachlässig unter ihren Füßen ausgebreitet lag; und wenn im Drehen die strahlende Gestalt dahinflog, warfen ihre großen schwarzen Augen Blitze in die Runde. Im ganzen Umkreis war jeder Blick auf sie geheftet; jeder Mund geöffnet, und wirklich, während sie beim Rauschen der baskischen Trommel, die ihre runden, reinen Arme über dem Haupte hielten, schlank, munter, wie eine Wespe, im goldnen, straffen Leibchen, im bunten Rock, der sich blähte, mit nackten Schultern tanzte, während ihre schönen Beine bisweilen unter dem Rock hervorschlüpften, erschien sie mit dem dunkeln Haar und dem flammenden Augen wie ein höheres Wesen.
Wahrhaftig, dachte Gringoire, sie ist ein weiblicher Salamander, eine Nymphe, eine Göttin, eine Bacchantin! In dem Augenblick löste sich eine der Haarflechten des weiblichen Salamanders, und ein daran befestigtes Stückchen Messing rollte über den Boden.
„Nein“, sagte er, „sie ist eine Zigeunerin.“ Alle schöne Täuschung war verschwunden. Sie begann den Tanz aufs neue, nahm zwei Schwerter vom Boden auf, stellte die Spitzen auf die Stirn und drehte diese nach einer Seite, während sie sich nach der entgegengesetzten hinwandte. Sie war wirklich nichts weiter als eine Zigeunerin. So sehr aber auch Gringoire enttäuscht ward, verfehlte doch das Ganze durchaus nicht, einen magischen Eindruck zu machen; das Freudenfeuer erleuchtete das Mädchen mit rotem Licht, zitterte auf allen Gesichtern in der Runde, auf der braunen Stirn des Mädchen, und warf noch auf den Hintergrund des Platzes einen bleichen Schein, so daß die Schatten an der einen Seite auf der runzligen schwarzen Mauer des Pfeilerhauses, und an der andern auf dem steinernen Arm des Galgens sich bewegten.
Unter allen Gesichtern, die der Schein mit Scharlach färbte, schien eines vor allen in Betrachtung der Tänzerin versunken zu sein. Es war eine strenge, ruhige und düstere Männergestalt. Jener Mann, dessen Anzug in der ihn umgebenden Menge verborgen blieb, schien nicht über fünfunddreißig Jahre alt zu sein; dennoch waren seine Schläfen schon kahl, und kaum bemerkte man auf ihnen einige Büschel dünner und grauer Haare. Eine hohe und breite Stirn begann, sich mit Runzeln zu durchfurchen; aber aus seinen tiefliegenden Augen funkelte Jugend, Leben und Leidenschaft. Er heftete sie fortwährend auf die Zigeunerin, und während das muntere sechzehnjährige Mädchen zum Vergnügen aller tanzte und hüpfte, schien er selbst immer düsterer zu werden. Von Zeit zu Zeit vereinten sich ein Lächeln und ein Seufzer auf seinen Lippen; allein stets war das Lächeln schmerzhafter als der Seufzer.
Das Mädchen hielt endlich, außer Atem, im Tanzen inne; das Volk klatschte lebhaft Beifall. – „Djali“, rief die Zigeunerin. Da sah Gringoire, wie eine kleine, weiße, muntere Ziege mit vergoldeten Hörnern, Füßen und Halsband hervortrat. Er hatte sie noch nicht bemerkt, denn sie duckte sich auf einen Zipfel des Teppichs und sah ihrer Herrin zu, wie sie tanzte.
„Djali“, sagte die Zigeunerin, „jetzt ist die Reihe an dir“, fuhr sie fort, „in welchem Monat sind wir jetzt?“ – Die Ziege hob ihren Vorderfuß und schlug einmal auf die Trommel. Man befand sich wirklich im ersten Monat des Jahres. Das Volk klatschte Beifall.
„Djali“, fragte das junge Mädchen aufs neue, „welch Datum schreiben wir heute?“ Djali erhob ihren kleinen goldenen Fuß und schlug sechsmal auf die Trommel. „Djali“, fuhr die Zigeunerin fort, indem sie ihre Trommel stets auf andere Weise stellte, „was ist es jetzt an der Zeit?“ Djali tat sieben Schläge, in demselben Augenblick schlug die Uhr des Pfeilerhauses sieben.
Das Volk staunte. „Dabei ist Zauberei im Spiel“, sagte eine unheilvolle Stimme im Volke. Es war die des Kahlkopfes, der die Zigeunerin nicht aus den Augen verlor. Sie zitterte und wandte sich weg; jedoch Beifallklatschen verdeckte den düsteren Ausruf. Dieser verwischte jene Stimme so vollkommen aus ihrer Seele, daß sie fortfuhr, ihre Ziege anzureden: „Djali, wie macht Meister Guichard Grandremy, Kapitän der Pistoliers der Stadt Paris, bei der Prozession von Chandeleur?“
Djali stellte sich auf die Hinterpfoten, fing an zu meckern und ging mit artigem Ernst im ganzen Kreise der Zuschauer umher, daß alle in lautes Gelächter ausbrachen.
„Djali“, begann das Mädchen aufs neue, kühn geworden durch das stets wachsende Vergnügen des Publikums; „wie macht Meister Jacques Charmolue, Prokurator des Königs am geistlichen Hofe?“ Die Ziege setzte sich auf die Hinterpfoten, fing an laut zu meckern, und bewegte die Vorderpfoten auf so sonderbare Weise, daß Jacques Charmolue in Bewegung und Stellung zu schauen war.
Das Volk lachte und lärmte noch lauter. „Verbrechen! Gottloser Spott!“ rief der Kahlkopf. Die Zigeunerin wandte sich noch einmal um: „Oh“, sagte sie, „der häßliche Mann!“ Dann zog sie die Unterlippe über die obere und schnitt ein kleines, wie es schien, ihr gewohntes Mäulchen, schlug eine Pirouette auf der Ferse und schickte sich an, in ihrer Trommel die Gaben der Menge zu sammeln. Es regnete kleine und große Groschen, Liards und Targes. Auf einmal ging sie auf Gringoire zu. Gringoire steckte so unbesonnen die Hand in die Tasche, daß die Zigeunerin stehen blieb. „Teufel!“ sprach der Dichter, als er in seiner Tasche die Wirklichkeit, das absolute Nichts, bemerkte. Das hübsche Mädchen stand aber immer noch da, betrachtete ihn mit großen Augen, reichte ihm die Trommel hin und wartete. Gringoire schwitzte dicke Tropfen.
Hätte er ein Peru in der Tasche gehabt, er hätte es der Tänzerin gegeben. Allein Gringoire hatte kein Peru, und Amerika war noch nicht entdeckt. Glücklicherweise kam ihm ein unerwarteter Vorfall zu statten.
„Willst du gehen, ägyptische Heuschrecke!“ rief eine heisere Stimme aus dem dunkelsten Winkel des Platzes. Das junge Mädchen wandte sich erschrocken um. Es war nicht mehr die Stimme des Kahlkopfes, sondern die eines Weibes; eine fromme und boshafte Stimme. Übrigens erweckte dieser Schrei, der die Zigeunerin schreckte, die Munterkeit einer dort herumstreichenden Kindergruppe. „Es ist die Klausnerin von Tour-Rolland!“ riefen sie mit lautem Lachen, „die büßende Nonne brummt! Hat sie nichts gegessen? Wir wollen ihr etwas vom Büfett der Stadt bringen!“ Und mit den Worten stürzten alle auf das Pfeilerhaus zu.
Gringoire hatte unterdessen die Verwirrung der Tänzerin benutzt, beiseitezutreten. Das Kindergeschrei erinnerte auch ihn, daß er nicht zu Abend gegessen hatte. Er eilte zum Büfett; aber die kleinen Schelme hatten schnellere Beine als er. Wie er ankam, hatten sie schon aufgeräumt. Gewiß ist es sehr unbequem, ohne Abendessen schlafen zu gehen; aber noch weniger erfreulich ist das Schicksal, nicht zu Abend zu essen und nicht zu wissen, wo man schlafen kann. Mit Gringoire war es so weit gekommen. Kein Brot, kein Bett; Not drängte ihn von allen Seiten. Seit lange hatte er die Wahrheit entdeckt, daß Jupiter, die Menschen in einem Anfall von Menschenhaß erschuf, und daß das ganze Leben des Weisen nur in einem Belagerungszustand hinsichtlich der Philosophie besteht. Er selbst hatte nie eine so vollständige Blockade erfahren, daß das Mißgeschick seine Philosophie mit Hunger angriff.
Er versank immer tiefer in diese melancholische Träumerei, als ein sonderbarer, aber sehr sanfter Gesang ihn plötzlich aus seinem Sinnen riß. Die junge Zigeunerin sang. Ihre Stimme war wie ihre Schönheit, ihr Tanz, unbeschreiblich bezaubernd; etwas Reines, Tönendes, Ätherisches und sozusagen Beschwingtes; eine fortwährende Ergießung, unerwartete Kadenzen und Melodien, dann einfache, mit scharfen und schrillen Tönen durchwebte Phrasen, Triller, die eine Nachtigall beschämt hätten, aber stets voll Harmonie; weiche, wogende Oktaven, die wie der Busen der Sängerin stiegen und sanken. Die Worte, die sie sang, waren aus einer Gringoire unbekannten Sprache, die sie selbst nicht zu verstehen schien; denn der Ausdruck ihrer Stimme stand mit dem Sinn der Worte in keiner Beziehung. Das Lied der Zigeunerin hatte Gringoire in seiner Träumerei, jedoch wie der Schwan den Wasserspiegel, gestört. In einem Augenblick fühlte er keine Leiden, allein der Augenblick war sehr kurz. Dieselbe Weiberstimme, welche den Tanz der Zigeunerin unterbrochen hatte, unterbrach auch ihr Lied. „Willst du schweigen, Heuschrecke der Hölle!“ rief sie wieder im dunklen Winkel des Platzes. Die arme Heuschrecke hielt inne; Gringoire verstopfte sich die Ohren.
„Oh!“ rief er, „verfluchte schartige Säge, die du die Leier zerbrichst!“ Auch die anderen Zuschauer murrten wie er: „Zum Teufel die Alte!“ sagte mehr als einer, und die alte Störerin des Festes hätte ihren Angriff gegen die Zigeunerin bereuen können, wäre nicht die allgemeine Aufmerksamkeit durch die Prozession des Narrenpapstes in Anspruch genommen worden, die, nachdem sie viele Straßen und Kreuzwege durchzogen hatte, sich mit allen ihren Fackeln und allem ihrem Lärm auf den Grèveplatz ergoß. Die Prozession hatte sich unterwegs durch alle möglichen Diebe und Vagabunden ergänzt; als sie auf dem Grèveplatz anlangte, bot sie denn auch einen achtbaren Anblick.
Voran wandelte Ägypten; der Herzog von Ägypten ritt zu Pferde an der Spitze; zu seinen Seiten schritten seine Grafen einher und hielten ihm Zaum und Steigbügel; hinter ihnen kamen Zigeuner und Zigeunerinnen mit kleinen schreienden Kindern auf den Schultern. Herzog, Grafen, Volk, alle waren in Lumpen und Flitter gehüllt. Dann folgte das Königreich Kauderwelsch, d. h. alle Diebe Frankreichs, nach ihren Würden aufgestellt; die niedrigsten wandelten voran. So wandelten sie zu doppelten Paaren, mit den Insignien ihrer verschiedenen Grade der sonderbaren Fakultät geschmückt, vorüber; die meisten hinkten; einige waren bucklig, andere einarmig; man sah eine Menge von den Gestalten Callots, Straßenjungen, Filze, Heuchler, Abgezehrte, Schelme, Spitzbuben, Erzhelfershelfer, Knauser, kurz, die Nennung der Namen würde selbst Homer ermüden. In der Mitte des Konklaves von Erzhelfershelfern und Knausern konnte man kaum den König von Kauderwelsch auf einem kleinen, von großen Hunden gezogenen Wagen unterscheiden. Hierauf folgte das Reich Galiläa. Guillaume Rousseau, Kaiser von Galiläa, wandelte majestätisch in einem von Wein befleckten Purpurrock; Possenreißer gingen ihm voran, prügelten sich und tanzten; er war umringt von Zepterträgern, Helfershelfern und Schreibern seiner Rechnungskammern. Endlich kamen die Parlamentsschreiber, Blumen in den Händen, in schwarzen Kleidern, mit einer Musik, würdig der Judenschule, und dicken gelben Wachslichten. In der Mitte dieser Masse trugen Offiziere der Narrenbrüderschaft auf den Schultern eine Bahre, die mit mehr Wachskerzen überladen war, als das Reliquienkästchen der heiligen Genoveva in Zeiten der Pest; und auf der Bahre strahlte der neue Narrenpapst mit Kreuzen und der Mitra, der Glöckner von Notre-Dame, Quasimodo, der Bucklige.
Es ist schwierig, sich einen Begriff von dem stolzen und glücklichen Gefühl zu machen, welches das traurige und häßliche Gesicht Quasimodos bei dem Zuge über den Grèveplatz enthüllte. Dies war der erste Genuß der Eigenliebe, den er jemals empfand. Bis dahin hatte er nur Erniedrigung, Verachtung für seinen Stand, Abscheu gegen seine Person erfahren. Wie taub er auch war, genoß er doch den Zuruf der Menge, die er haßte, weil er von ihr gehaßt ward. War auch sein Volk ein Haufen Diebe, Bettler, Krüppel und Narren, was kümmerte es ihn? Es war immer ein Volk, und er selbst dessen Herrscher. All jenen ironischen Beifall mit der spöttischen Achtung nahm er für Ernst; auch müssen wir berichten, daß im Volke sich hiermit wirklich einige Furcht mischte. Denn der Bucklige war stark, der Krummbeinige behend, der Taube boshaft, und diese drei Eigenschaften verminderten das Lächerliche. Übrigens sind wir weit davon entfernt, zu glauben, der neue Narrenpapst habe sich wirklich von seinen Empfindungen Rechenschaft geben können. Der Geist dieses verfehlten Leibes mußte selbst unvollständig und gleichsam taub sein. Auch war seine Empfindung im Augenblick durchaus unbestimmt und verwirrt. Nur Freude und Stolz herrschte vor. Die düstere und unglücklich Gestalt schien zu strahlen.
Deshalb erblickte man plötzlich nicht ohne Überraschung und Schrecken in dem Augenblick, wo Quasimodo im halben Rausch vor dem Pfeilerhause im Triumph vorbeizog, wie ein Mann aus dem Volke hervorstürzte und ihm mit einer Bewegung des Zornes sein vergoldetes hölzernes Kreuz, das Würdezeichen seines Narrenpapsttums, entriß. Dieser Verwegene war der Kahlkopf, der, kurz vorher unter das Volk gemischt, die arme Zigeunerin mit Worten der Drohung und des Hasses erschreckt hatte. Er trug ein geistliches Kleid. Wie er aus dem Volke heraustrat, erkannte ihn Gringoire. „Sieh“, sagte er, „mein Meister als Hermes, Dom Claude Frollo, der Archidiakonus! Was Teufel will er mit dem häßlichen Einäugigen? Will er sich zerreißen lassen?“
Es erhob sich ein Ruf des Schreckens. Der furchtbare Quasimodo stürzte sich die Bahre hinab, und die Frauen wandten die Augen weg, um nicht zu schauen, wie er den Archidiakonus zerriß. Wie ein Tiger sprang er auf den Priester zu, sah ihn an und fiel ihm zu Füßen. Der Priester entriß ihm seine Tiara, zerbrach sein Kreuz und zerriß seinen Talar von Flittergold.
Quasimodo lag auf den Knien, senkte das Haupt und faltete die Hände. Dann begann zwischen beiden eine sonderbare Unterredung von Zeichen und Bewegungen; denn keiner von beiden redete. Der Priester stand da, wütend, drohend, gebieterisch. Quasimodo warf sich, demütig bittend, zu Boden. Und dennoch hätte er den Priester mit einer Bewegung seines Daumens zerschmettern können. Endlich schüttelte der Archidiakonus Quasimodos gewaltige Schulter und gab ihm ein Zeichen zu folgen. Quasimodo stand auf; da aber wollte, nachdem das erste Staunen vorüber war, die Narrenbruderschaft ihren mit so wenig Umständen entthronten Papst verteidigen. Die Ägypter, die Kauderwelschen und alle Parlamentsschreiber umringten lärmend den Priester. Quasimodo stellte sich hinter ihn, ließ seine Muskeln in athletischer Stellung spielen und knirschte wie ein wütender Tiger mit den Zähnen. Dann nahm der Priester seinen düsteren Ernst im Ausdruck wieder an, gab Quasimodo ein Zeichen und entfernte sich schweigend. Dieser ging voran und bahnte ihm den Weg, die Menge verteilend.
Nachdem sie das Volk und den Platz durchschritten hatten, wollte ein Schwarm Neugieriger und Müßiggänger ihnen folgen. Da bildete Quasimodo die Nachhut und folgte, rückwärtsblickend, bissig starrend, seine Glieder gleichsam nachschleppend, dem Archidiakonus. Er bleckte die Zähne, brüllte wie ein wildes Tier und bewirkte häufig mit einer Bewegung oder einem Blick ein schnelles und zitterndes Schwanken in der Volksmenge.
Man ließ sie beide in eine enge und dunkle Gasse dringen, wohin niemand ihnen zu folgen wagte.
„Sehr sonderbar!“ sagte Gringoire, „wo kriege ich aber ein Abendessen her?“
10. Entstehende Ungelegenheiten, wenn man einem hübschen Mädchen des Nachts in den Straßen nachläuft
Gringoire entschloß sich, ereigne sich, was da wolle, der Zigeunerin zu folgen. Er sah, wie sie mit ihrer Ziege den Weg nach der Straße de la Coutellerie einschlug, und nahm denselben Weg. Warum nicht? dachte er bei sich selbst. Nie ist man besser aufgelegt, einem schönen Mädchen zu folgen, als wenn man nicht weiß, wo man schlafen soll. So wandelte er sinnend hinter den Zigeunerin her, die ihre Schritte beschleunigte und die Ziege zum Laufen zwang; denn sie sah, daß die Bürger heimkehrten, und daß die Schenken, die allein von allen Budiken an dem Tage offenstanden, geschlossen wurden. Sie muß doch irgendwo wohnen, dachte er; die Zigeuner sind gutmütig. Wer weiß? … Und die Gedankenreihe, die allmählich dadurch hervorgerufen wurde, war sehr anmutig.
Die Straßen wurden dunkler und einsamer; die Abendglocke hatte schon lange geläutet, und in immer größeren Zwischenräumen erblickte man einen Vorübergehenden auf den Straßen, ein Licht an einem Fenster. Das junge Mädchen verfolgte einen Weg, der Gringoire wohlbekannt zu sein schien. Sie wandelte ohne Aufenthalt mit stets schnelleren Schritten. Seit einigen Augenblicken hatte er ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Voll Unruhe wandte sie verschiedene Male ihr Haupt; einmal blieb sie sogar stehen, benutzte einen Lichtstrahl, der aus einer Bäckerei hervordrang, um ihn von oben bis unten zu betrachten. Da sah Gringoire, wie sie das Mäulchen zog, was er schon bemerkt hatte, und weiterging. Dieses Mäulchen gab Gringoire Stoff zum Nachdenken. Gewiss lag in dieser anmutsvollen Fratze Verachtung und Spott. So hielt er sich denn in größerer Entfernung von dem schönen Mädchen. Plötzlich, als sie hinter einer Straßenecke verschwunden war, vernahm er, wie sie einen durchdringenden Schrei ausstieß. Da beschleunigte er seine Schritte. Die Straße war dunkel; dennoch erlaubte ihm das mit Öl getränkte Werg, welches in eisernem Käfig am Winkel der Straßen zu den Füßen der heiligen Jungfrau brannte, die Zigeunerin zu erkennen, wie sie gegen zwei Männer rang, die sie ergriffen hatten und ihren Schrei zu ersticken strebten. Die arme kleine Ziege senkte erschrocken die Hörner und meckerte.
„Herbei, ihr Herren Wächter!“ rief Gringoire und schritt kühn vorwärts. Einer der Männer, die das junge Mädchen hielten, wandte sich nach ihm um; es war die furchtbare Gestalt Quasimodos.
Gringoire ergriff nicht die Flucht, tat aber auch keinen Schritt vorwärts. Quasimodo ging auf ihn zu, warf ihn mit geballter Faust vier Schritte zurück aufs Pflaster, stürzte schnell ins Dunkel und trug das Mädchen auf einem Arme, geknickt, als wäre es eine Seidenschärpe, fort. Sein Gefährte folgte, und die arme Ziege lief mit klagendem Meckern hinterdrein.
„Mörder! Mörder!“ rief die unglückliche Zigeunerin.
„Halt, Elende! Laßt das Mädel los!“ rief plötzlich mit einer Donnerstimme ein Reiter, der aus einem nahen Kreuzwege herbeisprengte. Es war ein Hauptmann der Ordonnanz-Häscher des Königs, von Kopf bis zu Fuß bewaffnet, mit dem Degen in der Faust. Er entriß die Zigeunerin den Armen des erstaunten Quasimodo und legte sie quer über seinen Sattel; und im Augenblick, wo der furchtbare Bucklige, von der Überraschung erholt, sich auf ihn stürzte, ihm seine Beute wieder zu entreißen, erschienen fünfzehn oder sechzehn Häscher, welche ihrem Führer auf dem Fuße gefolgt waren, mit Schwertern in den Händen. Es war eine Abteilung der Ordonnanz des Königs, die auf Befehl Herrn Roberts von Estouteville, des Aufsehers der Prévoté von Paris, die Wachtpatrouille hielt. Quasimodo wurde umringt, ergriffen, geknebelt. Er errötete, biß und schäumte. Bei Tage hätte schon sein Gesicht allein, noch scheußlicher durch den Zorn, die ganze Patrouille zur Flucht gebracht; allein in der Nacht war er seiner furchtbarsten Waffe, der Häßlichkeit, beraubt. Sein Gefährte war unterdessen verschwunden.
Die Zigeunerin richtete sich auf dem Sattel des Offiziers fein zierlich auf, stützte beide Hände auf die Schultern des jungen Mannes, betrachtete ihn einige Sekunden lang mit festem Blick, von seinem schönen Äußeren und der Hilfe, die er ihr geleistet, entzückt. Dann brach sie zuerst das Schweigen und fragte mit ihrer süßen Stimme, die noch süßer als gewöhnlich klang:
„Wie heißt Ihr, Herr Ritter?“ – „Hauptmann Phoebus von Chateaupers, Euch zu dienen, meine Schöne“, erwiderte der Offizier sich aufrichtend. – „Ich dank’ Euch“, sagte die Zigeunerin; und während der Kapitän seinen burgundischen Schnurrbart in die Höhe drehte, schlüpfte sie wie ein Pfeil, der zu Boden sinkt, vom Pferde herunter und entfloh. Ein Blitz konnte nicht schneller entschwinden.
„Bei des Papstes Nabel“, rief der Hauptmann, indem er Quasimodos Riemen enger schnüren ließ, „das Mädel hätte ich lieber behalten als den hier.“
„Was ist zu machen, Herr Hauptmann?“ sagte ein Reiter, „die Grasmücke ist davongeflogen, die Fledermaus geblieben.“
Gringoire, von seinem Sturz betäubt, war auf dem Pflaster vor dem Bilde der heiligen Jungfrau liegen geblieben. Allmählich kam er wieder zur Besinnung. Ein lebhafter Eindruck der Kälte an dem Teile seines Körpers, der mit dem Pflaster in Berührung kam, weckte ihn plötzlich auf und brachte ihn vollends zur Besinnung. „Woher die Kälte“, fuhr er auf. Da bemerkte er, daß er in der Mitte eines Rinnsteines lag. „Der Teufel von buckligem Zyklopen!“ brummte er zwischen den Zähnen und wollte aufstehen; allein zu sehr betäubt und zerschlagen mußte er auf dem Platze bleiben. Übrigens hatte er noch die Hand frei; darum ergab er sich in sein Schicksal und hielt sich die Nase zu.
„Der Pariser Kot“, dachte er, „stinkt ganz eigentümlich; er muß viel flüchtiges und salpetriges Salz enthalten. Übrigens ist dies die Meinung der Hermetiker …“
Das Wort Hermetiker rief plötzlich bei ihm wieder den Gedanken an den Archidiakonus Claude Frollo hervor. Er erinnerte sich an den heftigen Auftritt, den er soeben, ob auch undeutlich, erblickt hatte, wie die Zigeunerin mit zwei Männern rang, wie Quasimodo einen Gefährten hatte; und die düstere, stolze Gestalt des Archidiakonus fuhr undeutlich durch sein Gedächtnis. Sonderbar, dachte er, und begann auf dieser Grundlage ein phantastisches Gebäude von Hypothesen, ein philosophisches Kartenhaus, zu errichten. Dann kehrte er plötzlich zur Wirklichkeit zurück. – „Oh, mich friert!“ rief er aus.
Eine Gruppe von Kindern, von kleinen barfüßigen Wilden, die zu jeder Zeit das Pflaster von Paris unter dem Namen Straßenjungen betreten, lief auf den Kreuzweg zu, wo Gringoire ruhte, lachte, schrie und kümmerte sich durchaus nicht um den Schlaf des Nachbarn. Sie schleppten einen mißgestalteten Sack; schon der Lärm ihrer Holzschuhe hätte einen Toten auferweckt. Gringoire war es noch nicht ganz, und er erhob sich zur Hälfte.
„Juchhe! Juchhe!“ riefen sie aus voller Kehle, „Eustache Moubon, der alte Eisenhändler an der Straßenecke ist gestorben. Hier haben wir seinen Strohsack und wollen damit ein Freudenfeuer machen! Heute ist ein flamländisch Fest.“
Und den Strohsack warfen sie gerade auf Gringoire, dem sie sich, ohne ihn zu sehen, nahten. Zugleich nahm einer von ihnen eine Handvoll Stroh, um es an der Lampe der heiligen Jungfrau anzuzünden.
„Gottes Tod!“ murmelte Gringoire, „hier wird es mir zuletzt zu heiß werden!“
Der Augenblick war höchst kritisch. Gringoire war nahe daran, zwischen Wasser und Feuer in die Mitte zu geraten. Da machte er eine übernatürliche Kraftanstrengung, wie ein Falschmünzer, den man braten will und der zu entwischen sucht. Er stand auf, warf den Strohmann zwischen die Straßenjungen und entfloh.
„Heilige Jungfrau!“ riefen die Knaben, „der Eisenhändler geht um!“ und auch sie flohen. Der Strohsack blieb Herr des Schlachtfeldes. Belleforêt, der Vater Lejuge und Corrozet versichern, daß er von der Geistlichkeit des Stadtquartiers am nächsten Tage fortgenommen und mit großem Pomp zum Schatz der Kirche Sainte-Opportune getragen wurde, wo der Sakristan bis 1789 ein recht hübsches Einkommen von dem großen Wunder der heiligen Jungfrau an der Ecke der Rue Mauconseil zog, die allein durch ihre Gegenwart in der denkwürdigen Nacht vom sechsten und den siebenten Januar 1482 den verstorbenen Eustache Moubon durch Beschwörung austrieb, der als er starb, um den Teufel zu prellen, seine Seele boshafterweise im Strohsack versteckt hatte.
11. Der zerbrochene Krug
Nachdem unser Dichter einige Zeit mit aller Kraft seiner Beine gelaufen war, ohne zu wissen wohin, wobei er nicht selten seinen Kopf an die Straßenecken stieß, in manchen Rinnstein trat, in manches enge und manches Sackgäßchen geriet, manchen Kreuzweg durchlief, blieb er plötzlich stehen, und zwar anfangs, weil er außer Atem war, dann aber, weil ein Zwiespalt in seiner Seele aufstieg und ihn beim Kragen packte. „Mir scheint Meister Peter Gringoire“, sprach er zu sich selbst, indem er den Finger an die Stirn legte, „daß Ihr wie ein Verrückter fortrennt. Die kleinen Schelme fürchten sich nicht weniger vor Euch, Ihr hörtet den Lärm ihrer Holzschuhe, die nach Süden flohen, während Ihr nach Norden Euren Lauf richtet. Nun ist eines von zwei Dingen möglich; entweder sind sie geflohen, und dann ist jener Strohsack, den sie im Schrecken zurückließen, eben das gastliche Bett, was Ihr schon seit heute morgen sucht, und das die Frau Jungfrau Euch wunderbarerweise sendet, um Euch dafür zu belohnen, daß Ihr zu ihren Ehren eine Moralität mit Triumphen und Mummereien dichtet; oder die Knaben sind nicht geflohen, und in dem Fall haben sie den Strohsack angezündet; dann habt Ihr gerade ein treffliches Feuer, Euch zu erquicken, zu trocknen und zu wärmen. In beiden Fällen, ein schönes Feuer oder ein schönes Bett, ist der Strohsack ein Geschenk des Himmels. Die gebenedeite Jungfrau Maria in dem Winkel der Straße Mauconseil ließ vielleicht Eustache Moubon nur deshalb sterben. Ihr seid ein Tor, wie ein Abdecker oder wie ein Picardier vor einem Franzosen, zu fliehen und hinter Euch zu lassen, was ihr vor Euch sucht. Ihr seid ein Dummkopf!“
Er kehrte zurück, suchte sich forschend zurechtzufinden, steckte die Nase nach dem Wind und lauerte mit den Ohren; kurz, suchte mit allen Kräften den geliebten Strohsack wieder aufzufinden. Allein alles vergeblich. In diesen Verwicklungen dunkler und enger Straßen ward er mehr verhindert und festgehalten, als selbst in den Irrgängen des Hotel de Tournelles; endlich verlor er die Geduld und rief feierlich: „Verflucht seien die Kreuzwege! Der Teufel schuf sie nach dem Bilde seiner Gabel!“ Dieser Ausruf erleichterte ihn ein wenig; und eine Art rötlichen Reflexes, den er am Ende einer langen und schmalen Gasse erblickte, richtete vollends seinen Mut wieder auf. „Gottlob!“ sagte er, „dort unten brennt mein Strohsack!“ und sich einem Steuermanne vergleichend, dessen Schiff im Dunkel umhergeschleudert wird, fügte er fromm hinzu: „Salve, salve, maris stelle.“*
Kaum war er einige Schritte in dem langen, abwärtsgehenden, ungepflasterten Gäßchen, das immer kotiger und steiler ward, vorwärtsgewandelt, so bemerkte er dort etwas sehr Sonderbares. Es war nicht einsam; hier und dort krochen längs des Gäßchens ungestaltete und unbestimmte Massen auf den Feuerschein zu, der am äußersten Ende flimmerte; sie glichen jenen schwerfälligen Insekten, welche sich des Nachts von Grashalm zu Grashalm zum Feuer des Hirten hinschleppen.
Nichts erweckte größere Lust zu Abenteuern als der Umstand, daß man in der Tasche eine vollkommene Leere fühlt. Gringoire fuhr fort, vorwärts zu wandeln, und hätte bald eine Gestalt erreicht, die sich am trägsten hinter den andern herschleppte. Als er nähertrat, bemerkte er, daß es ein elender Krüppel war, der wie eine verwundete Spinne, die nur noch zwei Beine hat, auf den Händen forthüpfte. Als er bei dieser Spinne mit menschlichem Antlitz vorbeiging, redete sie ihn mit kläglicher Stimme an: „La buona mancia, Signor! La buona mancia.“*
„Der Teufel soll dich holen und mich mit dir“, sagte Gringoire, „wenn ich ein Wort von dem, was du willst, verstehe.“ Er ging weiter und erreichte eine andre jener wandelnden Massen. Es war ein Lahmer, hinkend und einarmig in dem Grade, daß die merkwürdige Art seiner Krücken und seines hölzernen Beines ihm das Ansehen eines in Bewegung befindlichen Maurergerüstes gab. Gringoire, der edle und klassische Vergleiche liebte, verglich ihn in Gedanken mit dem lebenden Dreifuße Vulkans. Dieser lebende Dreifuß grüßte ihn im Vorbeigehen, hielt aber seinen Hut bis an die Höhe von Gringoires Knie, wie ein Barbierbecken, und schrie ihm ins Ohr: „Senor caballero para comprar un pedazo de pan!“*
„Es scheint“, sagte Gringoire, „der spricht auch, aber in einer rauhen Sprache, und wenn er sie versteht, ist er glücklicher als ich.“
Er wollte seine Schritte verdoppeln; doch zum drittenmal versperrte ihm etwas den Weg. Es schien weit eher eine Sache, als ein Mensch zu sein, und es war ein kleiner Blinder mit jüdisch bärtigem Antlitz, der den Raum im Umkreise mit einem Stock untersuchte und, von einem großen Hunde bugsiert, mit ungarischem Akzent näselte: „Facitote caritatem.“*
„Gottlob!“ sagte Peter Gringoire, „endlich spricht einer eine christliche Sprache. Ich muß ein beträchtliches Almosen-Aussehen haben, da man in dem Zustande der Magerkeit von meiner Börse bei mir bettelt.“
„Freund (wandte er sich zum Blinden), letzte Woche verkaufte ich mein letztes Hemd, das heißt, weil Ihr nur Ciceros Sprache versteht: Vendidi hebdomade nuper transita meam ultimam chemisam.“
Mit den Worten wandte er dem Blinden den Rücken und ging seines Weges weiter. Doch jener begann zugleich mit ihm seine Schritte zu verlängern, und plötzlich liefen auch die beiden anderen Krüppel mit großer Eile und großem Lärm der Krücken hinter ihm her; alle drei tummelten sich hinter den Fersen des armen Gringoire, und jeder sang ihm sein Lied.
„Caritatem!“ sang der Blinde. „La buona mancia“, sang der spinnegleiche Krüppel; der Lahme stieg noch eine Note höher und rief: „Un pedazo de pan!“ Gringoire verstopfte sich die Ohren: „Oh Turm von Babel!“ rief er aus. Er fing an zu laufen; der Blinde lief; der Krüppel lief; der Lahme lief.
Je tiefer er in die Straßen drang, kamen Blinde, Krüppel, Lahme, Einäugige, Einarmige, Aussätzige aus den Häusern, Gassen, Kellern, heulend, brüllend, kreischend, sämtlich hinkend, in immer größeren Massen hervor, stürzten auf den Lichtschein zu und wälzten sich im Kote, wie Schnecken nach dem Regen. Gringoire, hinter dem seine drei Verfolger stets herliefen, konnte nicht begreifen, was daraus entstehen sollte, rannte erschreckt unter diese Masse, stieß die Hinkenden, sprang über die Kriechenden hinweg, verwickelte sich mit den Füßen in dem Ameisenhaufen von Krüppeln, wie einst jener englische Schiffskapitän in einer Herde von Krabben stecken blieb.
Da fiel ihm ein, einen Versuch zur Rückkehr zu machen. Aber es war zu spät. Die ganze Schar hatte sich hinter ihm geschlossen, und seine drei Bettler folgten ihm auf dem Fuße. Er setzte deshalb seinen Lauf fort, von der unwiderstehlichen Flut, der Furcht und einem Schwindel hingerissen, der ihm alles zu einer Art furchtbaren Traumes machte. Endlich erreichte er das äußerste Ende der Straße; sie führte ihn auf einen ungeheuren Platz, wo tausend zerstreute Lichter im Nebel der Nacht flackerten. Gringoire stürzte auf ihn zu; denn er hoffte, sich durch die Schnelligkeit seiner Beine den drei krüppelhaften Gespenstern, die sich an ihn geklammert hatten, zu entziehen.
„Onde vas, hombre!“* rief der Lahme, warf seine Krücken fort und rannte mit den zwei besten Beinen, die jemals auf dem Pariser Pflaster einen geometrischen Schritt zeichneten hinter ihm her. Der kriechende Krüppel stand aufrecht und legte seine schweren Krallen auf Gringoires Kopf, und der Blinde schaute ihm mit funkelnden Augen ins Gesicht. „Wo bin ich?“ fragte der erschrockene Dichter. „Im Hofe der Wunder“, erwiderte ein viertes Gespenst, das herantrat. „Bei meiner Seele“, begann Gringoire aufs neue, „ich erblicke wohl die Blinden, die sehen, und die Hinkenden, die laufen; wo aber ist der Heiland, der Erretter?“ Man antwortete ihm mit einem Unheil verkündenden Gelächter.
Der arme Dichter blickte um sich. Er war wirklich in dem furchtbaren Hofe der Wunder, wohin zu solcher Stunde ein ehrlicher Mann noch nie gedrungen war; er befand sich in dem Zauberkreise, in dem die Offiziere des Châtelet und die Sergeanten der Prévoté, die sich hineinwagten, wie Krümchen verschwanden; in der Stadt der Diebe, der scheußlichen Warze des Antlitzes der Stadt Paris; in der Kloake, von wo ein Strom von Lastern, Bettlern und Vagabunden, der sich stets in der Hauptstadt befand, jeden Morgen sich über Paris ergoß, und dann des Nachts dort wieder zusammenkauerte; in dem ungeheuren Bienenkorbe, wohin alle Hornissen der Gesellschaft des Abends mit ihrem Raube heimkehrten; in dem erlogenen Hospitale, worin die Zigeuner, der entlaufene Mönch, der ruinierte Student, die Taugenichtse aller Nationen, Italiener, Spanier, Deutsche, die Taugenichtse aller Religionen, Juden, Christen, Mohammedaner, Götzendiener, am Tage mit geschminkten Geschwüren bedeckt und bettelnd, sich des Nachts in Räuber verwandelten; kurz, Gringoire war in den ungeheuern Kleiderbehälter geraten, in dem sich damals alle Schauspieler des ewigen Dramas ankleideten und wieder auszogen, das Entbehrung, Raub und Mord auf dem Pflaster von Paris noch immer spielen.
Es war ein weiter, unregelmäßiger und schlecht gepflasterter Platz, wie dies damals bei allen Plätzen in Paris der Fall war. Hin und wieder glänzten Feuer, die sonderbare Gruppen wimmelnd umringten. Es war ein immerwährendes Geschrei, ein immerwährendes Gehen und Kommen. Man vernahm scharftönendes Lachen, Kindergeschrei, Weiberstimmen; Hände und Köpfe der Menge schnitten schwarz auf dem hellen Grunde tausend sonderbare Gestalten aus. In einzelnen Augenblicken, wenn der Schein des Feuers, mit großen undeutlichen Schatten gemischt, auf dem Boden zitterte, konnte man einen Hund, der einem Menschen glich, vorübergehen sehen. Alle Unterschiede der Gattungen und Geschlechter schienen in dieser Stadt, wie in einem Pandämonium, zu erlöschen. Männer, Weiber, Tiere, Alter, Gesundheit, Krankheit, alles schien unter diesem Volke gemeinschaftlich zu sein; alles war untereinander gemischt und verwirrt; jeder nahm an allem teil.
An dem zitternden und ärmlichen Lichte der Feuer konnte Gringoire in seiner Verwirrung rings um den breiten Platz eine scheußliche Einfassung von alten Häusern erkennen, deren wurmstichtige, zusammengeschrumpfte, verkrüppelte Vorderseiten, von denen jede von einer oder zwei erleuchteten Luken durchbrochen war, ihm wie ungeheure Köpfe alter Weiber erschienen, die mit blinzelnden Augen, scheußlich und sauertöpfisch, den Lärm im Kreise betrachteten.
Es war ihm eine neue, kriechende, wimmelnde, monströse, unerhörte, entstellte, phantastische Welt.
Von den drei Bettlern wie von drei Zangen gefaßt, betäubt durch Blöken und Bellen der Gesichter in der Runde, suchte der unglückliche Gringoire alle Geistesgegenwart zusammenzunehmen, um sich zu erinnern, ob man vielleicht an einem Sonnabend wäre. Allein alle Bemühungen waren vergeblich; der Faden seiner Gedanken, wie der seines Gedächtnisses, war zerrissen; er zweifelte an allem, wußte nicht mehr, was er fühlte, und stellte sich die unlösbare Frage: Wenn ich bin, ist dies Wirklichkeit? – Wenn dies Wirklichkeit ist, bin ich?
Da erhob sich eine deutliche Stimme aus dem summenden Gedränge, das ihn umringte: „Führen wir ihn zum König!“
„Heilige Jungfrau“, murmelte Gringoire, „der König ist gewiß ein Ziegenbock!“
„Zum König! Zum König!“ wiederholten alle Stimmen. Man schleppte ihn fort. Jeder wollte ihn anpacken; aber die drei Bettler ließen ihren Fang nicht los. „Er ist unser!“ schrien sie und entrissen ihn den andern. Das schon schadhafte Wams des Dichters ging in diesem Kampfe vollends zugrunde.
Als er den furchtbaren Platz durchschritt, verlor sich sein Schwindel. Das Gefühl der Wirklichkeit brach sich bei ihm Bahn, traf seinen Blick, stieß an seine Beine und riß allmählich die furchtbare Poesie, womit er sich anfangs umgeben wähnte, ein. Er mußte endlich wohl sehen, daß er nicht im Styx, sondern im Kote wandelte, daß ihn keine Teufel, sondern Diebe mit den Ellbogen stießen, daß seine Seele auf keine Weise, sondern nur sein Leben in Gefahr schwebte (es fehlte ihm ja jener kostbare Vermittler, der zwischen dem Banditen und dem ehrlichen Mann die Ansprüche ausgleicht: die Börse). Kurz, als er die Orgie näher untersuchte, verfiel er vom Sabbat in die Schenke.
Das Schauspiel, das sich seinen Augen darbot, als seine zerlumpte Wache ihn endlich am Ziele seiner Bahn niederlegte, war durchaus nicht geeignet, ihn zur Poesie zurückzuführen, wäre es auch nur die Poesie der Hölle gewesen. Es war mehr als die brutale und rohe Wirklichkeit einer Schenke. Rings um ein großes Feuer, das auf einer großen runden Steintafel brannte und dessen Flammen die rötlichen Füße eines für den Augenblick leeren Dreifußes bedeckten, waren hin und wieder wurmstichige Tische aufgestellt. Auf den Tischen strahlten einige rinnende Bier- und Weinkrüge, und um diese Krüge gruppierten sich gar viel bacchische Gesichter, von Feuer und Wein in Purpur gefärbt. Ein Mann mit geschwollenem Bauch und munterer Gestalt umarmte brünstig ein dickes und fleischiges Freudenmädchen. Es war ein Art von durchtriebenem Schelm, der pfeifend den Verband von seiner falschen Wunde nahm und seinem gesunden und starken Knie, das er seit dem Morgen in tausend Binden gewickelt hatte, die frühere Gelenkigkeit zurückgab. Zwei Tische weiter buchstabierte ein Pilger, mit altem Muschel-Apparat versehen, die Klage der heiligen Regina, ohne den Psalmen- und Nasenton zu vergessen. Dann erhielt ein junger Gauner von einem älteren Unterricht in der Epilepsie. Dieser lehrte jenen die Kunst, beim Seifenkauen mit dem Munde zu schäumen. Ihm zur Seite befreite sich ein Wassersüchtiger von seiner Geschwulst. Überall ertönte rohes Gelächter und Zotengesang. Jeder lärmte für sich, fluchte und tobte, ohne auf seinen Nachbar zu hören. Die Krüge stießen zusammen, und Zank entstand beim Zusammentreffen der Krüge, und dann zerrissen die schartigen Krüge die Lumpen noch mehr.
Ein großer Hund saß auf den Hinterpfoten und sah ins Feuer; auch einige Kinder waren in die Orgie gemischt. Eine Tonne stand neben dem Feuer, und auf der Tonne saß ein Bettler; es war der König auf seinem Throne. Die drei, die Gringoire gepackt hatten, führten ihn zur Tonne, und das ganze Bacchanal schwieg plötzlich. Gringoire wagte weder Atem zu holen, noch die Augen aufzuschlagen. Der König aber redete ihn an von der Höhe seines Fasses:
„Wer ist der Spitzbube?“
Gringoire zitterte; diese Stimme, ob auch drohend, erinnerte ihn an eine andere, die an demselben Morgen den ersten Streich gegen sein Mysterium geführt hatte, als sie mitten im Publikum näselte: „Habt Erbarmen!“ Er erhob den Kopf; es war wirklich Clopin Trouillefou.
Clopin Trouillefou, mit den königlichen Insignien bekleidet, trug weder mehr, noch weniger Lumpen. Sein Geschwür am Arme war verschwunden. Er hielt in der Hand eine Peitsche mit weißen Riemen, wie sie damals die Sergeanten oft gebrauchten, um das Volk in Ordnung zu halten. Auf dem Kopfe trug er einen runden und oben geschlossenen Schmuck; es war aber sehr schwer zu unterscheiden, ob es eine Kindermütze oder eine Krone war; denn beide waren jenem Schmucke sehr ähnlich.
Als Gringoire in dem König des Hofes der Wunder seinen verfluchten Bettler vom Saale des Palais wiedererkannte, hatte er, ohne zu wissen warum, wieder einige Hoffnung gefaßt.
„Herr …“, stotterte er, „gnädiger Herr … Sire … Wie muß ich Euch nennen?“
„Gnädiger Herr, Majestät oder Kamerad, wie du willst. Aber eile, was hast du zu deiner Verteidigung zu sagen?“ Verteidigung, dachte Gringoire, das mißfällt mir.
Er begann stotternd seine Rede aufs neue: „Ich bin der, welcher heute morgen …“
„Bei des Teufels Krallen!“ unterbrach ihn Clopin, „deinen Namen und nichts weiter! Höre, du stehst vor drei mächtigen Herrschern; vor mir, Clopin Trouillefou, König von Thunes, höchstem Lehnsherrn des Königreichs Kauderwelsch; vor Matthias Hungardi Spiyali, Herzog der Zigeuner; es ist der alte Gelbe, den du dort mit der Fackel über dem Haupte siehst; Guillaume Rousseau, Kaiser von Galiäa, der uns jetzt nicht hört, weil er eine Landstreicherin liebkost. Wir sind deine Richter. Du bist in das Königreich Kauderwelsch eingetreten, ohne ein Kauderwelscher zu sein, und hast so die Privilegien unserer Stadt verletzt. Du mußt bestraft werden, wo du nicht Dieb, Bettler oder Vagabund bist. Bist du etwas der Art? Rechtfertige dich und entwickle deine Eigenschaften.“
„Ach“, sagte Gringoire, „ich habe nicht die Ehre; ich bin der Dichter …“
„Genug“, unterbrach ihn Trouillefou, ohne ihn ausreden zu lassen; „die Sache ist ganz einfach. Wie ihr Herrn ehrlichen Bürger die Unsern unter euch behandelt, behandeln wir die euren unter uns. Das Gesetz, das bei euch für die Landstreicher gilt, gilt bei den Landstreichern für euch. Ist es ungerecht, so ist es eure Schuld. Bisweilen muß man die Fratze eines ehrlichen Mannes über dem hanfenen Halsbande sehen. Dadurch wird das Halsband anständig. Wohlan, Freund, verteile deine Lumpen vergnügt unter die Damen. Ich lasse dich hängen, die Gauner zu vergnügen, und du magst ihnen deine Börse zum Vertrinken geben. Willst du noch eine Mummerei machen, so ist dort in der Büchse ein guter Gott-Vater von Stein, den wir in der Kirche St. Pierre aux Bœufs stahlen. Du hast noch vier Minuten, ihm deine Seele an den Hals zu werfen.“
Die Rede war furchtbar. – „Schön gesagt, bei meiner Seele! Clopin Trouillefou predigt wie der Papst, der heilige Vater“, rief der Kaiser von Galiläa, indem er seinen Krug zerbrach.
„Ihr gnädigen Herrn Kaiser und Könige“, sagte Gringoire kalten Blutes (ich weiß nicht, weshalb ein festerer Mut in seiner Seele Wurzel faßte), „daran denkt ihr nicht. Ich heiße Peter Gringoire und bin der Dichter, von dem man heute morgen eine Moralität aufgeführt hat.“
„So bist du es, Meister?“ sagte Clopin. „Ich war auch dabei; nun, Kamerad, weil du uns heute morgen langweiltest, ist das ein Grund, dich heute abend nicht zu hängen?“
Ich werde mich schwerlich aus der Schlinge ziehen, dachte Gringoire. Dennoch versuchte er noch eine Anstrengung. „Ich sehe nicht ein“, sagte er, „weshalb man die Dichter nicht zu den Landstreichern rechnet. Äsop war Vagabund, Homer ein Bettler, Merkur ein Dieb …“ – „Ich glaube“, unterbrach ihn Clopin, „du willst uns mit deinem Kauderwelsch zum besten haben. Zum Teufel! Laß dich hängen und mache keine Umstände.“
„Gnade, gnädiger Herr König von Thunes“, erwiderte Gringoire, das Terrain Schritt für Schritt verteidigend. „Es ist der Mühe wert … Einen Augenblick … Hört mich … Ihr werdet mich nicht verurteilen, ohne mich zu hören …“
Trouillefou gab ein Zeichen, und der Herzog, der Kaiser, die Würdenträger umringten ihn im Halbkreise, dessen Mittelpunkt Gringoire bildete, den die drei Gauner noch immer hart angepackt hielten. Es war ein Halbkreis von Lumpen, Flittergold, Gabeln, Bellen, mit Wein befeuchteten Beinen, dicken und nackten Armen, schmutzigen und abgestumpften Gestalten. Mitten in dieser Tafelrunde der Bettelschaft herrschte Clopin Trouillefou wie der Doge im Senat, wie ein König unter Pairs, wie ein Papst im Konklave, zuerst von der Höhe seiner Tonne, dann auch durch wilden, furchtbaren und stolzen Ausdruck des Antlitzes, in dem die Augen funkelten, wodurch der tierische Typus der Gesichtszüge des Landstreichergeschlechts gemildert ward.
„Höre“, sprach er zu Gringoire, indem er mit schwieliger Hand sein mißgestaltetes Kinn liebkoste, „ich sehe nicht ein, warum du nicht hängen solltest. Allerdings sieht man dir den Widerwillen an; ihr Bürger seid nicht daran gewöhnt. Ihr denkt euch die Sache als etwas Furchtbares. Übrigens haben wir nichts Böses gegen dich im Sinn. Es gibt ein Mittel, dich mit heiler Haut aus dem Handel zu ziehen; willst du zu uns gehören?“
Man denke sich die Wirkung dieses Vorschlags auf Gringoire, der schon sah, wie das Leben ihm entschlüpfte, und schon anfing, es aufzugeben. Er klammerte sich mit aller Kraft wieder an sein Leben.
„Gewiß! Wahrhaftig“, sagte er. – „Du willst dich in dem Orden der kleinen Schwertlilie einschreiben lassen?“ – „Ja, ja, der kleinen Schwertlilie; eben dies.“ – „Du erkennst dich an als Mitglied der Freibürgerschaft?“ – „Der Freibürgerschaft.“ – „Als Untertan des Königreichs Kauderwelsch?“ – „Des Königreichs Kauderwelsch.“ – „Als Landstreicher?“ – „Als Landstreicher.“ – „Von ganzer Seele?“ – „Von ganzer Seele.“ – „Ich muß dich darauf aufmerksam machen, daß du dennoch wirst gehängt werden.“ –
„Teufel!“ sprach der Dichter. – „Du wirst“, fuhr Clopin unerschütterlich fort, „nur in späterer Zeit, mit mehr Zeremonien gehängt werden, und zwar auf Kosten der guten Stadt Paris, von ehrlichen Leuten, und erhältst einen schönen, steinernen Galgen. Du siehst, das ist ein Trost.“
„Wie Ihr sagt“, erwiderte Gringoire. – „Du hast auch noch andere Vorteile; brauchst als Freibürger für den Kot, die Armen und Laternen nichts zu zahlen, wofür die Pariser Bürger den Beutel ziehen müssen.“ – „So sei es“, begann der Dichter. „Ich willige ein und bin Landstreicher, Kauderwelscher, Freibürger, alles, was ihr wollt. Herr König, ich war das alles auch schon im voraus; denn ich bin Philosoph, et omnia in philosophia, omnes in philosopho continentur, wie Ihr wißt.“
Der König runzelte die Brauen. „Wofür hältst du mich, Freund? Welch Kauderwelsch der ungarischen Juden singst du mir da? Ich kann kein Hebräisch. Man ist als Spitzbube noch kein Jude. Ich stehle nicht einmal mehr. Darüber bin ich hinaus, ich morde; bin Kehlabschneider, kein Beutelschneider.“
Gringoire suchte eine Entschuldigung in diese kurzen Worte einzuschieben, die der Zorn immer mehr und mehr beschleunigte. – „Ich bitte Euch um Verzeihung, gnädiger Herr, es ist kein Hebräisch, es ist Latein.“
„Ich sage dir“, erwiderte Clopin leidenschaftlich, „wenn du nicht schweigst, so lasse ich dich hängen, beim Bauch der Synagoge!“
Endlich beruhigte sich der gnädige König. „Schelm“, sagte er zu dem Dichter, „du willst also Landstreicher werden?“ – „Gewiß“, erwiderte dieser. – „Der gute Wille macht aber die Suppe noch nicht fett und hilft dir nur, wenn du ins Paradies willst. Paradies und Kauderwelsch sind zwei ganz verschiedene Dinge. Willst du in Kauderwelsch aufgenommen werden, mußt du beweisen, daß du zu etwas taugst und dieser Gliederpuppe die Taschen durchsuchen.“
„Ich will alles, was Ihr wollt, durchsuchen.“
Clopin gab ein Zeichen. Einige Kauderwelsche traten aus dem Kreise heraus und kehrten sogleich wieder zurück. Sie trugen einen recht hübschen, tragbaren Galgen herbei, an dem nichts fehlte, nicht einmal der Strick, der zierlich über dem Querbalken schwankte.
„Was soll das heißen?“ dachte Gringoire mit nicht geringer Besorgnis. Allein das Klingen und Schellen, das er sogleich vernahm, machte seiner Angst ein Ende; die Gauner hängten an den Strick eine rotgekleidete Gliederpuppe, eine Art Vogelscheuche, die mit Schellen überladen war. Diese tausend Glöckchen tönten einige Zeit lang bei den Schwingungen des Stricks, dann erloschen sie allmählich und schwiegen.
Darauf zeigte Clopin unserm Dichter einen alten wankenden Fußschemel, der unter der Gliederpuppe stand, und sprach: „Steig hinauf.“
„Tod des Teufels“, wandte Gringoire ein, „ich breche mir den Hals. Euer Schemel hinkt wie ein Distichon Martials; er hat einen Hexamter und einen Pentameter zum Fuße.“
„Steige hinauf“, wiederholte Clopin.
Gringoire stellte sich auf den Schemel und es gelang ihm, nach einigen Schwankungen der Arme und Beine seinen Schwerpunkt wiederzufinden. – „Jetzt“, fuhr der König fort, „schlage den rechten Fuß um das linke Bein, und stelle dich auf die Zehen des linken Fußes.“
„Gnädiger Herr“, sagte Gringoire, „Ihr wollt also durchaus, daß ich mir ein Glied zerbreche?“
Clopin erhob das Haupt. „Freund, du sprichst viel zu viel. Jetzt höre in zwei Worten die ganze Sache. Du stellst dich auf die Fußspitze, wie ich dir schon sagte, und so kannst du bis an die Tasche des Gliedermanns reichen. Du fühlst hinein und ziehst eine Börse, die sich dort befindet, heraus; tust du dies, ohne daß man den Schall einer Schelle hört, so ist das sehr gut, du bist Landstreicher und wirst nur noch acht Tage lang täglich geprügelt.“ – „Bei Gott! Das kann ich nicht. Und wenn die Schellen tönen?“ – „Dann wirst du gehängt. Verstehst du mich?“ – „Durchaus nicht.“ – „So höre noch einmal. Du fühlst in die Tasche der Gliederpuppe und stiehlst ihr eine Börse. Sobald eine Glocke bei der Operation Lärm schlägt, wirst du gehängt. Verstehst du jetzt?“ – „Ja, und dann?“ – „Wenn es dir gelingt, die Börse zu stehlen, ohne daß man eine Schelle hört, bist du Landstreicher und wirst acht Tage hintereinander geprügelt. Jetzt verstehst du mich gewiß?“ – „Nein, gnädiger Herr, noch nicht. Wo ist mein Vorteil? In einem Fall gehängt, im andern geprügelt?“ – „Nun, du bist Landstreicher, ist das nichts? Zu deinem eigenen Nutzen prügeln wir dich, um dich gegen Schläge abzuhärten.“ – „Danke.“ – „Wohlan, eile!“ sprach der König, indem er die Tonne mit dem Fuße stampfte, daß es laut widerhallte. „Befühl die Gliederpuppe! Munter, vorwärts! Ich sage es dir zum letztenmal, und höre ich eine einzige Schelle, so nimmst du den Platz der Puppe ein.“
Die Landstreicherbande klatschte Beifall und umstellte mit so unerbittlichem Lachen den Galgen, daß Gringoire sehr wohl einsah, er mache ihnen zu viel Vergnügen, um nicht alles zu befürchten zu müssen. Es blieb ihm keine andere Hoffnung mehr übrig, als das unwahrscheinliche Ereignis, die furchtbare Operation, die man ihm auferlegt hatte, möchte ihm gelingen. Er entschloß sich also zu dem Wagestück, jedoch nur, nachdem er ein heißes Gebet an den Gliedermann, den er bestehlen sollte, gerichtet hatte. Die tausend Schellen mit ihren kleinen kupfernen Zungen erschienen ihm als ebenso viele offene Schlangenrachen, bereit zu zischen und zu beißen.
„O Gott“, sprach er leise, „ist’s möglich, daß mein Leben von der kleinsten Bewegung der kleinsten Schelle abhängt! Oh“, fügte er mit gefalteten Händen hinzu, „ihr Schellen! Läutet nicht, läutet nicht!“
Er versuchte noch einmal, Trouillefou zu erweichen. „Und wenn ein Windstoß mir über den Hals kommt?“ – „Dann wirst du gehängt“, sagte Trouillefou ohne Bedenken. Als Gringoire sah, daß weder Rast, noch Ausflucht, noch Aufschub zu erhalten war, faßte er einen kühnen Entschluß. Er schlug den rechten Fuß um den linken, stellte sich auf die Zehen des linken, streckte den Arm aus … aber im Augenblick, da er die Puppe berührte, wankte sein Körper, der nur auf einem Fuß ruhte, auf dem Schemel, der nur auf dreien stand; mechanisch griff er nach der Puppe, sich zu halten, verlor das Gleichgewicht und fiel, betäubt vom Lärm der tausend Schellen, zu Boden. Die Puppe wich dem Stoße seiner Hand, drehte sich in kreisförmiger Bewegung und schwankte dann majestätisch zwischen den beiden Pfählen. „Verflucht!“ rief er fallend und blieb wie tot mit dem Gesichte auf dem Boden liegen. Da vernahm er den furchtbaren Schellenlärm über seinem Haupte, das Lachen der Gauner und Trouillefous Stimme: „Hebt den Schelm auf und hängt ihn ohne weitere Umstände!“
Er stand auf. Die Puppe hatte man schon losgebunden, um für ihn Platz zu machen. Die Kauderwelschen hießen ihn auf den Schemel steigen, Clopin trat zu ihm, legte die Schlinge um seinen Hals und klopfte ihm auf die Schulter mit den Worten: „Leb wohl, Freund, jetzt kannst du nicht entwischen, selbst wenn du mit den Gedärmen des Papstes verdautest.“
Das Wort Gnade erstarb auf Gringoires Lippen; er ließ seinen Blick in die Runde schweifen; aber keine Hoffnung; alle lachten.
„Bellevigne de l’Etoile!“ sprach der König zu einem riesenhaften Landstreicher, der aus der Reihe hervortrat; „klettere auf den Querbalken.“
Bellevigne stieg gemächlich hinan, und Gringoire, als er die Augen aufschlug, erschrak, ihn gerade über seinem Haupte sitzen zu sehen.
„Sobald ich mit den Händen klatsche“, begann Clopin aufs neue, „stößt du, Andry le Rouge, die Fußbank mit einem Tritt um; du, François Chante-Prune, hängst dich an die Beine des Schelmes; du, Bellevigne, springst ihm auf die Schultern. Versteht ihr, in einem und demselben Augenblick!“
Gringoire klapperte mit den Zähnen. „Seid ihr fertig?“ sprach Clopin zu den drei Landstreichern, die bereit waren, über Gringoire herzufallen. Der arme Patient hatte einen Augenblick der furchtbarsten Erwartung, während Clopin ruhig mit seiner Fußspitze einige Weinstockreben ins Feuer stieß, die von der Flamme noch nicht erreicht waren. „Seid ihr fertig?“ wiederholte er und öffnete die Hände zum Klatschen. Noch eine Sekunde, und um Gringoire war es geschehen. Clopin hielt aber plötzlich inne, als wäre ihm etwas eingefallen. „Noch einen Augenblick“, sagte er, „ich hatte etwas vergessen. Es ist Sitte, daß wir niemanden hängen, ohne vorher zu fragen, ob ihn eine Frau haben will. Kamerad, das ist dein letzter Rettungsweg. Du mußt eine Landstreicherin oder den Strick heiraten.“
Gringoire atmete wieder auf. Zum zweitenmal kehrte er seit einer halben Stunde zum Leben zurück. Doch wagte er noch nicht, auf seine Rettung zu vertrauen.
„Hollah!“ rief Clopin, als er seine Tonne wieder bestiegen hatte, „ihr Frauen und Mädchen! Ist eine Landstreicherin unter euch, von der Hexe bis zur Katze, die diesen Landstreicher will? Hollah, Colette la Charonne, Elisabeth Trouvain, Simone Joudouyne! Marie Piédebou, Thonne, Berade, kommt und schaut! Ein Mann für nichts! Welche will ihn haben?“
Gringoire erweckte in seinem elenden Zustande keine Begierden. Die Landstreicherinnen wurden durch den Vorschlag eben nicht gerührt. Der Unglückliche hörte, wie sie erwiderten: „Nein, nein! Ihr könnt ihn hängen zum Vergnügen für alle!“
Drei kamen indessen aus dem Haufen heraus, ihn zu beschnüffeln. Die erste war ein dickes Mädchen mit viereckigem Gesicht. Sie untersuchte aufmerksam das beklagenswerte Wams des Philosophen. Es war abgenutzt und mehr durchlöchert als ein Sieb, Kastanien zu rösten. Das Mädchen schnitt eine Fratze. – „Altes Tuch!“ murmelte sie. „Wo hast du deinen Mantel?“ – „Verloren.“ – „Deinen Hut?“ – „Man hat ihn mir genommen.“ – „Deine Schuhe?“ – „Sind fast ohne Sohlen.“ – „Deine Börse?“ – „Ach, ich habe keinen Heller.“ – „Laß dich hängen und danke.“ – Die Landstreicherin wandte ihm den Rücken.
Die dritte war ein junges, recht frisches und eben nicht häßliches Mädchen. „Rettet mich!“ flehte leise der arme Teufel. Sie betrachtete ihn mit mitleidvollem Ausdruck, schlug in ihren Rock eine Falte und stand unentschlossen da. Er folgte mit den Augen allen ihren Bewegungen; es war sein letzter Hoffnungsschimmer. – „Nein“, sagte endlich das junge Mädchen, „Guillaume Longuejoue würde mich prügeln“, und trat in den Kreis zurück.
„Kamerad“, sagte Clopin, „du hast Unglück.“ Dann stand er auf, und indem er zum allgemeinen Vergnügen den Ton eines Gerichtsdieners bei einer Auktion nachahmte, rief er aus: „Niemand will ihn? Zum ersten, zum zweiten und zum dritten Male?“ Dann nickte er dem Galgen zu und sagte: „Zugesprochen.“
Die drei unheilvollen Landstreicher traten an Gringoire heran. In dem Augenblick entstand unter den Kauderwelschen ein Geräusch. „Die Esmeralda“, hieß es. Gringoire zitterte und wandte sich nach der Seite, woher der Ruf kam. Der Kreis öffnete sich vor einer reinen und blendenden Gestalt. Es war die Zigeunerin. „Die Esmeralda!“ sagte Gringoire, bei aller seiner Aufregung über die sonderbare Weise erstaunt, wie sich dieses magische Wort mit allen seinen Erinnerungen des Tages verknüpfte.
Das seltene Geschöpf schien selbst im Hofe der Wunder durch Schönheit und Reize zu herrschen. Landstreicher und Landstreicherinnen standen schweigend, als sie vorbeiging, und es milderten sich ihre rohen Gesichter.
Sie nahte sich leichten Schrittes dem Verurteilten. Ihr folgte die hübsche Djali. Gringoire war eher tot als lebendig. Einen Augenblick betrachtete sie ihn schweigend. „Ihr wollt den Mann da hängen?“ fragte sie Clopin mit ernster Stimme. – „Ja, Schwester, wenn du ihn nicht zum Manne nimmst.“
– Sie schnitt das kleine, hübsche Mäulchen mit der Unterlippe. „Ich nehme ihn“, sagte sie.
Gringoire glaubte fast, er habe nur geträumt, und dies sei eine Fortsetzung seines Traumes. Man band die Schlinge los und ließ den Dichter von dem Fußschemel heruntersteigen. Er mußte sich setzen, so lebhaft war seine Aufregung.
Der Zigeunerherzog brachte, ohne ein Wort zu sagen, einen irdenen Krug. Die Zigeunerin reichte diesen dem Dichter.
„Werft ihn zu Boden“, sprach sie. Der Krug zerbrach. „Bruder“, sagte hierauf der Zigeunerherzog, indem er beiden die Hände auf die Stirn legte, „sie ist dein Weib; er ist dein Mann. Auf vier Jahre. Geht.“
12. Die Brautnacht
Nach einigen Augenblicken befand sich unser Dichter in einer kleinen, warmen gotischen Kammer; er hatte Aussicht auf ein gutes Bett, und war allein mit einem hübschen Mädchen. Das Abenteuer war beinahe zauberhaft. Gringoire fing auch wirklich an, sich für den Helden eines Feenmärchens zu halten. Von Zeit zu Zeit ließ er den Blick umherschweifen, als suchte er den von zwei geflügelten Chimären gezogenen Feuerwagen, der allein ihn so schnell vom Tartarus in das Paradies hätte entrücken können. Hin und wieder heftete sich auch sein Blick auf die Löcher seines Wamses, um sich an die Gegenwart zu klammern und sie durchaus nicht aus dem Gesichte zu verlieren. Seine Vernunft, mit der die Einbildungskraft Ball spielte, hing nur an diesem dünnen Faden.
Das Mädchen schien nicht auf ihn zu achten; sie ging, kam, rückte an seiner Fußbank, schwatzte mit ihrer Ziege und schnitt dann und wann ihr Mäulchen. Endlich setzte sie sich an den Tisch, und Gringoire konnte sie gemächlich betrachten. Das ist also, dachte er, die Esmeralda! Ein himmliches Geschöpf! Eine Straßentänzerin! Heute morgen gab sie meinem Mysterium den Gnadenstoß, und heute abend rettete sie mir das Leben. – Mein böser Genius und mein guter Engel. Ein schönes Weib, auf mein Wort. Sie muß in mich vernarrt sein, weil sie mich so zum Manne nahm. – So, so, mir fällt was ein, dachte er plötzlich mit dem Gefühl für das Wahre, das die Grundlage seiner Philosophie und seines Charakters bildete, ich weiß nicht recht, wie es geschah, aber ich bin ja ihr Mann. Mit diesem Gedanken im Kopfe nahte er dem jungen Mädchen auf so galante Weise, daß diese zurückfuhr: „Was wollt Ihr?“ fragte sie.
„Könnt Ihr mich noch fragen, anbetungswürdige Esmeralda!“ erwiderte Gringoire mit so leidenschaftlichem Tone, daß er selber erstaunte, sich so reden zu hören.
Die Zigeunerin schlug ihre großen Augen auf. – „Ich weiß nicht, was Ihr wollt.“ – „Nun“, erwiderte Gringoire immer mehr erhitzt; denn er dachte nur mit einer Tugend aus dem Hofe der Wunder zu tun zu haben. „Bist du nicht mein, süße Geliebte, bin ich nicht dein?“ Und mit diesen Worten umfaßte er ganz ohne Zwang ihre schlanken Hüften. Das Kleid der Zigeunerin glitt durch seine Hand, wie die Haut eines Aales. Mit einem Sprunge war sie von einem Ende der Kammer in dem andern, bückte sich, richtete sich wieder auf und hielt einen kleinen Dolch in der Hand, bevor Gringoire Zeit gehabt hatte, zu sehen, woher der Dolch gekommen war. Sie stand da, gereizt und stolz mit aufgeworfenen Lippen, mit geblähten Nasenlöchern, mit Wangen dunkelrot wie ein Apfel; ihre Augen funkelten von Blitzen. Zugleich stellte sich die weiße Ziege vor ihn hin, und bot Gringoire die Stirn zum Kampfe, zwei artige, vergoldete und sehr spitze Hörner. Alles dies geschah in einem Augenblick.
Unser Philosoph stand verlegen da und wandte den stumpfen Blick von dem Mädchen auf die Ziege und umgekehrt. – „Heilige Jungfrau“, sprach er endlich, als die erste Überraschung vorüber war, so daß er wieder sprechen konnte, „das sind zwei Gaunerinnen!“
Die Zigeunerin brach das Schweigen ebenfalls. „Du mußt ein sehr kühner Schelm sein“, sagte sie.
„Verzeihung“, sagte Gringoire lächelnd, „warum nahmt Ihr mich denn zum Manne?“ – „Durfte ich dich hängen lassen?“ – „Also“, erwiderte der Dichter, hinsichtlich seiner Liebeshoffnung ein wenig enttäuscht, „dachtet Ihr an nichts anders, als mich vom Galgen zu retten?“ – „Woran sollt’ ich sonst gedacht haben?“ – Gringoire biß sich auf die Lippen. Nun, dachte er, ich bin als Cupido doch nicht so siegreich, wie ich glaubte. Doch weshalb zerbrach sie denn den armen Krug? Unterdes waren Esmeraldas Dolch und die Hörner der Ziege noch immer zur Verteidigung bereit.
„Fräulein Esmeralda“, begann der Dichter endlich, „ich schwöre Euch bei meinem Anteil am Paradiese, ich will Euch ohne Erlaubnis nicht näher treten; aber gebt mir zu essen.“
Im Grunde war Gringoire in Angelegenheiten der Liebe, wie in allen andern, für das Zeitnehmen und die halben Maßregeln. Ein gutes Abendessen, ein liebenswürdiges Zusammensitzen schien ihm, besonders wenn er Hunger fühlte, ein trefflicher Zwischenakt zwischen dem Prolog und der Entwicklung einer Liebesangelegenheit.
Die Zigeunerin erwiderte nichts. Sie schnitt ihr kleines, verächtliches Mäulchen, richtete das Haupt wie ein Vogel auf, lachte auf, und der Dolch verschwand, wie er hervorgekommen war. Gringoire konnte nicht sehen, wo die Biene ihren Stachel verbarg. Gleich darauf lag auf seinem Tische ein Roggenbrot, ein Stück Speck mit einigen gerunzelten Äpfeln; daneben stand ein Bierkrug. Gringoire aß mit Leidenschaft. Hörte man das Klirren seiner eisernen Gabel auf dem Teller, so hätte man gewiß gesagt, alle seine Liebe sei in Hunger verwandelt.
Das junge Mädchen schwieg und ließ ihn nach Belieben in den Speisen aufräumen. Ein anderer Gedanke weilte offenbar in ihrer Seele; bisweilen lächelte sie sinnend, während ihre weiche Hand den klugen Kopf der Ziege, der zwischen ihren Knien ruhte, liebkoste.
Ein gelbes Wachslicht beleuchtete diesen Auftritt des Heißhungers und des Nachsinnens. Nachdem das erste Bellen seines Magens besänftigt war, fühlte Gringoire indes einige falsche Scham, als er sah, daß nur noch ein Apfel übrig war. „Ihr eßt nichts, Fräulein Esmeralda?“
Zur Antwort schüttelte sie den Kopf und heftete den Blick auf das Gewölbe des Zimmers. „Zum Teufel, woran denkt sie?“ sprach Gringoire zu sich selbst und ließ seine Augen der Richtung der ihrigen folgen, „die Fratze des steinernen Zwerges am Schlußstein des Gewölbes kann doch ihre Aufmerksamkeit nicht so in Anspruch nehmen. Zum Teufel! Dem Vergleich bin ich gewachsen!“
Er rief laut: „Fräulein!“ – Sie schien ihn nicht zu hören. – „Fräulein Esmeralda!“ – Verlorene Mühe. Der Geist vermochte nicht mehr, ihn zu sich herab zu beschwören. Glücklicherweise kam ihm die Ziege zu Hilfe und zupfte ihre Herrin sanft am Ärmel.
„Was willst du, Djali?“ fuhr die Zigeunerin lebhaft auf. – „Sie fühlt Hunger“, sagte Gringoire, entzückt, daß eine Gelegenheit, ein Gespräch anzuknüpfen, sich darbot. Esmeralda zerkrümelte ein Brot, welches Djali anmutig aus ihrer hohlen Hand fraß. Übrigens ließ ihr Gringoire jetzt keine Zeit, wieder in ihr Sinnen zu versinken. Er wagte eine zweite Frage: „Ihr wollt mich also nicht zum Manne?“ – Das junge Mädchen sah ihn starr an und erwiderte: „Nein.“ – „Zum Liebhaber?“ – Sie schnitt ihr Mäulchen und erwiderte: „Nein!“ – „Zum Freunde?“ – Sie betrachtete ihn noch einmal mit starrem Blick und sagte nach einem Augenblick des Nachsinnens: „Vielleicht.“
Dies bei den Philosophen so sehr beliebte Vielleicht gab Gringoire neue Kühnheit. „Wißt Ihr auch“, fragte er, „was Freundschaft ist?“ – „Ja; Bruder und Schwester sein; zwei Seelen, die sich berühren, ohne eins zu werden, wie zwei Finger der Hand.“ – „Und die Liebe?“ „Oh, die Liebe“, sprach sie mit strahlenden Augen, „macht zwei zu einem; Mann und Frau, die in einen Engel zusammenschmelzen. Das ist der Himmel.“
Als die Straßentänzerin also sprach, strahlte sie in einer Schönheit, die auf Gringoire einen sonderbaren Eindruck machte und in genauer Beziehung zu dem fast orientalischen Schwunge ihrer Worte zu stehen schien. Auf ihren rosigen und reinen Lippen schwebte ein halbes Lächeln; ihre offene und heitere Stirn ward hin und wieder durch Gedanken umwölkt, gleich einem Spiegel, dessen Fläche der Atem trübt; und aus ihren langen gesenkten Wimpern schossen Strahlen unbeschreiblichen Lichtes hervor, das dem Profil die ideale Anmut erteilte, die Raffael später bis zum mystischen Durchschnittspunkte der Jungfräulichkeit, des mütterlichen Gefühls und der Gottheit darzustellen verstand.
Gringoire setzte dennoch seine Fragen fort. – „Wie muß man denn beschaffen sein, Euch zu gefallen?“ – „Man muß Mann sein.“ – „Bin ich’s nicht?“ – „Ein Mann trägt den Helm auf dem Haupte, das Schwert in der Faust, goldne Sporen an den Fersen.“ – „Gut; ohne Pferd kein Mann. Liebt Ihr jemanden?“ – Einen Augenblick saß sie schweigend da, dann sprach sie mit besonderem Ausdruck: „Bald werd’ ich’s wissen.“ – „Warum denn nicht jetzt, heute abend?“ fragte er zärtlich.
Sie warf ihm einen ernsten Blick zu. – „Ich werde nur einen Mann lieben, der mich beschützen kann.“
Gringoire errötete und fühlte sich getroffen. Das junge Mädchen spielte offenbar auf die geringe Hilfe an, die er im kritischen Augenblick vor zwei Stunden ihr hatte leisten können. Die durch so manche Abenteuer des Abends schon erloschene Erinnerung kehrte ihm wieder. Er schlug sich vor die Stirn.
„Ja, damit hätte ich beginnen müssen. Verzeiht meine törichte Zerstreuung. Wie konntet Ihr Quasimodos Klauen entschlüpfen?“ – „Oh! Der furchtbare Bucklige!“ rief sie nun, das Gesicht mit den Händen verhüllend. – „Ja, er ist furchtbar“, erwiderte Gringoire, „aber wie seid Ihr ihm entgangen?“ – Esmeralda lächelte, seufzte und schwieg. – „Wißt Ihr, warum er Euch folgte?“ begann Gringoire aufs neue, indem er auf seine Frage durch einen Umweg zurückzukehren suchte. – „Ich weiß es nicht“, sagte Emeralda, „aber“, fügte sie lebhaft hinzu, „warum seid auch Ihr mir gefolgt?“ – „Bei meiner Seele, ich weiß es ebensowenig.“
Ein Augenblick des Schweigens folgte. Gringoire kritzelte mit dem Messer auf dem Tische. Das Mädchen lächelte und liebkoste Djali.
„Ihr habt da ein schönes Tier“, sagte Gringoire. – „Meine Schwester.“ – „Weshalb heißt Ihr Esmeralda?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Auch das nicht?“ –
Sie zog aus ihrem Busen einen kleinen länglichen Beutel, der vom Halse an einer kleinen Kette von Zaubergestalten hing; das Beutelchen verbreitete einen starken Kampfergeruch. Es war mit grüner Seide überzogen, und im Mittelpunkt befand sich ein dickes, geschliffenes grünes Glas, ähnlich einem Smaragd.
„Vielleicht deshalb“, sagte sie.
Gringoire wollte das Beutelchen in die Hand nehmen; sie fuhr zurück. – „Berührt es nicht. Es ist ein Amulett, Ihr vernichtet den Zauber, oder dieser vernichtet Euch.“
Die Neugier des Dichters ward stets heftiger. – „Wer gab es Euch?“
Sie legte den Finger auf den Mund, und barg das Amulett in ihrem Busen. Er versuchte noch andere Fragen, aber sie erwiderte kaum.
„Was heißt Esmeralda?“ – „Weiß nicht.“ – „Aus welcher Sprache ist das Wort genommen?“ – „Ich glaube aus der Zigeunersprache.“ – „Das dacht ich auch. Ihr seid nicht aus Frankreich?“ – „Weiß nicht.“ – „Habt Ihr Eltern?“ Sie sang nach einer alten Melodie:
Mein Vater ist ein Vogel,
Meine Mutter ist desgleichen;
Ich kann das andre Ufer
Auch ohne Schiff erreichen;
Meine Mutter ist ein Vogel,
Mein Vater ist desgleichen.
„Schön!“ sagte Gringoire. „Wann kamt Ihr nach Frankreich?“ – „Ganz klein!“ – „Nach Paris?“ – „Im vergangenen Jahre. Als wir durch das päpstliche Tor einzogen, sah ich Grasmücken in der Luft vorbeiziehen. Es war Ende August. Da sagte ich: der Winter wird streng.“
„Jawohl“, sagte Gringoire, entzückt über die Veränderung des Gesprächs; „ich habe mir den ganzen Winter hindurch die Fingerspitzen mit dem Atem gewärmt. Ihr habt also die Gabe, in der Zukunft zu lesen?“ – Sie verfiel wieder in die kurze Rede: „Nein.“ – „Der Mann, den Ihr Zigeunerherzog nanntet, ist wohl der Führer Eures Stammes?“ – „Ja.“ – „Er hat uns verheiratet“, fügte der Dichter blöde hinzu. Sie schnitt ihr gewöhnliches Mäulchen: „Ich weiß ja nicht einmal deinen Namen.“ – „Meinen Namen? Wenn Ihr ihn wissen wollt, Peter Gringoire.“ – „Meiner ist schöner.“ – „Böses Mädchen! Ihr werdet mich aber nicht ärgern. Wenn Ihr mich besser kennt, werdet Ihr mich vielleicht mehr lieben. Auch habt Ihr mir Eure Geschichte mit so viel Zutrauen erzählt, daß ich Euch auch ein wenig von meiner schuldig bin. So wißt, ich heiße Peter Gringoire und bin der Sohn eines Pächters des Amtes von Gonesse. Mein Vater ward von den Burgundern gehängt, meiner Mutter ward der Bauch von den Picardern aufgerissen. Dies geschah bei der Belagerung von Paris vor 20 Jahren. So ward ich mit sechs Jahren zur Waise und hatte auf dem Pariser Pflaster keine andren Sohlen als die meiner Füße. Ich weiß nicht, wie ich den Zwischenraum von sechs bis sechzehn Jahren zurücklegen konnte; eine Obsthändlerin warf mir hier ein Pflaume, ein Bäcker dort eine Brotkruste hin; abends ließ ich mich von der Polizei aufgreifen, die mich ins Gefängnis brachte, und fand dort ein Strohlager. Alles dies hinderte mich nicht, groß und mager zu werden, wie Ihr seht. Im Winter wärmte ich mich an der Sonne im Vorhof des Hotel von Sens und fand es sehr lächerlich, daß das Freudenfeuer des St. Johannistages auf die Hundstage verspart wurde. Mit sechzehn Jahren wollte ich mir einen Beruf wählen. Nach und nach habe ich in allen Berufen herumgetappt. Bald bemerkte ich, daß mir zu jedem etwas fehlte. Da ich sah, ich taugte zu nichts, ward ich Dichter und Rhythmenschreiber. Diesen Beruf kann ein Vagabund immer ergreifen; auch ist es besser als zu stehlen, wie mir einige Söhne von Spitzbuben, meine Freunde, rieten. Zum Glück traf ich eines Tages auf Dom Claude Frollo, den ehrwürdigen Archidiakonus von Notre-Dame. Er zeigte mir Teilnahme, und ihm verdanke ich’s gegenwärtig, daß ich ein wahrer Gelehrter bin, der von Ciceros Officien bis zum Mortuolog der Cölestiner Latein versteht. Auch bin ich der Dichter des Mysteriums, das man heute unter großem Triumph beim Zulauf des Volkes im Saale des Palais gab. Ferner schrieb ich ein Buch von sechshundert Seiten über den wunderbaren Kometen von 1465, worüber ein Mann verrückt ward. Auch hatte ich noch in andern Unternehmungen Glück. Als ein Artillerie-Zimmermann arbeitete ich an der großen Bombarde von Jean Maugue, die, wie Ihr wißt, auf der Brücke von Charenton, am Tage, wo man Versuche mit ihr machte, platzte und vierundzwanzig Neugierige tötete. Ihr seht, daß ich keine schlechte Partie bin. Auch kenne ich noch viele Kunststücke, die ich Eure Ziege lehren kann, z. B. den Bischof von Paris nachzuäffen, den verfluchten Pharisäer. Und endlich wird mir mein Mysterium viel gemünztes Gold einbringen, wenn man mich bezahlt. Kurz, mein Ich, mein Geist, meine Wissenschaft steht zu Eurem Befehl; ich bin bereit, wie es Euch beliebt, mit Euch zu leben, keusch oder lustig, als Ehemann, wenn Ihr dies für gut haltet; als Bruder, wenn Euch das noch mehr gefällt.“
Gringoire schwieg und erwartete die Wirkung seiner Rede auf das junge Mädchen. Sie heftete den Blick zur Erde. „Phoebus“, sprach sie halblaut. Dann wandte sie sich zum Dichter: „Phoebus, was bedeutet das?“
Gringoire konnte zwar nicht genau begreifen, welche Beziehung zwischen jener Frage und seiner Anrede bestand, es war ihm aber nicht unangenehm, mit seiner Gelehrsamkeit glänzen zu können. Er antwortete, sich räuspernd: „Das ist ein lateinisches Wort und heißt die Sonne.“ – „Sonne?“ fragte Esmeralda. – „So hieß ein schöner Bogenschütze, der Gott war.“ – „Gott!“ wiederholte die Zigeunerin, und in ihrem Akzent lag etwas Sinnendes und Leidenschaftliches.
In dem Augenblick löste sich eines ihrer Armbänder und fiel zu Boden. Gringoire bückte sich, es aufzunehmen, und als er sich aufrichtete, war das Mädchen mit der Ziege verschwunden. Er hörte das Geräusch eines Riegels; es war ohne Zweifel an einer kleinen Türe, die mit einer benachbarten Kammer in Verbindung stand und von außen geschlossen wurde. „Hat sie mir ein Bett hiergelassen?“ fragte sich unser Philosoph. Zum Schlaf eignete sich weiter nichts als eine kurze hölzerne Kiste. Der Deckel war noch dazu mit Schnitzwerk geschmückt, wodurch Gringoire, als er sich ausdehnte, ein Gefühl empfand, ähnlich ungefähr dem des Mikromegas, wenn er sich über die Spitzen der Alpen schlafen gelegt hatte.
„Wohlan!“ dachte er, „man muß sich so viel wie möglich in die Umstände schicken, sich in das Schicksal ergeben. Aber welch sonderbare Brautnacht! Wie schade! In der Ehe des zerbrochenen Kruges lag doch etwas Naives und Vorsintflutliches, das mir gefiehl.“
13. Die Kirche Notre-Dame
Gewiß ist auch gegenwärtig die Kirche Notre-Dame noch immer ein majestätischer und erhabener Bau. So schön sie sich auch alternd mag erhalten haben, kann man dennoch nicht unterlassen, über die zahllosen Entwürdigungen und Verstümmelungen zu seufzen, womit Zeit und Menschen ohne Achtung für Karl den Großen, der den ersten Stein, und Philipp August, der den letzten Stein legte, den ehrwürdigen Bau entstellen. An der Vorderseite dieser alten Königin unsrer Kathedralen findet man neben jeder Runzel eine Narbe.
Um zuerst einige Hauptbeispiele zu erwähnen, so gibt es gewiß nur wenig schönere architektonische Werke als die Fassade mit den drei in Spitzbögen gehauenen Portalen, die mit Schnörkeln verblümte Reihe von achtundzwanzig königlichen Nischen, die mit zwei Seitenfenstern geschmückte Rosette in der Mitte, die hohe und schlanke Galerie von kreuzartigen Arkaden, die eine schwere Fläche unter dünnen Säulen trägt, und endlich als die zwei schwarzen massiven Türme mit ihrem Schieferdache, Teile, die mit dem prächtigen Ganzen im Einklang stehen und in fünf gigantischen Stockwerken übereinanderliegen. Ohne Verwirrung entwickelt sich alles dem Auge mit den unzähligen Einzelheiten der Bildhauer- und Ziselierkunst und vereint sich mächtig mit der ruhigen Größe des Ganzen. Es gleicht einer ungeheuren steinernen Symphonie, das riesenhafte Werk des Menschen und des Volkes; es ist ein in sich zusammenhängendes Ganzes, ein wunderbares Erzeugnis der Vereinigung aller Kräfte einer Epoche, wo aus jedem Stein die Phantasie des Meißlers vereint mit der des Maurers hervorspringt, kurz, ein Menschwerk, fruchtbar und mächtig wie Gottes Schöpfung, dessen doppelten Charakter: Abwechslung, Ewigkeit es geraubt zu haben scheint.
Was wir hier von der Fassade sagten, gilt ebensogut von der ganzen Kirche. Was wir von der Kathedrale von Paris sagen, gilt von der ganzen Kirchenbaukunst des Mittelalters. Alles hält sich in den richtigen, logischen Verhältnissen der selbstgeschaffenen Kunst. Das Maß der Zehe gibt das Maß des ganzen Riesen. Gegenwärtig fehlen dieser Fassade drei wichtige Dinge. Erstens, die Treppe von elf Stufen, die sich früher über den Boden erhob. Zweitens, die untere Reihe von Statuen, welche die Nischen der drei Portale füllte, und die Reihe der achtundzwanzig ältesten Könige von Frankreich, von Childebert bis auf Philipp August, alle mit dem Reichsapfel in der Hand, die die Galerie des ersten Stockwerks einnahm.
Die Treppe verschwand durch die Gewalt der Zeit, die unmerklich, aber unwiderstehlich den Boden der Altstadt erhöhte. Indem aber die Zeit durch den stets hinaufsteigeden Kot des Pflasters von Paris die Stufen allmählich verschlang, die die majestätische Höhe des Baues erhöhten, gab sie der Fassade mehr, als sie ihr nahm, denn sie breitete darüber die dunkle Farbe der Jahrhunderte, die aus dem Greisenalter der Gebäude das Alter ihrer Schönheit schafft.
Wer aber warf die beiden Reihen Statuen nieder? Wer leerte die Nischen? Wer schnitt im schönen, alten Portal den neuen Bastardbogen? Wer wagte es, die alberne schwerfällige Tür mit Schnitzwerk aus der Zeit Ludwigs XV. neben Biscornettes Arabesken einzuschwärzen? Es waren Menschen, Architekten, Künstler unserer Tage. Und treten wir in das Innere: Wer warf jenen Koloß des heiligen Christoph zu Boden, der unter den Statuen mit demselben Rechte zum Sprichwort ward, wie der Saal des Palais unter den Hallen, der Münster zu Straßburg unter den Türmen? Und welcher Barbar hat jene Statuen fortgeschafft, die knieend, stehend, reitend, Männer, Weiber, Kinder, Könige, Bischöfe, Ritter von Sandstein, Marmor, Gold, Silber, Kupfer und selbst von Wachs, vom Schiff zum Chor die Räume füllten? Die Zeit war es nicht. Und wer ersetzte den alten gotischen Altar mit Reliquienkästchen durch jenen schwerfälligen Sarkophag mit Wolken und Engelsköpfchen, der einem vom Val-de-Grace oder den Invaliden hierher geratenen Muster gleicht? Wer siegelte jenen schwerfälligen Anachronismus auf des Hercandus karolingisches Getäfel? Dies tat Ludwig XIV., einen Wunsch Ludwigs XIII. erfüllend. Und wer ersetzte die dunkelgefärbten Fenster durch kalte, weiße Scheiben, die das erstaunte Auge unserer Väter zwischen der Rose des Portals und den Spitzbogen in magischem Lichte schwimmen ließen? Und was würde ein Sänger des zehnten Jahrhunderts sagen, wenn er die gelbe Farbe erblickte, womit vandalische Erzbischöfe die Karthedrale beschmierten? Er würde wähnen, der Bau sei geschändet.
Besteigen wir die Kathedrale, ohne bei den tausend Barbareien jeder Art zu verweilen, so möchten wir fragen: Was ward aus dem kleinen schönen Turme, der auf den Durchschnittspunkt des Kreuzgewölbes sich stützte und nicht weniger kühn wie sein Gefährte, die (auch zerstörte) Spitze des Hauptturmes, spitz, volltönend, gleichsam ausgeschnitten in den Himmel vor allen andern Türmen emporstrebte? Ein Architekt von sogenanntem gutem Geschmack schnitt ihn ab und wähnte, ein breites bleiernes Pflaster, das dem Deckel eines Topfes gleicht, genüge, die Wunde zu verhüllen. So ward fast überall, besonders in Frankreich, die wunderbare Kunst des Mittelalters behandelt. Auf ihren Trümmern kann man drei Arten der Verstümmelung unterscheiden, die sie mehr oder weniger verletzen; die Zeit, die hin und wieder Lücken riß und die Oberfläche rosten ließ; die politischen und religiösen Revolutionen, die blind und jähzornig im Tumult über sie herfielen und ihr reiches Kleid der bildenden Kunst zerrissen, die Rosetten zersprengten, die Kettenbänder von Arabesken und kleinen Gestalten zerbrachen, die Statuen, ob der Mitra oder der Krone, hinauswarfen; endlich die Moden, stets alberner und grotesker, die seit den anarachischen und glänzenden Abwegen der Wiedergeburt im notwendigen Verfall der Baukunst aufeinander folgten. Die Moden haben mehr zerstört als die Revolutionen, sie schnitten in das Fleisch, sägten an dem Knochengestell der Kunst; sie zerschnitten, töteten das Gebäude in der Form wie im Symbol, in der Logik wie in der Schönheit. Und dann wollten sie aufs neue schaffen. Diese Anmaßung hatten wenigstens weder die Zeit noch irgendeine Revolution. Im Namen des guten Geschmacks hefteten sie auf den gotischen Bau ihr bald vergehendes Flitterwerk, ihre marmornen Bänder, ihre metallenen Knöpfe, ihren Aussatz von Wülsten, Schneckenlinien, Draperien, Girlanden, Fransen, Steinflammen, bronzenen Wolken, runden Liebesgöttern, sich aufblasenden Cherubim, der die kunstvolle Oberfläche des Oratoriums der Katharine von Medici zu verschlingen begann und es zwei Jahrhunderte später gefoltert und unter Fratzen in ein Boudoir der Dubarry umwandelte.
Notre-Dame von Paris ist übrigens kein vollständiges Gebäude mit ganz entschiedenem Charakter. Es ist nicht mehr eine romanische, aber auch keine gotische Kirche, es ist ein Bau des Übergangs. Der sächsische Baumeister legte die ersten Pfeiler des Schiffes, als der von den Kreuzzügen herübergebrachte Spitzbogen sich als Eroberer auf die breiten romanischen Kapitäle stellte, die nur Rundbogen tragen sollten. Allein unerfahren und furchtsam im ersten Auftreten, hält er sich zurück, und wagt noch nicht in Lanzen- und Pfeilspitzen emporzustreben, wie er es später in so manchen wunderbaren Kathedralen tat. Man möchte sagen, er empfinde die Nähe der schwerfälligen römischen Pfeiler. Übrigens verdienen die Übergangspfeiler nicht weniger ein näheres Studium als die Werke des reinen Stils. Sie zeigen eine Schattierung der Kunst, die ohne sie verloren wäre. Es ist das Pfropfreis des Spitzbogens auf dem Rundbau.
Besonders Notre-Dame von Paris ist ein merkwürdiges Muster dieser Verschiedenheit. Jede Fläche, jeder Stein des ehrwürdigen Baues ist nicht allein eine Seite in Frankreichs Geschichte, sondern auch in der Geschichte der Kunst und Wissenschaft. Um hier nur die hauptsächlichsten Einzelheiten anzudeuten, so gehen die Pfeiler des Schiffes bis zur karolingischen Abtei St. Germain-des-Prés zurück, während das kleine rote Tor beinah die Grenzen der gotischen Freiheit berührt. Man sollte meinen, sechs Jahrhunderte lägen zwischen dem Tor und den Pfeilern. Sogar die Hermetiker finden in den Symbolen des Hauptportals eine genügende Abkürzung ihrer Wissenschaft, deren vollständige Hieroglyphen die Kirche St. Jacques de la Boucherie bietet. So ist die romanische Abtei, die gotische, die sächsische Kunst, der schwerfällige Rundpfeiler, der an Gregor VII. erinnert, der hermetische Symbolismus, die päpstliche Einheit, das Scheisma, St. Germaindes-Prés, St. Jacques de la Boucherie in Notre-Dame vereinigt und verschmolzen. Sie ist eine Art Schimäre der Pariser Kirchen, trägt das Haupt der einen, ein Glied der andern, etwas von allen.
Wir wiederholen es, die bastardartigen Gebäude sind gleich interessant für den Künstler, den Antiquar, den Historiker. Sie geben einen Begriff, wie weit die Baukunst etwas Ursprüngliches ist; denn sie zeigen (wie die Zyklopenbauten, die Pyramiden, die Pagoden), daß die großen Produkte der Baukunst keine individuellen, sondern soziale Werke sind, mehr das Erzeugnis arbeitender Völker als die Schöpfungen einzelner Menschen von höherem Geist; ein Gut der Nation, Anhäufungen der Jahrhunderte, ein Niederschlag der aufeinanderfolgenden Verdunstungen der Gesellschaft; kurz, es sind Bildungsarten. Jede Flut der Zeit schwemmt neuen Boden an, jedes Geschlecht läßt eine neue Schicht zurück, jeder einzelne trägt seinen Stein zum Bau.
Große Gebäude, wie große Berge, sind nur das Werk von Jahrhunderten. Oft wechselt die Kunst, während sie in der Vollendung schweben. Die neue Kunst faßt das Werk auf dem Punkte, wo es die alte ließ, entwickelt es nach eigener Phantasie und vollendet es, wenn die Möglichkeit sich bietet. Es wird ohne Verwirrung, Anstrengung und Reaktion nach natürlichem Gesetz mit Ruhe vollendet. Ein Pfropfreis tritt hinzu, ein neuer Saft strömt, eine frische Vegetation beginnt. Gewiß, man kann dicke Bücher und oft die allgemeine Geschichte der Menschheit über diese aufeinanderfolgenden Aufheftungen verschiedener Künste auf verschiedene Höhen desselben Monuments schreiben. Der Mensch, der Künstler erlosch auf diesen Massen, die des einzelnen, als Schöpfers, entbehren; der menschliche Geist verallgemeinert sich in ihnen. Die Zeit ist der Baumeister, das Volk der Maurer.
Übrigens treffen alle Schattierungen nur die Oberfläche der Gebäude. Die Kunst wechselte die Haut; das Organ der christlichen Kirche ward dadurch nicht verletzt. Überall schaut man dasselbe Innere, dieselbe logische Anordnung der Teile. Wie verschieden auch die Hülle einer Kathedrale gebaut, gehauen und verbrämt ist, stets findet man den Keim der römischen Basiliken. Sie entwickelt sich stets nach demselben Gesetz; es sind zwei sich im Kreuz durchschneidende Schiffe, deren obere Spitze gerundet das Chor bildet; für die inneren Prozessionen, die Kapellen, sieht man stets die niedere Wölbung, gleichsam einen Seitenspaziergang, in den das Hauptschiff sich Luft macht. Dann mehrt sich die Zahl der Kapellen, Portale, Türme bis ins Unendliche, nach dem Geiste der Zeit und des Volkes. Sobald der Dienst des Kultus einmal gesichert war, handelte die Baukunst nach eignem Willen. Statuen, gemalte Fenster, Rosetten, Arabesken, Verbrämungen, Kapitäle vereint sie sämtlich nach dem ihr gefälligen Logarithmus. Daher die wunderbare äußere Mannigfaltigkeit jener Gebäude, in deren Grunde Ordnung und Einheit thront: der Stamm des Baumes ist unveränderlich, launenhaft die Vegetation.
14. Gute Herzen
Sechzehn Jahre vor Beginn dieser Geschichte wurde an einem heiteren Morgen des Sonntags Quasimodo nach der Messe ein lebendes Kind auf einer hölzernen Bank im Vorhof von Notre-Dame ausgesetzt, dem Koloß des heiligen Christoph gegenüber. Es war nämlich Sitte, auf dieser hölzernen Bank die Findelkinder der Mildtätigkeit des Volkes preiszugeben. Dort holte sie, wer Lust hatte. Vor der Bank stand eine kupferne Schüssel für Almosen.
Das Geschöpf, das auf diesem Brette am Morgen des Quasimodo 1467 lag, schien in hohem Grade die Neugier einer ziemlich beträchtlichen Gruppe zu erregen, die sich um dieses hölzerne Lager gesammelt hatte. Hauptsächlich bestand sie aus Personen des schönen Geschlechts, und zumeist aus alten Weibern. In der ersten Reihe bemerkte man an denen, die sich am meisten verbeugten, ein graues Kleid, ähnlich dem Chorrock und erriet daran leicht, daß sie zu einer frommen Gemeinschaft gehörten.
„Was ist das, Schwester?“ sprach die eine, indem sie das kleine Wesen beschaute, das, durch so viele Blicke erschreckt, sich auf dem Brett wand. – „Was soll aus uns werden“, sagte eine andere, „wenn man die Kinder jetzt so macht?“ – „Ich bin in Kindern unbewandert; es muß aber eine Sünde sein, dies zu betrachten.“ – „Es ist kein Kind.“ – „Es ist ein halber Affe.“ – „Es ist ein Wunder“, meinte Henriette la Gaultière. – „Dann ist es das dritte“, bemerkte Agnes, „nach dem Sonntag Lätare; denn erst vor acht Tagen geschah das Wunder, daß der Spötter über die Pilger von unsrer Frau bestraft ward, und das war schon das zweite Wunder im Monat.“ – „Dies Findelkind ist wahrhaftig ein verabscheuungswürdiges Ungeheuer.“ – „Es kreischt, daß man taub werden möchte!“ – „Ich glaube, es ist ein Tier, das Kind eines Juden und eines Zuchtschweins, etwas Unchristliches, das man ersäufen oder verbrennen muß.“ – „Ich hoffe, daß es niemand wird annehmen wollen.“
Wirklich war das kleine Geschöpf, das schon mindestens vier Jahre zählte, ein Ungeheuer an Häßlichkeit. Es war eine eckige, unruhige Masse in einem Sack, der ihm bis an den Hals reichte. Der Kopf ragte hervor und war nicht wenig mißgestaltet; man sah nur einen Wald roter Haare, ein Auge, einen Mund und Zähne. Das Auge weinte, der Mund schrie und die Zähne schienen beißen zu wollen. Das Ganze rührte sich im Sacke zum großen Schrecken der Menge, deren Umkreis unaufhörlich anschwoll und sich erneute. Eine reiche und schöne Frau, die ein artiges Mädchen von sechs Jahren an der Hand hielt und einen langen Schleier vom goldnen Horn ihres Hauptschmuckes herabhängen ließ, blieb im Vorbeigehen vor der Bank stehen, betrachtete einen Augenblick das unglückliche Geschöpf und sagte, sich mit Widerwillen abwendend: „Ich dachte, man setzte hier nur Kinder aus.“ Dann wandte sie den Rücken und warf einen Gulden in das Becken, daß die armen Frauen der Kapelle Etienne Haudry die Augen weit aufrissen.
Einen Augenblick später wandelte der gelehrte und ernste Robert Mistricolle, Protonotar des Königs, mit einem großen Meßbuch unter dem einen Arm und seiner Frau Guillemette am andern, vorüber. „Ein Findelkind“, sprach er, den Gegenstand untersuchend, „wahrscheinlich an den Gestaden des Flusses Phlegeto gefunden.“ – „Es hat nur ein Auge“, bemerkte Dame Guillemette, „auf dem andern hat es eine Warze.“ – „Das ist keine Warze“, begann Meister Mistricolle aufs neue; „es ist ein Ei, das einen ähnlichen Teufel enthält, der wieder ein kleines Ei mit einem Teufel usw. in sich trägt.“
„Herr Protonotar“, fragte eine der Betschwestern, „was prophezeit Ihr diesem Kind?“ – „Das größte Unglück“, erwiderte Mistricolle. – „Oh Gott“, rief eine Alte unter den Zuhörerinnen, „vergangenes Jahr hatten wir ja schon eine große Pest, und jetzt sagt man, die Engländer wollen in Harfleur landen.“ – „Dadurch läßt sich die Königin vielleicht abhalten, im September nach Paris zu kommen“, meinte eine andere, „der Handel geht jetzt schon schlecht genug.“
„So wäre es besser, der kleine Zauberer läge auf einem Reisigbündel als auf einer Bank.“ – „Ja, auf einem schönen flammenden Reisigbündel“, meinte die Alte. – „Das wäre klüger“, sagte Mistricolle.
Schon seit einigen Augenblicken hörte ein junger Priester dem Gespräche zu; sein Aussehen war streng, sein Blick tief, seine Stirne breit. Schweigend schob er die Umstehenden beiseite, untersuchte den kleinen Hexenmeister und streckte die Hand nach ihm aus. Es war Zeit; denn alle frommen Frauen freuten sich schon innerlich des schönen, flammenden Reisigbündels.
„Ich adoptiere das Kind“, sprach der Priester, verbarg es unter seinem Kleide und trug es davon. Erstaunt blickten ihm die Umstehenden nach. Bald war er durch das rote Tor verschwunden, das damals von der Kirche zum Kloster führte. Als das erste Erstaunen vorüber war, neigte sich eine der Betschwestern zum Ohre der nächststehenden: „Ich sagt’ es Euch, meine Schwester, der junge Claude Frollo ist ein Hexenmeister.“
15. Claude Frollo
In der Tat war Claude Frollo kein gewöhnlicher Mensch. Er gehörte zu einer jener Familien, die man hohen Bürgerstand oder kleinen Adel nannte. Seit seiner Kindheit war er von seinen Eltern zum geistlichen Stande bestimmt. Man hatte ihn Latein lesen gelehrt und erzogen, die Augen niederzuschlagen und leise zu sprechen. Schon als Kind hatte ihn sein Vater in das mönchische Kollegium de Torchi in der Universität gebracht; dort wuchs er bei dem Missale und dem Lexikon auf. Er war ein ernstes und trauriges Kind, das mit Eifer studierte und schnell lernte; während der Erholungsstunden stieß er kein lautes Geschrei aus und nahm nur geringen Anteil an den Spielen seiner Mitschüler. Mit sechzehn Jahren schon konnte der junge Geistliche in mystischer Theologie einem Kirchenvater, in kanonischer Theologie einem Vater der Konzilien, in scholastischer Theologie einem Doktor der Sorbonne die Spitze bieten.
Nachdem er die Theologie durchstudiert, hatte er sich auf die geistlichen Erlasse geworfen, und als diese verdaut waren, auf die Medizin und die freien Künste. Er studierte die Wissenschaft der Kräuter und Salben, ward erfahren in Fiebern und Quetschungen. In gleicher Weise erlangte er alle Grade der Lizenz, Meisterschaft und Doktorwürde in den freien Künsten. Er studierte Latein, Griechisch und Hebräisch, ein dreifaches, damals nicht häufig betretenes Heiligtum. Er hatte ein wahres Fieber, in der Wissenschaft zu lernen und Kenntnisse anzuhäufen. Mit achtzehn Jahren hatte er die vier Fakultäten hinter sich; nur einen Zweck schien dem Jüngling das Leben zu haben, den des Wissens. Ungefähr in dieser Zeit veranlaßte die außergewöhnliche Sommerhitze des Jahres 1466 die große Pest, die 40 000 Menschen im Gerichtsbezirke von Paris dahinraffte, unter diesen auch den Sterndeuter des Königs, Meister Arnoul, der ein sehr gescheiter und dazu drolliger Mann war. Damals verbreitete sich in der Universität das Gerücht, die Straße Tirechappe werde besonders durch die Krankheit verheert. Dort wohnten Claudes Eltern auf ihrem Lehen. Der junge Student eilte erschrocken zum väterlichen Hause. Als er eintrat, waren Vater und Mutter schon am Tage vorher gestorben. Ein kleiner Bruder in Windeln lebte noch und schrie verlassen in seiner Wiege. Dieser allein war ihm von seiner Familie verblieben; der Jüngling nahm das Kind auf den Arm und verließ gedankenvoll das Haus.
Bis dahin lebte er nur für die Wissenschaft, jetzt begann er sein Dasein für das Leben, denn diese Katastrophe ward für Claude zur Krise. Als Waise im neunzehnten Jahre, als ältester Sohn und Familienhaupt, ward er auf rauhe Weise den Träumereien der Schule entrissen und auf die Wirklichkeit angewiesen. Von Mitleid bewegt, empfand er Leidenschaft und Hingebung für seinen Bruder, ein ihm bis dahin fremdes und dennoch süßes Gefühl seines Herzens, nachdem er nur Bücher geliebt hatte. Diese Zuneigung entwickelte sich bis zur merkwürdigsten Höhe; in einer so frischen Seele glich sie der ersten Liebe. Von Kindheit an von seinen Eltern getrennt, hatte er sie kaum gekannt; zwischen Büchern gleichsam eingemauert und begierig, alles zu erlernen und zu durchforschen, achtete er nur seines Verstandes, der in den Studien sich erweiterte, und seiner Phantasie, die beim Durchforschen der Dichter sich erhob; kurz, der arme Student hatte noch nicht Zeit gehabt, sein Herz zu fühlen. Jener jüngere, verwaiste Bruder, der ihm so plötzlich aufgebürdet ward, schuf ihn zum neuen Menschen um. Er sah, daß es noch andere Dinge in der Welt gab als Homers Verse und der Sorbonne Spekulationen; daß der Mensch der Liebe bedarf, und daß ein Leben ohne zartere Neigung dem trockenen, kreischenden und sich abreibenden Räderwerk gleicht. Allein er wähnte, die Liebe des Blutes und der Familie genüge und sein kleiner geliebter Bruder könne sein ganzes Dasein ausfüllen; denn er befand sich noch in dem Alter, wo die Täuschung nur durch Täuschung ersetzt wird. Mit der Leidenschaft eines tiefen, glühenden Charakters umfing er seinen kleinen Jehan mit Liebe; das arme, hinfällige, blonde und rosige Geschöpf, die Waise, ohne andere Stütze als die einer Waise, rührte tief sein Herz, und als ernster Denker sann er über Jehan mit unendlichem Mitleid. Er hegte ihn wie ein zerbrechliches, kostbares Kleinod. Er ward ihm mehr als Bruder, er ward ihm zur Mutter.
Der kleine Jehan hatte noch säugend seine Mutter verloren. Claude übergab ihn einer Amme. Außer Tirechappe besaß er als Erbschaft seines Vaters das Lehen du Moulin. Es bestand aus einer Mühle auf einem Hügel beim Schloß Bicêtre. Die dort wohnende Müllerin säugte ein schönes Kind; die Universität lag in der Nähe, und Claude trug sein Kind zu jener Frau. Weil er jetzt fühlte, daß ihm eine Last aufgebürdet war, faßte er das Leben von der ernsten Seite. Der Gedanke an seinen kleinen Bruder ward ihm nicht allein zur Erholung, sondern auch zum Zweck seiner Studien. Er beschloß, sich gänzlich einer Zukunft zu weihen, für die er vor Gott verantwortlich war, und nie eine Gattin, nie ein anderes Kind zu besitzen, sondern stets nur das Glück seines Bruders im Auge zu haben. Er wandte sich mit noch höherem Eifer seinem geistlichen Beruf zu. Sein Verdienst, sein Wissen, sein Stand als unmittelbarer Vasall des Bischofs von Paris öffneten ihm weit die Tore der Kirche. Mit zwanzig Jahren ward er durch besondere Dispensation des römischen Stuhles Priester und bediente als der jüngste Kaplan von Notre-Dame den Altar, den man wegen der dort gelesenen Spätmesse Altare pigrorum nannte.
Während er sich dort mehr als jemals in seine geliebten Bücher versenkte, die er nur für eine Stunde verließ, um zum Lehen Moulin zu eilen, erwarb er sich wegen seiner mit Charakterstärke und Strenge verbundenen Gelehrsamkeit, wie man beides in dem Alter selten vereint findet, die Bewunderung und Achtung des ganzen Klosters. Vom Kloster aus verbreitete sich sein Ruf als Gelehrter unter dem Volk und verwandelte sich dort, wie es damals häufig geschah, in den Ruf eines Zauberers. Dies war der junge Priester, der zum Erstaunen der Betschwestern den mißgestalteten Findling zu sich nahm. Als er ihn aus dem Sack zog, fand er wirklich, er sei sehr mißgestaltet. Der arme kleine Teufel hatte eine Warze auf dem linken Auge, sein Kopf stand zwischen den Schultern, das Rückgrat war gebogen, der Brustkasten ragte hervor, die Beine waren verdreht; er schien aber Lebenskraft zu besitzen, und obgleich man unmöglich unterscheiden konnte, welche Sprache er stammelte, deutete sein Geschrei auf Kraft und Gesundheit. Er taufte sein Adoptivkind und nannte es Quasimodo. Vielleicht wollte er damit den Tag andeuten, an dem er es fand, vielleicht auch damit bezeichnen, das kleine Geschöpf sei unvollständig und gleichsam nur flüchtig entworfen. Wirklich war auch Quasimodo einäugig, bucklig, krummbeinig, fast nur ein Beinahe.
16. Immanis pecoris custos, immanior ipse*
So war denn Quasimodo 1482 herangewachsen. Schon seit mehreren Jahren war er Glöckner von Notre-Dame durch die Gnade seines Adoptivvaters Claude Frollo, der Archidiakonus durch die Gnade seines Lehrherrn, Herrn Louis de Beaumont, geworden war, der zum Bischof von Paris 1472 durch die Gnade seines Protektors Olivier le Daim, des Barbiers beim König Ludwig XI. von Gottes Gnaden, ernannt war. Quasimodo war also Glöckner von Notre-Dame. Mit der Zeit hatte sich ein gewisses enges Band gebildet, das ihn mit der Kirche vereinte. Durch das doppelte Unglück seiner unbekannten Geburt und seines mißgestalteten Leibes auf ewig von der Welt getrennt, seit der Kindheit in diesen doppelten, unüberschreitbaren Kreis gebannt, hatte sich der arme Unglückliche daran gewöhnt, nichts in der Welt jenseits der heiligen Mauern, die in ihren Schatten ihn aufgenommen hatten, zu erblicken. Wie er heranwuchs und sich entwickelte, ward Notre-Dame für ihn Ei, Nest, Haus, Vaterland und Welt.
Gewiß bestand ein geheimnisvolles inneres Band zwischen dem Geschöpf und dem Gebäude. Als er noch klein unter Sprüngen im Dunkel der Gewölbe dahinkroch, erschien er mit seinem tierischen Gliederbau und dem Menschenantlitz als das natürliche Gewürm des nassen und düsteren Bodens, worauf der Schatten der Kapitäle seine bizarren Formen hinwarf. Später, als er zum erstenmal sich mechanisch an den Strick der Türme klammerte und die Glocke erschallen ließ, weckte dies bei seinem Adoptivvater Claude den Eindruck eines Kindes, dessen Zunge sich löst und zu sprechen beginnt.
Als er sich so allmählich im Verständnis des Wesens der Kathedrale entwickelte, dort lebte und schlief, sie nie verließ und in jeglicher Stunde ihren geheimnisvollen Einfluß erlitt, gelangte er allmählich dahin, ihr zu gleichen, sich ganz in sie zu versenken und gleichsam ein wesentliches Ganzes von ihr zu bilden. Seine vorspringenden Winkel schachtelten sich (man verzeihe uns das Bild) in die zurücktretenden Winkel des Gebäudes ein, und er schien nicht allein sein Bewohner, sondern auch natürlich in ihm enthalten zu sein. Fast konnte die Form ihres Hauses, angenommen. Der Dom war sein Loch, seine Wohnung, seine Hülle. Zwischen ihm und der alten Kirche bestand eine instinktartige, so tiefe Sympathie, so manche materielle, magnetische Verwandtschaft, daß er an ihr gewissermaßen wie die Schildkröte an ihrer Schale hing. Die runzelhafte Kathedrale war sein Rückenschild.
Diese Wohnung war ihm eigentümlich. Sie besaß keine Tiefe, in die er nicht gedrungen war, keine Höhe, die er nicht erklommen hatte. Mehrere Male erkletterte er die Fassade an den Erhöhungen, wobei er sich nur auf die hervorspringenden Skulpturen stützte. Die Türme, auf deren äußerer Oberfläche man ihn kriechen sah wie eine Eidechse, die auf einer spitz zugehenden Mauer hinschlüpft, diese zwei hohen, drohenden, furchtbaren Zwillingsriesen hatten für ihn weder Schwindel, noch Schrecken, noch Betäubung. Sah man sie so sanft unter seinen Händen, so leicht zu ersteigen, hätte man sagen sollen, er habe sie gezähmt. Durch Springen und Klimmen und Herumtummeln unter den Abgründen der gigantischen Kathedrale war er gewissermaßen zum Affen und zur Gemse geworden.
Übrigens schien nicht allein sein Körper, sondern noch mehr sein Geist sich nach der Kathedrale gebildet zu haben. Nur mit Mühe und Geduld gelang es Claude Frollo, ihn sprechen zu lehren. Aber ein Verhängnis waltete über dem armen Findelkinde. Als er mit vierzehn Jahren Glöckner ward, vollendete eine neue körperliche Schwäche sein Unglück. Die Glocken sprengten ihm das Trommelfell, er ward taub. Das einzige Tor, das ihm die Natur für die Welt offengelassen hatte, schloß sich für immer. Hierauf ward der einzige Strahl der Hoffnung und des Glückes, der noch in seine Seele dringen konnte, zurückgeworfen. Die Seele versank in tiefe Nacht. Die Melancholie des Unglücklichen ward tief und unheilbar, wie seine Häßlichkeit. Hinzu kam noch, daß seine Taubheit ihn gewissermaßen stumm machte. Denn um bei andern kein Lachen zu erwecken, entschloß er sich fest zum Schweigen, und brach dies nur, wenn er allein war. Freiwillig fesselte er die Zunge, die Claude Frollo mit so vieler Mühe gelöst hatte. Daher war seine Zunge, wenn er sprechen mußte, schwerfällig und ungeschickt, gleich einer Tür mit verrosteten Angeln.
In einem mißgestalteten Körper verkrüppelt der Geist. Quasimodo fühlte kaum wie sich in seinem Innern die nach seinem Bilde geformte Seele regte. Alle Eindrücke erlitten eine beträchtliche Brechung, bevor sie zu seinem Denkvermögen gelangten. Sein Gehirn war ein sonderbarer Vermittler; alle Ideen, welche es durchzogen, verließen es verzerrt. Der Widerschein, der aus dieser Brechung hervorging, war notwendigerweise auseinandergehend und abweichend. So erzeugten sich tausende optische Täuschungen, tausend Verirrungen des Urteils, tausend Abwege, auf denen seine Gedanken bald wahnsinnig, bald blödsinnig umherschwärmten.
Die erste Wirkung dieser unheilvollen Organisation war die Verwirrung seines Blicks. Nie erhielt er einen unmittelbaren Eindruck von den Dingen. Die äußere Welt erschien ihm bei weitem ferner als uns. Die zweite Wirkung seines Unglücks war Bosheit. Boshaft war er, weil er wild war; wild war er, weil er häßlich war. In jener Natur lag ebensowohl eine Logik, als in der unseren. Auch seine außerordentlich entwickelte Kraft war Ursache seiner Bosheit. Malus puer robustus*, sagt Hobbes. Übrigens muß man ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Bosheit war ihm nicht angeboren. Er fühlte sie schon bei seinen ersten Schritten unter Menschen; denn er ward bespien, beschimpft, zurückgestoßen. Das Wort des Menschen war für ihn Spott oder Fluch. Als er aufwuchs, fand er sich nur von Haß umringt; er nahm ihn auf, wie er war, und erlangte allgemeine Bosheit; er bemächtigte sich der Waffe, mit der man ihn verwundete.
Übrigens wandte er sein Antlitz nur ungern Menschen zu; ihm genügte die Kathedrale. Sie war mit Gestalten aus Marmor, Königen, Bischöfen, Heiligen, bevölkert, die ihm wenigstens nicht ins Gesicht lachten und auch für ihn einen ruhigen, wohlwollenden Blick hatten. Die Statuen der Ungeheuer und Dämonen hegten gegen ihn keinen Haß. Er glich ihnen zu sehr. Die Heiligen waren seine Freunde und segneten ihn; die Ungeheuer waren seine Freunde und bewachten ihn. Auch hatte er mit ihnen langdauernde Herzensergießungen; bisweilen brachte er ganze Stunden, vor einer der Statuen niedergekauert, damit zu, mit ihr einsam zu schwatzen. Kam ein anderer hinzu, so floh er gleich einem Liebhaber, den man auf einer Serenade überrascht.
Die Kathedrale war seine Welt, und in dieser liebte er vor allem die Glocken. Sie weckten seine Seele, breiteten ihre armen, in die Höhlen gezwängten Flügel aus und machten ihn bisweilen glücklich. Mit ihnen sprach er, liebte sie, liebkoste sie und begriff sie. Lieben doch Mütter das Kind am meisten, das ihnen die heftigsten Schmerzen erregte.
Allerdings war ihre Stimme die einzige, die er noch vernehmen konnte. Deshalb hatte die größte Glocke den meisten Anspruch auf seine Liebe. Sie zog er unter allen lärmenden Töchtern in der Familie vor, die an Festtagen ihn umrauschte. Die große Glocke hieß Marie. Quasimodo hatte fünfzehn Glocken in seinem Serail, allein die große Marie war seine Lieblingsglocke.
Man kann sich keinen Begriff von Quasimodos Freude an außergewöhnlichen Tagen machen. Sobald der Archidiakonus ihn losließ und sagte: „Geh!“, stieg er die Wendeltreppe des Turmes schneller hinauf, als ein anderer sie hätte hinabsteigen können. Außer Atem trat er in die luftige Kammer der großen Glocke; einen Augenblick beschaute er sie mit Liebe und Behagen; dann sprach er zu ihr in sanften Worten, streichelte sie mit der Hand wie ein Pferd, das eine lange Bahn zurücklegen soll. Hierauf hieß er seine Gehilfen im unteren Stockwerk beginnen. Diese hingen sich an die Taue; die Winde kreischte, und die ungeheure Metallkapsel ward langsam erschüttert.
Quasimodo erbebte mit der Glocke. „Hurtig!“ rief er mit wahnsinnigem Lachen. Die Bewegung der Glocke ward beschleunigt; je mehr der Klöppel einen offenen Winkel durchlief, desto flammender wurden Quasimodos Augen. Endlich begann das große Geläute; der ganze Turm zitterte, Zimmerwerk, Blei, Steine. Alles brüllte auf einmal, von den Grundsteinen an bis zum Kreuz der Krone. Quasimodo schäumte, lief hin und her, zitterte mit dem Turm vom Kopf bis zu den Füßen. Die entfesselte, rasende Glocke zeigte abwechselnd den beiden Wänden des Turmes ihren ehernen Rachen, woraus der Hauch eines Sturmes drang, den man vier Stunden weit vernahm. Quasimodo stellte sich vor den offenen Rachen; er kauerte nieder und hob sich mit den Biegungen der Glocke, atmete den betäubenden Hauch, blickte abwechselnd auf den tiefen Platz, der zweihundert Fuß unter ihm von Menschen wimmelte, und auf die ungeheure kupferne Zunge, die ihm ins Ohr heulte. Es war das einzige Wort, das er vernahm, der einzige Ton, der für ihn das ewige Schweigen unterbrach. Er breitete die Glieder, wie ein Vogel die Flügel im Sonnenschein. Plötzlich erreichte auch ihn das Wüten der Glocke; sein Blick ward außergewöhnlich; er erwartete das Vorbeieilen des Glockenkessels, gleich der Spinne, die die Fliege erlauert, und warf sich plötzlich mit ganzem Leib darüber hin. Dann über dem Abgrund schwebend, in das furchtbare Schwanken der Glocke geschleudert, packte er das eherne Ungeheuer bei den Ohren, stemmte die Knie in die Seiten, spornte mit den Fersen, verdoppelte den Stoß durch das Gewicht seines Körpers. Der Turm bebte, er selbst schrie, knirschte mit den Zähnen, seine roten Haare sträubten sich empor, seine Brust stöhnte wie ein Blasebalg, sein Auge sprühte Flammen, die ungeheure Glocke wieherte keuchend unter ihm. Dann war es nicht mehr die Glocke und Quasimodo, sondern ein Traum, ein Wirbel, ein Sturm, der Schwindel, reitend auf dem Brausen, ein sonderbarer Zentaur, halb Mensch, halb Glocke.
Die Gegenwart dieses merkwürdigen Wesens brachte in der ganzen Kathedrale den Kreislauf eines eigentümlichen Lebens hervor. Es schien (so verkündete es wenigstens der übertreibende Aberglaube des Volkes), als beseele ein mystischer Ausfluß alle Steine von Notre-Dame und hauche Bewegung in die tiefen Eingeweide der alten Kirche. Auch schien wirklich die Kathedrale ein gelehriges und gehorsames Geschöpf unter seiner Hand; sie erwartete seinen Willen, ihre laute Stimme zu erheben, sie ward von Quasimodo wie von einem Spiritus familiaris erfüllt. Man hätte sagen mögen, er wecke den riesenhaften Bau zum Atmen. Dort war er überall, sich auf allen Punkten des Baues vervielfältigend. Bald sah man mit Schrecken am höchsten Turm einen sonderbar gestalteten Zwerg auf allen vieren kriechen, klettern und sich winden, außen über dem Abgrund hinabsteigen, von dem einen hervorragenden Punkt zum andern springen und das Innere einer in Stein gehauenen Gorgo durchsuchen; Quasimodo nahm Rabennester aus. Bald stieß man im Dunkeln auf eine Art lebenden, niederkauernden Undings; Quasimodo saß sinnend da. Bald schaute man unter einem Turm einen ungeheuren Kopf und ein Bündel Glieder, das sich wütend an einem Stricke schaukelte; Quasimodo läutete die Vesper oder das Angelus. Ägypten würde ihn für den Gott des Tempels gehalten haben; das Mittelalter hielt ihn für seinen Teufel.
17. Der Hund und sein Herr
Ein menschliches Geschöpf bildete aber eine Ausnahme für Quasimodos Haß und Bosheit; vielleicht liebte er es sogar noch mehr als seine Kathedrale. Dies war Claude Frollo. Die Ursache war einfach. Claude Frollo hatte ihn aufgenommen, adoptiert, ernährt, erzogen. Schon als Kind war er gewohnt, zwischen Claude Frollos Beine zu flüchten, wenn Hunde und Kinder hinter ihm herlärmten. Claude Frollo lehrte ihn sprechen, lesen und schreiben; Claude Frollo machte ihn zum Glockenläuter. Als er aber die große Glocke Quasimodo zur Frau gab, schenkte er Romeo seine Julia.
Quasimodos Erkenntlichkeit war tief, leidenschaftlich, unbegrenzt, und obgleich das Antlitz seines Adoptivvaters oft finster und streng, ob auch sein Wort gewöhnlich hart, kurz, gebieterisch war, verleugnete sich seine Erkenntlichkeit nicht einen Augenblick. Der Archidiakonus besaß in Quasimodo den demütigsten Sklaven, den gelehrigsten Diener, die wachsamste Dogge. Als der arme Glockenläuter taub ward, bildete sich zwischen ihm und Claude Frollo eine geheimnisvolle und nur für beide verständliche Zeichensprache. So war der Archidiakonus das einzige menschliche Wesen, mit dem Quasimodo in Berührung blieb. Nur mit zwei Dingen dieser Welt stand er in Beziehung, mit Notre-Dame und Claude Frollo. Nichts war mit der Herrschaft des Archidiakonus über den Glöckner, mit der Anhänglichkeit des Glöckners an den Archidiakonus zu vergleichen. Ein Zeichen Claudes, und der Gedanke, ihm Vergnügen zu machen, hätte für Quasimodo genügt, sich von der Turmuhr von Notre-Dame zu stürzen. Es war wunderbar, wie jene physische Kraft, die bei Quasimodo sich so außerordentlich entwickelt hatte, blindlings von ihm zur Verfügung eines andern gestellt wurde. Hierin lag gewiß kindliche Liebe, häusliche Anhänglichkeit, aber auch Verblendung eines Geistes durch den andern.
Im Jahre 1482 war Quasimodo ungefähr zwanzig, Claude Frollo sechsunddreißig Jahre alt. Der eine war groß, der andere alt geworden. Claude Frollo war nicht mehr der einfache Student des Kollegiums Torchi, der zärtliche Beschützer eines kleinen Knaben, der junge, nachdenkliche Philosoph, der viele Dinge kannte und auch viele noch nicht kannte, er war zum strengen, ernsten, mürrischen Priester geworden; ein Seelenhirt, ein Herr Archidiakonus, zweiter Gehilfe des Bischofs mit den beiden Dekanaten von Montlhéry und Châteaufort und hundertvierundsiebenzig Landpfarren. Er war ein ehrfurchterweckender, düsterer Mann, vor dem die Chorknaben, Kirchensänger, die Brüder St. Augustinus, die unteren Geistlichen von Notre-Dame erzitterten, wenn er langsam, majestätisch, sinnend, mit gekreuzten Armen und mit tief auf die Brust gesenktem Haupte einherschritt, so daß man von seinem Antlitz nur die hohe, kahle Stirn erblickte.
Dom Claude Frollo hatte aber weder die Erziehung noch den Unterricht seines jüngeren Bruders, die beiden Hauptbeschäftigungen seines Lebens, aufgegeben. Mit der Zeit mischte sich jedoch einige Bitterkeit in diese süßen Beschäftigungen seines Lebens. Auf die Länge, sagt Paulus Diakonus, wird der beste Speck ranzig. Der kleine Jehan Frollo, mit dem Namen Du Moulin nach dem Orte seiner Erziehung, war nicht in der Richtung, die Claude ihm geben wollte, aufgewachsen. Der ältere Bruder rechnete auf einen frommen, lernbegierigen, gelehrigen Zögling. Allein der kleine Bruder glich den jungen Bäumen, die alle Bemühungen des Gärtners vereiteln und sich eigensinnig auf die Seite wenden, woher sie Sonne und Luft erhalten; er wuchs und trieb vielfache, belaubte Zweige nur nach der Seite der Faulheit, Unwissenheit und Ausschweifung. Er war ein kleiner, sehr liederlicher Teufel, so daß Dom Claude die Brauen runzelte; aber er war zugleich auch sehr munter und possenhaft, so daß der ältere Bruder lachte. Claude hatte ihn demselben Kollegium Torchi anvertraut, wo er seine Jugend in Studien und ernsten Gedanken zugebracht hatte; für ihn war es schmerzlich, daß dieses Heiligtum jetzt ebenso Anstoß in dem Namen Frollo fand, wie es sich einst an ihm erbaut hatte. Oft hielt er seinem Bruder lange und ernste Predigten, die dieser unerschrocken aushielt. Trotzdem besaß der junge Taugenichts ein gutes Herz, wie man dies ja auch in den Komödien sieht. Waren die Predigten aber vorbei, so begann er aufs neue den Lauf seines empörenden Betragens und seiner Abscheulichkeiten.
Claude, hierdurch betrübt und entmutigt im Gefühle seines Herzens, warf sich mit desto größerem Eifer in die Arme der Wissenschaft, jener Schwester, die euch wenigstens nicht ins Gesicht lacht, und euch stets, wenn auch bisweilen mit etwas hohler Münze, bezahlt. So ward er stets gelehrter, und auch zugleich, in natürlicher Folge, stets strenger als Priester, stets trauriger als Mensch. Da er seit seiner Jugend beinahe den ganzen Kreis menschlichen Wissens durcheilt hatte, mußte er endlich anhalten, mußte aber weiter streben und nach anderer Nahrung für die rastlose Tätigkeit seines Geistes suchen. Da grub er noch tiefer unter dieser materiellen, begrenzten Wissenschaft, wagte vielleicht seine Seele, und setzte sich in der Höhle an die geheimnisvolle Tafel der Alchimisten, Hermetiker, Astrologen, die bis zum Orient an den Schein des siebenarmigen Leuchters, bis Salomo, Zoroaster und Pythagoras hinaufreicht. So hieß es wenigstens, vielleicht mit Recht, vielleicht mit Unrecht.
Bei alledem fand sich kein Beweis der Zauberei vor, allein die gelehrten Häupter des Kapitels betrachteten ihn als eine Seele, die sich in den Vorhof der Hölle gewagt habe, in den Höhlen der Kabbala verloren sei und im Dunkel verborgener Wissenschaft herumtappe. Das Volk täuschte sich nicht; bei jedem, der Scharfsinn besaß, galt Quasimodo für den Teufel, Claude Frollo für den Hexenmeister. Es war offenbar: Der Glöckner mußte während einer bestimmten Zeit dem Priester dienen, und nahm dann als Bezahlung dessen Seele mit von dannen. Auch stand der Archidiakonus, ungeachtet seines übermäßig strengen Lebens, in schlechtem Geruch bei den frommen Seelen. Jede fromme und erfahrene Nase witterte in ihm den Zauberer.
Der Archidiakonus mit seinem Glöckner war, wie wir schon sagten, bei den hohen und niederen Bewohnern der Umgegend des Doms eben nicht beliebt. Wenn Claude und Quasimodo zusammen ausgingen, wie das oft geschah, wenn man sie dann in Gesellschaft vorüberwandeln sah, wie der Diener dem Herrn folgte, und beide die schmutzigen, engen, düsteren Straßen der Umgegend von Notre-Dame durchschnitten, neckte sie manch böses Wort, mancher beleidigende Witz im Vorübergehen, wenn Claude Frollo, was freilich selten geschah, nicht mit erhobenem Haupte einherschritt und seine strenge, fast erhabene Stirn den verlegenen Witzbolden zeigte.
Bald war es ein tückischer Knabe, der Haut und Knochen daran wagte, das unaussprechliche Vergnügen zu haben, eine Nadel in Quasimodos Höcker zu stecken; bald ein schönes junges und nur zu freches Mädchen, das an des Priesters schwarzem Kleide vorbeistreifte und ihm lachend das spöttische Lied ins Gesicht sang:
„Man fing den Teufel zum Schabernack.“
Bald brummte laut eine schmutzige Gruppe alter Weiber auf den Stufen einer Halle, wenn der Archidiakonus mit dem Glöckner vorüberging, und warf ihnen fluchend den ermutigenden Willkommen zu: der da hat eine Seele, wie der andere einen Leib; oder eine Bande Studenten oder Schulknaben, die Hinkebein spielten, begrüßten sie auf klassische Weise: Eia, Claudius cum Claudio!*
Jedoch ward die Beleidigung gewöhnlich weder von dem Priester, noch von dem Glöckner bemerkt. Um diese anmutigen Dinge hören zu können, war Quasimodo zu taub und Claude zu sehr in Nachsinnen versunken.
18. Abbas Beati Martini
Der Ruf Dom Claudes hatte sich weithin verbreitet und trug ihm einen Besuch ein, den er noch lange in Erinnerung behielt. Eines Abends begab er sich nach dem Meßamte in seine kanonische Zelle des Klosters Notre-Dame; diese zeigte nichts Geheimes noch Auffallendes, mit Ausnahme einiger in den Winkel gestellter Gläser mit einem zweideutigen Pulver, das dem Schießpulver sehr ähnlich war. Nur hin und wieder sah man einige Inschriften an der Wand, aber dies waren lediglich fromme oder wissenschaftliche Sprüche aus guten Schriftstellern. Der Archidiakonus hatte sich beim Schein einer geschnäbelten Kupferlampe an ein mit Manuskripten bedecktes Pult gesetzt. Er stützte den Ellenbogen auf das aufgeschlagene Buch des Honorius von Autun: De libero arbitrio et praedestinatione**, und blätterte, tief sinnend, in einem soeben herangetragenen Folianten, dem einzigen Presseerzeugnis, das seine Zelle enthielt.
Mitten in seiner Träumerei vernahm er Klopfen an der Tür. „Wer da?“ rief der Gelehrte mit dem anmutigen Tone eines hungrigen Bullenbeißers, den man beim Benagen seines Knochens stört. Eine Stimme erwiderte draußen: „Euer Freund Jacques Coictier.“ Claude stand auf, zu öffnen. Wirklich war es des Königs Arzt; ein ungefähr fünfzigjähriger Mann, dessen harter Gesichtsausdruck nur durch einen schlauen Blick gemildert ward. Ihn begleitete ein anderer Mann. Beide trugen ein langes, schiefergraues, mit grauem Pelz besetztes Kleid mit Gürtel und Mütze aus demselben Stoff und von derselben Farbe. Ihre Hände verschwanden in den Ärmeln, ihre Füße unter dem Gewande, ihre Augen unter den Mützen.
„Gott schütze euch, ihr Herren“, sprach der Diakonus, sie in das Gemach führend; „ich erwartete nicht, einen so ehrenvollen Besuch zu solcher Stunde und auf so höfliche Weise zu erhalten.“ So redend, richtete er einen unruhigen forschenden Blick auf den Arzt und dessen Begleiter.
„Nie ist es zu spät, einen so großen Gelehrten wie Dom Claude Frollo von Tirechappe zu besuchen“, erwiderte der Doktor Coictier, dessen Aussprache (er war aus der Franche-Comté gebürtig) seine Phrasen mit der Majestät eines Schleppenkleides hinschleifen ließ.
Hierauf begann zwischen dem Arzt und dem Archidiakonus ein Wechsel höflicher Redensarten, wie sie damals als Eingang jeder Unterhaltung zwischen Gelehrten üblich waren. Claudes Glückwünsche zielten hauptsächlich auf die zahlreichen zeitlichen Vorteile, die der würdige Arzt während seiner so sehr beneideten Laufbahn aus jeglicher Krankheit des Königs zu ziehen wußte; denn er übte eine bessere und sichere Alchimie, als das Aufsuchen des Steines der Weisen.
„Wahrhaftig, Herr Doktor Coictier, ich freue mich sehr, zu vernehmen, daß Euer Neffe, der ehrwürdige Herr Pierre Versé, die Bischofswürde erhielt. Nicht wahr, er ist Bischof von Amiens?“ „Ja, Herr Archidiakonus; durch die Gnade und das Erbarmen Gottes.“ – „Wie weit ist der Bau Eures prächtigen Hauses? Das wird ein zweiter Louvre.“ – „Ach, Meister Dom Claude, der Bau kostet mich viel Geld. Je mehr er fortschreitet, desto mehr richte ich mich zugrunde.“ In den Höflichkeiten, die Dom Claude auf solche Weise an Jacques Coictier richtete, lag der sardonische, scharfe, spöttische Ton, das grausame, listige Lächeln eines überlegenen, aber unglücklichen Mannes, der zur Zerstreuung einen Augenblick mit dem fetten Wohlbehagen eines gewöhnlichen Menschen spielt. Der andere bemerkte es nicht.
„Bei meiner Seele“, sprach Claude endlich, ihm die Hand drückend, „es ist mir lieb, Euch so gesund zu sehen.“ – „Danke Meister Claude.“ – „Wie geht’s Eurem königlichen Kranken?“ – „Er bezahlt seinen Arzt sehr schlecht“, sprach Coictier, indem er einen Seitenblick auf seinen Gefährten warf. – „Meint Ihr, Gevatter Coictier?“ fragte dieser. Diese mit dem Tone des Vorwurfs und des Erstaunens ausgesprochenen Worte lenkten schnell die Aufmerksamkeit des Archidiakonus auf den Unbekannten.
„Dom Claude, ich bringe Euch hier einen Gevatter, der wegen Eures Rufes mit Euch Bekanntschaft zu machen wünscht.“
„Der Herr ist auch Gelehrter?“ fragte der Archidiakonus, indem er einen durchdringenden Blick auf Coictiers Gefährten heftete. Unter den Brauen des Unbekannten bemerkte er aber weniger scharfe als argwöhnische Blicke. Soweit er beim schwachen Schein der Lampe ihn prüfen konnte, war es ein Mann von ungefähr sechzig Jahren, von mittlerer Größe, der ziemlich krank und gebrochen zu sein schien. Sein Profil bildete eine mehr bürgerliche Linie, hatte aber einen mächtigen und strengen Ausdruck; sein Augapfel funkelte unter hochgewölbten Brauen und glich einem Licht im Grunde einer Höhle; unter der übergeschlagenen und fast bis auf die Nase fallenden Mütze ahnte man eine hohe, gewölbte Stirn.
Er brachte es über sich, auf die Frage des Archidiakonus selbst zu antworten. „Ehrwürdiger Meister“, sagte er mit ernstem Ton, „Euer Ruf ist bis zu mir gedrungen, und ich möchte Euch um Rat fragen. Ich bin nur ein armer Edelmann aus der Provinz, der die Schuhe auszieht, bevor er bei Gelehrten eintritt. Ihr müßt meinen Namen erfahren. Ich heiße Gevatter Tourangeau.“
Sonderbarer Name für einen Edelmann, dachte der Archidiakonus. Er fühlte aber, daß er vor einem kräftigen, ernsten Manne stand. Der Instinkt seines hohen Geistes ließ ihn einen nicht weniger hohen Geist unter der Pelzmütze des Gevatters Tourangeau ahnen, und da er die ernste Gestalt beschaute, verschwand der ironische Ausdruck seines düstern Gesichts, den Coictiers Gegenwart erweckte, allmählich, gleich der Dämmerung, die am Horizonte der Nacht weicht. Ernst und schweigend setzte er sich in seinen Stuhl; sein Arm ruhte wieder auf dem gewohnten Platz des Tisches und seine Stirne auf der Hand. Nach einigen Augenblicken des Nachsinnens gab er seinen beiden Gästen ein Zeichen, sich zu setzen, und redete den Gevatter Tourangeau an: „Ihr wollt mich um Rat fragen, Meister? In welcher Wissenschaft?“
„Ehrwürdiger“, sprach der Gevatter, „ich bin sehr krank, sehr krank! Man sagt, Ihr wärt ein großer Äskulap, und ich kam zu Euch, mir ärztlichen Rat zu holen.“
„So?“ fragte der Archidiakonus, das Haupt erhebend. Er schien sich einen Augenblick zu besinnen und begann dann aufs neue: „Gevatter Tourangeau, weil dies Euer Name ist, wendet das Haupt und Antwort findet Ihr schon geschrieben auf der Mauer.“ Der Gevatter Tourangeau gehorchte und las über seinem Haupte in der Mauer die Inschrift: „Die Medizin ist die Tochter der Träume. Jamblichus.“
Der Doktor hatte die Frage seines Gefährten mit Ärger vernommen, den Claudes Antwort verdoppelte. Er neigte sich zum Ohr seines Begleiters und sprach leise genug, um von Claude nicht gehört zu werden: „Sagt’ ich Euch nicht, er sei verrückt? Ihr wolltet ihn durchaus sprechen!“ – „Der Verrückte könnte recht haben“, sprach jener mit bitterem Lächeln in demselben leisen Ton. – „Wie’s beliebt“, erwiderte Coictier trocken. Dann wandte er sich zum Archidiakonus: „Ihr seid kurz angebunden, Dom Claude, und mit Hippokrates werdet Ihr ebenso schnell fertig, wie ein Affe mit einer Nuß. Die Medizin ein Traum! Ich glaube, die Apotheker würden Euch steinigen, wären sie hier. Ihr leugnet also den Einfluß der Liebesgetränke aufs Blut und der Salben aufs Fleisch! Ihr leugnet die ewige Pharmazie der Blumen und Metalle, die man Welt nennt, und die ganz besonders für den ewigen Kranken geschaffen ist, den man Mensch nennt!“
Kalt erwiderte Dom Claude: „Ich leugne weder die Pharmazie noch den Kranken. Ich leugne den Arzt.“
„Also ist’s falsch“, begann Coictier leidenschaftlich aufs neue, „daß man meint, die Gicht sei eine innere Flechte, daß man eine Schußwunde durch die Anwendung einer gebratenen Maus heilt und daß frisches, passend in die Adern gegossenes Blut alle Venen verjüngt?“
Der Archidiakonus erwiderte kalt: „Über gewisse Dinge denke ich auf meine Weise.“ Coictier wurde rot vor Zorn.
„Still, still, guter Coictier, ärgert Euch nicht“, sagte der Gevatter Tourangeau; „der Herr Diakonus ist unser Freund.“ Coictier beruhigte sich, murmelte aber zwischen den Zähnen: „Er ist verrückt.“
„Gottes Ostern! Meister Claude“, begann der Gevatter nach einigem Schweigen, „ich fühle Zwang in Eurer Nähe. Um zwei Dinge wollte ich Euch um Rat fragen, um meine Gesundheit und meinen Stern.“ – „Herr“, erwiderte der Archidiakonus, „war das Euer Gedanke, so hättet Ihr besser getan, Euch auf den vielen Stufen meiner Treppe nicht außer Atem zu steigen. Ich glaube weder an die Medizin noch an die Astrologie.“
„Wahrhaftig!“ rief der Gevatter überrascht aus. Coictier sagte leise mit gezwungenem Lächeln: „Seht Ihr nun, daß er verrückt ist?“
„Woran glaubt Ihr denn?“ rief der Gevatter aus. Der Archidiakonus stand einen Augenblick unentschlossen da. Dann spielte ein düsteres Lächeln um seinen Mund, das seine Antwort der Lüge zu zeihen schien: „Credo in Deum.“ – „Dominum nostrum“, fügte der Gevatter hinzu, ein Kreuz schlagend. – „Amen“, sagte Coictier.
„Ehrwürdiger Vater“, sprach der Gevatter, „ich bin tief entzückt, Euch so fromm zu sehen. So gelehrt Ihr aber auch seid, geht dies so weit, daß Ihr auch nicht an die Wissenschaft glaubt?“
„Nein“, sprach der Archidiakonus; er ergriff den Arm des Gevatters und ein Blitz des Enthusiasmus entzündete sich in seinem matten Auge, „nein, die Wissenschaft leugne ich nicht. Nicht umsonst kroch ich durch die zahllosen Windungen der Höhle und grub meine Nägel in den Boden; am Ende der dunklen Galerie erblickte ich ein Licht, eine Flamme, ein Etwas; gewiß den Widerschein des blendenden Zentral-Laboratoriums, wo die Geduldigen und Weisen Gott überraschten.“ – „Kurz“, sagte Tourangeau, „etwas haltet Ihr für wahr und gewiß?“ – „Die Alchimie.“
Coictier rief aus: „Bei Gott, Dom Claude, die Alchimie hat gewiß recht, warum aber lästert Ihr die Astrologie und die Medizin?“
„Eure Wissenschaft des Menschen ist ein Nichts; Eure Wissenschaft des Himmels ist ein Nichts“, sprach der Archidiakonus mit gebietendem Ton.
„Ihr schont ja weder Epidaurus, noch Chaldäa“, erwiderte grinsend der Arzt.
„Hört, Herr Jacques, ärgert Euch nicht und hört mich an. Welche Wahrheit habt Ihr, – ich meine nicht aus der Medizin, denn diese ist albernes Geschwätz, sondern aus der Astrologie gewonnen? Erwähnt nur die Eigenschaften des Bustrophedon Verticalis, das Ergebnis der Zahlen Ziruph und Zephirod!“
„Leugnet Ihr denn“, schrie Coictier, „die symbolische Kraft der Klavikula (Schlüssels Salomonis) und alles was die Kabbala daraus herleitet?“
„Irrtum, Herr Jacques; keine Eurer Formeln grenzt an die Wirklichkeit. Die Alchimie aber kann wirklich Entdeckungen aufweisen. Wollt Ihr Resultate, wie die folgenden ablehnen? Das tausend Jahre im Innern der Erde eingeschlossene Eis wird zum Bergkristall. Blei ist der Ahn aller Metalle; denn das Gold ist kein Metall, sondern Licht. Das Blei bedarf vier Perioden von zweihundert Jahren, um allmählich in den Zustand des roten Arseniks, von da in den des Zinnes, Silbers überzugehen. Sind das Tatsachen? Allein an die Klavikula, die volle Linie und die Sterne zu glauben, ist ebenso lächerlich, als der Wahn der Einwohner von Grand-Cathay, die Goldammer verwandle sich in einen Maulwurf und die Getreidekörner in Fische.“
„Ich habe die Alchimie studiert“, rief Coictier, „und behaupte …“ Aber der ungestüme Archidiakonus ließ ihn den Satz nicht schließen. – „Auch ich habe die Medizin, Alchimie, Astrologie studiert. Hier allein liegt die Wahrheit!“ Bei den Worten nahm er vom Pult die schon erwähnte Phiole voll schwarzen Pulvers. „Hier allein ist Licht! Hippokrates ist ein Traum, Urania ein Traum, Hermes ein Gedanke. Das Gold ist die Sonne; Gold machen, heißt Gott sein. Das ist die einzige Wissenschaft. Ich sage Euch, Medizin und Astrologie habe ich durchforscht! Nichts! Gar nichts! Dunkel der menschliche Körper, dunkel die Gestirne!“
Dann fiel er in gewaltiger, begeisterter Stellung auf seinen Stuhl zurück. Gevatter Trourangeau beobachtete ihn schweigend. Coictier suchte zu grinsen, zuckte unmerklich die Achseln und wiederholte mit leiser Stimme: „Verrückt! Verrückt!“
Plötzlich fragte Tourangeau: „Habt Ihr das wunderbare Ende berührt? Habt Ihr Gold gemacht?“
„Könnte ich das“, erwiderte Claude langsam, wie ein Mann, der nachsinnt, „hieße der König von Frankreich Claude und nicht Ludwig.“
Der Gevatter runzelte die Brauen.
„Was sagt’ ich da?“ rief Dom Claude mit verächtlichem Lächeln. „Der Thron Frankreichs wäre mir unbedeutend, da ich den Thron des Orients würde aufbauen können.“ – „Das ist was anderes“, sagte Tourangeau. – „Oh, der arme Verrückte!“ murmelte Coictier.
Der Archidiakonus fuhr fort, indem er nur seinen Gedanken nachzuhängen schien: „Doch ach! Ich krieche noch am Boden! Reibe die Knie mir auf den Kieseln des unterirdischen Ganges wund! Ich blicke nur fern, ich schaue nicht! Ich lese nicht, ich buchstabiere!“ – „Und wenn Ihr werdet lesen können“, fragte der Gevatter, „werdet Ihr dann Gold machen?“ – „Wer zweifelt?“ sprach der Archidiakonus. – „In dem Fall weiß Unsere Frau, daß ich sehr des Geldes bedarf, und ich möchte gern in Euern Büchern lesen können. Sagt mir, ehrwürdiger Meister, Eure Wissenschaft ist Unserer Frau doch nicht mißfällig?“
Auf diese Frage des Gevatters antwortete Claude mit ruhiger Würde: „Ich bin ihr Archidiakonus.“ – „Jawohl, Meister. Nun, wollt Ihr mich einweihen? Laßt mich mit Euch buchstabieren.“
Claude nahm die majestätische und priesterliche Stellung eines Samuel an. „Alter“, sprach er, „man bedarf längerer Jahre, als Euch bleiben, eine Reise durch diese geheimnisvollen Dinge zu unternehmen. Euer Haupt ist grau. Man verläßt die Höhle nur mit gebleichtem Haar, aber man kann sie nur mit schwarzem betreten. Die Wissenschaft allein vermag schon das menschliche Antlitz zu höhlen, zu trocknen und zu dörren; sie bedarf des Alters nicht, das Antlitz mit Falten zu durchziehen. Treibt Euch dennoch bei Eurem Alter die Lust, Euch Mühen zu unterziehen, das furchtbare Alphabet der Weisen zu entziffern, dann kommt zu mir, ich will es versuchen. Euch armem Greis will ich nicht raten, die Grabeskammern der Pyramiden, von denen der alte Herodotus spricht, noch den Turm von Backsteinen in Babylon, noch das ungeheure Heiligtum des indischen Tempels von Eklinga aus weißem Marmor zu besuchen. Ich selbst schaute nie die chaldäischen Bauten in der heiligen Form des Sikra, noch Salomos zerstörten Tempel, noch die zerbrochenen steinernen Tore des Grabmals der Könige von Israel. Wir müssen uns mit den Fragmenten des Buches Hermes, das vor uns liegt, begnügen. Ich will Euch die Statue des heiligen Christoph, das Symbol des Sämanns, das der zwei Engel am Portal der heiligen Kapelle erklären, von denen der eine die Hand in ein Gefäß, der andere in eine Wolke taucht.“
Hier setzte sich Jacques Coictier, den die ungestümen Antworten des Archidiakonus bis dahin entwaffnet hatten, wie auf seinen Sattel und unterbrach ihn mit dem triumphierenden Tone eines Gelehrten, der einen andern zurechtweist: „Erras, amice Claudi. Das Symbol ist nicht die Zahl. Ihr haltet Orpheus für Hermes.“
„Ihr irrt“, erwiderte ernst der Archidiakonus, „Dädalus ist die Grundlage, Orpheus die Mauer, Hermes das Gebäude, das Ganze. – Kommt, wenn Ihr wollt“, fuhr er fort, sich zu Tourangeau wendend, „ich will Euch die Goldteilchen zeigen, die am Boden des Schmelztiegels von Nicolas Flamel zurückblieben, und Ihr mögt es dann mit dem Golde Guillaumes von Paris vergleichen. Ich will Euch die geheime Kraft des griechischen Worts Peristera* lehren. Vor allem aber laß ich Euch die marmornen Buchstaben des Alphabets, die Granitsäulen des Buches lesen. Wir gehen zum Portal des Bischofs Guillaume und zu dem von St. Jean-le-Rond in der heiligen Kapelle, dann zum Grabe Flamels. Ich will Euch die Hieroglyphen erläutern, womit die vier großen, eisernen Blöcke des Portals am Hospital St. Gervais in der Straße Ferronnerie bedeckt sind. Auch studieren wir zusammen die Fassaden St. Côme …“
Schon lange schien Tourangeau, so verständig auch sein Blick war, Dom Claude nicht mehr zu verstehen. Er unterbrach ihn: „Gottes Ostern! Was habt Ihr da für Bücher?“
„Dort steht eins“, sprach der Archidiakonus. Er öffnete das Fenster und zeigte auf die ungeheure Kirche Notre-Dame, die auf dem bestirnten Himmel den schwarzen Schattenriß der zwei Türme, der steinernen Seiten und des gigantischen Rückens hinzeichnete und als eine zweiköpfige, riesenhafte Sphinx, die in der Stadt ruhte, erschien. Der Archidiakonus betrachtete einige Zeit schweigend das gigantische Gebäude, dann streckte er seufzend den rechten Arm gegen ein gedrucktes Buch, das auf dem Tische lag, und den linken gegen Notre-Dame; sein Blick wandte sich traurig vom Buche zur Kirche, und er sprach: „Ach, diese Buchstaben werden die Steine töten!“
Coictier, der mit Eifer dem Buche genaht war, konnte nicht unterlassen auszurufen: „Nun liegt denn hierin soviel Furchtbares? Es ist: Glossa in epistolas D. Pauli. Norimbergae Antonius Koburger, 1474. Das ist nichts Neues; ein Buch des Petrus Lombardus, des Magister Sententiarum. Meint Ihr, weil es gedruckt ist?“
„Ihr sagt es“, erwiderte Claude. Er schien in tiefes Sinnen versunken, stand aufrecht und hielt den gekrümmten Zeigefinger auf den Folianten, den die berühmten Nürnberger Pressen geschaffen hatten. Dann fügte er die geheimnisvollen Worte hinzu: „Ach, ach! Kleine Dinge folgen auf große; ein Zahn besiegt eine Masse, das Ichneumon tötet das Krokodil, die Harpune den Walfisch, das Buch das Gebäude!“
Die Abendglocke des Klosters tönte in dem Augenblick, wo Coictier seinem Gefährten seinen ewigen Schlußreim wiederholte: „Er ist verrückt!“ Diesmal erwiderte jener: „Jetzt glaub ich’s auch.“
Zu dieser Stunde durfte kein Fremder im Kloster bleiben. Die beiden Fremden entfernten sich. – „Meister“, sprach der Gevatter Tourangeau beim Abschied zum Archidiakonus, „ich liebe die Gelehrten und die Männer von großem Geist; Euch aber achte ich vor allen. Kommt morgen zum Palais des Tournelles und fragt nach dem Abt von St. Martin-de-Tours.“
Der Archidiakonus trat erstaunt in seine Zelle zurück; denn jetzt erst merkte er, wer der Gevatter Tourangeau war, und erinnerte sich an das Archiv des Klosters St. Martin-de-Tours, wo es heißt: Abbas beati Martini, scilicet Rex Franciae, est canonicus de consuetudine et habet parvam praebendam, quam habet Sanctus Venantius, et debet sedere in sede thesaurarii.
Seitdem hatte, wie man erzählte, der Archidiakonus häufige Zusammenkünfte mit Ludwig XI., wenn Seine Majestät nach Paris kam, so daß Dom Claudes Verkehr Verdacht bei Olivier-le-Daim und Jacques Coictier erweckte, der nach seiner Weise den König oft hart darüber zurechtsetzte.
19. Dies wird jenes töten
„Dies wird jenes, der Buchstabe den Stein töten!“ Dieser Gedanke bietet unserer Meinung nach zwei Seiten. Zuerst war er der Schrecken des Priestertums vor einer neu erstandenen Wirkungskraft, der Buchdruckerkunst. Der Mann des Heiligtums war durch die leuchtende Presse Gutenbergs erschreckt und geblendet. Die Kanzel und das Manuskript, das geschriebene und das gesprochene Wort, empfanden Scheu vor dem gedruckten; der Eindruck glich dem des Sperlings, wenn er die himmlische Legion schauen sollte, wenn sie ihre sechs Millionen Flügel ausbreitet. Es war der Schrei des Propheten, wie er die emanzipierte Menschheit lärmen und wimmeln hört, der in die Zukunft schaut, wie der Geist den Glauben untergräbt, die öffentliche Meinung den Katholizismus entthront, wie die Welt Roms Joch zu Boden wirft. Es war die Voraussagung des Philosophen, der den menschlichen Gedanken durch die Presse verflüchtigt und aus dem theokratischen Rezipienten in Dunstform aufsteigen sieht. Eine Macht folgt der andern; die Presse tötet die Kirche.
Doch neben diesem, gewiß ursprünglich ersten und einfachsten Gedanken, lag in den Worten ein zweiter, neuerer Sinn, eine ebenso philosophische Ansicht, doch nicht allein, die des Priesters, sondern auch des Gelehrten und Künstlers, nämlich die Ahnung, der menschliche Gedanke werde, die Form wechselnd, auch die Ausdrucksweise ändern, die Hauptidee jeglicher Generation werde nicht auf dieselbe Weise und mit demselben Stoff geschrieben, das steinerne, feste, dauernde Buch werde dem noch festeren und dauernderen Papier weichen. In dieser Hinsicht barg die dunkle Formel des Archidiakonus einen zweiten Sinn; sie verkündete, eine Kunst werde die andere entthronen, und ist zu deuten: Die Buchdruckerpresse tötet die Baukunst.
Vom Ursprung der Welt bis zum sechzehnten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ist die Baukunst das Buch der Menschheit, der Hauptausdruck des Menschen in seinen verschiedenen Entwicklungszuständen der Kraft und Intelligenz. Als das Gedächtnis der ersten Geschlechter Überladung empfand, als die Masse der Erinnerungen des Menschengeschlechts so schwer und verwirrt ward, daß die menschliche Rede, nackt und verfliegend, Gefahr lief, in der Überlieferung sich zu verlieren, schrieb man jene auf der dauerhaftesten, sichtbarsten und natürlichsten Fläche. Jede Tradition besiegelte man mit einem Bau. Die ersten Denkmäler waren Felsstücke, die nie das Eisen berührte, spricht Moses. Die Architektur begann wie jene Schrift. Im Anfang war sie alphabetisch. Man stellte einen Stein aufrecht hin, und dies war ein Buchstabe, und jeder Buchstabe war Hieroglyphe, und auf jeder Hieroglyphe ruhte eine Ideengruppe, wie das Kapitäl auf der Säule. So handelten die ersten Geschlechter überall und zu derselben Zeit, auf der Oberfläche der ganzen Erde. Den aufrechten Stein der Kelten findet man im asiatischen Sibirien wie in den Pampas Amerikas. Später schuf man Worte. Man legte Stein auf Stein, verknüpfte die Silben von Granit, und das Wort versuchte Verbindung. Das Dolmen und Cromlech der Kelten, der etrurische Tumulus, der hebräische Gagal sind Worte. Einige, besonders der Tumulus, sind Eigennamen. Bisweilen, wenn man viele Steine und eine weite Ebene besaß, schrieb man einen Satz. Der ungeheure Steinhaufen von Karnak ist schon eine Formel.
Endlich schuf man Bücher. Die Traditionen hatten Symbole erzeugt, unter denen sie, gleich dem Stamme des Baumes unter dem Laube, verschwanden. Alle diese Symbole, an die die Menschheit glaubte, vervielfältigten, wirrten und kreuzten sich immer mehr und mehr; die ersten Monumente konnten sie nicht mehr fassen; kaum deuteten die Monumente noch auf die erste, wie sie, einfache, nackte, auf dem Boden liegende Tradition. Das Symbol bedurfte des Baues, sich zu entfalten. Da entwickelte sich die Architektur zugleich mit dem Gedanken des Menschen; sie ward riesenhaft, tausendköpfig, tausendarmig und befestigte den hin und her schwebenden Symbolismus unter einer ewigen sichtbaren Form. Während Dädalus, der die Kraft ist, maß, während Orpheus, der der Geist ist, sang, sah man den Pfeiler, der ein Buchstabe, die Arkade, die eine Silbe, die Pyramide, die ein Wort ist, durch das doppelte Gesetz der Poesie und Geometrie in Bewegung gesetzt, sich ordnen, zusammenfügen, tief in der Erde wurzeln, hoch in die Wolken steigen, bis unter der Eingebung des Geistes einer Epoche jene wunderbaren Bücher geschrieben waren, die zugleich wunderbare Bauwerke sind: die Pagode von Eklinga, das Rhamseïon in Ägypten und Salomons Tempel.
Die ursprüngliche Idee lag nicht allein im Wesen der Gebäude, sondern auch in der Form. Salomos Tempel war nicht allein die Hülle des heiligen Buches, sondern selbst das heilige Buch. Auf jeder konzentrischen Mauer konnten die Priester seine Worte übertragen und den Augen offenbart lesen, bis sie es im letzten Tabernakel unter der konkretesten Form des Rundbogens erschauten. So ward das Wort in den Bau geschlossen; allein sein Bild war auf der Hülle, wie die Menschengestalt auf dem Sarge der Mumie.
Nicht allein die Form der Gebäude, sondern auch die Wahl ihrer Stelle enthüllte den dargestellten Gedanken. War das Symbol anmutig oder düster, krönte der Grieche seine Berge mit harmonischen Tempeln, höhlte der Inder die seinigen aus, um dort die mißgestalteten, unterirdischen Pagoden auszumeißeln, die durch gigantische Reihen von Elefanten getragen wurden. So war in den ersten sechstausend Jahren der Welt von der ältesten Pagode Hindostans bis zur Kölner Kathedrale die Baukunst eine Schrift des Menschengeschlechts. Und dies ist in dem Grade Wahrheit, daß nicht allein jedes religiöse Symbol, sondern auch jeder menschliche Gedanke Seite und Monument in diesem ungeheuren Buche besitzt. Jede Zivilisation beginnt mit Theokratie und endet mit Demokratie. Dies Gesetz der auf Einheit folgenden Freiheit ist in der Architektur niedergeschrieben. Man darf nicht wähnen, die Mauerkunst sei nur gewaltig im Erbauen eines Tempels, im Darstellen des Mythus und des priesterlichen Symbolismus, im Zeichnen der geheimnisvollen Gesetztestafeln durch Hieroglyphen auf steinernen Tafeln. Wäre dem so, so könnte die Architektur, wenn das heilige Symbol unter dem freien Gedanken verschwindet, den neuen Zustand des menschlichen Geistes nicht wiedergeben, ihre Blätter, auf der einen Seite beschrieben, wären leer auf der andern, ihr Werk verstümmelt, ihr Buch unvollständig. Doch dies ist nicht der Fall.
Nehmen wir das Mittelalter als Beispiel; denn dieses erkennen wir genauer, weil es uns näher liegt. Während des ersten Abschnitts, als die Theokratie Europa organisierte, als der Vatikan aus den Elementen des zerbrochenen Roms ein neues erbaute, als das Christentum unter den Trümmern der früheren Zivilisation die Stufenleiter der Gesellschaft hervorsuchte und aus ihnen ein neues, hierarchisches Ganzes erschuf, dessen Priestertum zum Schlüssel des Gewölbes ward, hört man anfangs, wie die Reste gestorbener Architekturen im Chaos emporquellen, und schaut, wie sie dann allmählich beim Hauche des Christentums unter Barbarenhänden emporsteigen. Dies ist die geheimnisvolle romanische Baukunst, Schwester der Architekturen Indiens und Ägyptens, unwandelbares Symbol des reinen Katholizismus, unveränderliche Hieroglyphe der päpstlichen Einheit. Jeder Gedanke der Zeit ist in diesem düsteren romantischen Stile niedergeschrieben. Überall schaut man Einheit, Macht, Undurchdringlichkeit, Unumschränktheit, Gregor VII.; überall den Priester, die Kaste, nie den Menschen, das Volk. Da beginnen die Kreuzzüge, die eine große Volksbewegung entbindet, was auch ihr Ursprung sei, den Geist der Freiheit stets aus dem letzten Niederschlag. Neuheit bricht sich Bahn. Es eröffnet sich die stürmische Periode der Jacquerien und Liguen; die Gewalt wird erschüttert, die Einheit zerspalten. Der Feudalismus will mit der Theokratie teilen; das Volk wird unvermeidlich hinzuschreiten, die Rolle des Löwen zu spielen. Quia nominor leo.*
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Der Adel durchbricht das Priestertum, die Gemeine den Adel. Europas Antlitz wird verändert und mit ihm das Antlitz der Baukunst. Gleich der Zivilisation schlägt sie die Seite um, und ein neuer Geist findet sie bereit, seine Eingebung aufzuzeichnen. Sie kehrte, wie die Völker mit der Freiheit, mit Spitzbögen aus den Kreuzzügen zurück. Während Rom allmählich sich zergliedert, stirbt die romanische Baukunst. Die Hieroglyphe verläßt die Kathedrale, Burgen zu schmücken und dem Feudaladel ein Blendwerk zu schaffen. Sogar die Kathedrale, dieser einst so dogmatische Bau, wird vom Volke, von der Gemeine, der Freiheit überfallen, entschlüpft dem Priester und fällt in die Gewalt des Künstlers. Der Künstler baut auf seine Weise, sagte dem Mysterium, dem Mythus, dem Gesetze Lebewohl; ihn beherrschte Einbildungskraft und Eigensinn. Der Priester mußte schweigen, sobald er seine Basilika, seinen Altar besaß. Das architektonische Buch gehörte nicht mehr dem Priestertum und Rom, sondern der Phantasie, der Dichtkunst, dem Volke. Daher stammen die zahllosen, schnellen Umgestaltungen der nur dreihundert Jahre alten Architektur, deren Geschmeidigkeit nach der starren Unbeweglichkeit der siebenhundert Jahre alten romanischen Baukunst so sehr in die Augen springt. Die Kunst wandelte mit Riesenschritten. Volksgeist und Eigentümlichkeit betreiben das frühere Geschäft der Bischöfe. Im Vorübergehen schreibt jedes Geschlecht seine Linie in diesem Buch. Es streicht die alten romanischen Hieroglyphen auf den Vorderseiten aus, und nur hin und wieder sieht man das alte Dogma unter dem neuen, dort niedergelegten Symbol durchblicken. Das Gewand des Volkes läßt kaum erraten, daß hier die Gebeine der Religion begraben liegen. Kaum kann man sich einen Begriff von der Freiheit machen, welche die Baumeister, selbst gegen die Kirche, sich damals nahmen. Kapitäle sind mit schamlos zusammengekuppelten Mönchen und Nonnen geschörkelt; Noahs Geschichte ist in jeglicher Art dargestellt; ein bacchischer Mönch mit Eselsohren und dem Glase in der Hand lacht der Gemeine ins Gesicht. Für den in Stein geschriebenen Gedanken gab es damals ein Privilegium, das unsrer jetzigen Preßfreiheit entspricht. Diese Freiheit ging sehr weit. Bisweilen zeigt ein Portal, eine Fassade, eine ganze Kirche einen dem Kultus durchaus fremden oder selbst feindlichen Sinn. Der Gedanke war nur in der Art frei; auch schrieb man ihn ganz auf die Bücher, die man Gebäude nannte. Hätte diese Form sich in ein Manuskript gewagt, so wäre sie durch Henkers Hand auf öffentlichem Markte verbrannt worden. Sie besaß nur diesen Weg, sich Bahn zu brechen, und stürzte sich von allen Seiten hinein. Daher stammt die ungeheure Menge der Kathedralen, womit Europa in so wunderbarer Zahl bedeckt ist, daß man kaum daran glaubt, selbst wenn man die Zahl geprüft hat. Alle materiellen und intellektuellen Kräfte der Gesellschaft trafen sich in demselben Punkte, in der Architektur. So entwickelte sich die Kunst unter dem Vorwande, Gott Kirchen zu bauen, in prächtigen Verhältnissen. Wer damals als Dichter geboren ward, ward ein Baumeister. Der in den Massen zerstreute Geist fand, durch die Feudalität wie unter einem Schutzdach von Schilden überall zusammengedrückt, nur einen Ausweg in der Architektur, warf sich auf die Kunst, und seine Ideale nahmen die Form der Kathedralen an. Alle andern Künste gehorchten ihr und unterwarfen sich ihrer Norm. Sie wurden Arbeiter am großen Werk. Der Architekt, der Dichter und Meister vereinte in sich die Skulptur, die seine Fassaden meißelte, die Malerei, die seine Fenster mit Farben schmückte, die Musik, die seine Glocken läutete und in seine Orgel hauchte. Selbst die eigentliche, arme Poesie, die in Manuskripten vegetierte, ward gezwungen, um etwas zu sein, sich in das Gebäude, unter der Form der Hymne oder Prosa einfassen zu lassen. Übrigens hatten ja auch das Äschylus Tragödien in den priesterlichen Festen Griechenlands, die Genesis in Salomos Tempel dieselbe Rolle gespielt.
So war bis auf Gutenberg die Architektur die allgemeine Hauptschrift. Das Mittelalter schrieb die letzte Seite dieses im Orient begonnenen, im griechischen und römischen Altertum fortgesetzten Granitbuches. Übrigens bildet sich dieses Phänomen einer Volksarchitektur nach einer Kastenarchitektur bei jeder gleichartigen Bewegung des menschlichen Geistes, in den Zeitabschnitten der Geschichte. Um nun hier im allgemeinen ein Gesetz auszusprechen, das in mehreren Bänden eines Buches genauer könnte entwickelt werden, folgte im hohen Orient, nach der Architektur der Hindus, die phönizische Baukunst, die reiche Mutter der arabischen; im Altertum, nach der ägyptischen, dessen etrurischer und Zyklopenstil nur eine Abart bilden, die griechische Architektur, als deren Verlängerung die römische mit dem karthagischen Dom nur eine Abart ist; in neuerer Zeit auf die romanische die gotische. Trennt man diese drei Reihen von ihren Geschwistern, so findet man in den drei ältesten jeder Reihe, der indischen, ägyptischen, romanischen, die Theokratie, Kaste, Einheit, das Dogma, den Mythus, Gott; bei den drei jüngeren Schwestern, der phönizischen, griechischen, gotischen, wie sehr auch ihre Form verschieden sein mag, dieselbe Bedeutung, Freiheit, Volk, Mensch.
In den drei ersten bemerkt man nur den Priester, mag er Brahmine, Magier oder Papst heißen. Dasselbe ist nicht bei der Architektur des Volkes der Fall. Sie ist reicher, aber weniger heilig. In der phönizischen sieht man den Kaufmann, in der griechischen den Republikaner, in der gotischen den Bürger. Die allgemeinen Kennzeichen jeglicher theokratischen Skulptur sind Unabänderlichkeit, Abscheu vor Fortschritten, Erhaltung der überlieferten Linien, Weihe der ursprünglichen Typen, eine stehende Form des Menschen und der Natur nach dem unverständlichen Willen des Symbols; dies sind dann die dunklen Bücher, die nur Eingeweihte zu entziffern vermögen. Jede Form, jede Mißgestaltung hat einen Sinn, durch den sie unverletzbar wird. Man verlangte nicht von ägyptischer, indischer und romanischer Kunst, sie solle die Umrisse ändern und die Statuen verbessern. Jede Vervollkommnung gilt ihnen als Frevel. Bei diesen Architekturen scheint es, die Starrheit des Dogmas habe sich über den Stein, wie eine zweite Versteinerung, verbreitet. – Die allgemeinen Kennzeichen der Volks-Architektur sind im Gegenteil Mannigfaltigkeit, Fortschritt, Originalität, Wohlhabenheit, ewige Bewegung. Sie haben sich schon hinlänglich von der Religion losgerissen, um an Schönheit zu denken, sie zu hegen, unaufhörlich ihren Schmuck der Statuen und Arabesken zu verbessern. Sie enthüllen den Zeitgeist und besitzen etwas Menschliches, das sie unaufhörlich mit dem göttlichen Symbol, das sie allerdings noch darstellen, vermischen. Daher die Gebäude, die jeder Seele, jedem Geiste, jeder Phantasie sich aufschließen; zwar sind sie noch stets symbolisch, doch wie die Natur leicht zu begreifen. Zwischen der theokratischen und dieser Architektur liegt der Unterschied einer geheiligten und einer Volkssprache, der Hieroglyphe und der Kunst, des Salomo und des Phidias.
Übergeht man die vielen hierüber anzuführenden Beweise und Einwürfe, kann man das Gesagte in folgendem summarisch zusammenfassen: Die Architektur war bis zum fünfzehnten Jahrhundert das Hauptbuch der Menschheit; in dieser Zeit fand sich kein noch so verwickelter Gedanke, der nicht zum Gebäude ward; jede Volksidee, jedes Religionsgesetz erhielt ein Denkmal; das Menschengeschlecht hat nie einen wichtigen Gedanken gehegt, ohne ihn durch Stein zu schreiben. Warum? Jeder Gedanke will sich fortpflanzen; eine Idee, welche die eine Generation aufregte, will so auch bei andern wirken und Spuren zurücklassen. Wie wenig sicher ist die Unsterblichkeit des Manuskripts! Ein Gebäude ist ein festeres, dauernderes Buch, das der Zeit widersteht. Ein Türke und eine Fackel genügen, geschriebenes Wort zu vernichten; nur eine Revolution der Gesellschaft und der Erde vermag das gebaute Wort niederzureißen. Die Barbaren schritten über das Kolosseum, die Sintflut vielleicht über die Pyramiden hinweg.
Im fünfzehnten Jahrhundert änderte sich alles. Der menschliche Geist entdeckte nicht allein ein dauerhafteres, sondern auch einfacheres Mittel, sich fortzupflanzen. Die Architektur wurde entthront. Auf des Orpheus steinerne Schrift folgte die bleierne Gutenbergs. Der Buchstabe tötet den Stein.
Die Erfindung der Buchdruckerkunst ist das größte Ereignis der Geschichte, die Mutter der Revolutionen. Sie ist eine gänzlich neue Ausdrucksweise des Menschengeschlechts, eine neue Form, in die der menschliche Gedanke sich hüllt, nachdem er die alte abgeworfen, eine vollkommene Hautveränderung der symbolischen Schlange, die seit Adam den Geist darstellt.
Unter der Form der Buchdruckerkunst ist der Gedanke dauerhafter als jemals, flüchtig, unerreichbar, unzerstörbar. Vom Festen ging er in das Lebenszähe über; von der Dauer zur Unsterblichkeit. Eine Masse kann man niederreißen; vermag man etwas, das überall sich findet, auszurotten? Kommt die Sintflut, so ist der Berg schon lange in den Fluten verschwunden, während die Vögel noch umherflattern, und schwebt nur eine Arche auf der Fläche der Wogen, so werden die Vögel auf ihr ruhen, mit ihr schwimmen, mit ihr bei dem Sinken der Flut gegenwärtig sein, und die neue, aus dem Chaos hervorgehende Welt wird erwachend über sich lebend und geflügelt den Gedanken der verschlungenen Welt schweben sehen. Erwägt man ferner, daß diese Ausdrucksweise nicht allein die dauerhafteste, sondern auch die einfachste, bequemste von allen ist, daß sie kein schwerfälliges Gerät hinter sich herschleppt und in Bewegung setzt; vergleicht man damit, daß der durch den Bau darzustellende Gedanke vier oder fünf andere Künste in Bewegung setzen, über Tonnen Goldes verfügen muß, eines Berges von Steinen, eines Waldes zum Zimmerwerk, eines Volkes zu Arbeitern bedarf, vergleicht man damit den Gedanken, dem zum Buche ein wenig Papier, Feder und Tinte genügt, so darf man sich gewiß nicht wundern, daß der menschliche Geist die Architektur für die Buchdruckerkunst aufgab. Auch vertrocknet die Baukunst allmählich nach Erfindung der Buchdruckerkunst. Wie deutlich merkt man, daß der Saft entschwindet, daß der Gedanke der Zeiten und Völker sich von ihr zurückzieht. Die Erkaltung ist im fünfzehnten Jahrhundert noch fast unmerklich, die Presse, noch zu schwach, entzieht der mächtigen Baukunst höchstens den Überschuß an Lebenskraft. Seit dem sechzehnten Jahrhundert wird aber die Krankheit der Baukunst sichtbar; sie drückt nicht mehr wesentlich die Gesellschaft aus, wird elend zur klassischen Kunst; aus der gallischen, europäischen, eingeborenen wird dies griechisch und römisch, pseudo-antik. Diesen Verfall nennt man die Renaissance. Der Verfall ist aber prächtig; denn der alte gotische Geist, die unter der gigantischen Presse von Mainz untergehende Sonne, durchdringt noch mit ihren letzten Strahlen die bastardartige Anhäufung lateinischer Arkaden und korinthischer Kolonnaden. Diese Abendsonne halten wir für eine Morgenröte. Sobald aber die Architektur nur eine Kunst wie jede andere ward, sobald sie nicht mehr die totale, herrschende, tyrannische Kunst blieb, besaß sie nicht länger Kraft, die übrigen zurückzuhalten. Sie befreiten sich, zerbrachen das Joch des Baumeisters, und jede folgte ihrer besonderen Richtung, jede gewann bei der Trennung; denn die Isolierung erhöht die Kraft. Die Schnitz- und Meißelkunst ward zur Bildhauerkunst, die Farbenkunst zur Malerei, der Kanon zur Musik. Da erstanden Raffael, Michelangelo, Palestrina, die blendenden Lichter des sechzehnten Jahrhunderts.
Zugleich mit den Künsten befreite sich überall der Gedanke. Die Freigeister des Mittelalters hatten schon breite Breschen in den Katholizismus gerissen. Das sechzehnte Jahrhundert zerbrach die religiöse Einheit. Vor der Buchdruckerkunst wäre die Reformation nur zum Schisma geworden; die Buchdruckerkunst machte sie zur Revolution. Nehmt ihr die Presse, und die Ketzerei ist entnervt. Sei es Geschick oder Zufall, Gutenberg ist Luthers Vorläufer.
Als aber die Sonne des Mittelalters untergegangen war, als der gotische Geist auf ewig am Horizont der Kunst erlosch, verschmachtete und entfärbte sich stets mehr und mehr die Architektur. Das gedruckte Buch, der nagende Wurm des Gebäudes, sog dieses aus und verschlang es. Es entblößte, entblätterte sich; der Blick konnte sein Abmagern erschauen; es wird ärmlich, kleinlich, nichtig, drückt nichts mehr aus, nicht einmal die Erinnerung an eine untergegangene Zeit. Auf sich selbst beschränkt, von den übrigen Künsten verlassen, weil der menschliche Gedanke sie verließ, rief sie anstatt der Künste Handwerke zum Beistand herbei. Das Glas ersetzte die Glasmalerei, der Steinhauer den Meißler. Verschwunden war Saft, Eigentümlichkeit, Leben und Geist. Als beklagenswerte Bettlerin der Werkstatt schleppt sie sich von Kopie zu Kopie. Michelangelo, der gewiß ihren Tod seit dem sechzehnten Jahrhundert vorher empfand, faßte eine letzte Idee der Verzweiflung. Dieser Titan der Kunst häuft ein Pantheon auf das Parthenon, und schuf Sankt Peter in Rom, ein großes Werk, das einzig zu bleiben verdiente, die letzte ursprüngliche Schöpfung der Architektur, das Siegel eines Riesenkünstlers am kolossalen Register von Stein, das geschlossen ward. Was tat die erbärmliche Architektur, die sich selbst als Gespenst und Schatten überlebte, nach Michelangelos Tode? Sie nahm Sankt Peter in Rom, ihn abzuzeichnen und zu parodieren. Albern und bemitleidenswert!
Wie hoch erhob sich aber die Buchdruckerkunst! Das Leben, das der Architektur entschwand, ging auf die Presse über. Je mehr die Architektur sank, desto schneller wuchs die Buchdruckerkunst. Das Kapital der Kräfte, das der menschliche Gedanke bis dahin auf Gebäude verwandte, ging auf sie über. Mit dem sechzehnten Jahrhundert hatte die Presse sich auf die Höhe der Baukunst erhoben, begann den Kampf und besiegte sie. Im siebzehnten ist sie schon Gebieterin und fest in der Herrschaft gesichert, so daß sie der Welt ein großes literarisches Jahrhundert zu schenken vermochte. Nachdem sie lange am Hofe Ludwigs XIV. geruht hatte, ergriff sie aufs neue Luthers altes Schwert; als Waffe Voltaires war es kurz und schneidend und bekämpfte das alte Europa, dessen architektonischen Ausdruck sie schon jetzt erlegt hatte. Als das achtzehnte Jahrhundert sich schloß, war alles schon zerstört; im neunzehnten begann sie den Wiederaufbau.
20. Unparteiischer Blick auf den alten Richterstand
Eine sehr glückliche Person war im Jahre der Gnade 1482 der edle Herr Robert d’Estouteville, Ritter, Herr von Beyne, Baron von Ivry und St. Andry in der Marche, Rat und Kammerherr des Königs, Wächter der Prévoté von Paris. Ungefähr vor siebzehn Jahren hatte er vom König die schöne Prévoté von Paris erhalten, die eher für ein Ritterlehen als für ein Amt angesehen wurde. Sie war ihm, wie es in dem Patentbriefe hieß, „zur Hut übergeben“, und hatte sich mit ihm so wohl vereint, daß er jener Veränderungswut glücklich entging, von der Ludwig XI. besessen war; denn dieser König, mißtrauisch, filzig und emsig im Arbeiten, befolgte den Grundsatz, durch häufige Widerrufungen und Erneuerungen, die Elastizität seiner Gewalt stets frisch zu erhalten. Allerdings war Robert d’Estouteville ein tapferer Soldat und hatte treu sein Banner gegen die Ligue des gemeinen Wohls erhoben; auch überreichte er der Königin bei ihrem Einzuge in Paris einen schönen Hirsch von Zuckerwerk. Dann war er auch ein guten Freund von Tristan l’Hermite, dem Prévot der Marschälle im Hotel des Königs. So führte denn auch der Herr Robert d’Estouteville ein bequemes und schönes Leben. Erstens hatte er ein gutes Einkommen, woran, wie noch mehr Weinbeeren an einer Traube, die Einkünfte der Zivil- und Kriminal-Kanzleien der Prévoté hingen, dann auch die Zivil- und Kriminal-Einkünfte der Gerichtsstuben des Châtelet, ohne einen kleinen Zoll an der Brücke von Mante und Corbeil und noch andere zu zählen. Auch war es nicht unbedeutend, daß er jede Gewalt über die Sergeanten der Douzaine, die sechzehn Kommissare der sechzehn Quartiere, den Gefängniswärter des Châtelet, die vier belehnten Sergeanten, die sechundzwanzig berittenen Sergeanten, die hundertundzwanzig Sergeanten mit Ruten, den Ritter der Wache mit allen seinen Leuten besaß. Auch war es nicht unbedeutend, daß er die hohe wie die niedere Gerechtigkeit übte, das Recht, an den Schandpfahl zu stellen, zu hängen und zu schleifen, ohne die niedere Gerichtsbarkeit (in prima instantia, wie die Urkunden sagen) in der Vizegrafschaft Paris mit den sieben Ämtern zu besitzen.
Trotz aller der Bewegungsgründe, sein Leben geduldig und fröhlich zu verbringen, war Herr Robert d’Estouteville am Morgen des 7. Januar 1482 mit sehr mürrischer und verdrießlicher Laune erwacht; wir sind geneigt zu glauben, er sei übler Laune gewesen, weil er eben übler Laune war. Übrigens war dies der Tag nach einem Feste, ein für alle, besonders aber für die Magistratsperson langweiliger Tag, deren Amt es ist, allen Schmutz wegzufegen, den ein Fest in Paris zurückläßt. Und dann mußte er Sitzung im Grand-Châtelet halten. Nun wissen wir ja allgemein, die Richter teilen ihre Zeit so ein, daß der Tag der Sitzung stets der Tag ihrer üblen Laune wird, damit sie immer jemanden bei der Hand haben, gegen den sie diese des Königs, des Gesetzes und der Gerechtigkeit wegen auslassen können. Dennoch hatte die Sitzung ohne ihn begonnen. Seine Stellvertreter machten, nach löblicher Sitte, seine Geschäfte ab. Der Saal war klein und niedrig gewölbt. Im Hintergrunde stand für den Prévot ein Tisch und ein leerer Sessel aus geschnitztem Eichenholz bereit, links ein Fußschemel für den Auditor, Meister Florian. Hinten saß kritzelnd der Schreiber. Vorn stand das Volk; vor der Tür und vor dem Tisch standen Beamte der Prévoté in violettem Oberkleid aus Kamelot mit weißen Kreuzen. Zwei Sergeanten des Parloir aux Bourgeois standen Schildwache vor einer geschlossenen niedrigen Tür, die man hinter dem Tisch erblickte. Ein einziges gotisches Fenster, in die dicke Mauer gezwängt, warf den matten Sonnenstrahl des Januar auf zwei groteske Figuren, auf den steinernen Teufel am Schlüssel des Gewölbes und den auf Lilien sitzenden Richter im Hintergrunde. In der Tat, denkt euch an der Prévotaltafel zwischen zwei Haufen Prozeßakten den Meister Florian Barbedienne, Auditor im Châtelet, wie er auf den Ellenbogen lehnt, das Gesicht in den weißen Schafpelz birgt, mit den Augen blinzelnd, mit Majestät das Fett seiner Backen haltend.
Der Auditor war taub; ein nur leichter Fehler für einen Auditor. Meister Florian urteilte nichtsdestoweniger ohne Appellation und oft sehr passend. Gewiß ist für einen Richter eine Miene erforderlich, als höre er alles genau, und diese für die Gerechtigkeit so wesentliche Bedingung erfüllte er um so mehr, da er durch kein Geräusch zerstreut werden konnte. Übrigens befand sich im Saale ein unerbittlicher Beurteiler aller seiner Taten und Worte in der Person unseres Freundes Jehan Frollo du Moulin, des Studenten von gestern, eines Schelms, den man überall in Paris, nur nicht im Hörsaal der Professoren, antraf.
„Sieh“, sprach er leise zu seinem Gefährten Robin Poussepain, die Szenen, die sich vor ihren Augen entwickelten, mit Erklärungen begleitend, „sieh das schöne Mädchen Jehanneton du Buisson. Bei meiner Seele, der alte Graukopf verurteilt sie; er hat ebensowenig Augen wie Ohren. Fünfzehn Sous vier Diniers Parisis, weil sie zwei Paternoster trug.“ – „Auch zwei Edelleute unter dem Gesindel Corpus Christi!“ – „Ach so, spielten Würfel. Hundert Livres Strafe für den König!“ – „Ich wollte mein Bruder, der Archidiakonus, sein, wenn das mich zu spielen hindert, Tag und Nacht zu spielen, beim Spiel zu leben und zu sterben, meine Seele nach meinem Hemde zu verspielen!“ – „Heilige Jungfrau, wie viel Mädchen!“ – „Eine kommt nach der andern, meine Schäfchen! Ich kenne sie alle, bei Gott. Geldstrafe! Geldstrafe! Geldstrafe! Er lehrt euch, vergoldete Gürtel zu tragen, ihr Koketten! Wen bringen sie dort? Bei Jupiter, Sergeanten genug; alle Windspiele der Meute! Gewiß, das ist das Hauptstück der Jagd; ein Eber! Wahrhaftig, es ist unser Fürst von gestern, unser Narrenpapst, unser Glöckner, unser Einäugiger, unser Buckliger, unsere Fratze! Sieh! Quasimodo!“
Quasimodo war es wirklich, geknebelt, umringt, gebunden, mit zahlreicher Wache. An Quasimodo konnte man außer seiner Mißgestalt nichts bemerken, was dieses Gefolge von Hellebarden und Büchsen hätte rechtfertigen können; er war düster, schweigsam und ruhig. Nur dann und wann warf er auf seine Bande einen zornigen und finsteren Blick.
Meister Florian blätterte unterdessen aufmerksam in der gegen Quasimodo niedergeschriebenen Klage, die der Schreiber ihm reichte, und schien, nachdem er mit flüchtigem Blick sie durchlaufen hatte, sich einen Augenblick zu sammeln.
Durch diese Vorsicht, die er nie vor dem Verhör vernachlässigte, wußte er im voraus die Namen, Eigenschaften und Vergehen des Beklagten, gab vorhergesehene Repliken auf vorhergesehene Fragen, und zog sich so aus allen Irrgängen des Verhörs, ohne seine Taubheit zu sehr bemerklich zu machen. Der Aktenstoß des Prozesses war für ihn der Hund des Blinden. Fügte es der Zufall, daß seine Schwäche sich durch eine Rede außer dem Zusammenhange oder durch eine unverständliche Frage verriet, so galt dies bei den einen für Tiefe, bei den andern für Dummheit. So verbarg er seine Taubheit mit aller Sorgfalt vor aller Augen, und dies gelang ihm so vortrefflich, daß er sich endlich selbst betrog. Dies ist übrigens leichter, als man glaubt. Alle Buckligen halten den Kopf grade, und alle Stammler wollen lange und viel sprechen, alle Schwerhörigen sprechen leise. Er selbst glaubte höchstens, sein Ohr sei ein wenig rebellisch.
Als er nun Quasimodos Angelegenheit genugsam wiedergekaut hatte, warf er den Kopf in den Rücken und schloß, zum Zweck größerer Majestät und Unparteilichkeit, halb die Augen, so daß er in dem Augenblicke zugleich blind und taub war. Gewiß gibt es auch ohne beide Eigenschaften keinen vollkommenen Richter. In dieser Amtsstellung begann er sein Verhör:
„Euer Name?“
Hier traf ein vom Gesetz nicht vorhergesehener Fall ein, nämlich das Verhör eines Tauben durch einen Tauben.
Quasimodo, der von der an ihn gerichteten Frage nichts merkte, fuhr fort, den Richter starr anzuschauen, und erwiderte nichts. Der taube Richter, der von Quasimodos Taubheit nichts merkte, glaubte, er habe in der Art geantwortet, wie es alle Angeklagten zu tun pflegten, und fuhr mit mechanischem und törichtem Ernst fort zu fragen:
„Richtig. Euer Alter?“
Quasimodo erwiderte auch auf diese Frage nichts. Der Richter aber dachte anders und fuhr fort:
„Euer Stand?“
Stets herrschte dasselbe Schweigen. Die Zuhörer aber begannen einander anzusehen und zu flüstern.
„Genug!“ begann der unerschütterliche Auditor aufs neue, als er glaubte, der Angeklagte habe die dritte Antwort gegeben. „Ihr seid angeklagt, primo: nächtlicher Friedensstörung, secundo: eines entehrenden Angriffs auf die Person eines Freudenmädchens; tertio: der Rebellion gegen die Häscher von der Ordnung des Königs; gebt Erklärung über alle drei Punkte. Schreiber, habt Ihr, was der Beklagte ausgesagt hat, niedergeschrieben.
Bei dieser unglücklichen Frage erhob sich von der Kanzlei bis zur Versammlung ein so heftiges, ansteckendes, allgemeines Gelächter, daß die beiden Schwerhörigen es wohl bemerken mußten. Quasimodo drehte sich um, seinen Höcker verächtlich in die Höhe hebend, während Meister Florian, gleichfalls erstaunt, die Vermutung hegte, das Gelächter sei durch eine unehrerbietige Antwort des Angeklagten erweckt, die für ihn durch das Erheben des Höckers sichtbar ward. Er fuhr ihn deshalb zornig an:
„Schelm, Ihr gabt da eine Antwort, die den Strang verdient. Wißt Ihr, mit wem Ihr sprecht?“ Dieser Verweis war nicht dazu geeignet, den Ausbruch der allgemeinen Munterkeit aufzuhalten. Er schien allen so sonderbar, daß ein fast wahnsinniges Gelächter sogar die Schildwache stehenden Sergeanten ergriff, zu deren Stand die Dummheit Erfordernis war. Nur Quasimodo blieb ernst, weil er von allem was um ihn vorging, nichts begriff. Der Richter, stets gereizter, glaubte in demselben Tone fortfahren zu müssen; denn er hoffte, den Beklagten dadurch mit einem Schrecken zu erfüllen, der auf das Auditorium einwirken müßte, um diesem wieder Achtung einzuflößen.
„Also, Meister Schelm und Dieb, der Ihr seid, wagt Ihr’s, dem Auditor des Châtelet die gebührende Achtung zu verweigern? Wißt Ihr, daß ich Florian Barbedienne heiße, Stellvertreter des Prévot, Kommissar, Untersuchungsrichter, Kontrolleur mit gleicher Gewalt in der Prévoté, im Amt und Präsidium bin …“
In diesem Augenblick öffnete sich die niedrige Tür im Hintergrund und herein trat der Herr Prévot in Person.
Meister Florian blieb bei seinem Eintritt nicht stecken; die Rede, womit er Quasimodo andonnerte, richtete er plötzlich an den Prévot und sprach: „Gnädiger Herr, ich verlange eine Strafe, wie sie Euch beliebt, für den hier stehenden Angeklagten, wegen schwerer, ja unerhörter Beleidigung des Gerichts.“
Herr Robert d’Estouteville runzelte die Stirn und verlangte von Quasimodo Aufmerksamkeit mit so gebieterischer und deutlicher Bewegung, daß der Taube den Sinn verstand. Dann sprach er streng: „Schelm, warum bist du hier?“
Der arme Teufel glaubte, der Prévot frage nach seinem Namen, brach sein gewöhnliches Schweigen und erwiderte mit rauhen Kehltönen: „Quasimodo.“
Die Antwort paßte so wenig auf die Frage, daß jenes tolle Gelächter aufs neue ausbrach. Robert rief, gerötet von Zorn: „Schuft, willst du mich auch verhöhnen?“ – „Glöckner in Notre-Dame“, erwiderte Quasimodo; denn er glaubte seinen Stand müßte er dem Richter erklären. – „Glöckner!“ rief der Prévot zornig. „Glöckner! Auf den Kreuzwegen von Paris lass ich ein Glockenspiel von Stöcken auf deinem Rücken spielen! Hörst du, Schelm?“
„Wenn Ihr mein Alter zu wissen wünscht“, sagte Quasimodo, „so glaube ich, daß ich am Tage Sankt-Martins zwanzig Jahre alt werde.“
Das war zu stark. Der Prévot konnte es nicht länger aushalten. „Ha, Elender“, donnerte er, „du willst die Pévoté verhöhnen! Ihr Herren Sergeanten der Rute, führt den Schelm auf den Schandpfahl des Grèveplatzes, prügelt ihn und laßt ihn eine Stunde stehen. Gottes Haupt, dafür soll er büßen!“
Sogleich schrieb der Schreiber das Urteil nieder. „Gottes Bauch!“ sprach Jehan Frollo in seinem Winkel, „das Urteil ist gut gesprochen.“
Der Schreiber überreichte das Urteil dem Prévot, der sein Siegel aufdrückte und fortging, die Runde in den verschiedenen Gerichtssälen zu machen. Er war in solcher Laune, daß er alle Gefängnisse von Paris an dem Morgen hätte bevölkern mögen. Jehan Frollo und Robin Poussepain lachten sich ins Fäustchen; Quasimodo betrachtete seine Umgebung erstaunt und gleichgültig. Der Schreiber aber empfand in dem Augenblicke, wo Meister Florian das Urteil las, es zu unterzeichnen, einiges Mitleid mit dem armen verurteilten Teufel. In der Hoffnung, eine Verminderung der Strafe zu erlangen, neigte er sich so nahe, wie möglich zum Ohr des Auditors und sprach: „Der Mensch ist taub.“ Er hoffte, diese Gemeinschaft der Gebrechen werde Meister Florian zugunsten des Verurteilten stimmen. Wir bemerkten aber schon, Meister Florian habe nicht gewünscht, man möchte seine Taubheit bemerken. Auch war er so schwerhörig, daß er kein Wort von dem, was der Schreiber ihm sagte, verstand. Dennoch wollte er sich das Ansehen geben, als höre er zu, und antwortete: „Ah so, das ist was anderes; ich wußte das nicht! In dem Fall noch eine Stunde mehr am Schandpfahl.“ Dann unterzeichnete er das so veränderte Urteil.
21. Das Rattenloch
Der Leser erlaube, daß wir ihn auf den Grèveplatz zurückführen, den wir gestern mit Gringoire verließen, der Esmeralda zu folgen.
Es war um zehn Uhr morgens; alles deutete auf einen Tag der einem Feste gefolgt war. Das Pflaster war mit allerlei Resten bedeckt: mit Bändern, Federn, Tropfen der Wachsfackeln, Krümchen der öffentlichen Schmauserei. Viele Bürger schlenderten hier und dort umher; das Fest, die Gesandten, Coppenole, der Narrenpapst waren in aller Munde; man wetteiferte in Bemerkungen und Gelächter. Dennoch hatten aber vier berittene Sergeanten an den vier Seiten des Schandpfahls einen großen Teil des auf dem Pflaster zerstreuten Volkes um sich angesammelt, der eine kleine Exekution erwartete.
Wendet jetzt der Leser von dieser lebendigen und lärmenden Szene den Blick auf das halb gotische, halb romanische Haus la Tour-Roland westlich am Ende des Kais, so kann er an der Ecke der Fassade ein dickes, öffentliches Gebetbuch, ein Breviarium, reich mit Bildern versehen, erblicken, das gegen den Wind durch ein kleines Dach, und gegen Diebe durch ein Gitter geschützt war, das dennoch erlaubte, darin zu blättern. Seitwärts von diesem Breviarium befand sich eine kleine gotische Luke; sie war durch zwei kreuzweise übereinandergelegte Stangen geschlossen und auf den Platz hin gerichtet. Durch diese Öffnung drang ein wenig Licht und Luft in eine kleine Zelle im Erdgeschoß ohne Tür, und in der dicken Mauer des alten Hauses; dort herrschte ein um so tieferer Frieden und eine um so größere Stille, je mehr der volkreichste und lärmendste Platz in Paris ringsum wimmelte und tobte.
Diese Zelle war schon drei Jahrhunderte lang in Paris berühmt. Madame Rolande de la Tour-Roland hatte sie voll Schmerz über den Tod ihres Vaters in den Kreuzzügen in die Mauer ihres eigenen Hauses graben lassen, um sich dort auf ewig einzuschließen. Von ihrem Palast behielt sie nur diese Wohnung, deren Tor vermauert und deren Luke Winter und Sommer geöffnet war. Alle ihre Habe schenkte sie den Armen und Gott. Die trostlose Dame hatte wirklich zwanzig Jahre lang in diesem Grabe den Tod erwartet. Sie betete Tag und Nacht für die Seele ihres Vaters, schlief in der Asche, hatte nicht einmal einen Stein zum Kopfkissen, hüllte sich in einen schwarzen Sack und lebte von dem, was das Mitleid der Vorübergehenden an Brot und Wasser auf den Rand der Luke legte. Bei ihrem Tode, als sie in ihr zweites Grab stieg, vermachte sie das erstere den betrübten Frauen, Müttern, Witwen oder Mädchen, die viel für sich und andere zu beten hatten und sich in großem Schmerz und großer Buße lebendig verscharren wollten.
Seit dem Tode der Madame Rolande war die Zelle selten ein oder zwei Jahre leer geblieben. Viele Frauen hatten sich dort eingemauert, den Tod der Eltern und Geliebten oder Sünden zu beweinen. Bis zum sechzehnten Jahrhundert erhielt sich der Brauch, ein Gebäude durch eine kurze Inschrift über der Tür zu erklären. Damals war ja jedes Gebäude ein Gedanke. Da nun in der Mauerzelle von la Tour-Roland sich keine Tür befand, las man über der Luke, in römischen Buchstaben: „Tu, Ora.“ Das Volk, diese Überschrift auf seine Weise deutend, hatte dieser dunklen, schwarzen und feuchten Höhle den Namen Rattenloch* gegeben.
22. Geschichte eines Maiskuchens
Zur Zeit als diese Geschichte sich ereignete, war jene Zelle besetzt. Will der Leser wissen, durch wen, braucht er nur das Gespräch dreier braven Gevatterinnen anzuhören, die im Augenblick, wo wir unsere Aufmerksamkeit auf das Rattenloch richteten, sich zur selben Seite wandten und ihre Schritte das Ufer entlang lenkten. Zwei derselben waren als Bürgerinnen von Paris gekleidet; in Haltung und Kleidung der dritten aber lag etwas, das die Frau aus der Provinz verriet.
Sie führte an der Hand einen dicken Knaben, der in seiner Hand einen großen Kuchen hielt. Das Kind ließ sich schleppen, stolperte unter dem Schelten der Mutter bei jedem Schritt. Gewiß hinderte es ein wichtiger Beweggrund, in den Kuchen zu beißen; denn es begnügte sich damit, ihn zärtlich anzuschauen.
Die drei Bürgerfrauen (denn Dame war damals ganz allein ein Titel der Edelfrauen) sprachen auf einmal: „Eilen wir, Mahiette“, sprach die eine, zugleich auch die dickste, zu ihrer Gefährtin aus der Provinz. „Ich fürchte, wir kommen zu spät. Man sagte uns im Châtelet, man werde ihn sogleich zum Schandpfahl führen.“ – „Ah bah! Was sagte Ihr da, Dudarde Musnier?“ – „Ja“, sagte die Frau aus der Provinz, „in Reims!“ – „Ah bah! Was ist an Eurem Schandpfahl in Reims! Nichts als ein großer Käfig, wo man nur Bauern festbindet, das ist was Rechtes!“ – „Was, Bauern!“ rief Mahiette, „auf dem Tuchmarkt in Reims! Dort sahen wir schöne Verbrecher, die Vater und Mutter getötet hatten. Bauern! Wofür haltet Ihr uns, Gervaise?“
Gewiß wäre die Bewohnerin der Provinz für die Ehre ihres Schandpfahls wütend geworden, aber glücklicherweise gab die kluge Dudarde Musnier dem Gespräch eine andere Wendung. „Mahiette“, fragte sie, „was haltet Ihr von unseren flamländischen Gesandten! Habt Ihr auch so schöne in Reims?“ – „Ich gestehe“, erwiderte jene, „daß man Flamländer, wie die, nur in Paris sehen kann.“ – „Sahet Ihr auch in der Gesandtschaft den großen Gesandten, der Strumpfwirker ist?“ – „Ja, er sieht wie ein Satan aus.“ – „Und was sie für schöne Pferde haben!“ – „Ach, Liebe“, unterbrach die Frau aus der Provinz das Gespräch, „was würdet Ihr sagen, hättet Ihr im Jahre 61, vor achtzehn Jahren, bei der Krönung die Pferde der Prinzen und der Kompagnie des Königs gesehen!“
Trocken erwiderte Dudarde: „Dies hindert noch nicht, daß die Flamländer schöne Pferde hatten und gestern ein prächtiges Abendessen bei dem Herrn Prévot der Kaufleute hielten, und zwar auf dem Stadthause, wo man ihnen Zuckerwerk, Muskateller und andere Seltenheiten auftrug.“ – „Was sagt Ihr da, Nachbarin“, rief Gervaise, „es war beim Herrn Kardinal im Petit Bourbon.“ – „Nein, auf dem Stadthause.“ – „Nein, auf dem Petit Bourbon.“ – „Ich weiß es so gewiß“, sagte Dudarde verdrießlich, „daß der Doktor Scourable ihnen eine lateinische Rede hielt, mit der sie sehr zufrieden waren. Mein Mann ist geschworener Buchhändler und hat mir’s erzählt.“ – „Nein, ich weiß es ganz gewiß“, erwiderte Gervaise nicht weniger heftig, „und folgendes hat ihnen der Herr Kardinal gereicht: zwölf doppelte Viertel weißen, hell und dunkelroten Muskatellers; vierundzwanzig Schachteln vergoldeten Marzipans; ebenso viel Fackeln, zu zwei Livres das Stück, sechs halbe Fässer Beaunewein, vom besten, den man auftreiben konnte. Ich weiß es von meinem Mann, der Aufseher im Parloir-aux-Bourgeois ist und heute morgen die flamländischen Gesandten mit denen des Priesters Johannes und des Kaisers von Trapezunt verglich, die unter dem seligen König nach Paris kamen und Ringe in den Ohren trugen.“ So stritten die drei Frauen noch eine Weile hin und her, als Frau Mahiette plötzlich ausrief: „Seht die Leute dort an der Brücke! Sie sehen irgend etwas!“
„Wahrhaftig“, sprach Gervaise, „ich höre den Schall des Tamburins. Ich glaube, die kleine Esmeralda treibt Possen mit ihrer Ziege. Geschwind, Mahiette! Lauft schnell! Ihr kamt hierher, die Merkwürdigkeiten von Paris zu besehen. Gestern saht Ihr die Flamländer, heute müßt Ihr die Zigeunerin sehen!“
„Die Zigeunerin“, sprach Mahiette, plötzlich zurückfahrend, und faßte den Arm ihres Sohnes fester. „Gott bewahre! Sie würde mir mein Kind stehlen! Komm, Eustache!“ Sie lief den Kai entlang, bis sie weit von der Brücke entfernt war. Das Kind fiel aber auf die Knie, und sie blieb außer Atem stehen. Dudarde und Gervaise erreichten sie wieder. „Die Zigeunerin sollte Euer Kind stehlen!“ sprach Gervaise. „Ein sonderbarer Gedanke!“
Mahiette erhob das Haupt mit nachsinnender Miene. „Sonderbar!“ bemerkte Dudarde. „Die Büßende denkt ebenso von den Zigeunern.“ – „Wer ist das?“ fragte Mahiette. – „Nun, die Schwester Gudule.“ – „Schwester Gudule, wer ist das?“ – „Man sieht, Ihr seid aus Reims“, antwortete Dudarde, „da Ihr dies nicht wißt. Das ist die Klausnerin im Rattenloch.“ – „Was, die arme Frau, der wir den Kuchen bringen?“
Dudarde nickte mit dem Kopfe. „Jawohl; Ihr sollt sie sogleich an der Luke sehen. Sie hat den nämlichen Abscheu vor den ägyptischen Vagabunden, die das Tamburin spielen und prophezeien, wie Ihr. Aber warum lauft Ihr denn schon bei ihrem bloßen Anblick davon?“
„Oh“, sagte Mahiette, indem sie den runden Kopf ihres Kindes in die Hände drückte; „ich will nicht dasselbe Unglück haben wie Paquette-la-Chantefleurie.“ – „Ei, erzählt uns die Geschichte, gute Mahiette“, sprach Gervaise, sie beim Arm fassend. – „Recht gern. Ja, ja, man sieht, daß Ihr aus Paris seid, da Ihr das nicht wißt. Ich sage euch also – doch brauchen wir stehen zu bleiben, um die Sache zu erzählen – daß Paquette-la-Chantefleurie ein hübsches Mädchen von achtzehn Jahren war, als ich auch so alt war, das heißt vor achtzehn Jahren und es ist ihre eigene Schuld, wenn sie jetzt nicht, so wie ich es bin, eine dicke, frische Mutter von sechsunddreißig Jahren mit einem Mann und einem Jungen ist. – Also, sie war die Tochter von Guybertant, Ministrel der Schiffe zu Reims, desselben, der vor König Karl VII. bei der Krönung aufspielte, als dieser die Vesle hinabfuhr, und als die Frau Jungfrau mit in dem Schiffe war. Der alte Vater starb, als Paquette noch ganz klein war; sie hatte also nur noch ihre Mutter, von der aber Paquette nichts lernte als spielen und sticken, wobei die Kleine groß ward und sehr arm blieb. Beide wohnten in Reims am Flusse, Straße Folle-Peine. Merkt euch das! Ich glaube, die brachte Paquette ins Unglück. 61, im Jahre der Krönung unseres Königs Ludwig VI., den Gott erhalte, war Paquette so lustig, daß sie überall Chantefleurie* hieß – das arme Mädchen! – Sie hatte so schöne Zähne und lachte gern, sie zu zeigen. Mädchen, die gern lachen, kommen dadurch zum Weinen; schöne Zähne verderben schöne Augen; das war also die Chantefleurie. Sie und ihre Mutter hatten knapp zu leben; nach dem Tode des Ministrels waren sie sehr heruntergekommen; ihr Sticken brachte ihnen kaum sechs Deniers wöchentlich ein, und das macht noch keine zwei Liards. Eines Winters – es war in demselben Jahre 61 – als beide Frauen weder Holz noch Reisig besaßen und es sehr kalt war, gab dies der Chantefleurie so schöne Farbe, daß die Männer sie Paquette** nannten, und mehrere riefen Paquerette***, und daß sie sich zugrunde richtete – Eustache! Sehe ich dich noch einmal in den Kuchen beißen! – Eines Morgens sahen wir alle, daß sie verloren war; denn sie kam in die Kirche mit einem goldenen Kreuz am Halse. Denkt euch, mit vierzehn Jahren! Zuerst hatte sie den jungen Vicomte von Cormontreuil, dessen Turm drei Viertelstunden von Reims liegt, zum Liebhaber, dann Herrn Henri de Triancourt, Bereiter des Königs, dann Chiart de Beaulion, Waffensergeanten, und so immer mehr abwärts, bis zum Laternenputzer. Ach, die arme Chantefleurie! Sie gehörte allen und hatte den letzten Heller ihres Goldstücks ausgegeben.“
(
Mahiette wischte sich eine Träne aus den Augen. „Das ist eine ganz gewöhnliche Geschichte“, sagte Gervaise, „ich sehe weder Zigeuner noch Kinder.“
„Geduld!“ begann Mahiette aufs neue, „ein Kind sollt Ihr gleich haben. 66, vor sechzehn Jahren, gebar Paquette ein kleines Mädchen, worüber sie sich sehr freute. Die Arme! Schon lange hatte sie sich ein Kind gewünscht. Ihre Mutter, die gute Frau, war gestorben. Paquette hatte niemanden mehr in der Welt, den sie liebte und von dem sie geliebt ward. Das arme Geschöpf! Sie stand allein, man zeigte mit den Fingern auf sie, schrie in den Straßen hinter ihr her; von den Straßenjungen verspottet, ward sie von den Sergeanten geprügelt. Auch war sie schon zwanzig Jahre alt, und Freudenmädchen sind mit zwanzig Jahren schon alte Weiber. Die Liebe brachte ihr nicht mehr ein, als das Sticken vorher; der Winter war hart, das Holz in ihrem Schober und das Brot in ihrem Schranke selten. Arbeiten konnte sie nicht mehr, denn wollüstig, ward sie faul, und faul, ward sie wollüstig. – So erklärt unser Herr Pfarrer den Umstand, daß diese Weiber, wenn sie alt sind, mehr Hunger und Kälte leiden als andre Arme.“
„Ja“, bemerkte Gervaise, „aber die Zigeunerin?“ – „Wartet doch noch einen Augenblick“, sprach die weniger ungeduldige Dudarde. „Was soll am Ende kommen, wenn alles schon im Anfange vorkommt? Ich bitte, fahrt fort, Mahiette; die arme Chantefleurie!“
Mahiette setzte ihr Erzählung fort: „Sie war also sehr traurig und elend, und die Tränen gruben Furchen in ihre Wangen. Aber in ihrer Schande, Torheit und Einsamkeit schien es ihr, als wäre sie weniger beschimpft, töricht und verlassen, hätte sie etwas auf der Welt, das sie lieben könnte, und von dem sie geliebt würde. Das aber mußte ein Kind sein; denn ein Kind war dazu noch unschuldig genug. Das erkannte sie, nachdem sie versucht hatte, einen Dieb zu lieben, den einzigen Mann, der sie noch haben wollte; nach einiger Zeit aber bemerkte sie, wie auch der Dieb sie verachtete. – Die Frauen müssen einen Liebhaber oder ein Kind haben, ihr Herz auszufüllen. Sonst sind sie sehr unglücklich. – Da sie nun keinen Liebhaber mehr bekommen konnte, wandte sie ihr Herz einem Kinde zu, und da sie nie aufgehört hatte fromm zu sein, betete sie zu Gott Tag und Nacht. Gott aber hatte Mitleid mit ihr und schenkte ihr ein kleines Mädchen. Von ihrer Freude will ich euch nicht erzählen; das war eine Tränen- und Küssewut. Sie säugte selbst ihr Kind, machte Windeln aus ihrer einzigen Bettdecke, und empfand weder Kälte noch Hunger noch Durst. Da ward sie wieder schön. Eine alte Jungfer wird zur jungen Mutter; Liebe begann aufs neue; man besuchte die Chantefleurie, sie fand Absatz für ihre Ware und machte aus ihrem Sündengeld Halstücher, Kittelchen von Spitzen, Hauben und Atlas, und kaufte sich nicht einmal eine neue Bettdecke. – Eustache! Ungezogener Junge! Ich habe dir verboten, den Kuchen zu essen. – Die kleine Agnes, so hieß das Kind – ja, die kleine Agnes ward eingewickelt in Bänder und Spitzen wie eine Dauphine. Unter anderen hatte sie ein hübsches Paar Schuhe. Das hatte gewiß sie selbst genäht und gestickt. Es waren die schönsten kleinen Rosaschuhe, die man je gesehen hat. Sie waren nicht größer als ein Daumen, und man müßte sehen, wie das kleine Kind die Füße herauszog, sonst konnte man nicht denken, wie seine Füßchen hätten hineinkommen können. Habt Ihr Kinder, Dudarde, so wißt Ihr gewiß, daß nichts schöner ist als solche kleinen Hände und Füße. Die Mutter ward täglich mehr in die Kleine verliebt. Sie liebkoste, küßte, putzte, badete ihr Kind. Über seine kleinen, rosigen Füße war sie ewig entzückt und wie verrückt. Sie steckte die Füßchen in die kleinen Schuhe, bewunderte, beschaute sie und mochte das Kind nicht einmal auf dem Bette gehen lassen, kurz, sie zog ihm die Schuhe aus und an, als wär’s ein Jesuskind.“
„Die Geschichte ist recht schön“, sagte Gervaise halblaut, „aber wo sind die Zigeuner?“
„Jetzt kommen sie“, antwortet Mahiette. „Eines Tages kamen recht sonderbare Ritter, Bettler und Gauner nach Reims, die, von Herzögen und Grafen geführt, im Lande umherwandelten. Sie waren schwarzbraun, hatten krauses Haar und Ringe in den Ohren. Ihre Weiber waren noch häßlicher als die Männer. Das ganze Gesicht trugen sie unbedeckt und banden ihr Haar wie einen Pferdeschwanz. Die Kinder, die ihnen zwischen den Füßen herumkrochen, glichen wahren Affen. Sie kamen gerades Weges aus Unterägypten über Polen, hatten beim Papst gebeichtet, wie es hieß, und dieser hatte ihnen befohlen, durch die Welt zu wandern, ohne in Betten zu schlafen; auch nannten sie sich büßende Brüder und stanken abscheulich. Wie es schien, waren sie früher Sarazenen gewesen und sie glaubten deshalb an Jupiter. Sie kamen nach Reims, um im Namen des Königs von Algier und des Kaisers von Deutschland zu prophezeien. Natürlich ließ man sie nicht in die Stadt. Da lagerte sich die ganze Bande vor dem Tore von Braine, und ganz Reims ging hinaus, sie zu sehen. Sie betrachteten eure Hand und sagten euch wunderbare Prophezeiungen; aber böse Gerüchte hatten sich über sie verbreitet: Kinder gestohlen, Börsen stibitzt und Menschenfleisch gegessen. Die Klugen sagten zu den Dummen: ‚Geht nicht hin‘, und dann gingen sie selbst verkleidet hin. Tatsache bleibt es, die Zigeuner sagten Dinge, einen Kardinal zum Staunen zu bringen. Die Mütter machten viel Wesens aus ihren Kindern, seit die Zigeuner in ihrer Hand alle Arten von Wunden, die heidnisch oder türkisch geschrieben waren, gelesen hatten. Die eine hatte einen Kaiser, die andere einen Papst oder Kapitän. Die arme Chantefleurie ward auch von Neugier angesteckt; sie wollte wissen, was sie hatte, und ob die kleine Agnes einst Kaiserin von Armenien oder sonst was werden könnte. Sie trug ihr Kind zu den Zigeunern, und die bewunderten, liebkosten, küßten es mit ihren schwarzen Mäulern und staunten, ach! zur großen Freude der Mutter, über seine kleine Hand. Hauptsächlich priesen sie die kleinen Füße und schönen Schuhe. Das Kind war noch kein Jahr alt. Es fürchtete sich vor den Zigeunern und weinte. Aber die Mutter küßte es noch mehr und ging, ganz entzückt über das Glück, das die Hexen ihrer Agnes prophezeit hatten. Sie sollte schön, tugendhaft, Königin werden. Sie ging ganz stolz in ihre Dachstube und dachte, eine Königin dort hinzutragen. Am nächsten Tage benutzte sie einen Augenblick, wo das Kind in ihrem Bette schlief (denn sie schliefen beide zusammen), ließ die Tür halb offen und wollte einer Nachbarin erzählen, ihre Tochter werde einst vom Könige von England, dem Erzherzog von Äthiopien und was weiß ich sonst, bei Tafel bedient werden. Und als sie wiederkam und, die Treppe hinaufsteigend, kein Schreien hörte, dachte sie, das Kind schliefe. Da stand aber die Tür speerweit offen, die arme Mutter trat ein, lief zum Bett – das Kind war nicht mehr da, sein Platz war leer. Nur ein hübscher Schuh war zurückgelassen. Sie stürzte aus dem Zimmer die Treppe hinunter, rannte mit dem Kopf gegen die Wand und schrie: ‚Mein Kind! Wer hat mein Kind gestohlen?‘ – Die Straße war einsam; das Haus lag vereinzelt. Niemand konnte es ihr sagen. Sie lief durch die Stadt, durchsuchte alle Straßen, lief den ganzen Tag wütend, wahnsinnig umher, sah in Türen und Fenster wie ein wildes Tier, das seine Jungen verlor. Sie rannte keuchend, mit zerzausten Haaren, furchtbar anzusehen, umher. In ihren Augen trocknete ein Feuer ihre Tränen; sie hielt die Vorübergehenden an und schrie: ‚Meine Tochter! Meine Tochter! Wer gibt mit meine Tochter wieder? Ich will Eure Magd, Eures Hundes Magd sein, Ihr mögt mein Herz essen, wenn Ihr mein Leben wollt; nur gebt mir meine Tochter!‘ – Sie begegnete dem Herrn Pfarrer von St. Remy und rief: ‚Herr Pfarrer, ich will Euer Land mit den Nägeln graben, aber gebt mir meine Tochter!‘ – Dudarde, das war herzzerreißend; ich sah, wie ein harter Mann, der Prokurator Ponce Lacabre, darüber weinte. – Ach, die arme Mutter! – Am Abend kehrte sie heim. Während sie abwesend war, hatte eine Nachbarin gesehen, wie zwei vermummte Zigeunerinnen, mit einem Bündel auf dem Arm die Treppe hinaufstiegen, die Tür schlossen und davonliefen. Als Paquette so herumlief, hörte man Kindergeschrei. Die Mutter lachte auf, stieg die Treppe hinan, als hätte sie Flügel, stieß die Tür auf: – Dudarde, wie scheußlich! Anstatt der schönen, rotwangigen, frischen Agnes, die ein Geschenk Gottes war, sah sie einen scheußlichen, hinkenden, buckligen Wechselbalg, der auf dem Boden kreischend herumkroch. Schaudernd legte sie die Hand über die Augen. ‚Oh‘, rief sie, ‚haben die Hexen mein Kind in dies furchtbare Tier verwandelt?‘ Man trug den Wechselbalg schnell fort; denn sie wäre über ihn verrückt geworden. Das war ein Ungeheuer von Kind, das der Teufel mit einer Zigeunerin erzeugt hatte. Es schien ungefähr vier Jahre alt zu sein, und sprach eine Sprache, wie kein Menschenkind, Worte, die unmöglich sind. – Die Chantefleurie fiel über den kleinen Schuh her, das einzige, das ihr von ihrer geliebten Tochter geblieben war. Lange Zeit lag sie stumm, unbeweglich, ohne zu atmen, da; man glaubte, sie sei tot. Da zitterte sie auf einmal am ganzen Leibe, bedeckte ihre Reliquie mit wütenden Küssen und brach in Schluchzen aus, als wollte ihr Herz zerspringen. Ja, ja, wir weinten alle. Sie rief: ‚Oh meine kleine schöne Tochter, wo bist du?‘ und das zerschnitt euch die Eingeweide. Seht Ihr, unsere Kinder sind das Mark unserer Knochen. – Oh Eustache, verlöre ich dich! – Da stand die Chantefleurie plötzlich auf, lief durch Reims und schrie: ‚Ins Lager der Zigeuner. Sergeanten herbei! Verbrennt die Hexen!‘ – Aber die Zigeuner waren fort. Es war stockfinster, und man konnte sie nicht verfolgen. Am nächsten Tage fand man zwei Stunden von Reims auf einer Heide die Überbleibsel eines Feuers, Bänder von Paquettes Kinde, Blutstropfen und Kot von Ziegenböcken. Es war gerade eine Samstagnacht gewesen, und man zweifelte nicht, daß die Zigeuner das Kind mit Belzebub gefressen hatten, wie dies bei den Mohammedanern Sitte ist. Als Chantefleurie diese furchtbaren Dinge hörte, weinte sie nicht und bewegte die Lippen, als wolle sie sprechen, aber sie konnte es nicht. Am nächsten Tage waren ihre Haare grau, und am zweiten Tage war sie verschwunden.“
„Das ist wirklich eine furchtbare Geschichte“, sprach Dudarde, „die selbst einen Burgunder zu Tränen rühren müßte.“ – „Jetzt wundere ich mich nicht mehr, daß die Furcht vor Zigeunern Euch so jagen kann.“ – „Ihr tatet um so besser“, sagte Dudarde, „Euch mit Eurem Eustache soeben zu retten, da auch diese Zigeuner, wie man sagt, aus Polonien sind.“ – „Nein“, verbesserte Gervaise, „es heißt, sie kämen aus Spanien und Katalonien.“ – „Katalonien vielleicht“, sagte Dudarde, „Polonien, Katalonien, Wallonien, die drei Provinzen verwechsele ich immer, aber es ist gewiß, daß es Zigeuner sind.“ – „Und gewiß“, fügte Gervaise hinzu, „sind ihre Zähne groß genug, kleine Kinder zu fressen. Es sollte mich nicht wundern, wenn die Esmeralda auch Kinder fräße, obgleich ihr Mund so klein ist. Ihre weiße Ziege macht zu boshafte Streiche, als daß keine Teufelei dahinter stecken sollte.“
Mahiette ging indes schweigend weiter. Sie war in die Träumerei versunken, welche die Verlängerung einer schmerzlichen Erzählung zu sein pflegt, und die nur dann aufhört, wenn sie bis zur letzten Fiber des Herzens vibriert hat. Gervaise übrigens fragte: „Weiß man, was aus der Chantefleurie geworden ist?“
Mahiette erwiderte nichts. Gervaise wiederholte die Frage, sie beim Arme schüttelnd und bei Namen rufend. Mahiette schien aus ihrer Träumerei zu erwachen.
„Was aus Chantefleurie geworden ist?“ sprach sie, mechanisch die Worte wiederholend, deren Eindruck soeben ihr Ohr getroffen hatte. Dann überdachte sie mit Gewalt den Sinn der Worte, und sprach lebhaft: „Das hat man nie erfahren.“
Darauf fügte sie nach einer Pause hinzu:
„Die einen sagen, man hätte sie aus dem Tore Porte-Fléchembault mit der Abenddämmerung, andere, mit der Morgenröte aus der Porte-Basée gehen sehen. Ein Armer fand ihr goldenes Kreuz auf dem Felde an einem steinernen Kreuz. Wir alle dachten, als wir das Kreuz weggeworfen sahen, sie habe sich ertränkt.“
„Arme Chantefleurie“, sagte Dudarde bebend. – „Und der kleine Schuh?“ fragte Gervaise. – „Verschwand mit der Mutter.“ – „Armer kleiner Schuh!“
„Und der Wechselbalg?“ fragte Dudarde. – „Welcher Wechselbalg?“ – „Der kleine Zigeuner-Wechselbalg, den die Hexen bei der Chantefleurie zurückließen. Was hat man mit dem angefangen? Ich hoffe, daß Ihr ihn auch ertränkt habt.“ – „Nein.“ – „Vielleicht verbrannt? Das ist gerechter! Ein Hexenkind!“ – „Auch das nicht. Der Herr Erzbischof nahm Interesse an dem Zigeunerkinde, trieb ihm sorgfältig den Teufel aus dem Leibe, segnete es und schickte es nach Paris, wo er es auf der Bank der Findelkinder aussetzen ließ.“
So sprechend waren die drei würdigen Bürgerfrauen auf den Grèveplatz gekommen. In ihr Gespräch vertieft, waren sie mechanisch bei dem öffentlichen Breviarium vorübergegangen und gingen auf den Schandpfahl zu, wo das Gedränge immer stärker wurde. Wahrscheinlich hätten sie bei dem Schauspiel, das gerade jetzt alle Blicke auf sich zog, das Rattenloch vollkommen vergessen und auch, daß sie dort stehen bleiben wollten, wenn der sechsjährige dicke Junge sie nicht plötzlich daran erinnert hätte. „Mutter“, sagte er, als mahne ihn sein Instinkt, das Rattenloch liege hinter ihm, „darf ich jetzt den Kuchen essen?“
Diese unbesonnene Frage erweckte wieder das Gedächtnis der Mahiette.
„Wir vergessen ja“, rief sie aus, „die Klausnerin. Zeigt mir doch euer Rattenloch, daß ich den Kuchen dort hinlege.“ – „Sogleich“, sprach Dudarde, „das ist ja eine fromme Handlung.“
Aber hiervon wollte Eustache nichts wissen. „Hier, mein Kuchen?“ rief er, indem er beide Schultern hob und die Ohren spitzte, was in solchem Fall die höchste Unzufriedenheit bedeutet.
Die drei Frauen kehrten wieder um, und als sie am Hause Tour-Roland standen, sprach Dudarde zu den andern: „Wir dürfen nicht alle drei auf einmal in die Luke sehen, sonst wird die Büßerin böse. Tut ihr beiden, als sprächt ihr das Dominus im Breviarium, während ich die Nase in die Luke stecke. Die Büßerin kennt mich ein wenig. Ich will’s euch schon sagen, wenn Ihr kommen könnt.“
Sie trat allein an die Luke. Im Augenblick, wo sie hineinschaute, malte sich tiefes Mitleid auf ihren Zügen, und ihr frohes und heiteres Gesicht wechselte so plötzlich Ausdruck und Farbe, daß es schien, sie wäre vom Sonnenlicht in Mondlicht hinübergegangen. Ihr Auge ward feucht, dann legte sie den Finger auf die Lippen und gab Mahiette ein Zeichen heranzukommen.
Mahiette trat bewegt und schweigend auf den Fußspitzen hinzu, so wie man dem Bett eines Sterbenden zu nahen pflegt. Auch bot sich wirklich den beiden Frauen, die, ohne sich zu rühren oder zu atmen, in die vergitterte Luke hineinsahen, ein furchtbarer Anblick.
Die Zelle war eng, breiter als tief, im Spitzbogen gewölbt, und glich, von Innen aus gesehen, der Mitra eines Bischofs. Auf dem nackten Stein des Fußbodens saß oder kauerte vielmehr eine Frau in der Ecke. Ihr Kinn stützte sich auf die Knie. Die beiden Arme waren eng über die Brust gekreuzt. Sie war in einen braunen Sack gekleidet, dessen breite Falten sie gänzlich einhüllten. Lange, graue Haare fielen von ihrem Gesicht über die Beine bis auf die Füße. So erschien sie beim ersten Anblick als eine sonderbare, auf dem dunklen Grund der Zelle ausgeschnittene Gestalt, als eine Art schwärzlichen Triangels, den der in die Luke fallende Lichtstrahl in zwei gerade Hälften zerschnitt, wovon die eine dunkler, die andere heller war. Sie glich einem Gespenst, halb im Schlaglicht, halb im Schlagschatten, wie es uns Träume bisweilen vorführen, oder wie man dergleichen auf Goyas schönem Gemälde, blaß, unbeweglich auf einem Grabe sitzend, oder hinter dem Gitter eines Gefängnisses erblickt. Es war weder Mann noch Weib, noch lebendes Wesen, noch bestimmte Gestalt: Es war eine Figur, ein Traumgesicht, in dem Wirklichkeit und Phantasie wie Licht und Schatten zusammenflossen. Kaum erblickte man unter den bis zur Erde hinabhängenden Haaren ein abgemagertes und strenges Profil; kaum ragte unter ihrer Hülle die Spitze eines Fußes hervor, der sich auf dem eiskalten Pflaster krümmte.
Diese gleichsam auf das Pflaster geheftete Gestalt schien weder Bewegung, noch Atem, noch Denkvermögen zu besitzen. In dem dünnen leinenen Sack nackt auf dem Granitpflaster ohne Feuer im Schatten eines Gefängnisses liegend, dessen Öffnung nie die Sonne, sondern nur den kalten Luftzug eindringen ließ, schien sie nicht mehr zu leiden, sogar nichts mehr zu fühlen. Man hätte sagen mögen, sie sei von Stein mit dem Kerker, zu Eis mit dem Winter geworden. Ihre Hände waren gefaltet, ihre Augen blickten starr. Beim ersten Anblick hielt man sie für ein Gespenst, beim zweiten für eine Statue.
Dann und wann öffneten sich ihre blauen Lippen zum Atmen, aber so tot und mechanisch wie Blätter, die der Wind schüttelte. Ihren düsteren Augen entschlüpfte ein unaussprechlicher, tiefer, trauriger, unaufhörlich in den Winkel der Zelle gehefteter Blick und weilte auf einem Gegenstand, den man von außen nicht sehen konnte. Er schien alle Gedanken der verzweifelten Seele auf einen geheimnisvollen Gegenstand zu heften. Dies war das Geschöpf, das den Namen Klausnerin oder Büßerin führte.
Die drei Frauen blickten durch die Luke. Ihre Häupter hielten das Licht vom Gefängnis ab, ohne daß die Unglückliche dies zu bemerken schien. „Stören wir sie nicht“, sprach Dudarde leise; „sie ist in ihrer Verzückung und betet.“
Mahiette aber betrachtete mit immer wachsender Angst das magere, verwelkte Antlitz, und Tränen traten in ihre Augen. – „Das wäre sonderbar“, murmelte sie vor sich hin.
Sie steckte den Kopf durch das Gitter, und so gelang es ihr, den Blick in den Winkel zu werfen, wohin die Unglückliche unaufhörlich schaute. Als sie ihr Haupt zurückzog, war es in Tränen gebadet.
„Wie nennt Ihr die Frau?“ sprach sie zu Dudarde. – „Schwester Gudule“, erwiderte diese. – „Und ich nenne sie Paquette Chantefleurie.“
Sie legte den Finger auf den Mund und gab der Dudarde ein Zeichen, ihren Kopf ebenfalls in die Luke zu stecken und hineinzuschauen. Dudarde tat dies und sah im Winkel, wohin die Klausnerin so düster schaute, einen kleinen rosafarbenen, mit Gold- und Silberblättern gestickten Schuh von Atlas stehen. Gervaise sah auch hinein, und alle drei Frauen begannen, die unglückliche Mutter betrachtend, zu weinen. Allein weder ihre Blicke noch ihr Weinen zogen die Aufmerksamkeit der Klausnerin auf sich. Ihre Hände blieben gefaltet, ihre Lippen stumm, ihr Auge starr, und der kleine so betrachtete Schuh rührte tief das Herz eines jeden, der ihre Geschichte kannte. Die drei Frauen hatten noch kein Wort gesprochen; sie wagten nicht einmal mit leiser Stimme zu reden. Das tiefe Schweigen, der tiefe Schmerz, die vollkommene Vergessenheit alles Äußern, nur nicht eines einzigen Dinges, brachte bei ihnen den Eindruck eines Hochaltars um Ostern oder Weihnachten hervor. Sie waren bereit, auf die Knie zu sinken, und es war ihnen, als träten sie in die Kirche am Tage Tenebrae.
Gervaise endlich, die neugierigste der drei und folglich die weniger gefühlvolle, suchte die Klausnerin zum Reden zu bringen: „Schwester, Schwester Gudule!“ Dreimal wiederholte sie den Ruf mit immer lauterer Stimme. Die Klausnerin aber rührte sich nicht: Kein Wort, kein Blick, kein Seufzer gab ein Lebenszeichen. Dudarde begann dann mit sanfterer Stimme: „Schwester, Schwester Gudule!“ Die Klausnerin blieb stumm und unbeweglich.
„Sonderbare Frau“, sprach Gervaise, „eine Kanone weckt sie nicht auf.“ – „Vielleicht ist sie taub“, sprach Dudarde seufzend. – „Und blind“, fügte Gervaise hinzu. – „Vielleicht ist sie tot“, sagte Mahiette.
Hatte auch die Seele den trägen, schläfrigen Körper noch nicht verlassen, so war sie doch in den Tiefen verborgen, wohin die Wahrnehmungen der äußern Sinne nicht gelangen.
„Wir müssen“, sprach Dudarde, „den Kuchen an der Luke liegen lassen. Aber da wird ihn ein Junge wegnehmen. Wie können wir sie aufwecken?“
Eustache, dessen Aufmerksamkeit bis dahin durch einen kleinen, von einem großen Hunde gezogenen Wagen in Anspruch genommen wurde, sah plötzlich, daß seine drei Führerinnen in die Luke schauten. Da ward auch er neugierig, stieg auf einen Markstein, stellte sich auf die Fußspitzen, hielt sein breites, rosenrotes Gesicht an die Luke und rief: „Mutter, ich will auch sehen!“
„Guten Tag, Frau!“ sprach das Kind mit Würde.
Die Erschütterung hatte die Klausnerin aufgestachelt. Ihre Glieder zitterten von Kopf bis zu Füßen, ihre Zähne klapperten, sie hob halb ihr Haupt, drückte die Ellenbogen gegen die Hüften, nahm die Füße in die Hand, als wollte sie sie wärmen und sprach: „Oh, die große Kälte!“
„Arme Frau“, sagte Dudarde voll Mitleid, „wollt Ihr ein wenig Feuer?“ – Sie schüttelte den Kopf. Dudarde reichte ihr ein Fläschchen mit den Worten: „Hier ist Muskateller, Euch zu wärmen. Trinkt!“ – Sie schüttelte aufs neue mit dem Kopfe, betrachtete Dudarde mit festem Blick und erwiderte: „Wasser.“
Dudarde blieb bei ihrem Anerbieten. „Nein, Schwester, das ist kein Trunk im Januar. Ihr müßt ein wenig Muskateller trinken und diesen Kuchen, den wir für Euch zugerichtet haben, essen.“
Sie wies den Kuchen, den Mahiette ihr reichte, zurück, und sprach: „Schwarzes Brot!“
„Kommt“, sprach Gervaise, die jetzt auch mitleidig ward und ihren wollenen Überrock von den Schultern nahm, „dieser Überrock ist wärmer als der Eure, legt ihn Euch auf die Schultern.“
Sie wies den Überrock zurück und sprach: „Einen Sack!“
„Ihr müßt doch merken, daß gestern ein Festtag war“, sprach die gutmütige Dudarde. – „Ich merke es schon“, war die Antwort; „zwei Tage war kein Wasser in meinem Krug.“ Dann fügte sie nach einer Pause hinzu: „An Festtagen vergißt man mich. Ganz recht! Warum sollte die Welt meiner gedenken, da ich die Welt vergaß. Kalte Asche gehört zu erloschener Kohle.“
Und als wäre sie ermüdet, so viel gesprochen zu haben, ließ sie das Haupt wieder auf die Brust sinken. Die einfache, mitleidige Dudarde glaubte, in den letzten Worten klage sie über Kälte und erwiderte naiv: „Wollt Ihr denn etwas Feuer haben?“ – „Feuer!“ sprach die Büßerin mit sonderbarem Ton; „wollt Ihr auch der armen Kleinen etwas Feuer geben, die schon fünfzehn Jahre unter der kalten Erde liegt?“
Ihre Glieder zitterten; ihre Stimme bebte, ihre Augen glänzten und sie erhob sich auf die Knie; dann streckte sie plötzlich ihre mageren, weißen Hände zu dem Kinde, das sie erstaunlich anblickte. „Bringt es fort“, rief sie aus, „die Zigeunerin kommt.“
Darauf fiel sie mit dem Gesicht auf die Erde, und ihre Stirn fuhr auf die Steinplatte, wie ein Stein auf den andern. Dann stand sie auf, und die drei Frauen sahen, wie sie mit den Knien und Ellbogen in den Winkel rutschte, wo der kleine Schuh stand. Sie wagten nicht mehr hinzublicken, aber vernahmen tausend Küsse und Seufzer, gemischt mit herzzerreißenden Schreien und dem dumpfen Schall eines Hauptes, das gegen die Mauer stößt; endlich vernahmen sie einen so lauten Stoß, daß sie alle drei wankten, und es folgte eine tiefe Stille.
„Ach! Hat sie sich getötet?“ sprach Gervaise und wagte es, den Kopf durch das Gitter zu stecken. „Schwester Gudule! Schwester Gudule!“ rief Dudarde. – „Oh Gott“, sprach Gervaise, „sie rührt sich nicht! Sie scheint tot! Gudule! Gudule!“
Mahiette konnte vor Schluchzen nicht reden. Sie raffte sich zusammen und sagte: „Wartet.“ Dann legte sie sich an das Gitter und rief: „Paquette! Paquette Chantefleurie!“
Ein Kind, welches ohne Arg die nicht genug angezündete Lunte einer Petarde anbläst, bis diese plötzlich dicht vor seinen Augen losbricht, kann nicht heftiger erschrecken als Mahiette bei der Wirkung des plötzlich in die Zelle gerufenen Namens.
Die Klausnerin zitterte, erhob sich auf die nackten Füße und sprang mit so heftig flammenden Augen an die Luke, daß alle drei Frauen mit dem Kinde bis an die Brüstung des Kais zurückfuhren. Die unheilvolle Gestalt der Klausnerin schien aber an das Gitter geheftet. „Oh!“ rief sie mit schaudervollem Gelächter, „die Zigeunerin ruft mich.“ Ihr starres Auge erblickte eine Szene am Schandpfahl. Ihre Stirn zog sich in Runzeln, sie streckte ihre Skelettarme durch das Gitter und schrie mit einer Stimme, die dem Stöhnen glich: „Du also rufst mich, Tochter Ägyptens? Diebin der Kinder! Sei verflucht, verflucht, verflucht!“
23. Eine Träne für einen Tropfen Wasser
Diese Worte wurden der Vereinigungspunkt zwischen zwei Szenen, die sich bis dahin in demselben Augenblick parallel, jede auf ihrem besonderen Schauplatz, entwickelt hatten; die eine am Rattenloch, wie wir es eben beschrieben, die andere am Schandpfahl. Zeugen der ersteren waren nur die drei Frauen, deren Bekanntschaft der Leser soeben gemacht hat; für die zweite hatte sich, wie wir gesehen haben, ein Publikum von Zuschauern um den Schandpfahl und den Galgen des Grèveplatzes versammelt.
Dies Volk, an das Warten bei öffentlichen Strafvollstreckungen schon gewöhnt, äußerte keine große Ungeduld. Es vertrieb sich die Zeit mit Beschauen des Schandpfahls, eines sehr einfachen Bauwerks, das nur aus einem gemauerten, inwendig hohlen Würfel von zehn Fuß Höhe bestand. Eine steile, steinerne Treppe führte zur oberen Fläche, worauf man ein liegendes Rad von Eichenholz erblickte. Die armen Sünder band man, die Hände auf dem Rücken und auf den Knien liegend, an dies Rad. Ein Stiel, der eine Winde im Innern des Rades in Bewegung setzte, brachte dieses zum Drehen in horizontaler Richtung, so daß das Gesicht des Verurteilten allmählich nach allen Seiten des Platzes hin gezeigt wurde.
Endlich erschien der arme Sünder, gebunden auf einem Karren. Als man ihn auf die Platte gehoben hatte, so daß man ihn von allen Seiten her sehen konnte, als man ihn darauf mit Stricken auf das Rad band, entstand ein scharfes, mit Lachen und Zuruf untermischtes Gezisch. Man hatte Quasimodo erkannt. Er war es wirklich, und seine Wiedererscheinung war sonderbar. Auf demselben Platze, wo man ihn gestern mit lautem Zuruf begrüßt hatte, sollte er an den Schandpfahl gestellt werden. Bald gebot Michel Noiret, geschworener Trompeter des Königs, den Zuschauern Schweigen und las nach Befehl und Anordnung des Herrn Prévot das Urteil vor. Dann ging er wieder hinter den Karren mit seinen Leuten zurück.
Quasimodo schien ganz unempfindlich und runzelte nicht einmal die Stirn. Wegen der Heftigkeit und Festigkeit der Bande war jeder Widerstand unmöglich geworden, d. h., Riemen und Kettchen drangen ihm bis ins Fleisch. Er hatte sich treiben, stoßen, knebeln lassen. Auf seinem Antlitz konnte man nur das Erstaunen eines Wilden oder Blödsinnigen erkennen. Man wußte, daß er taub war; jetzt konnte man ihn auch für blind halten. Man warf ihn kniend auf das runde Brett; er ließ es geschehen; man zog ihm Hemd und Wams bis zum Gürtel aus; er ließ es geschehen; man band ihn aufs neue mit Riemen; er ließ sich ruhig knebeln. Nur bisweilen keuchte er laut wie ein Kalb, dessen Kopf vom Wagen des Schlächters herabhängt.
„Der Esel“, sprach Jehan Frollo du Moulin zu Robin Poussepain, seinem Freunde (beide Studenten waren, als verstehe sich das von selbst, dem armen Sünder gefolgt); „er merkt von alledem gar nichts, wie ein Maikäfer in der Schachtel.“
Ein lautes Lachen erhob sich in dem Volke, als man Quasimodos Höcker, Kamelbrust und schwielige, haarige Schultern erblickte. Während dieses fröhlichen Gelächters stieg ein Diener der Stadt von kurzem Wuchs und starkem Oberkörper auf die Platte und stellte sich neben Quasimodo. Sein Name war bald im Munde der Zuschauer. Es war Meister Pierrat Torterue, geschworener Folterer des Châtelet.
Auf eine Ecke des Schandpfahls stellte er eine schwarze Sanduhr, deren obere Kapsel mit rotem Sand gefüllt war, der in den unteren Behälter langsam hinabrann; dann zog er sein Oberkleid aus, hängte über seine rechte Hand eine dünne Peitsche mit langen, weißen, blanken, knotigen, geflochtenen Riemen, am unteren Ende mit Metallknöpfchen. Mit der linken Hand krempelte er nachlässig sein Hemd über den rechten Arm bis zur Achselhöhle.
Jehan Frollo erhob unterdessen sein blondes, lockiges Haupt über dem Gedränge (er war auf Poussepains Schulter gestiegen) und schrie laut: „Herren und Damen, schaut her! Quasimodo wird exemplarisch gepeitscht! Er ist der Glöckner meines Bruders, des Archidiakonus, ein Schelm orientalischer Architektur, mit der Kuppel auf dem Rücken und mit gedrehten Säulen statt der Beine!“ Und das Volk fing laut an zu lachen, besonders die Kinder und die hübschen Mädchen.
Endlich stieß der Folterer mit dem Fuße; das Rad drehte sich. Quasimodo wankte unter seinen Banden. Das dumme Staunen auf seinem mißgestalteten Gesicht erweckte aufs neue lautes Gelächter. Plötzlich als das Rad im Umdrehen dem Meister Pierrat den hügeligen Rücken Quasimodos zeigte, erhob Meister Pierrat den Arm; die dünnen Riemen pfiffen scharf durch die Luft wie eine Handvoll Nattern und fielen mit Wucht auf die Schultern des Unglücklichen. Quasimodo schüttelte sich, als wäre er plötzlich aufgewacht. Er fing an, seine Lage zu begreifen, krümmte sich unter seinen Banden; Überraschung und Schmerz zog alle Muskeln seines Gesichts zusammen; er stieß aber nicht einen Seufzer aus; nur drehte er den Kopf nach allen Seiten hin und schwankte, wie ein durch Bremsen gestochener Stier. Ein zweiter Schlag folgte dem ersten, dann ein dritter und so fort. Das Rad hörte nicht auf sich zu drehen, und die Schläge regneten. Bald sprang Blut hervor, man sah es über die schwarzen Schultern des Buckligen rieseln, und die fadenartigen Riemen sprengten es, durch die Luft peitschend, in Tropfen über das Volk.
Quasimodo war, wenigstens scheinbar, in seine frühere Unempfindlichkeit zurückgesunken. Anfangs versuchte er, ohne große Anstrengung, die Bande zu zerreißen. Da aber flammte sein Auge, seine Muskeln wurden gespannt, seine Glieder stemmten sich, und gespannt wurden Riemen und Kettchen. Die Anstrengung war wunderbar, verzweifelt; allein die starken Bande der Prévoté widerstanden. Sie krachten nur. Quasimodo sank erschöpft zurück. Der blöde Ausdruck seines Antlitzes wich dem bittern Gefühl der Entmutigung. Er schloß sein einziges Auge, ließ das Haupt auf die Brust sinken und glich einem Toten. Dann rührte er sich nicht mehr. Der Schmerz entriß ihm keine Bewegung; weder sein rinnendes Blut, noch die stets heftigeren Schläge, noch der Zorn des Folterers, der bis zum Rausche stieg, noch das Pfeifen der furchtbaren Geißel vermochte ihn aufzuregen. Endlich streckte ein schwarzgekleideter Häscher des Châtelet, der zu Pferde neben der Leiter seit dem Anfang der Exekution saß, eine Rute von Ebenholz nach der Sanduhr aus. Folterer und Rad hielten an; Quasimodos Auge öffnete sich langsam. Die Geißelung war beendet.
Zwei Knechte des geschworenen Folterers wuschen ihm die Schultern, rieben sie mit einer Salbe, die sogleich alle Wunden schloß, und warfen ihm einen als Meßgewand zugeschnittenen gelben Schurz über die Schultern. Pierrat Torterue ließ unterdes die mit Blut gefüllte Geißel auf dem Pflaster abträufeln. Für Quasimodo war aber noch nicht alles vorbei. Er mußte noch die Stunde am Schandpfahl aushalten, die Meister Florian Barbedienne so scharfsinnig zum Urteil des Prévot hinzugefügt hatte, und zwar ganz allein zum größeren Ruhme des alten physiologischen und psychologischen Wortspiels von Jean de Cumène: Surdus absurdus. Man drehte die Sanduhr um und band den Buckligen vom Brett nicht los, damit Gerechtigkeit bis zum Ende geschehe.
Wir sagten schon, daß Quasimodo allgemein gehaßt ward, und zwar aus guten Gründen. Im Gedränge war kein Zuschauer, der nicht Ursache zur Klage über den bösen Hinkenden von Notre-Dame zu haben glaubte. Die Freude war allgemein, daß er am Schandpfahl stand. Die harte Geißelung, die er erlitt, und die demütige Stellung, worin sie ihn ließ, war eben nicht dazu geeignet, die Zuschauer milder zu stimmen, im Gegenteil, ihr Haß ward dadurch boshafter, denn er waffnete sie mit der Spitze des Spottes. Als nun das Rechtsgefühl der Menge befriedigt war, kam die Reihe der Rache an die einzelnen. Hier besonders, wie früher im Saale des Palais, brachen die Weiber zuerst los. Alle grollten ihm, teils ob seiner Bosheit, teils ob seines häßlichen Gesichts; die letzteren waren die wütendsten.
„Oh, Maske des Antichrist“, rief die eine. – „Ritter vom Besenstiel“, rief die andere. – „Tragische Fratze“, heulte eine dritte, „sie machte dich zum Narrenpapst, wäre gestern heute!“ – „Das ist die Fratze des Schandpfahls“, sagte ein altes Weib, „bald kommt bei dir die Fratze des Galgens!“ – „Verfluchter Glöckner, als Kopfputz gebührt dir deine dicke Glocke!“ – „Tauber, Einäugiger, Buckliger, Wechselbalg!“ – „Du bringst die Frauen zu Fehlgeburten, mehr als alle Ärzte und Apotheker!“ – Schimpfwörter, Gezisch, Steine regneten von allen Seiten. Quasimodo war taub, sah aber deutlich genug, denn der Ausdruck der Wut zeigte sich nicht weniger auf den Gesichtern wie in den Worten. Übrigens erklärten die Steinwürfe genugsam das Gelächter.
Anfangs hielt er aus; allein die Geduld, die unter der Geißel erstarrte, wich bei allen den Insektenstacheln. Er glich einem asturischen Stier, der bei dem Stacheln des Pikador ruhig bleibt, aber über Hunde und Banderillos wütend wird. Zuerst ließ er einen drohenden Blick über das Volk schweifen. Da er aber geknebelt war, vermochte der Blick die Fliegen nicht zu verjagen, die ihn in die Wunde stachen. Dann regte er sich unter seinen Banden, und unter seinen wütenden Stößen krachten die Bretter des alten Rades. Da mehrte sich noch Geschrei und Lachen.
Als der Unglückliche sein Kettenhalsband nicht zerbrechen konnte, ward er wieder ruhig; nur dann und wann schwoll die Höhlung seiner Brust unter diesem Seufzer. Auf seinem Antlitz zeigte sich weder Scham noch Röte. Er stand der menschlichen Gesellschaft zu fern, um Scham zu kennen. Wird aber Schande bei solcher Entstellung empfunden? Zorn, Haß, Verzweiflung senkten auf dies scheußliche Antlitz eine immer düsterere Wolke, deren Elektrizität in tausend Blitzen aus dem Auge des Zyklopen sprühte. Die Wolke verflog auf einen Augenblick, als ein Priester auf einem Maultier vorüberritt. Quasimodos Antlitz ward sanfter, als er diesen von fern erblickte. Auf Wut folgte ein sonderbares Lächeln, voll Sanftmut und Zärtlichkeit. Je näher der Priester heranritt, ward das Lächeln deutlicher und strahlender. Es deutete auf einen Erretter, den der Unglückliche begrüßte. Als aber das Maultier nahe am Schandpfahl hielt, so daß der Reiter den Patienten erkennen konnte, schlug er die Augen nieder, kehrte um und spornte das Maultier in beiden Seiten, als wolle er sich von erniedrigenden Anreden befreien und kümmere sich wenig, ob ihn ein armer Teufel in solcher Stellung erkenne. Dieser Priester war der Archidiakonus Dom Claude Frollo.
Die Wolke lagerte sich noch finsterer auf Quasimodos Stirn. Mit ihr mischte sich wohl noch ein Lächeln, aber ein bitteres, entmutigtes Lächeln der tiefsten Trauer. Die Zeit entschwand! Schon beinahe wieder eine Stunde stand er dort zerfleischt, mißhandelt, unaufhörlich verhöhnt und fast gesteinigt. Plötzlich regte er sich aufs neue unter seinen Ketten mit doppelter Verzweiflung, so daß das ganze Gerüst, das ihn hielt, erbebte; er brach das bisher von ihm standhaft beobachtete Schweigen und schrie mit heiserer Stimme, welche Hundegebell und kein menschlicher Laut zu sein schien, aber allen Lärm übertönte: „Wasser! Einen Trunk!“
Dieser Notruf, weit davon entfernt, Mitleid zu erregen, erhöhte noch die Munterkeit des guten Pariser Pöbels, der die Stufen umringte, und der damals (wir müssen die Wahrheit berichten) ebenso grausam und viehisch dumm wie der furchtbare Stamm der Gauner war, in den wir unsere Leser schon einführten, und der gerade nur aus der niedrigsten Hefe des Volkes bestand. Keine Stimme erhob sich rings um den unglücklichen Dulder, als die des Spottes über seinen Durst. Gewiß war er auch in dem Augenblick weit scheußlicher und abstoßender als je; sein Gesicht, hochrot, triefte von Schweiß; sein Auge blickte wirr, sein Mund schäumte aus Zorn und Schmerz, seine Zunge hing ihm halb aus dem Halse. Auch müssen wir noch hinzufügen, daß, selbst wenn unter den Zuschauern ein mitleidiges Herz sich gefunden hätte, bereit, dem Unglücklichen ein Glas Wasser zu bringen, ein solches Vorurteil der Schande und Schmach die Stufen des Schandpfahls umgab, daß selbst der barmherzige Samariter zurückgeschrocken wäre.
Nach einigen Minuten ließ Quasimodo über die Menge den Blick der Verzweiflung schweifen, und wiederholte mit noch herzzerreißenderer Stimme den Ruf nach Wasser. Alle begannen zu lachen. „Trink dies!“ schrie Robin Poussepain, indem er ihm einen Schwamm ins Gesicht warf, den er durch den Rinnstein gezogen hatte. „Tauber Wechselbalg, ich bin dein Schuldner.“ Eine Frau warf ihm einen Stein an den Kopf mit den Worten: „Das lehrt dich, uns des Nachts mit deinem verdammten Geläut zu wecken.“
„Sohn des Teufels“, rief ein Krüppel, indem er sich bemühte, ihn mit seiner Krücke zu erreichen, „willst du uns noch von deinem Turme her behexen?“ – „Hier ist ein Napf zum Trinken“, rief ein anderer, indem er ihm einen zerbrochenen Napf auf die Brust warf; „du bist schuld, daß meine Frau mit einem zweiköpfigen Kinde niederkam.“ – „Und daß meine Katze ein Kätzchen mit sechs Pfoten warf“, schrie ein altes Weib und warf ihn mit einem Dachziegel.
„Wasser!“ rief Quasimodo zum drittenmal keuchend.
In dem Augenblick machte die Menge Platz. Ein junges sonderbar gekleidetes Mädchen trat heraus, begleitet von einer Ziege mit vergoldeten Hörnern. Sie hielt ein baskisches Tamburin in der Hand. Quasimodos Auge funkelte. Es war dieselbe Zigeunerin, die er in der vorhergehenden Nacht hatte entführen wollen, und er fühlte undeutlich, daß er eben wegen dieses Streiches jetzt bestraft wurde; übrigens war dies noch der geringste Grund seiner Züchtigung; denn zugleich mußte er Strafe wegen des Unglücks leiden, als Tauber von einem Schwerhörigen verhört zu werden. Er zweifelte nicht, sie wollte sich auch rächen und ihm, wie die andern, auch einen Fußtritt geben. Schweigend ging sie auf Quasimodo zu, der sich vergeblich krümmte, ihr zu entgehen. Sie nahm ihre Kürbisflasche aus ihrem Gürtel und hielt sie an die brennenden Lippen des Unglücklichen. Da sah man, wie aus dem brennenden, trockenen Auge eine dicke Träne hinabrollte und langsam das von Verzweiflung so entstellte Antlitz hinunterfloß. Es war vielleicht die erste, die der Unglückliche jemals vergossen hatte. Dennoch vergaß er zu trinken. Die Zigeunerin schnitt ungeduldig ihr kleines Mäulchen und hielt lächelnd den Hals der Flasche an die Zähne Quasimodos. Er trank in langen Zügen; sein Durst war glühend.
Als er getrunken hatte, streckte der Unglückliche seine schwarzen Lippen aus, wahrscheinlich die schöne Hand zu küssen, die ihn in seiner Trübsal geholfen hatte. Allein das junge Mädchen schien, sich vielleicht an die gestrige Nacht erinnernd, mißtrauisch zu sein und zog ihre Hand, erschrocken wie ein Kind, das von einem Tier gebissen zu werden fürchtet, zurück. Da heftete der Arme einen Blick voll unaussprechlichen Schmerzes und voll Vorwurfs auf das Mädchen. Überall hätte es jegliches Herz gerührt, als ein so schönes, frisches, reines, liebliches und schwaches Mädchen voll Erbarmen solchem Unglück, solcher Mißgestalt und Bosheit zu Hilfe eilte. Beim Schandpfahl war es erhaben. Auch ward das Volk betroffen, klatschte in die Hände und erhob ein Beifallgeschrei. In diesem Augenblick sah die Klausnerin die Zigeunerin aus der Luke ihres Lochs und warf ihr den unheilvoll tönenden Ausruf zu: „Tochter Ägyptens, sei verflucht, verflucht, verflucht!“
Esmeralda erblaßte und stieg die Stufen des Schandpfahles hinab. Die Stimme der Klausnerin verfolgte sie aber mit dem Rufe: „Steige nur hinab, Räuberin Ägyptens, bald wirst du wieder hinaufsteigen.“
„Die Klausnerin hat ihre verrückten Einfälle“, murmelte das Volk, aber dabei blieb es; denn jene Frauen wurden gefürchtet, weil sie gewissermaßen geheiligt waren. Damals griff man diejenigen nicht gern an, welche Tag und Nacht beteten.
Die Stunde war gekommen, Quasimodo fortzuführen. Man band ihn los, und die Menge zerstreute sich.
Bei der Hauptbrücke blieb Mahiette, die mit ihren Gefährtinnen auch nach Hause ging, plötzlich stehen. „Eustache“, sprach sie, „was hast du mit dem Kuchen gemacht?“
„Mutter“, sprach das Kind, „während du mit der Dame im Loch sprachst, kam ein großer Hund und biß in den Kuchen; da aß ich auch.“ – „Was, Junge, du hast ihn ganz gegessen?“ – „Mutter, es war der Hund; ich sagte ihm, er sollte es lassen, aber er wollte nicht hören. Da habe ich auch nur eben hineingebissen.“
24. Es ist gefährlich, einer Ziege ein Geheimnis anzuvertrauen
Mehrere Wochen waren seitdem verflossen. Es war Anfang März und die Sonne strahlte lustig und heiter.
Der hohen und von der Abendsonne geröteten Kathedrale gegenüber lachten und schäkerten einige schöne Mädchen auf einem steinernen Balkon über dem Tore eines prächtigen gotischen Hauses, an der Straßenecke des Platzes und der Rue de Parvis. An der Länge ihres Schleiers, der, mit Perlenschnüren von der Spitze ihres Kopfschmucks durchzogen, bis zu den Fersen hinabsank, an der Feinheit des gestickten Oberhemdchens, das ihre Schultern bedeckte und nach damaliger angenehmer Mode den entstehenden jungfräulichen Busen durchschimmern ließ, am Reichtum ihrer Unterkleider, die damals prächtiger waren als der Oberrock (welche wunderbare Wahl!), an Gaze, Seide, Samt und hauptsächlich an der Weiße ihrer Hände, die ihren Müßiggang bezeugten, erkannte man sie als reiche und edle Erbinnen. Es war Fleur-de-Lys von Gondelaurier mit ihren Gefährtinnen, Diane von Christeuil, Amelotte von Montmichel, Colombe von Gaillefontaine und die kleine Champchevrier, Mädchen von hoher Geburt, die in dem Augenblick bei der verwitweten Dame Gondelaurier versammelt waren, weil der Herr von Beaujeu, und Madame, Tochter des Königs, seine Frau, im April nach Paris kommen sollten, um dort die Ehrendamen für die Frau Dauphine auszuwählen, wenn man sie in der Picardie aus den Händen der Flamländer empfangen würde. Da bewarben sich alle Junker aus dreißig Stunden in der Runde um diese Ehre für ihre Töchter, und viele hatten diese schon nach Paris geführt oder geschickt. Jene waren der verständigen und achtbaren Obhut der Frau Aloise de Gondelaurier, der Witwe eines Meisters der Armbrustschützen des Königs, anvertraut, die mit ihrer einzigen Tochter in ihrem Hause am Platze von Notre-Dame zurückgezogen wohnte.
Der Balkon, auf dem die Mädchen saßen, öffnete sich auf ein mit flandrischem, gelbem, mit Goldlaub bedrucktem Leder reich tapeziertes Zimmer. Im Hintergrunde saß die Dame Gondelaurier in einem prächtigen Sessel mit rotem Samt, vor einem von oben bis unten mit Wappen bedeckten Kamin. Ihre fünfzig Jahre waren nicht weniger auf ihrem Gesicht als auf ihrem Kleide gezeichnet. Neben ihr stand ein junger Mann mit stolzen, obgleich eitlen und prahlerischen Zügen, ein schöner Jüngling, einer von denen, die alle Frauen bewundern, während ernste Männer, die sich auf Physiognomien verstehen, die Achseln über sie zucken. Der junge Ritter trug das glänzende Kleid eines Hauptmanns der Häscher von der Ordonnanz des Königs.
Die Mädchen saßen teils im Zimmer, teils auf dem Balkon. Jede hielt auf den Knien ein großes Stück Nadelstickerei, woran alle gemeinschaftlich arbeiteten. Sie flüsterten untereinander mit halbersticktem Lachen, wie es Mädchen zu tun pflegen, wenn ein junger Mann sich in ihrer Gesellschaft befindet. Der junge Mann, dessen Gegenwart jede weibliche Eigenliebe in Bewegung setzte, schien sich wenig darum zu bekümmern; während die schönen Mädchen sich bemühten, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, schien er allein beschäftigt, mit seinem hirschledernen Handschuh die Schnallenzunge seines Gürtels zu putzen. Von Zeit zu Zeit sprach die alte Dame leise zu ihm; dann antwortete er, so gut es ging, mit etwas gezwungener, linkischer Artigkeit. An dem Lächeln und den Zeichen der Frau Aloise, an den Blicken, die sie ihrer Tochter zuwarf, während sie dem Hauptmann etwas zuflüsterte, merkte man, daß es sich um eine schon stattgefundene Verlobung und eine baldige Heirat zwischen dem jungen Mann und Fleur-de-Lys handelte. An der kalten Verlegenheit des Offiziers konnte man leicht bemerken, daß seinerseits von Liebe nicht die Rede war. Auf seinem Antlitz lag der Ausdruck des Zwanges und der Langeweile, die unsere jetzigen Unterleutnants bewunderungswürdig mit „Hunde-Frondienst“ übersetzen würden.
Die gute Dame bemerkte nicht den geringen Enthusiasmus des Offiziers; denn sie war in ihre Tochter nicht wenig verliebt; sie gab sich alle mögliche Mühe, ihn auf die unendliche Vollkommenheit aufmerksam zu machen, womit Fleur-de-Lys die Nadel führte oder ihr Knäuel abwickelte. „Seht doch, kleiner Vetter“, sagte sie ihm ins Ohr, ihn am Ärmel zupfend, „sie bückt sich!“ – „Ja“, antwortete der junge Mann, und verfiel wieder in sein kaltes Schweigen. Nach einem Augenblick mußte er sich aufs neue zu ihr neigen, denn Dame Aloise sprach: „Saht Ihr jemals eine schönere und anmutigere Gestalt als Eure Braut? Gibt es ein weißeres oder blonderes Mädchen? Sind das nicht vollkommene Hände? Zeigt der Hals nicht alle Formen des Schwanes? Wie beneide ich Euch bisweilen! Wie glücklich seid Ihr, trotz Eures Mutwillens! Nicht wahr, Fleur-de-Lys ist anbetungswürdig, und Ihr seid in sie verliebt?“
„Gewiß“, erwiderte er, indem er an etwas anderes dachte. „Aber sprecht doch mit ihr“, sagte plötzlich Madame Aloise, ihn an der Schulter rüttelnd; „ihr seid ja so blöde geworden.“
Blödigkeit war nun weder eine Tugend, noch ein Fehler des Hauptmanns. Er machte einen Versuch, jenes Verlangen zu erfüllen. „Schöne Kusine“, sprach er, an Fleur-de-Lys herantretend, „was ist das für eine Stickerei?“ – „Schöner Vetter“, erwiderte Fleur-de-Lys in ärgerlichem Tone, „ich sagte es Euch schon dreimal, das ist des Neptuns Grotte.“ Offenbar durchschaute Fleur-de-Lys den Grund des kalten, zerstreuten Benehmens des Hauptmanns deutlicher als ihre Mutter. Der Hauptmann fühlte die Notwendigkeit, etwas zu sagen.
„Für wen ist die Neptunerie bestimmt?“ – „Für die Abtei St. Antoine-des-Champs“, sprach Fleur-de-Lys, ohne die Augen aufzuschlagen. Der Hauptmann nahm einen Zipfel der Stickerei in die Hand: „Wer ist der dicke Gendarm, Kusine, der mit vollen Backen in die Trompete bläst?“ – „Triton, Vetter.“
In der Betonung der kurzen Worte der Fleur-de-Lys lag etwas Schmollendes. Der junge Mann sah ein, daß er eine Abgeschmacktheit, eine Galanterie, kurz irgend etwas ihr ins Ohr sagen mußte. Er bückte sich, konnte aber in seiner Einbildungskraft nichts Zärtlicheres und Zutraulicheres finden, als: „Warum trägt Eure Mutter denn immer einen Wappenrock nach Art unserer Großmütter zu Karls VII. Zeiten? Sagt ihr doch, schöne Kusine, daß dies jetzt nicht mehr elegant ist, und daß die gestickte Türangel mit dem Lorbeerzweig auf ihrem Rock ihr das Ansehen einer umherwandelnden Kamindecke gibt. Wahrhaftig, so setzt man sich nicht mehr auf sein Wappen; ich schwör’ es Euch.“
Fleur-de-Lys erhob ihre schönen Augen mit dem Ausdruck des Vorwurfs und sprach leise: „Weiter schwört Ihr mir nichts?“ Die gute Dame Aloise aber, entzückt, daß beide sich so übereinanderbeugten und flüsterten, sprach, mit den Schnallen ihres Gebetbuches spielend: „Wie rührend, welche rührende Liebe!“
Der Hauptmann, der immer größeren Zwang empfand, kam wieder auf die Stickerei: „Wahrhaftig, eine schöne Arbeit!“ rief er aus. Bei dieser Gelegenheit wagte Colombe de Gaillefontaine, eine andere schöne Blondine mit weißer Haut, die bis über den Hals in blauem Damast gehüllt war, eine blöde Frage, die sie an Fleur-de-Lys in der Hoffnung richtete, der Hauptmann werde antworten: „Liebe Gondelaurier, saht Ihr schon die Tapeten im Hotel de la Roche-Guyon?“
„Nicht wahr, das ist das Hotel mit dem Garten des Louvre?“ fragte lachend Diane de Christeuil; denn sie hatte schöne Zähne und lachte folglich bei jedem Satz. – „Wo der dicke alte Turm aus der alten Stadtmauer von Paris steht?“ fügte Amelotte de Montmichel hinzu, eine hübsche, lockige frische Brünette, die, ohne zu wissen warum, wie die andere lachte, zu seufzen pflegte. – „Liebe Colombe“, sagte Dame Aloise, „wollt Ihr nicht von dem Hotel des Herrn von Bacqueville unter der Regierung Karls VI. sprechen? Da sind wirklich schöne Haute-lisse-Tapeten.“ – „Karl VI.!“ brummte der junge Hauptmann und zog seinen Schnurrbart in die Höhe. „Gott! Die gute Dame spricht von alten Geschichten!“ – Dame Gondelaurier fuhr fort: „Wirklich, schöne Tapeten! So kostbare Arbeit, daß sie für ganz einzig gilt!“
In dem Augenblick rief Bérangère de Champchevrier, ein schlankes, kleines Mädchen von sieben Jahren, die durch das Geländer des Balkons auf den Platz schaute: „Oh, schöne Patin, Fleur-de-Lys, seht die hübsche Tänzerin dort auf dem Pflaster, die mitten unter den Bürgern das Tambourin spielt.“
Man vernahm den hellen Ton der baskischen Trommel. „Das ist eine Zigeunerin“, sprach Fleur-de-Lys, indem sie sich nachlässig auf dem Platz hinwandte.
„Kommt! Kommt!“ riefen ihre lebhaften Gefährtinnen und liefen sämtlich an den Rand des Balkons, während Fleur-de-Lys, nachsinnend über die Kälte ihres Verlobten, langsam folgte, und während der Hauptmann, erleichtert durch diesen Zufall, der ein ihm lästiges Gespräch abschnitt, in den Hintergrund des Zimmers zurückkehrte und zufrieden aussah wie ein Soldat, der sich freut, von seinem Dienst abgelöst zu werden. Aber er versah einen artigen und angenehmen Dienst bei der schönen Fleur-de-Lys, und so hatte es ihm auch früher geschienen. Allmählich ward er aber abgestumpft, und die Aussicht auf eine nahe Heirat machte ihn täglich kälter. Übrigens war er auch unbeständiger Laune, und weil wir die Wahrheit berichten, müssen wir auch gestehen, daß er einen etwas gewöhnlichen Geschmack besaß. Ob auch von sehr edler Geburt, hatte er unter dem Harnisch manche Gewohnheit alter Soldaten angenommen. Die Trinkstube, und was dazu gehört, liebte er sehr. Er fand seine Behaglichkeit nur unter Zoten, militärischen Galanterien, gefälligen Schönheiten und leichten Erfolgen. Von seiner Erziehung hatte er zwar noch einiges beibehalten; allein er hatte zu jung das Land durchstreift, hatte zu jung in Garnisonen gelegen, und täglich erlosch immer mehr der Firnis des Edelmanns unter dem Wehrgehenk des Gendarmen. Ob er auch Fleur-de-Lys wegen eines Restes von Achtung noch von Zeit zu Zeit besuchte, fühlte er bei ihr doppelten Zwang; erstens weil er sehr wenig Liebe für sie übrig hatte, da er diese in Orten jeglicher Art früher zerstreute; zweitens weil er, mitten unter so vielen steifen, geschnürten und sehr anständigen Damen unaufhörlich zitterte, sein an Flüche gewöhnter Mund möchte plötzlich das Gebiß zwischen die Zähne nehmen und mit Zechredensarten durchgehen. Übrigens mischte sich alles dies bei ihm mit großem Anspruch auf Eleganz, gutes Aussehen und schönen Anzug.
Er stand also nachdenklich oder auch gedankenlos am Kamin und stützte sich auf das Gesims, als Fleur-de-Lys, sich plötzlich umwendend, ihn anredete. Das arme Mädchen schmollte nur mit widerstrebendem Herzen.
„Schöner Vetter, spracht Ihr nicht von einer Zigeunerin, die Ihr vor zwei Monaten aus den Händen von einem Dutzend Räubern rettetet?“ – „Ja, ich glaube, schöne Kusine.“ – „Nun, vielleicht ist es die Zigeunerin, die dort auf dem Platze tanzt. Kommt, ob Ihr sie erkennt, schöner Vetter.“
Diese sanfte Einladung, zu ihr zu kommen, die sie an ihn richtete, verbarg den geheimen Wunsch, sich mit ihm wieder zu versöhnen. Der Hauptmann Phoebus de Chateaupers (denn dieser steht seit Anfang des Kapitels dem Leser vor Augen) ging langsam auf den Balkon zu. – „Seht“, sagte Fleur-de-Lys und legte ihre Hand zärtlich auf den Arm des Hauptmanns, „die Kleine, die dort tanzt. Ist das Eure Zigeunerin?“
Phoebus sah hin und sagte: „Ja, ich glaube, ich erkenne die Ziege.“ – „Oh, die kleine schöne Ziege!“ sprach Amelotte und faltete aus Bewunderung die Hände. „Sind ihre Hörner wirklich von Gold?“ fragte Bérangère. Dame Aloise nahm das Wort, ohne sich auf ihrem Sessel zu rühren: „Es ist wohl eine von den Zigeunerinnen, die vergangenes Jahr durch das Tor Gibard einzogen?“ – „Frau Mutter“, sagte sanft Fleur-de-Lys, „das Tor heißt jetzt das Höllen-Tor.“
Fleur-de-Lys wußte, wieviel Anstoß der Hauptmann an veralteter Ausdrucksweise nahm; auch fing dieser schon wirklich an zu grinsen und brummte zwischen den Zähnen: „Tor Gibard! Tor Gibard! Das heißt ja, König Karl VI. einziehen lassen!“
„Pate“, rief Bérangère, deren unaufhörlich sich bewegende Augen plötzlich auf die Turmspitze von Notre-Dame blickten, „wer ist der schwarze Mann dort oben?“
Alle jungen Mädchen erhoben die Augen. Ein Mann hatte sich wirklich über die höchste Balustrade des nördlichen Turmes gelehnt. Es war ein Priester. Seinen Anzug konnte man deutlich erkennen; auch sah man sein auf beide Hände gestütztes Gesicht. Übrigens rührte er sich nicht und stand da wie eine Bildsäule. Sein starrer Blick richtete sich auf den Platz. Er war unbeweglich wie ein Geier, der ein Sperlingsnest entdeckt hat.
„Das ist der Herr Archidiakonus“, sprach Fleur-de-Lys. – „Erkennt Ihr ihn von hier aus, müßt Ihr gute Augen haben“, meinte Gaillefontaine. – „Wie er die kleine Tänzerin betrachtet“, sprach Diane de Christeuil. – „Sie mag sich hüten; denn die Zigeuner kann er nicht leiden“, sagte Fleur-de-Lys. – „Oh, wie schade, daß der Mann da sie so ansieht!“ fügte Amelotte hinzu; „sie tanzt zum Entzücken.“
„Schöner Vetter“, sagte plötzlich Fleur-de-Lys, „weil Ihr die Zigeunerin kennt, gebt ihr ein Zeichen, heraufzukommen. Das wird uns Vergnügen machen.“ – „Oh ja“, riefen alle jungen Mädchen und klatschten in die Hände. – „Aber das geht nicht“, erwiderte der Phoebus; „sie hat mich gewiß vergessen, und ich weiß nicht einmal ihren Namen. Dennoch, weil ihr Damen es wünscht, will ich’s versuchen.“ – Er lehnte sich über das Geländer und rief: „Kleine!“
Die Tänzerin rührte in dem Augenblicke nicht das Tamburin; sie wandte den Kopf nach dem Orte, woher der Ruf kam; ihr glänzender Blick fiel auf Phoebus, und sie unterbrach plötzlich ihren Tanz.
„Kleine!“ wiederholte der Hauptmann und winkte mit dem Finger. Das Mädchen sah noch einmal hin und errötete, als stiege eine Flamme in ihre Wangen. Dann nahm sie ihr Tamburin unter den Arm und ging mitten durch die erstaunten Zuschauer zur Tür des Hauses, wohin Phoebus sie rief; sie wandelte langsamen, wankenden Schrittes, und ihr Blick war verstört, wie der eines Vogels, welcher der Betäubung einer Schlange sich hingibt. Nach einem Augenblick ward der Tapetenvorhang der Tür erhoben, und die Zigeunerin trat rot verlegen, mit niedergeschlagenen Augen ein und wagte keinen Schritt vorwärts zu gehen. Bérangère klatschte in die Hände. Die Tänzerin blieb unbeweglich auf der Türschwelle stehen. Ihre Erscheinung äußerte auf die Gruppe junger Mädchen eine sonderbare Wirkung. Ein unbestimmtes und dunkel gefühltes Verlangen, dem schönen Offizier zu gefallen, beseelte sie sämtlich; seine glänzende Uniform war der Zielpunkt aller ihrer Koketterien, und es herrschte unter ihnen eine geheime Eifersucht, die sie sich vielleicht kaum selbst gestanden, die aber dennoch bei jedem ihrer Worte und in jeder Bewegung sich zeigte. Da sie aber alle in gleichem Maße Schönheit besaßen, kämpften sie mit gleichen Waffen, und jede konnte den Sieg für sich erhoffen. Das Erscheinen der Zigeunerin vernichtete plötzlich dies Gleichgewicht. Sie war von so seltener Schönheit, daß sie im Augenblick, wo sie eintrat, ein eigentümliches Licht um sich zu verbreiten schien. In dem engen Zimmer, in dem düsteren Viereck von Tapeten und Schnitzwerk war sie offenbar noch schöner als auf öffentlichem Platze. Sie glich einer Fackel, die man bei Tageslicht in den Schatten trägt. Die edlen Damen wurden wider Willen geblendet. Jede fühlte sich durch ihre Schönheit verletzt. Auch wechselte ihre Schlachtfront (man verzeihe uns den Ausdruck) augenblicklich, ohne daß irgendeine ein Wort sprach; sie verstanden sich aber vollkommen. Der Instinkt der Frauen verständigt sich schneller und setzt sich schneller in Mitteilung, als der Verstand der Männer. Eine Feindin trat auf; alle fühlten es und vereinten sich. Ein Tropfen Wein genügt, ein Glas Wasser zu röten; um einer Gesellschaft schöner Frauen dieselbe Laune mitzuteilen genügt das Auftreten einer Schöneren – besonders, wenn ein Mann gegenwärtig ist.
Die Zigeunerin wurde mit eisiger Kälte empfangen. Sie betrachteten sie von oben bis unten, sahen einander an, und dies genügte; sie verstanden sich gegenseitig. Das junge Mädchen wartete, bis sie angeredet wurde, und wagte die Augen nicht aufzuschlagen.
Der Hauptmann brach zuerst das Schweigen. „Auf mein Wort“, bemerkte er im Tone unerschrockener Albernheit, „das Geschöpf ist reizend. Was meint Ihr, schöne Kusine?“
Diese Bemerkung, die ein zarterer Bewunderer wenigstens leise gesprochen hätte, war nicht dazu geeignet, die Eifersucht der scharf beobachtenden Damen zu zerstreuen. Fleur-de-Lys antwortete dem Hauptmann mit süßlich gezierter Verachtung: „Sie ist nicht übel gewachsen.“ Die andern flüsterten. Endlich redete Madame Aloise, die nicht die geringste Eifersucht empfand, weil sie diese für ihre Tochter hegte, die Tänzerin an: „Komm heran, Kleine.“ – „Komm heran, Kleine!“ wiederholte Bérangère, die ihr bis an die Hüfte reichte, mit komischem Ernst. Die Zigeunerin ging auf die edle Dame zu.
„Schönes Kind“, sprach Phoebus mit Nachdruck und trat näher, „ich weiß nicht, ob mir das höchste Glück zu teil ward, von Euch wiedererkannt zu werden …“
Sie seufzte, erhob ihren Blick voll Sanftmut und unterbrach ihn mit den Worten: „Oh ja.“ – „Sie hat ein gutes Gedächtnis“, bemerkte Fleur-de-Lys.
„Ja, ja“, begann Phoebus aufs neue, „an dem Abend seid Ihr mit Not entwischt. Ihr fürchtet Euch vor mir?“
„Oh nein!“ erwiderte die Zigeunerin. In diesem ,Oh nein!‘, welches unmittelbar auf das ,Oh ja‘ folgte, lag ein Ausdruck, durch den Fleur-de-Lys sich sehr verletzt fühlte.
„Anstatt Euer ließt Ihr mir, meine Schöne“, fuhr der Hauptmann fort, dessen Zunge sich löste, da er mit einem Mädchen von der Straße sprach, „einen sauertöpfischen, einäugigen, buckligen Schelm, ich glaube den Glöckner des Bischofs. Er hat einen verrückten Namen, Aschermittwoch, Ostern, was weiß ich! Kurz, den Namen eines Festes, an dem man läutet! Er war so frech, Euch entführen zu wollen, als wärt Ihr für den Büttel geschaffen! Das war zu stark! Was wollte der Uhu? Nun, erzählt!“
„Ich weiß es nicht!“ sagte die Zigeunerin.
„Welche Unverschämtheit! Ein Glöckner will, wie ein Vicomte, ein Mädchen entführen! Ein Bürger spielt den Wilddieb im Gehege der Edelleute! Das ist selten! Übrigens hat er teuer gezahlt. Meister Pierrat Torterue ist der rauheste Stallknecht, der jemals einen Schelm striegelte. Ja, ja, ich kann Euch sagen, wenn Ihr das gern hört, das Fell des Glöckners ging ihm durch die Hand.“ – „Der arme Mann“, sprach die Zigeunerin, der diese Worte die Erinnerung an den Schandpfahl wieder erweckten.
Der Hauptmann lachte laut. – „Horn des Ochsen! Das Mitleid ist so passend angebracht, wie eine Feder am Hintern eines Schweins! Ich will dickbauchig wie der Papst werden, wenn …“
Plötzlich hielt er inne. – „Verzeihung meine Damen; ich glaube, beinahe wäre mir eine Dummheit entschlüpft.“
„Pfui, mein Herr!“ sprach Gaillefontaine.
„Mit diesem Geschöpf spricht er seine eigentliche Sprache“, fügte Fleur-de-Lys halblaut hinzu; denn ihr Ärger stieg mit jedem Augenblick und wurde auch nicht geringer, als der Hauptmann, entzückt über die Zigeunerin und besonders über sich selbst, auf den Fersen eine Pirouette schlug und mit grober, soldatischer Galanterie ausrief: „Das Mädchen ist schön! Bei meiner Seele!“
„Recht wild gekleidet“, sagte Diane und wies lächelnd ihre schönen Zähne. Diese Bemerkung war ein Lichtstrahl für die andern. Sie zeigte die angreifbare Seite der Zigeunerin. Da sie auf ihre Schönheit nicht sticheln konnten, fielen sie über ihren Anzug her.
„Ja, das ist wahr, Kleine“, sprach die Montmichel, „wie kannst du ohne Halstuch und Schleier durch die Straßen laufen?“
„Der Rock ist unanständig kurz“, fügte die Gaillefontaine hinzu. – „Liebe“, sprach Fleur-de-Lys ziemlich bitter, „dein vergoldeter Gürtel wird dir die Sergeanten auf den Hals laden.“ – „Kleine, Kleine!“ begann die Christeuil mit ihrem unversöhnlichen Lächeln aufs neue, „wenn du so anständig wärst, deinen Arm in einen Ärmel zu stecken, würde er nicht so von der Sonne verbrannt werden.“
Die Mädchen boten wirklich ein anziehendes Schauspiel für einen klügeren Beobachter als den guten Phoebus. Mit giftigen Zungen umzischelten sie boshaft die arme Kleidung und fuhren in ihren Flittern herum. Endlos war ihr Lachen, ihr Spott, ihre demütigenden Bemerkungen. Spöttereien, hochmütiges Wohlwollen, boshafte Blicke regneten über die Zigeunerin. Sie glichen schönen römischen Damen, die zum Zeitvertreib goldene Nadeln in den Busen einer schönen Sklavin stießen. Sie glichen zierlichen Windhunden, die mit offenen Nasenlöchern und blitzenden Augen eine arme Hirschkuh umschwärmen, die zu verschlingen der Blick des Jägers verbietet. Was konnte auch den Frauen aus edlem Hause die ärmliche Straßentänzerin gelten? Sie schienen auf ihre Gegenwart gar nicht zu achten, sprachen mit ihr über sie selbst in einem wegwerfenden Tone, wie über etwas Schmutziges, allerdings ziemlich Hübsches.
Die Zigeunerin blieb bei den Nadelstichen nicht unempfindlich. Von Zeit zu Zeit färbte der Purpur der Scham ihre Wangen oder entflammte ihr Auge mit Zorn; ein Wort der Verachtung schien auf ihren Lippen zu ruhen; sie schnitt das kleine Mäulchen, das der Leser schon kennt, blieb aber unbeweglich und heftete den Blick auf Phoebus, voll Ergebung, traurig und sanft. Auch lag Glück und Zärtlichkeit in dem Blick. Es schien, als bezwinge sie ihre Leidenschaft aus Furcht, entfernt zu werden. Phoebus lachte und nahm, halb naseweis, halb mitleidig, Partei für die Zigeunerin. „Laß sie schwatzen, Kleine“, sprach er, mit den goldenen Sporen klirrend. „Dein Anzug ist wohl ein wenig sonderbar und wild; aber bei einem so schönen Mädchen hat das weiter nichts auf sich.“
„Gott“, rief die blonde Gaillefontaine, indem sie ihren Schwanenhals mit bitterem Lächeln aufrichtete, „ich sehe, die Herren Häscher von der Ordonnanz des Königs fangen leicht Feuer bei schönen Zigeuneraugen.“
„Warum nicht?“ sagte Phoebus.
Der Hauptmann warf diese Antwort nachlässig, wie einen Stein hin, dem man im Fallen nicht nachsieht. Die Mädchen lachten, aber eine Träne trat der schönen Fleur-de-Lys zugleich in die Augen. Die Zigeunerin jedoch, die ihre Augen bis jetzt auf den Boden geheftet hielt, erhob den Blick, strahlend vor Freude und Stolz, und schaute Phoebus an. In dem Augenblick war sie wirklich sehr schön. Die alte Dame, die diese Szene betrachtete, fühlte sich beleidigt, ohne recht zu wissen warum. Plötzlich rief sie aus: „Gott! Was kriecht zwischen meinen Füßen? Oh, das häßliche Tier!“
Die Ziege hatte ihre Herrin aufgesucht, war auf sie zugestürzt und verwickelte sich in der Eile mit ihren Hörnern in dem langen Kleid der edlen Dame, das ihre Füße bedeckte. Die Zigeunerin wickelte die Ziege los, ohne ein Wort zu sagen.
„Oh, die kleine, hübsche Ziege!“ rief Bérangère und sprang vor Freude in die Höhe; „welch hübsche goldne Hörner!“
Die Zigeunerin kniete nieder und drückte den liebkosenden Kopf der Ziege an ihre Wange. Es schien, als wollte sie ihr Tier um Verzeihung bitten, es so verlassen zu haben. Diane neigte sich zum Ohr der Colombe: „Gott! Warum dachte ich nicht eher daran? Das ist ja die Zigeunerin mit der Ziege. Man meint, sie wäre eine Hexe und triebe mit der Ziege wunderbare Mummereien.“ – „So?“ sagte Colombe, „dann muß die Ziege uns auch ihre Künste zeigen und ein Wunder tun.“ – Beide redeten lebhaft die Zigeunerin an: „Kleine, laß deine Ziege doch ein Wunder tun!“ – „Ich weiß nicht, was Ihr meint.“ – „Nun, ein Wunder, eine Magie, eine Hexerei.“ – „Ich verstehe Euch nicht“, sprach die Zigeunerin und liebkoste ihre Ziege, indem sie wiederholt: „Djali!“ rief.
In dem Augenblicke bemerkte Fleur-de-Lys ein Säckchen aus vergoldetem Leder am Halse der Ziege und fragte: „Was ist das?“
Die Zigeunerin hob ihr großes Auge und sprach: „Mein Geheimnis.“ – Nun, das möchte ich kennen, dachte Fleur-de-Lys. Die gute Dame stand verdrießlich auf. „Zigeunerin“, sprach sie, „wenn Ihr nicht tanzen wollt, du und deine Ziege, was habt ihr denn hier zu schaffen?“
Die Zigeunerin ging, ohne zu antworten, langsam auf die Tür zu. Je mehr sie ihr näher kam, desto langsamer ward ihr Schritt. Ein Magnet schien sie zurückzuhalten. Plötzlich richtete sie ihre von Tränen nassen Augen auf Phoebus und blieb stehen.
„Wahrhaftiger Gott!“ rief der Hauptmann, „so sollst du nicht gehen! Komm, tanze uns etwas! Liebe Schöne, wie heißt du?“ – „Esmeralda“, sprach die Tänzerin, ohne den Blick von ihm abzuwenden.
Bei diesem sonderbaren Namen erscholl ein lautes Gelächter aller Mädchen. „Oh“, rief Diane, „welch ein fürchterlicher Name für ein Mädchen!“ – „Seht Ihr nicht“, sagte Amelotte, „daß sie eine Hexe ist?“ – „Liebe“, sprach feierlich Aloise, „Eure Eltern haben Euch doch nicht sündhaft den Namen in heiliger Taufe gegeben?“
Seit einigen Minuten hatte unterdes Bérangère, ohne daß man auf sie achtete, die Ziege mit einem Stück Marzipan in die Ecke der Stube gelockt. Ein Augenblick machte beide zu zwei intimen Freundinnen. Das neugierige Kind band den Beutel am Halse der Ziege los, öffnete ihn und leerte seinen Inhalt auf die Matte. Es war ein Alphabet, wovon jeder Buchstabe auf ein Täfelchen von Buchsbaumholz geschrieben war. Kaum waren diese dort ausgebreitet, als das erstaunte Kind bemerkte, wie die Ziege einzelne Buchstaben mit der vergoldeten Pfote hervornahm und sie fortstoßend in eine Reihe legte. Es war offenbar eines ihrer Wunder. Die Reihe bildete ein Wort, worauf die Ziege sichtlich eingeübt worden war, denn sie nahm gar keinen Anstand, es zu schreiben. Da rief Bérangère, die Hände aus Bewunderung faltend:
„Pate Fleur-de-Lys, seht doch, was die Ziege tut!“ Fleur-de-Lys lief herbei und zitterte. Die auf den Fußboden nebeneinandergelegten Buchstaben bildeten das Wort PHOEBUS.
„Die Ziege hat das geschrieben?“ fragte sie mit bebender Stimme. – „Ja, Pate“, sagte Bérangère. Man konnte unmöglich daran zweifeln, denn das Kind konnte nicht schreiben.
„Das also ist das Geheimnis“, dachte Fleur-de-Lys. Bei dem Rufe des Kindes waren alle herbeigekommen, die Mutter, die Mädchen, die Zigeunerin, der Hauptmann. Die Zigeunerin sah die Dummheit, welche die Ziege begangen hatte. Sie ward abwechselnd rot und blaß und fing an, wie eine Verbrecherin in Gegenwart des Hauptmanns zu zittern, der sie mit einem Lächeln des Erstaunens und der Zufriedenheit betrachtete.
„Phoebus!“ flüsterten die Mädchen, „so heißt ja der Hauptmann.“ – „Ihr habt ein wunderbares Gedächtnis“, sprach Fleur-de-Lys zu der versteinerten Zigeunerin. Dann brach sie in Schluchzen aus, barg voll Schmerz ihr schönes Antlitz in den Händen und stammelte: „Oh, sie ist eine Zauberin!“ Zugleich vernahm sie im Herzen eine Stimme, die ihr zurief: „Sie ist eine Nebenbuhlerin!“
Sie fiel in Ohnmacht. „Meine Tochter! Meine Tochter!“ rief die Mutter erschreckt. „Geh, Zigeunerin der Hölle!“ In einem Augenblick nahm Esmeralda die verhängnisvollen Buchstaben auf, gab Djali ein Zeichen und ging aus der einen Tür, während die Mädchen Fleur-de-Lys aus der andern forttrugen. Als der Hauptmann Phoebus so allein blieb, schwankte er einen Augenblick in der Wahl beider Türen und folgte dann der Zigeunerin.
25. Priester und Philosoph sind zweierlei
Der Priester, den die Mädchen auf der Spitze des nördlichen Turms erblickt hatten, wie er gespannt dem Tanze der Zigeunerin zuschaute, war wirklich der Archidiakonus Claude Frollo. Unsere Leser haben die geheimnisvolle Zelle nicht vergessen, die der Archidiakonus sich auf diesem Turme vorbehalten hatte. Täglich bestieg er eine Stunde vor Sonnenuntergang die Treppe des Turmes, schloß sich in die Zelle ein und brachte dort oft ganze Nächte zu. Als er an jenem Tage hinaufstieg, drang der Schall des Tamburins und der Kastagnetten bis an sein Ohr. Claude Frollo begab sich also auf den Turm, und stand da, weil er von seiner Zelle aus den Platz nicht überblicken konnte. Dort weilte er ernst, unbeweglich in einen Blick und in einen Gedanken versunken. Ganz Paris lag mit seinen tausend Türmen, der unter Brücken sich hinschlängelnden Seine, dem wogenden Volk, den Rauchwolken und der hügelartigen Kette von Dächern zu seinen Füßen; doch nur einen Punkt des Pflasters sah der Archidiakonus, den Platz vor der Kirche, nur eine Gestalt, die Zigeunerin.
Man konnte sich nicht leicht die Natur des Blicks und die ihm entsprühende Glut erklären; der Blick war zugleich starr und verstört. Schaute man die vollkommene Unbeweglichkeit des Körpers, der nur dann und wann durch Schauder geschüttelt wurde wie ein Baum im Sturme, sah man die Starrheit seiner Arme, die, sich auf den Marmor stützend, auch aus Stein zu sein schienen, schaute man auf Claude Frollos Lippen das kalte Lächeln, so hätte man geglaubt, nur in seinen Augen glühe noch Leben. Die Zigeunerin tanzte, schwang ihr Tambourin auf den Fingerspitzen und warf es mitten in provenzalischen Sarabanden in die Luft; sie schwebte behend, leicht heiter und empfand nicht das Gewicht des furchtbaren Blickes, der wie Blei auf ihr Haupt sank.
Die Menge wimmelte um sie her; bisweilen ging ein Mann mit halb rotem, halb gelbem Wams im Kreise herum, setzte sich dann einige Schritte von der Tänzerin entfernt auf einen Stuhl und nahm den Kopf der Ziege zwischen seine Knie. Dieser Mann schien der Gefährte der Zigeunerin zu sein. Claude Frollo konnte auf dem hohen Punkte, wo er stand, seine Züge nicht erkennen. Sobald der Archidiakonus den Unbekannten erblickte, schien sich seine Aufmerksamkeit zwischen diesem und der Tänzerin zu teilen, während sein Gesicht stets düsterer wurde. Plötzlich richtete er sich auf, und ein Zittern zuckte in allen seinen Gliedern. „Wer ist der Mensch?“ murmelte er zwischen den Zähnen. „Bisher sah ich sie doch stets allein.“
Dann stieg er wieder die gewundene Wölbung der Wendeltreppe hinab. Als er vor der Tür des Glöckners vorbeikam, sah er sie halb offen stehen und bemerkte, daß Quasimodo, an eine Öffnung der Windlöcher von Schiefer, die ungeheuren Jalusien gleichen, angelehnt, auch auf den Platz hinblickte. Er war in so tiefes Sinnen versunken, daß er das Vorbeigehen seines Adoptivvaters nicht bemerkte. Sein wildes Auge hatte einen eigentümlichen, entzückten und sanften Ausdruck. – „Wie sonderbar“, murmelte Claude, „schaut er nach der Zigeunerin?“ – Dann stieg er die Treppe weiter hinab. Nach einigen Minuten trat er durch das Tor unten am Turm auf den Platz hinaus. Er trat in den Kreis der Zuschauer, die das Tamburin versammelt hatte, mit der Frage: „Wo ist die Zigeunerin?“ – „Ich weiß nicht“, antwortete einer neben ihm. „Ich glaube, dort im Hause uns gegenüber, wohin man sie rief, tanzt sie den Fandango.“
Anstatt der Zigeunerin sah der Archidiakonus nur den rotgelben Mann auf demselben Teppich, dessen Arabesken noch kurz vorher unter den malerischen Windungen des Tanzes verschwunden waren. Der Mann ging im Kreise umher, um einige Kupfermünzen zu erlangen, stützte die Arme auf die Hüften, streckte den Hals, warf den roten Kopf zurück, und hielt einen Stuhl zwischen den Zähnen. Auf diesen Stuhl war eine von einer Nachbarin geliehene Katze gebunden, die voll Schrecken laut miaute.
„Bei Unserer Frau“, rief der Archidiakonus in dem Augenblick aus, wo der Possenreißer, von Schweiß triefend, mit seinem Stuhl und seiner Katze vorbeischritt, „was macht Ihr da, Meister Peter Gringoire?“
Die strenge Stimme des Archidiakonus erschreckte den armen Teufel so heftig, daß er das Gleichgewicht mit seinem Gebäude verlor, so daß Stuhl und Katze über die Köpfe der Zuschauer mitten unter lautem Lärm niederfielen. Wahrscheinlich hätte Meister Gringoire (denn er war es allerdings) seiner Nachbarin für die Katze und alle gekratzten und gestoßenen Gesichter eine schöne Rechnung bezahlen müssen, hätte er nicht die Verwirrung benutzt, sich eilig in die Kirche zu flüchten, wohin ihm zu folgen Claude Frollo ein Zeichen gegeben hatte. Die Kathedrale war schon finster und einsam. Als sie etwas vorgeschritten waren, lehnte sich Dom Claude an einen Pfeiler und sah Gringoire starr ins Gesicht. Diesen Blick fürchtete Gringoire nicht, aber er schämte sich, im Anzuge eines Possenreißers von einem ernsten und gelehrten Mann überrascht zu sein. Im Blicke des Priesters lag kein Spott; er war ernst, ruhig, durchdringend. Der Archidiakonus brach das Schweigen zuerst.
„Kommt, Meister Peter; Ihr müßt mir viel erklären. Warum hab ich Euch seit zwei Monaten nicht gesehen? Warum sieht man Euch auf den Kreuzwegen in einem so schönen Aufzug wieder? Wahrhaftig, rot und gelb; Ihr sehr aus wie ein Apfel.“
„Herr“, sagte Gringoire demütig, „ein wunderbarer Anzug, und Ihr seht mich beschämter als eine Katze mit dem Kürbis auf dem Kopf. Ich fühle es wohl, wie unrecht ich handelte, die Herren Sergeanten in Versuchung zu führen, die Schultern eines pythagoräischen Philosophen unter dieser Jacke mit dem Stock zu prügeln. Konnt’ ich aber anders, ehrwürdiger Vater? Die Schuld liegt ganz allein in meinem alten Wams, das vergangenen Winter mich schändlich unter dem Vorwande im Stich ließ, es müßte im Tragkorbe eines Lumpensammlers ausruhen. Was sollte ich anfangen? Die Zivilisation ist noch nicht so weit gediehen, wie zu den Zeiten des Diogenes, daß man nackt gehen könnte. Dazu kam noch ein kalter Wind, und wahrhaftig, im Januar ist nicht die Zeit, solchen Versuch zu machen. Dieses Wams bot sich mir dar, ich nahm’s und warf mein altes fort, das für einen Hermetiker, wie ich es bin, nicht hermetisch genug verschlossen war. So trag’ ich also das Kleid eines Possenreißers, wie St. Genestus. Was wollt Ihr? Es ist eine Sonnenfinsternis.“
„Ihr treibt da ein schönes Handwerk!“ bemerkte der Archidiakonus.
„Ich gebe es zu“, erwiderte Gringoire, „es ist besser zu philosophieren und zu dichten, das Feuer im Ofen anzublasen oder Wärme vom Himmel zu erhalten, als Katzen auf dem Pflaster zu tragen. Aber was sollt’ ich tun, Herr? Die besten Verse sind unter den Zähnen nicht so viel wert wie ein Stück Käse. Nun dichtete ich für Margarete von Flandern das berühmte Hochzeitsgedicht, das Ihr schon kennt, aber die Stadt will, unter dem Vorwande, es sei schlecht, mich nicht bezahlen, als könnte man für einige Sous eine sophokleische Tragödie schreiben. Glücklicherweise fühlte ich bedeutende Stärke in den Zähnen, und sprach zu ihnen: ‚Ernährt euch selbst.‘ Ein Haufen Bettler, die meine guten Freunde geworden sind, lehrte mich zwanzig Arten herkulischer Kunststücke, und gegenwärtig erhalten meine Zähne jeden Abend das Brot, das sie sich am Tage unter dem Schweiße meiner Stirn verdienten. Kurz, concedo, ich gebe zu, dies ist eine traurige Anwendung meiner intellektuellen Kräfte, und der Mensch ist nicht geschaffen, sein Leben damit zuzubringen, ein Tamburin zu schlagen und Stühle auf den Zähnen zu tragen. Aber, ehrwürdiger Meister, es ist nicht genug, zu leben, man muß sich auch seinen Lebensunterhalt erwerben.“
Dom Claude hörte schweigend zu. Plötzlich nahm sein Auge einen so durchdringenden Blick an, daß Gringoire fühlte, wie er gleichsam die innersten Tiefen seiner Seele durchforschte.
„Recht gut, Meister Peter; weshalb aber seid Ihr jetzt in der Gesellschaft der Zigeunerin?“ – „Meiner Treu, sie ist meine Frau, und ich bin ihr Mann.“ – Das dunkle Auge des Priesters sprühte Funken.
„Elender!“ rief er aus und ergriff den Arm Gringoires, „du bist so schändlich gewesen, dies Mädchen zu berühren?“ – „So wahr ich auf das Paradies hoffe“, erwiderte Gringoire, an allen Gliedern zitternd, „ich schwöre Euch, daß ich sie noch nie berührt habe, wenn Euch das beruhigen kann.“ – „Was sprichst du denn von Mann und Frau?“
Gringoire erzählte schnell seine Abenteuer im Hofe der Wunder und seine Ehe des zerbrochenen Kruges. Es schien, die Heirat habe kein anderes Resultat gehabt, und die Zigeunerin habe ihn jeden Abend um seine Hochzeitsnacht, wie am ersten Abend, geprellt. – „Es ist ein Mißgeschick. Ich hatte das Unglück, ein keusches Mädchen zu heiraten.“
„Was soll das heißen?“ fragte der Archidiakonus, der im Verfolg des Berichtes allmählich ruhiger ward. – „Das ist schwer zu erklären“, erwiderte der Dichter; „es ist aus Aberglauben. Nach dem, was mir ein alter Schelm, der bei uns der Zigeunerherzog heißt, gesagt hat, ist sie ein gefundenes oder verlorenes Mädchen, was ganz dasselbe bedeutet. Am Hals trägt sie ein Amulett, woran, wie es heißt, sie ihre Eltern einst wiedererkennen werden. Das Amulett aber würde die Kraft verlieren, verlöre das Mädchen ihre Tugend; daraus folgt, daß wir beide sehr tugendhaft zusammen leben.“
„Ihr glaubt also“, sagte Dom Claude, dessen Stirn sich immer mehr und mehr runzelte, „daß dies Geschöpf noch von keinem Mann berührt wurde?“
„Was kann ein Mann mit Aberglauben anfangen? Sie hat sich das einmal in den Kopf gesetzt. Gewiß ist diese Nonnensprödigkeit eine Seltenheit, denn sie bleibt unberührt unter all den Zigeunerinnen, die doch so leicht zu haben sind. Und drei Dinge beschützen sie, erstens: der Zigeunerherzog, der sie unter besondere Aufsicht genommen hat und sie vielleicht einmal einem Abte zu verkaufen gedenkt; zweitens: der ganze Stamm, der sie besonders verehrt, als wäre sie eine zweite heilige Jungfrau; und drittens: ein kleiner Dolch, den die Schelmin stets irgendwo stecken hat, ungeachtet der Ordonnanz des Prévot, und den sie, wenn man sie um die Hüften faßt, hervorzieht. Sie ist eine wilde Wespe.“
Der Archidiakonus drängte Gringoire mit Fragen. Nach Gringoires Urteil war Esmeralda ein harmloses, reizendes Mädchen von großer Schönheit, nur mit Ausnahme des ihr besondern Mäulchens; ein leidenschaftliches, naives Kind, das ganz unwissend für alles begeistert ward; die den Unterschied zwischen Mann und Weib noch nicht einmal im Traume geahnt hatte; verliebt in Tanz, Geräusch und frische Luft, eine Art Biene, mit unsichtbaren Flügeln an den Füßen, die im Wirbel lebte. Diese Natur verdankte sie dem herumirrenden Leben, das sie stets geführt hatte. Gringoire hatte herausgebracht, als Kind habe sie Spanien und Katalonien bis Sizilien durchreist; er glaubte sogar, sie sei durch die Zigeuner-Karawane, zu der sie gehörte, zum Königreich Algier geführt, das ein Land in Achaïa sei, welches Achaïa an Klein-Albanien, Griechenland und das Meer von Sizilien grenze und auf dem Wege nach Konstantinopel liege. „Die Zigeuner“, sagte Gringoire, „waren Vasallen des Königs von Algier; denn dieser ist Lehensherr der weißen Mauren.“ Er wußte gewiß, Esmeralda sei noch als Kind von Ungarn nach Frankreich gekommen. Aus allen diesen Ländern hatte das junge Mädchen sonderbare Worte, fremde Lieder und Gedanken mitgebracht, so daß ihre Sprache ebenso bizarr war wie ihre halb afrikanische, halb parisische Kleidung. Übrigens war sie wegen ihrer Munterkeit und Schönheit, wegen ihres lebhaften Ganges und wegen ihrer Lieder und Tänze in allen Quartieren, die sie besuchte, beim Volke beliebt. Sie glaubte, in ganz Paris werde sie nur von zwei Personen gehaßt, von denen sie oft mit Schrecken sprach: von der häßlichen Klausnerin in der Tour-Roland, die irgendwie einen Haß gegen die Zigeuner gefaßt habe, und so oft sie an der dortigen Luke vorübergehe, sie verfluche, und dann von einem Geistlichen, der ihr nie begegne, ohne durch Worte und Bewegungen sie in Schrecken zu setzen. Dieser letzte Umstand setzte den Archidiakonus in Verlegenheit, die Gringoire aber nicht bemerkte; zwei Monate hatten dem leichtgesinnten Dichter genügt, um alle besonderen Einzelheiten jenes Abends zu vergessen, an dem er die Zigeunerin antraf und auch den Archidiakonus bemerkte. Übrigens lebte die junge Tänzerin ganz sorglos in den Tag hinein: Sie gab sich mit Wahrsagereien nicht ab, und dies schützte Sie vor den Hexenprozessen, mit denen Zigeunerinnen so oft verfolgt wurden. Gringoire galt ihr, wo nicht als Mann, doch als Bruder. Dadurch kam er zu Brot und Lager. Jeden Morgen ging er, am häufigsten mit der Zigeunerin, auf sein neues Geschäft aus und half ihr auf den Kreuzwegen Kupfermünzen einernten; jeden Abend kehrte er mit der Zigeunerin unter dasselbe Dach heim, ließ jene ihr Kämmerchen zuriegeln und schlief dann fest ein. Gewiß, meinte er, war dies Leben nicht bitter und auf jeden Fall mitzunehmen. Auch konnte der Philosoph bei seiner Seele die Versicherung geben, in die Zigeunerin nicht sterblich verliebt zu sein. Beinahe liebte er die Ziege ebensosehr. Diese war ein kluges, geistreiches Tier. Im Mittelalter war nichts gewöhnlicher als solche gelehrten Tiere, die man nicht wenig anstaunte, die aber oft ihre Lehrmeister auf den Scheiterhaufen brachten. Die Hexereien der Ziege mit den vergoldeten Pfoten waren aber ganz unschuldige Streiche. Gringoire erklärte sie dem Archidiakonus, der ein lebhaftes Interesse daran zu nehmen schien. In den meisten Fällen genügte es, das Tamburin der Ziege auf die eine oder andere Weise hinzustellen, um diese oder jene Mummerei von ihr zu erhalten. Die Zigeunerin hatte die Ziege so abgerichtet und besaß für solche Spielereien so großes Talent, daß der Ziege zwei Monate genügten, um das Wort Phoebus mit beweglichen Buchstaben schreiben zu lernen.
„Phoebus?“ fragte Claude, „weshalb Phoebus?“ – „Ich weiß nicht. Vielleicht ist das Wort mit einer geheimen Tugend oder Hexerei begabt. Sie spricht es oft halblaut aus, wenn sie glaubt, sie wäre ganz allein.“
„Wißt Ihr gewiß“, fuhr Claude mit durchdringendem Blick zu fragen fort, „daß dies nur ein Wort und kein Name ist?“ – „Von wem?“ – „Was weiß ich?“ – „Herr, ich glaube, die Zigeuner sind Feueranbeter und verehren die Sonne.“ – „Das scheint mir nicht so deutlich Meister Peter.“ – „Übrigens, was kümmert’s mich? Mag sie ihren Phoebus nach Belieben murmeln. Djali liebt mich fast ebensosehr, wie sie.“ – „Wer ist das? – „Die Ziege.“
Der Archidiakonus legte sein Kinn auf die Hand und schien einen Augenblick nachzusinnen. Plötzlich wandte er sich zu Gringoire mit den Worten: „Schwörst du, sie nicht berührt zu haben?“ – „Wen? Die Ziege?“ – „Nein, das Mädchen.“ – „Meine Frau? Wahrhaftig nicht!“ – „Bist du oft mit ihr allein?“ – „Jeden Abend eine Stunde.“
Der Archidiakonus runzelte die Stirne.
„Oh! Oh! Solus cum sola non cogitabuntur orare Paternoster.“* – „Bei meiner Seele, ich könnte das Paternoster, das Ave und das Credo sprechen, ohne daß sie mehr auf mich achtete, als auf ein Huhn in der Kirche.“ – „Schwöre mir bei dem Leibe deiner Mutter, daß du sie nicht berührt hast.“ – „Auch beim Haupte meines Vaters, denn beide Körperteile stehen miteinander in Verhältnis. Aber, ehrwürdiger Meister, erlaubt auch mit eine Frage.“ – „Nun, sprich.“ – „Warum wollt Ihr das wissen?“
*Lateinisch: Mann und Weib allein werden nicht daran denken, das Vater Unser zu beten.
Das blasse Antlitz des Archidiakonus errötete wie das eines Mädchens. Er schwieg einen Augenblick, dann sagte er mit sichtbarer Verlegenheit:
„Hört mich an Meister. Soviel ich weiß, seid Ihr noch nicht verdammt. An Euch nehm’ ich Anteil und wünsche Euch alles Gute. Die geringste Berührung der Zigeunerin aber macht Euch zum Vasallen des Teufels. Der Leib verdirbt die Seele, wie Ihr wißt. Weh Euch, wenn Ihr dem Mädchen nahe tretet!“ – „Einmal versuchte ich’s“, sagte Gringoire und kratzte sich hinter den Ohren; „ich habe mir aber die Finger verbrannt.“ – „Du warst so frech?“ (Die Stirn des Archidiakonus umwölkte sich aufs neue.) – „Ein andermal“, fuhr der Dichter lächelnd fort, „sah ich durchs Schlüsselloch, als sie sich zu Bett legte; es war die köstlichste Frau im Hemde, unter deren nacktem Fuß jemals der Traggurt des Bettes krachte.“ – „Geh zum Teufel!“ rief der Priester mit furchtbarem Blick, stieß den erstaunten Gringoire fort und ging mit großen Schritten unter die dunkeln Arkaden der Kathedrale.
26. Die Glocken
Seit dem Morgen des Schandpfahls glaubten die Nachbarn von Notre-Dame zu bemerken, Quasimodos Eifer im Glockenläuten sei sehr erkaltet. Früher vernahm man langgezogene Ständchen von der Prime bis zum Komplete, das Brausen der großen Glocke bei Hochmessen, die reichen Tonleitern der Glöckchen bei Ehen und Taufen. Die alte, vibrierende, laut tönende Kirche jubelte beständig mit ihren Glocken. Man vernahm dort stets den lärmenden Geist, der aus kupfernen Kehlen sang. Der Geist schien entschwunden, die Kathedrale düster und mit Vorliebe schweigend; Feste und Beerdigungen erhielten nur eben das nackte Geläut, das der Ritus erforderte; von dem doppelten, inneren und äußeren Brausen der Kirche, dem der Orgel und der Glocken, verblieb nur das der Orgel. Es war, als hätten die Glockentürme ihren Musiker verloren. Quasimodo war doch aber immer gegenwärtig. Was war in ihm vorgegangen? Weilte Scham und Verzweiflung über den Schandpfahl noch in seinem Herzen, und empfand seine Seele noch immer die Hiebe des Folterers? Hatte Schmerz über die Behandlung selbst seine Leidenschaft für die Glocken vertilgt, oder hatte Marie mit ihren Schwestern eine Nebenbuhlerin im Herzen des Glockenläuters?
Es ereignete sich im Jahre der Gnade 1482, daß der Tag der Verkündigung auf Dienstag, den 25. März fiel. Quasimodo fühlte wieder einige Liebe zu seinen Glocken; denn der Tag war schön und heiter. Er stieg also den nördlichen Turm hinan, während der Küster die hohen Tore der Kirche öffnete, die aus ungeheuren Stücken harten, mit Leder bedeckten und mit vergoldeten Nägeln und Schnitzwerk verbrämten Holzes bestanden.
Als Quasimodo in die Glockenstube trat, beschaute er zuerst die sechs kleineren Glocken und erhob traurig das Haupt, als habe sich etwas Fremdartiges zwischen ihn und sie eingedrängt. Als er sie aber in Bewegung gesetzt hatte und merkte, wie die Glockentraube sich unter seiner Hand regte, als er die zitternde Oktave auf der hellen Tonleiter hinabsteigen sah (denn er konnte sie nicht hören), als der Musik-Dämon den armen Tauben mit sich fortriß, wurde er wieder glücklich; sein Herz erweiterte sich und gab seinem Antlitz einen helleren Schein. Er lief hin und her, klatschte in die Hände, eilte von einem Strick zum andern, ermutigte die sechs Sänger mit Zuruf und Gebärde, wie ein Kapellmeister seine Virtuosen anfeuert.
„Auf! Auf! Gabriele“, rief er, „gieß all deinen Lärm auf den Platz! Heute ist Festtag. – Thibauld! Nicht so faul! Du wirst schläfrig! Bist du verrostet, Nichtstuer? – Schnell! Schnell! Daß man den Klöppel nicht sieht. Mach die Leute taub, wie mich! – Brav, Thibauld! – Guillaume! Guillaume! Du bist der dickste, Pasquier ist der kleinste, und Pasquier geht besser. Ich wette, man hört ihn besser als dich. – Schön! Schön! Gabriele! Noch stärker! – He! Was macht ihr beiden Sperlinge! Ich sehe, daß ihr gar nichts tut! – Ihr kupfernen Schnäbel seht aus, als wolltet ihr gähnen, anstatt zu läuten. Arbeitet! Heute ist Mariä Verkündigung! Der Tag ist schön! – Armer Guillaume, du bist schon ganz außer Atem!“
Er dachte an nichts als an seine Glocken, die immer schneller sich schwangen und ihre glänzenden Kreise wie ein lärmendes Gespann spanischer Maultiere, gereizt durch die Reden des Muletero, schüttelten. Plötzlich, als er einen Blick durch die Schieferschuppen des Turmdaches warf, erblickte er auf dem Platze ein bizarr gekleidetes Mädchen, das auf den Boden einen Teppich breitete. Darauf setzte sich eine Ziege, und ein Kreis von Zuschauern umringte beide. Dieser Anblick änderte plötzlich die Richtung seiner Gedanken und brachte seinen musikalischen Enthusiasmus zum Gerinnen, wie ein Windstoß fließendes Harz. Er hielt an, wandte dem Glockenspiel den Rücken und kauerte hinter der Luke von Schiefer, indem er auf die Tänzerin den trüben, sanften, zärtlichen Blick heftete, über den der Archidiakonus schon einmal erstaunt war. Der Schall der vergessenen Glocken erlosch plötzlich zum großen Leidwesen aller Liebhaber, die dem Glockenspiel auf dem Pont-au-Change mit Vergnügen zuhörten und erstaunt wie ein Hund, dem man einen Knochen zeigte und einen Stein gab, davonschlichen.
27. ‘ANAGKH
An einem schönen Tage desselben Monats (ich glaube, es war Sonnabend, der 29. März, Tag des heiligen Eustachius) bemerkte unser junger Freund, der Student Jehan Frollo du Moulin, beim Ankleiden, die Hosen, in denen seine Börse steckte, gäben keinen metallischen Klang. „Arme Börse“, sprach er, sie aus der Tasche ziehend, „wie haben die Würfel, Venus und Bierkrüge dich ausgeweidet! Wie leer, gerunzelt und verschrumpft! Du gleichst dem Busen eines alten Weibes!“
Voll Schmerz kleidete er sich an, als ihn ein Gedanke überraschte. Zuerst wies er ihn zurück; allein er kehrte wieder, und Jehan zog seine Weste verkehrt an, so heftig war der Kampf in seinem Innern. Endlich warf er seine Mütze auf den Boden und rief: „Desto schlimmer! Geschehe, was da will! Eine Predigt werde ich in den Kauf bekommen, aber auch einen Taler!“ Dann zog er seinen pelzgefütterten Rock an, nahm seine Mütze und schritt hinaus, wie ein Mensch, der zum Äußersten entschlossen ist. Als er vor Notre-Dame stand, fühlte er wieder seine frühere Unentschlossenheit, ging mehrere Male auf und ab und wiederholte mit Beklemmung: „Der Taler ist zweifelhaft, aber die Predigt ist hart und gerissen!“
Einen Kirchendiener, der aus dem Kloster trat, hielt er mit den Worten an: „Wo ist der Herr Archidiakonus?“ – „Ich glaube“, war die Antwort, „er ist in der Zelle des Turmes; ich rate Euch, ihn dort nicht zu stören, wenn Ihr nicht wenigstens im Auftrage des Königs oder des Papstes kommt.“
Jehan klatschte in die Hände. „Zum Teufel, das ist eine schöne Gelegenheit, seine Zauber-Zelle zu sehen.“ Entschlossen ging er durch das kleine Tor und stieg die Treppe des Turmes hinan. – „So werde ich’s sehen“, dachte er unterwegs. „Bei dem Überrock der heiligen Jungfrau! Die Zelle da muß merkwürdig sein; denn mein Bruder verbirgt sie sorgfältiger als seine Schamteile. Man sagt, dort brennt er höllisches Feuer und läßt den Stein der Weisen sieden. Bei Gott! Mir gilt der Stein so viel wie ein Kiesel, und ich möchte auf seinem Ofen lieber einen Eierkuchen finden, als den größten Stein der Weisen in der Welt!“
Nachdem er tausend Schock Donnerwetter über die endlose Treppe geflucht hatte, stand er endlich keuchend vor der magischen Zelle seines Bruders. Der Schlüssel steckte im Schloß und die Tür war nur angelehnt. Er öffnete sie leise und steckte den Kopf durch die Öffnung.
Wer Rembrandts „Faust“ gesehen hat, mag sich einen Begriff von dem machen, was Jehan Frollo jetzt erblickte. Mitten in einer düsteren Zelle steht ein mit scheußlichen Gegenständen bedeckter Tisch; man sieht Totenköpfe, Globen, Destillier-Kolben, Kompasse, hieroglyphische Pergamente. Der Doktor sitzt da in seinem dicken Oberkleid und seiner bis auf die Augen hinabgedrückten Pelzmütze. Halb hat er sich von seinem Sessel erhoben und betrachtet voll Neugier und Schrecken einen großen Lichtkreis, der auf der Mauer im Hintergrunde wie die reflektierte Sonnenscheibe in der Camera obscura glänzt. Diese kabbalistische Sonne scheint zu zittern und erfüllt die bleiche Kammer mit einem magischen Strahl. Das Ganze ist zugleich furchtbar und schön.
Etwas Ähnliches bot sich Jehans Auge, als er seinen Kopf durch die angelehnte Tür wagte. Auch dort stand ein Tisch voll Kompasse, Destillier-Kolben; an der Decke hingen Tierskelette, auf dem Fußboden lagen Himmelskugeln und Geschirre mit Goldplättchen durcheinander, Totenköpfe ruhten auf alten Pergamenten mit sonderbaren Zeichen, dicke Manuskripte lagen aufgeschlagen da, ohne Mitleid für die harten Ecken des Pergaments; alles war von Staub und Spinngeweben bedeckt; nur der Lichtkreis fehlte. In einem Sessel saß ein Mann und lehnte sich gekrümmt über den Tisch. Jehan, dem er den Rücken wandte, konnte nur seine Schultern und den hinteren Teil seines Schädels betrachten. An dem kahlen Haupte, dem die Natur eine ewige Tonsur beschieden zu haben schien, als wollte sie dadurch den unabwendbaren geistlichen Beruf des Archidiakonus andeuten, konnte er diesen leicht erkennen. Die Tür war so leise geöffnet, daß Claude seines Bruders Gegenwart nicht bemerkte. Er sprach in abgebrochenen Sätzen vor sich hin, wobei er von Zeit zu Zeit wieder in seine Manuskripte blickte.
„Ja, Manu sagte es mit Zoroaster! Aus Feuer entspringt die Sonne, der Mond aus der Sonne. Das Feuer ist die Seele des Weltalls; seine Atome fließen unaufhörlich in unendlichen Strömen. Wenn sie am Himmel sich durchschneiden, schaffen sie das Licht; durchschneiden sie sich auf der Erde, schaffen sie das Gold. – Gold und Licht, dasselbe! – Feuer im konkreten Zustande! – Der Unterschied zwischen dem Flüssigen und Festen, nichts weiter! Wie Eis und Wasser. – Kein Traum. – Allgemeines Naturgesetz. – Wie soll man das Geheimnis des allgemeinen Gesetzes aufspüren? Das Licht, das meine Hand umfließt, besteht aus erweiterten Atomen. Man braucht sie nur zu verdichten. Aber wie? – Averrhoës* verbarg den Sonnenstrahl in der Moschee von Cordova, links vom Allerheiligsten unter dem Hauptpfeiler. Aber erst in achttausend Jahren darf man die Höhle öffnen, um zu sehen, ob die Operation gelang.“
„Andere dachten“, fuhr der Archidiakonus sinnend fort, „es sei besser mit einem Strahl des Sirius zu operieren. Aber wie kann man diesen Strahl rein erhalten, da die Strahlen anderer Sterne sich mit ihm mischen? – Flamel glaubt, es sei einfacher, mit irdischem Feuer zu operieren. – Flamel, ein prädestinierter Name! Flamma! – Ja, Feuer, das ist alles! – Diamant ist Kohle, Gold ist Feuer. – Wie soll man aber Gold aus dem Feuer entbinden? – Magistri behauptet, es gebe gewisse Frauennamen, die man nur bei der Operation auszusprechen brauche. – Was sagt Manu? ,Wo die Frauen geehrt sind, freut sich die Gottheit. Wo sie verachtet werden, hilft es nichts, zu Gott zu beten. – Der Mund einer Frau ist ewig rein, ein rieselnder Strom, ein Strahl der Sonne. – Der Name einer Frau muß angenehm, süß sein, mit langen Vokalen enden und den Worten des Segens gleichen.‘ Ja, der Weise hat recht, Maria, Sophia, Esmeralda. Verdammt, ewig der Gedanke …“
Heftig schlug er das Buch zu.
„Seit einiger Zeit“, fuhr er mit bitterem Lächeln fort, „mißlingen mir alle Experimente. Ein fixer Gedanke quält mich und lähmt mein Gehirn. Ich konnte nicht einmal des Cassiodorus’ Geheimnis auffinden, dessen Lampe ohne Docht und Öl brannte. Und doch wie einfach!“
„Pest!“ murmelte Jehan zwischen den Zähnen.
„Ein einziger Gedanke genügt also, den Menschen schwach und töricht zu machen. Wie würde Claude Frollo meiner spotten, jenes Weib, das auch nicht einen Augenblick Flamel von der Erforschung des großen Geheimnisses abwenden konnte. – Was! Ich halte in der Hand den magischen Hammer Zechieles! So oft der furchtbare Rabbiner in seiner Zelle auf diesen Nagel mit dem Hammer schlug, sank der Feind, den er verdammte, und war er auch zweitausend Stunden entfernt, zwei Ellen unter der Erde, die ihn verschlang. Selbst der König von Frankreich fiel bis an die Knie in das Pflaster von Paris, weil er einst unbedachtsam an die Tür des Wundertäters geklopft hatte. – Das geschah vor dreihundert Jahren. – Gut! Ich habe Hammer und Nagel, und in meiner Hand ist dies kein furchtbareres Werkzeug als der Hammer eines Blechschmieds. – Doch vielleicht finde ich das magische Wort, das Zechiele aussprach, wenn er auf den Nagel schlug.“
Kleinigkeit, dachte Jehan.
„Versuch’ ich’s!“ begann der Archidiakonus aufs neue. „Gelingt es mir, so springt der blaue Funke aus dem Nagel. – Emen-Hétan! Emen-Hétan! – Das ist’s nicht. – Sigéani, Sigéani! – Dieser Name öffne das Grab jedem, der Phoebus heißt. – Verflucht, ewig denselben Gedanken!“
Zornig warf er den Hammer weg. Dann sank er so tief in seinen Lehnstuhl und über den Tisch zurück, daß Jehan ihn hinter der hohen Lehne aus den Augen verlor. Einige Minuten lang sah er nur seines Bruders konvulsivisch geballte Faust auf einem Buche. Plötzlich erhob sich Claude, nahm einen Zirkel und grub in die Mauer das griechische Wort ‘ANAGKH.
Mein Bruder ist ein Narr, dachte Jehan; er hätte einfacher Fatum hingeschrieben; alle Welt braucht nicht Griechisch zu verstehen.
Der Archidiakonus setzte sich wieder in den Sessel, stützte das Haupt auf beide Hände, wie ein Kranker, der an heftigen und brennenden Kopfschmerzen leidet.
Der Student beobachtete überrascht seinen Bruder; da er selbst sein Herz gleichsam der freien Luft immerwährend aussetzte, nur das Gesetz der Natur beobachtete und seine Leidenschaften stets im natürlichen Bett ablaufen ließ, so daß der See heftiger Aufregung immer bei ihm trocken lag, denn er leitete ihn täglich durch neue Rinnen ab, konnte er keine Ahnung von dem wütenden Meer menschlicher Leidenschaften haben, wie es braust und kocht, wenn man jeglichen Ausfluß ihm abschnitt, wie es rauscht, schwillt, das Herz zerreißt, bis es die Deiche zertrümmert und sich ein Bett gräbt.
Jehan hatte sich stets durch die strenge, eisige Hülle, durch die verschanzte und unzugängliche Oberfläche der Tugend, wie sie sein Bruder zeigte, täuschen lassen. Der heitere Student hatte nie geahnt, daß der schneeige Gipfel des Ätna wütende, tiefe und kochende Lava birgt. So leichten Sinnes er aber auch war, sah er dennoch sehr wohl ein, daß er etwas gesehen habe, was er nicht hätte sehen dürfen, und Claude dürfe nicht wissen, wie er seine Seele bis in die geheimsten Falten beobachtet habe. Als er daher sah, wie der Archidiakonus in seine frühere Unbeweglichkeit zurücksank, zog er leise den Kopf zurück und ließ vor der Tür den Lärm seiner Schritte hören. Es klang, als ob soeben erst jemand gekommen wäre.
„Herein!“ rief der Archidiakonus vom Inneren seiner Zelle; „Euch erwartete ich. Ich ließ deshalb den Schlüssel in der Tür. Herein, Meister Jacques!“
Keck trat der Student herein. Der Archidiakonus, dem der Besuch an jenem Ort sehr ungelegen kam, zitterte auf seinem Stuhl.
„Wie, Jehan, Ihr seid’s?“ – „Jawohl“, sagte Jehan mit keckem, rotem, heiterem Gesicht.
Das Antlitz Dom Claudes zeigte einen strengen Ausdruck. – „Was wollt Ihr hier?“
„Bruder“, sagte der Student, und bemühte sich, eine anständige, bescheidene und demütige Miene anzunehmen, wobei er mit dem Ausdruck der Unschuld seine Mütze spielend in der Hand hielt, „ich wollte Euch bitten …“ – „Um was?“ – „Um ein wenig Moral, deren ich sehr bedarf.“
Jehan wagte noch nicht, laut hinzuzufügen: „Und um ein wenig Geld, dessen ich noch mehr bedarf.“ Diese letzte Phrase ward noch nicht ausgesprochen.
„Junger Herr“, sagte der Archidiakonus kalt, „ich bin sehr unzufrieden mit Euch.“ – „Ach!“ seufzte Jehan.
Dom Claude rückte seinen Stuhl um einen Viertelkreis und sah Jehan starr ins Auge. „Es ist mir sehr unangenehm, Euch zu sehen.“
Der Anfang war furchtbar. Jehan machte sich auf einen harten Schlag gefaßt.
„Jehan! Täglich höre ich Klagen über Euch. Gabt Ihr nicht neulich dem kleinen Vicomte de Ramonchamp die Bastonnade?“ – „Oh, was Rechtes! Der boshafte Page fand Vergnügen daran, die Studenten mit Schmutz zu bespritzen, indem er mit seinem Pferde im Straßenkot galoppierte.“ – „Dann habt Ihr den Rock des Mahiet Fargel zerrissen. Tunicam dechiraverunt, heißt es in der Klage.“ – „Oh, ein schlechtes Mäntelchen.“ – „In der Klage steht Tunicam und nicht Cappettam. Versteht Ihr Latein?“
Jehan erwiderte nichts. – „Ja“, fuhr der Priester fort und schüttelte den Kopf; „so steht es jetzt mit den Wissenschaften! Latein wird kaum verstanden; Syrisch ist unbekannt und Griechisch so verhaßt, daß die Gelehrten sich ihrer Unwissenheit nicht schämen, und wenn sie ein griechisches Wort finden, es mit den Worten überspringen: Graecum est, non legitur.“
Der Student schlug keck die Augen auf. „Bruder, soll ich Euch in gutes Französisch das Wort übersetzen, das dort auf der Mauer steht?“ – „Welches?“ – „
Eine leichte Röte flog über die gelben Wangen des Archidiakonus, gleich einer Rauchsäule, die nach außen geheime Glut eines Vulkans andeutet. Der Student aber bemerkte dies nicht.
„Nun, Jehan“, stammelte der ältere Bruder, „was heißt es?“ – „Verhängnis.“
Dom Claude erblaßte, unbekümmert fuhr der Student fort: „Das Wort, welches dort von derselben Hand geschrieben steht, anageia, bedeutet Unkeuschheit. Ihr seht, ich kann Griechisch.“
Der Archidiakonus schwieg. Die Übersetzung aus dem Griechischen versenkte ihn in tiefes Sinnen. Der kleine Jehan, welcher alle Schlauheiten eines verzogenen Kindes besaß, hielt den Augenblick für günstig, seine Bitte zu wagen. Seine Stimme war außerordentlich sanft, und er begann: „Guter Bruder, wie könnt Ihr bis zu so böser Miene mir über einige Prügel und Faustschläge zürnen, die ich im offenen Kriege einigen Knaben und Fratzen austeilte: Quibusdam marmosetis. Ihr seht, ich verstehe Latein.“
Allein, diese liebkosende Heuchelei äußerte diesmal bei dem strengen älteren Bruder nicht die gewohnte Wirkung. Zerberus biß nicht so leicht in den Honigkuchen. Die Stirn des Archidiakonus verlor keine einzige ihrer Runzeln. „Wo wollt Ihr hinaus?“ fragte er in trockenem Tone.
„Ja“, antwortete Jehan mutig, „ich habe Geld nötig.“
Bei dieser dreisten Erklärung nahm das Gesicht des Archidiakonus plötzlich den Ausdruck eines Vaters und Erziehers an: „Ihr wißt, Jehan, unser Lehen Tirechappe trägt mit der Miete von einundzwanzig Häusern nur neunundreißig Livres elf Sous sechs Heller ein. Das ist nur etwas mehr als die Hälfte unseres früheren Einkommens.“ – „Ich brauche Geld“, sprach Jehan, unerschütterlich wie ein Stoiker. – „Ihr wißt, es ist vom Gerichte entschieden, daß die einundzwanzig Häuser vom Bischofe als Lehen gegeben werden, und daß wir diese Last nur mit zwei Mark Silber ablösen können. Ich konnte sie noch nicht aufbringen, Ihr wißt das doch?“ – „Ich weiß, daß ich Geld brauche“, sagte Jehan zum drittenmal. – „Was wollt Ihr damit anfangen?“
Ein Schimmer von Hoffnung strahlte bei diesen Worten in Jehans Augen. Er nahm seine schmeichelnd sanfte Miene wieder an: „Seht, lieber Bruder, in böser Absicht hätte ich mich nicht an Euch gewandt. Ich will ja nicht in den Schenken mit Euren Gold-Unzen den Großen spielen, auch nicht mit einer Brokatdecke mit meinem Lakaien in den Straßen herumreiten. Nein, Bruder, ich brauche Geld zu einem Werke der Barmherzigkeit.“ – „Wozu?“ fragte Claude ein wenig überrascht. – „Wir wollen dem Kinde einer armen Witwe und Wäscherin Wickelzeug schenken. Das kostet drei Gulden, und ich möchte auch einen hinzufügen.“ – „Wie heißen Eure Freunde?“ – „Peter Prügler und Baptist Spieler.“ – „So? Das sind zwei Namen, die für den Hochaltar sich eignen.“
Gewiß hatte Jehan die Namen beider Freunde sehr unpassend gewählt. Er fühlte dies aber erst, als es zu spät war.
„Und dann“, fuhr der weise Claude fort, „welches Wickelzeug kostet drei Gulden, und zwar für ein Kind einer Wäscherin? Seit wann endlich brauchen die Wäscherinnen Wickelzeug für ihre Kinder?“
Jehan versuchte noch einmal sein Heil. – „Nun, ich brauche Geld, um heute abend Isabeau-la-Thierrye im Val-d’Amour zu besuchen.“ – „Unreiner Sünder!“ – „’Anagneia!“
Dieses Zitat, das der Student wohl boshafterweise der Mauer entlehnte, äußerte auf seinen Bruder eine eigentümliche Wirkung. Er biß sich in die Lippen, und sein Zorn erlosch unter Schamröte.
„Seht“, sagte er zu Jehan, „ich erwarte jemanden.“ – Der Student machte einen letzten Versuch: „Bruder Claude, gebt mir einen kleinen Parisis zum Essen.“ – „Wie weit seid Ihr in Gratians Dekretalien gekommen?“ – „Ich habe meine Hefte verloren.“ – „Wie weit seid Ihr im Durchlesen lateinischer Schriftsteller?“ – „Man hat mir meinen Horaz gestohlen.“ – „Wie weit seid Ihr im Aristoteles?“ – „Meiner Treu! Bruder, wie heißt doch der Kirchenvater, der da sagt, alle Ketzerei stamme aus Aristoteles’ Metaphysik? Ich will meine Religion an seiner Metaphysik nicht verderben.“ – „Junger Mann, beim letzten Einzuge des Königs war ein Edelmann in seinem Gefolge, der trug seine Devise auf der Pferdedecke gestickt: Qui non laborat, non manducet*, und heißt Phillippe Comines. Ich rate Euch, darüber nachzudenken.“
(
Der Student schwieg einen Augenblick, legte den Finger aufs Ohr, heftete die Augen zu Boden und schnitt ein verdrießliches Gesicht. Dann drehte er sich plötzlich gegen seinen Bruder, so schnell und lebhaft wie eine Bachstelze.
„So, guter Bruder, Ihr wollt mir nicht einmal einen Sou geben, Brotkrusten bei einem Bäcker zu kaufen?“ – „Qui non laborat, non manducet!“
Bei dieser Antwort des unerbittlichen Archidiakonus barg Jehan das Haupt in die Hände, wie eine schluchzende Frau und rief mit dem Ausdruck der Verzweiflung: „’Ototoi!“
„Was soll das?“ fragte Claude, erstaunt über die Albernheit. – „Oh Bruder“, rief der Student und erhob seine kecken Augen, die er so sehr mit der Faust gedrückt hatte, daß sie in Tränen schwammen, „das ist griechisch! Ein Anapäst des Äschylus, der den Schmerz vollkommen ausdrückt.“ Und dann brach er in ein so lautes und possierliches Gelächter aus, daß der Archidiakonus lächeln mußte. Es war in der Tat Claudes eigene Schuld; warum hatte er seinen Bruder verzogen?
Jehan ward kühner durch dies Lächeln: „Oh, sieh doch, guter Bruder, meine abgelaufenen Stiefel. War je ein Kothurn tragischer als solch ein Stiefel, dessen Sohle die Zunge ausstreckt?“
Der Archidiakonus blickte wieder so streng wie früher: „Neue Stiefel sollst du haben, aber kein Geld!“
„Oh, nur einen armen kleinen Sou, Bruder!“ fuhr Jehan bittend fort. „Gratian will ich auswendig lernen und ein wahrer Pythagoras in Tugend und Gelehrsamkeit werden. Aber bitte! Einen kleinen Sou! Wollt Ihr, daß mich der Hunger mit seinem Rachen beißt, den er dicht vor mir aufreißt, tiefer als der Tartarus und stinkender als die Nase eines Mönchs?“
Dom Claude erhob sein gerunzeltes Haupt: „Qui non laborat …“
Jehan aber ließ ihn nicht aussprechen. „Zum Teufel!“ rief er aus. „Es lebe die Freude! Ich gehe in Schenken, prügle mich, zerbreche Flaschen und besuche Mädchen!“ Dann warf er seine Mütze an die Mauer, klatschte mit den Fingern wie mit Kastagnetten. Der Archidiakonus betrachtete ihn mit düsterem Blick. – „Jehan, du hast keine Seele.“ – „Dann fehlt mir etwas, das, nach Epikur, aus irgend etwas ohne Namen besteht.“ – „Jehan, du mußt ernstlich daran denken, dich zu bessern.“ – „Ah so!“ sagte der Student, der abwechselnd seinen Bruder und die Retorten ansah, „hier ist alles gehörnt, Ideen und Bouteillen.“ – „Jehan, du wandelst auf schlüpfrigem Pfade. Weißt du, wohin er führt?“ – „In die Schenke.“ – „Die Schenke führt zum Schandpfahl.“ – „Der Schandpfahl ist eine Laterne; vielleicht hätte Diogenes an der Laterne seinen Menschen gefunden.“ – „Der Schandpfahl führt zum Galgen.“ – „Der Galgen ist ein Schwebebalken mit einem Menschen am einen Ende, und der ganzen Erde als Stützpunkt am andern. Es ist schön, Mensch zu sein.“ – „Der Galgen führt zur Hölle.“ – „Die ist ein lustig Feuer.“ – „Jehan, Jehan, dein Ende wird schlimm sein.“ – „Dann war der Anfang gut.“
In dem Augenblick hörte man Schritte auf der Treppe. „Schweig“, sprach der Archidiakonus und legte den Finger auf den Mund. „Meister Jacques kommt. Höre, Jehan“, fügte er leise hinzu, „hüte dich jemals von dem zu sprechen was du hier hörst. Birg dich hinter dem Ofen und atme leise.“
Der Student duckte sich hinter dem Ofen. Da faßte er einen einträglichen Gedanken. – „Bruder Claude, einen Gulden, daß ich leise atme.“ – „Still! Ich will ihn geben.“ – „Du mußt ihn gleich geben.“ – „Nimm“, rief der Archidiakonus und warf ihm zornig seinen Geldbeutel hin. Jehan duckte sich unter den Ofen und atmete ganz leise.
28. Die beiden Schwarzröcke
Die Person, die eintrat, war schwarz gekleidet und sah sehr finster aus. Beim ersten Blick fiel unserem Freund Jehan (der, wie man leicht sich denken kann, eine Stellung eingenommen hatte, in der er alles sehen und hören konnte) die vollkommene Düsterkeit der Kleider und der Züge des neuen Ankömmlings auf. Eine gewisse Sanftmut lag dennoch um seinen Mund; es war aber eine Katzen- und Richtersanftmut, eine süßliche Sanftmut. Er war grau, gerunzelt, beinah sechzig Jahre alt, blinzelte mit den Augen, hatte weiße Brauen, hängende Lippen und grobe Hände. Als Jehan ihn erblickte und sogleich schloß, er müsse Arzt oder Magistratsperson sein, als er bemerkte, seine Nase rage hoch über den Mund hervor und gebe ein Zeichen seiner Dummheit, kauerte er sich nieder, und war schon in Verzweiflung, daß er eine unendliche Zeit in so beschwerlicher Stellung und langweiliger Gesellschaft zubringen müsse. Der Archidiakonus war, als die Person hereintrat nicht einmal aufgestanden. Er gab ihr ein Zeichen, sich auf einen Schemel an der Tür zu setzen, und nach einigem Schweigen, das Überlegung andeutete, sagte er mit einer Protektormiene: „Guten Tag, Meister Jacques!“
„Gruß und Heil, Meister“, erwiderte der schwarzgekleidete Mann.
Durch die Art, wie ,Meister Jacques‘ und ,Meister‘ ausgesprochen wurde, lag zwischen beiden ein Unterschied wie zwischen Herr und gnädiger Herr, zwischen Domine und Domne. Es war offenbar der Gruß des Lehrers an einen Schüler.
„Nun?“ fragte der Archidiakonus nach einem neuen Schweigen, das Meister Jacques zu stören sich wohl hütete, „es ist Euch gelungen?“
„Ach, Herr“, sagte der andere mit traurigem Lächeln, „Asche bekomme ich, so viel ich will, aber kein Körnchen Gold.“
Dom Claude machte eine verdrießliche Bewegung. – „Davon spreche ich nicht, Meister Jacques Charmolue, sondern ich meine den Prozeß Eures Hexenmeisters. Nicht wahr, er heißt Marc Cenaine und ist Schließer am Rechnungshofe? Gesteht er seine Magie? Hatte die Folter den gewünschten Erfolg?“
„Ach nein“, erwiderte Meister Jacques mit demselben traurigen Lächeln. „Wir haben nicht einmal den Trost. Der Mensch ist hart wie ein Kieselstein. Wir werden ihn auf dem Marché-aux-Pourceaux braten lassen, ohne daß er ein einziges Wort sagt. Wir vernachlässigen aber nichts, um zur Wahrheit zu gelangen. Seine Glieder sind schon ganz auseinandergerissen, aber alles hilft nichts. Der Mensch ist fürchterlich. Ich verliere bei ihm mein Latein.“ – „Fandet Ihr nichts Neues in seinem Hause?“ – „Ja, dieses Pergament; es stehen Worte darauf, die wir sämtlich nicht verstehen. Der Herr Kriminaladvokat versteht doch etwas hebräisch, das er bei dem Prozeß der Juden aus der Straße Kantersteen in Brüssel lernte.“
Meister Jacques entrollte ein Pergament. „Gebt her“, sprach der Archidiakonus. Er warf einen Blick darauf und sagte: „Reine Magie! Meister Jacques! Emen-Hétan! Geschrei der Hexen, wenn sie zum Sabat gehen. Per ipsum et cum ipso et in ipso, Worte, womit man den Teufel wieder zur Hölle bannt. – Hax, pax, max; eine medizinische Formel gegen den Biß toller Hunde. – Meister Jacques, Ihr seid Prokurator des Königs beim geistlichen Gerichtshofe! Dieses Pergament ist abscheulich.“ – „Gut, wir spannen ihn wieder auf die Folter. Hier ist auch noch“, fuhr Meister Jacques fort, wobei er aus der Tasche etwas hervorzog, „noch etwas, das wir bei Marc Cenaine fanden.“
„Ich gestehe Euch“, sagte Meister Jacques mit blödem und linkischem Lächeln, „daß ich sie in meinem Ofen versuchte, daß es mir aber mit dieser da nicht besser ging wie mit meiner eigenen.“
Der Archidiakonus untersuchte das Geschirr. „Was ist darauf geschrieben? Och! Och! Worte, die Flöhe verjagen. Marc Cenaine ist ein Dummkopf! Ich glaube wohl, daß Ihr damit nichts anfangen konntet! Es taugt zu nichts.“
„Weil wir nun einmal von Irrtümern sprechen“, sagte der Prokurator des Königs, „will ich Euch gestehen, daß ich, bevor ich hinaufstieg, das Portal unten beschaute. Weiß Euer Ehrwürden gewiß, das die Eröffnung des physikalischen Geheimnisses dort nach dem Hotel-Dieu zu geschrieben steht, und daß in den sechs nackten Figuren die mit geflügelten Füßen den Merkurius bedeutet?“ – „Ja“, erwiderte der Priester, „so schreibt Augustin Nypho, der italienische Doktor, in dessen Dienst ein bärtiger Teufel stand, der ihn alles lehrte. Kommt herunter, ich will Euch dann das übrige erklären.“ – „Danke, Meister“, sprach Charmolue und verneigte sich bis zum Boden. „Beiläufig gesagt, bald hätte ich die kleine Hexe vergessen. Wann soll ich sie verhaften lassen?“ – „Welche Hexe?“ – „Nun, die Zigeunerin, die trotz des Verbotes alle Tage auf dem Platze vor der Kirche tanzt. Sie hat eine vom Teufel besessene Ziege mit Satanshörnern. Diese liest, schreibt und versteht sich auf Mathematik wie Picatrix, so daß dies genügt, alle Zigeuner hängen zu lassen. Der Prozeß ist fertig und wird ihr schnell gemacht werden. Die Tänzerin ist doch, bei meiner Seele!, ein schönes Mädchen mit zwei schwarzen, schönen Augen! Wann sollen wir anfangen?“
Der Archidiakonus ward blaß wie ein Toter. – „Ich werd’ es Euch nachher sagen“, stammelte er mit fast lautloser Stimme. Dann begann er wieder mit sichtlicher Anstrengung: „Bekümmert Euch um Marc Cenaine.“ – „Seid unbesorgt, ich lasse ihn wieder auf das lederne Bett schnallen. Ein verteufelter Mensch! Er ermüdet sogar den Pierrat-Torterue, der noch gröbere Hände hat als ich. Er soll auf die Windelfolter, das ist die beste, die wir haben.“
Dom Claude schien in düstere Zerstreuung versunken zu sein. Er wandete sich zu Charmolue: „Meister Pierrat … Meister Jacques wollte ich sagen, bekümmert Euch doch um Marc Cenaine.“ – „Ja, ja, Dom Claude, der arme Mann! Er hat gelitten wie Mummol. Warum ging er aber zum Sabbat! Ein Türschließer des Rechnungshofes sollte den Text Karls des Großen: Vel stryga vel masca* kennen. Hinsichtlich der Kleinen – Esmeralda, glaub’ ich, heißt sie – werde ich Eure Befehle abwarten. – Ah so, wenn wir bei dem Portale vorübergehen, erklärt mir doch auch, was der gemalte Gärtner bedeutet, den man vorn in der Kirche sieht. Ist’s nicht der Sämann? – Meister, woran denkt Ihr?“
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Dom Claude, in Gedanken versunken, hörte nicht auf ihn. Charmolue folgte der Richtung seines Auges und sah, daß es mechanisch auf ein großes Spinngewebe geheftet war, das die Luke füllte. Eine unbedachtsame Fliege, welche die Märzsonne suchte, stürzte sich in das Netz und ward gefangen. Bei der Erschütterung des Netzes kam die dicke Kreuzspinne aus dem Mittelpunkte hervor und stürzte sich in einem Sprunge auf die Fliege, die sie mit den beiden vorderen Fühlhörnern zerriß, während ihr scheußlicher Rüssel in den Kopf der Fliege drang. –
„Arme Fliege“, sprach der königliche Prokurator am geistlichen Gerichtshofe und streckte die Hand aus, sie zu retten. Der Archidiakonus aber fuhr plötzlich auf und hielt seinen Arm mit konvulsivischer Kraft zurück.
„Meister Jacques“, rief er aus, „laßt dem Verhängnis seinen Lauf.“ – Der Prokurator wandte sich erschrocken um; es schien ihm, als packe eine eiserne Zange ihn am Arm. Der Blick des Priesters war starr, fest, flammend auf die furchtbare Gruppe der Fliege und Spinne gerichtet. „Ja“, rief der Priester mit einer Stimme, die aus dem Innersten seines Herzens zu dringen schien, „seht da, ein Symbol für alles! Neu geboren, flattert sie heiter, sucht Frühling, Luft und Freiheit! Ach! Dringt sie in die unheilvolle Rosette, stürzt die Spinne hervor! Arme Tänzerin! Arme Fliege! Meister Jacques, hindert die Spinne nicht! Es ist Verhängnis. – Ach, Claude, du bist die Spinne und zugleich die Fliege! Du flogst der Wissenschaft, dem Licht, der Sonne zu, du strebtest nur die Klarheit ewiger Wahrheit zu erreichen, du stürztest dich der blendenden Luke entgegen, die in die höhere Welt hinreicht, in die Welt des Lichtes, des Geistes und Wissens! Blinde Fliege, wahnsinniger Lehrer! Du erblicktest nicht das feine Spinnengewebe, welches zwischen dir und dem Lichte das Schicksal ausspannte! Elender Tor, du stürztest dich hinein, und jetzt ringst du mit zerbrochenem Haupt und ausgerissenen Flügeln mit den eisernen Gitterstangen des Schicksals. – Meister Jacques! Meister Jacques! Laßt die Spinne in Ruh!“
„Ich gebe Euch mein Wort“, sprach Charmolue, „ich will ihr nichts tun. Aber, Meister, laßt meinen Arm los, Ihr habt ja eine Hand wie eine eiserne Zange.“
Der Archidiakonus hörte nicht auf ihn. „Ich Wahnsinniger“, fuhr er fort, ohne den Blick von der Luke abzuwenden. „Und hättest du das furchtbare Geflecht mit den Flügeln durchbrochen, wähnst du das Licht erreicht zu haben? Ach, das nahe Glas, die durchsichtige Schranke, die Kristallmauer, reiner als Erz, kannst du nicht durchbrechen. Oh Eitelkeit des Wesens! Wie zerschmettern sich an dir die Weisen flatternd die Stirn! Wieviel Systeme stoßen sich schwirrend an diesem ewigen Glase!“
Er schwieg. Die letzten Worte, die seine Gedanken von ihm selbst auf die Wissenschaft abgeleitet hatten, schienen ihn zu beruhigen. Charmolue führte ihn gänzlich zur Wirklichkeit zurück durch die Frage: „Aber Meister, wann wollt Ihr mir helfen, Gold zu machen? Es dauert mir zu lange, bis mir dies gelingt.“
Der Archidiakonus erhob das Haupt mit bitterem Lächeln: „Meister Jacques, lest Michel Pfellus’ Dialogua de energia et operatione daemonum. Was wir beginnen, ist nicht ganz unschuldig.“
„Sprecht leise, Meister. Ich glaube es wohl. Man muß doch aber Alchimie treiben, wenn man nichts als Prokurator des Königs mit dreißig Talern Tournois jährlichen Gehalts ist. Nur sprechen wir leise!“
In dem Augenblick erreichte der Lärm einer kauenden Kinnlade, der vom Ofen herkam, Charmolues unruhiges Ohr.
„Was ist das?“ fragte er. Es war der Student. Dieser hatte, während er sich in seinem Versteck sehr übel befand und sich langweilte, eine alte Brotkruste und ein Stück schimmligen Käse entdeckt. Ohne Umstände begann er beides als Frühstück und Trost zu verzehren. Da er sehr hungrig war, machte er viel Lärm mit den Zähnen und betonte jeden Mundvoll mit einem Akzent, so daß der Prokurator es endlich hörte.
„Es ist mein Kater“, sprach der Archidiakonus, etwas verlegen. „Er verspeist einige Mäuse.“
Diese Erklärung stellte Charmolue zufrieden.
„Wirklich, Meister“, antwortete er mit achtungsvollem Lächeln, „alle großen Philosophen haben ihr vertrautes Tier. Ihr wißt, Servius sagt: Nullus enim locus sine genio est.“*
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Dom Claude erwartete aber einen neuen Possen von Jehan und erinnerte seinen würdigen Schüler, sie wollten noch einige Figuren des Portals zusammen betrachten. Der Student stieß ein freudiges Ach! aus, denn er besorgte wirklich, sein Knie möge einen Abdruck seines Kinns annehmen.
29. Sieben Flüche in freier Luft und ihre Folgen
Als Meister Jehan aus seinem Loch hervorsprang, rief er laut: „Te deum laudamus! Endlich sind die beiden Nachteulen fort! Och! Hax! Pax! Max! Tolle Hunde! Der Teufel! Ich habe an ihrem Gespräch genug! Der Kopf summt mir wie ein Turm! Schimmligen Käse noch in den Kauf! Fort! Die Treppe hinab mit dem Beutel meines Bruders, um alle Münzen in Wein zu verwandeln!“
Er warf einen Blick der Zärtlichkeit und Bewunderung in das Innere des köstlichen Geldbeutels, brachte seinen Anzug wieder in Ordnung, putzte an seinen Stiefeln, stäubte seine von Asche grauen Ärmel ab, pfiff ein Lied, schlug eine Pirouette, untersuchte, ob er noch etwas aus der Zelle forttragen könnte, steckte ein auf dem Herde liegendes gläsernes Amulett zu sich, um es seiner Isabeau-la-Thierrye als Edelstein zu schenken, und öffnete endlich die Tür, die seines Bruders letzte Nachsicht offengelassen hatte, ließ sie seinerseits aus letzter Bosheit ebenfalls offenstehen und hüpfte dann wie ein Vogel die Wendeltreppe hinab. Als er unter auf dem Platze stand, stieß er mit dem Fuß gegen den Boden. „Oh!“ rief er, „du gutes ehrbares Pflaster von Paris. Verfluchte Treppe, die Engel von Jakobs Leiter außer Atem zu bringen!“
Er tat einige Schritte und erblickte die beiden Nachteulen d. h. Dome Claude und Meister Jacques Charmolue, wie sie ein Schnitzwerk am Portal beschauten. Er trat auf den Fußzehen an sie heran und hörte, wie sein Bruder sagte: „Guillaume von Paris hat diesen Hiob auf den Stein von blauer Farbe mit vergoldetem Rade graben lassen. Hiob stellt den Stein der Weisen dar, der auch erprobt und Märtyrer werden muß, bis er zur Vollkommenheit gelangt, wie Raymundus Lullus sagt: Sub conservatione formae specificae salva anima.“*
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Das gilt mir gleich, dachte Jehan, ich habe die Börse.
In dem Augenblick vernahm er, wie eine starke tieftönende Stimme eine furchtbare Reihe von Flüchen ausstieß: „Gottes Blut! Gottes Bauch! Gottes Leib! Beelzebubs Nabel! Bei des Papstes Namen! Strick und Donnerwetter!“
Jehan rief aus: „Bei meiner Seele, das muß mein Freund der Hauptmann Phoebus von Chateaupers sein.“
Der Name Phoebus gelangte zu den Ohren des Archidiakonus in dem Augenblick, als er dem Prokurator des Königs den Drachen erklärte, der seinen Schwanz in ein Bad steckt, woraus Rauch und ein Königskopf emporsteigt. Dom Claude zitterte, unterbrach seine Erklärung zum großen Staunen seines Schülers, kehrte um und sah seinen Bruder Jehan, der an der Tür des Hotels Gondelaurier auf einen Offizier zuging.
Der war wirklich der Hauptmann Phoebus von Chateaupers. Er lehnte sich mit dem Rücken an die Ecke des Hauses seiner Braut und fluchte wie ein Heide.
„Meiner Treu! Hauptmann Phoebus“, sagte Jehan und faßte ihn bei der Hand. „Ihr flucht mit bewundernswürdiger Geläufigkeit.“
„Hörner und Donnerwetter!“ erwiderte der Hauptmann.
„Hörner und Donner Ihr selbst!“ antwortete der Student. „Schöner Hauptmann, was ist der Grund für diesen Überfluß an schönen Worten?“
„Verzeiht, guter Kamerad Jehan“, sagte Phoebus, ihm die Hand schüttelnd. „Ein Pferd kann im Galopp nicht anhalten. Nun fluchte ich im stärksten Galopp. Ich komme von den Zierpuppen dort, und so oft ich aus dem Hause gehe, ist mir die Kehle voll von Flüchen. Ich muß sie ausspeien oder ersticken. Donner und Wetter!“
„Wollen wir trinken?“ sagte der Student.
Dieser Vorschlag besänftigte den Hauptmann. – „Oh ja, aber ich habe kein Geld.“ – „Ich habe Geld.“ – „Wo? Zeig‘ her.“
Jehan breitete mit Majestät und Würde vor den Augen des Hauptmanns den Beutel aus. Unterdessen hatte der Archidiakonus den erstaunten Prokurator verlassen, blieb einige Schritte vor ihnen stehen und beobachtete beide, ohne daß sie es bemerkten, so sehr waren sie in der Betrachtung des Beutels vertieft.
Phoebus rief aus: „Eine Börse in deiner Tasche, Jehan, ist wie der Mond im Eimer Wasser. Man sieht ihn, aber er ist nicht da. Bei Gott. Ich wette, du hast nichts als Kieselsteine drin.“
Jehan erwiderte kalt: „Mit solchen Kieselsteinen pflastere ich meine Hosentasche.“ Und ohne ein Wort hinzuzufügen, leerte er den Beutel auf einem nahen Eckstein aus, und zwar mit der Mine eines Römers, der sein Vaterland rettet. Einige Liards waren in den Kot gefallen. In seiner Begeisterung bückte sich der Hauptmann, sie aufzunehmen. Jehan hielt ihn zurück: „Pfui, Hauptmann Phoebus von Chateaupers!“
Phoebus zählte das Geld und wandte sich feierlich zu Jehan. „Weißt du, Jehan, das sind zweiunddreißig Sous. Wen hast du diese Nacht um seinen Beutel in der Straße Kehl-Abschneiden erleichtert?“
Jehan warf sein gelocktes, blondes Haupt zurück und sprach, verächtlich mit den Augen blinzelnd: „Mein Bruder ist Archidiakonus und ein Pinsel!“ – „Gottes Horn! Der würdige Mann!“ rief der Hauptmann. – „Komm, wir wollen trinken.“ – „Gut, gehen wir zum Apfel Evas, dort ist der Wein gut.“
„Gut; zu Eva und ihrem Apfel“, sprach der Student und faßte den Hauptmann unter den Arm.
Die beiden Freunde gingen nach Evas Apfel. Düster und verstört folgte ihnen der Archidiakonus. War dies derselbe Phoebus, dem er fluchte, dessen Name seit seiner Unterredung mit Gringoire sich unaufhörlich seinen Gedanken aufdrängte? Er wußte es nicht, allein der Name war Phoebus, und dies genügte dem Archidiakonus, mit Wolfschritten den beiden munteren Gesellen zu folgen, ihren Worten zu lauschen und alle ihre Bewegungen mit gespannter Ängstlichkeit zu beobachten. Übrigens war nichts leichter, als ihre ganze Unterhaltung mit anzuhören, denn sie sprachen ganz laut und kümmerten sich wenig darum, ob die Vorübergehenden die Hälfte ihrer Geheimnisse erfuhren. Sie sprachen von den Duellen, Mädchen, Krügen und anderen Torheiten.
An einer Straßenecke vernahmen sie den Schall einer baskischen Trommel von einem Kreuzwege her. Dom Claude hörte, wie der Offizier sagte: „Donnerwetter, geh schneller!“ – „Warum, Phoebus?“ – „Ich fürchte, die Zigeunerin möchte mich sehen.“ – „Welche?“ – „Die Kleine mit der Ziege“ – „Smeralda?“ „Ja, Jehan. Ich vergesse immer ihren verteufelten Namen. Ich will nicht, daß die Zigeunerin auf der Straße auf mich zugeht.“ – „Kennst du sie?“
Der Archidiakonus sah, wie Phoebus grinste und Jehan etwas ins Ohr sagte. Hierauf lachte Phoebus laut auf und schüttelte das Haupt mit triumphierender Miene.
„Wahrhaftig?“ sagte Jehan. – „Bei meiner Seele.“ – „Heut abend?“ – „Ja, ja!“ – „Kommt sie gewiß?“ – „Jehan, bist du verrückt? Zweifelt man an solchen Dingen?“ – „Hauptmann Phoebus, du bist ein glücklicher Ritter.“
Der Archidiakonus hörte das ganze Gespräch. Seine Zähne knirschten. Ein Schauer schüttelte seinen Körper. Einen Augenblick stand er still, stützte sich wie ein Trunkener auf einen Markstein und folgte dann wieder den beiden munteren Gesellen.
30. Das Gespenst
Die ausgezeichnete Schenke ,Zum Apfel der Eva‘ lag nahe der Universität. Sie bestand aus einem ziemlich langen und sehr niedrigen Saale im Erdgeschoß, dessen Gewölbe in der mittleren Biegung auf einen dicken, gelb angestrichenen hölzernen Pfeiler sich stützte. Überall standen Tische; an den Wänden hingen glänzende zinnerne Krüge. Der Saal war voll von Trinkern und Mädchen; an der Tür stand ein Weinstock, und über der Tür hing als Schild ein knitterndes Blech, bemalt mit einem Apfel und einem Weibe, vom Regen verrostet und an einem eisernen Spieß vom Winde geschaukelt.
Die Nacht brach an; der Kreuzweg war dunkel; die erleuchtete Schenke strahlte von weitem wie eine Schmiede in der Finsternis. Man vernahm das Klirren der Gläser, Schmausereien, Flüche, Gezänk, das durch die zerbrochenen Fensterscheiben auf die Straße schallte. Durch den Nebel, der die Wärme des Saales über die äußere Vorderseite des Fensters verbreitete, sah man hundert verwirrte Gestalten wimmeln, und von Zeit zu Zeit erhob sich aus ihrer Mitte ein schallendes Gelächter. Ein Mann aber ging ununterbrochen an der lärmenden Schenke auf und ab, sah unaufhörlich hinein und entfernte sich ebensowenig von dort, wie ein Pikenträger von seinem Schilderhaus. Bis zur Nase war er in einen Mantel gehüllt, den er bei einem Trödler in der Nähe gekauft hatte, vielleicht, um sich vor dem schneidenden Winde zu schützen, vielleicht auch, seinen Anzug zu verbergen. Bisweilen stand er am Fenster still, sah durch die mit Blei gefaßten Scheiben, horchte und stampfte mit dem Fuße. Endlich tat sich die Tür der Schenke auf. Darauf schien er gewartet zu haben. Zwei Trinker traten heraus. Ein aus der Tür dringender Lichtstrahl zeigte den Purpur ihrer munteren Gesichter. Der Mann im Mantel stellte sich beobachtend unter die Halle eines Hauses auf der anderen Straßenseite.
„Horn und Donner!“ sagte einer der beiden Trinker. „Schon sieben Uhr! Das ist die Stunde meines Stelldicheins.“ – „Ich sage dir“, sprach sein Gefährte mit lallender Zunge, „ich wohne nicht in der Straße Böse Worte, Indignus qui inter mala verba habitat.* Ich wohne Rue Jean-Pain-Mollet, in vico Johannis Pain-Mollet. – Du bist gehörnter als ein Einhorn, wenn du das Gegenteil sagst. – Jeder weiß, daß, wer einmal auf den Bären steigt, keine Furcht hat; aber deine Nase dreht sich zur Leckerei, wie St. Johann vom Hospital.“
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„Jehan, mein Freund, du bist betrunken“, sagte der andere. – Dieser antwortete taumelnd: „Phoebus, so beliebt es dir zu sagen, allein es ist bewiesen, Plato hatte das Profil eines Jagdhundes.“
Der Leser hat wahrscheinlich schon unsere beiden Freunde, den Studenten und den Hauptmann, erkannt. Auch der Mann, der sie im Dunkel beobachtete, schien sie erkannt zu haben; denn er folgte langsam jedem Zickzack, den der Hauptmann um des Studenten willen einschlagen mußte; denn jener, ein gewohnter Trinker, war durchaus kaltblütig geblieben. Der Mann im Mantel hörte so aufmerksam auf ihre Worte, daß er folgendes fesselnde Gespräch gänzlich erhaschen konnte.
„Zum Teufel! Bemüht Euch doch gerade zu gehen, Herr Baccalaureus! Ihr wißt, ich muß Euch verlassen; es ist sieben Uhr; ich habe ein Stelldichein mit einem Mädchen.“ – „Laßt mich doch! Ich sehe Sterne und feurige Lanzen! Ihr seid wie das Schloß Dampmartin, das vor Lachen platzt.“ – „Bei den Warzen meiner Großmutter, Jehan! Ihr schwatzt zuviel Unsinn. Beiläufig gesagt, Jehan, hast du noch Geld?“ – „Herr Rektor, das kleine Blutvergießen ist nicht meine Schuld.“ – „Jehan, lieber Jehan, du weißt, ich habe die Kleine auf die Brücke St. Michel bestellt und kann sie nur zur Falourdel führen, und die alte Hure mit dem weißen Schnurrbart gibt mir keinen Kredit. Jehan, bitte, sag’, haben wir die ganze Börse des Pfaffen vertrunken? Ist kein Sou mehr drin?“ – „Das Bewußtsein, seine Zeit nützlich verwendet zu haben, ist eine gerechte und süße Wurzel der Tafel.“ – „Bauch und Gendarm! Laß die Possen! Jehan des Teufels! Hast du noch Geld? Gib, bei Gott, oder ich räume dir die Taschen aus, und wärst du aussätzig wie Hiob und krätzig wie Cäsar!“ – „Herr, die Straße Galiache liegt unten an den Straßen Verrerie und Tixeranderie.“ – „Jawohl, guter, lieber Jehan! Armer Kamerad, sehr wohl! Ganz richtig! Aber in Gottes Namen, komm wieder zu dir. Ich brauche nur einen Sou, und es ist gleich sieben Uhr.“ – „Still! Still! Hör zu!“ und Jehan trällerte ein Lied:
„Student des Antichrist! Magst du erdrosselt werden mit den Kaldaunen deiner Mutter!“ rief Phoebus aus und stieß den betrunkenen Studenten weg, der gegen die Mauer taumelte und auf das Pflaster Philipp Augusts sanft hinsank. Der Hauptmann fühlte noch einiges brüderliches Mitleid, das nie aus dem Herzen des Trinkers weicht, rollte Jehan auf die Seite und legte sein Haupt auf einen Kehrichthaufen. In diesem Augenblick begann der Student in prächtigem Baß zu schnarchen. Der Mann im Mantel, der den beiden unaufhörlich gefolgt war, blieb einen Augenblick vor dem Studenten stehen, unentschlossen; dann stieß er einen tiefen Seufzer aus und entfernte sich, dem Hauptmann zu folgen.
Als dieser in die Straße St. André-des-Arcs einbog, bemerkte er, daß ihm jemand folgte. Zufällig hatte er die Augen zurückgewandt und erblickte eine Art Gespenst, das die Mauer entlang hinter ihm herkroch. Er blieb stehen, das Gespenst blieb stehen. Er wandelte weiter, das Gespenst wandelte weiter. Aber das machte ihm keine Sorgen. „Ah bah!“ sagte er, „ich habe keinen Heller.“ Vor der Fassade des Kollegiums von Autun machte er Halt. In dieser Schule hatte er vollbracht, was er seine Studien nannte, und es war ihm von seinen Schülerjahren die Gewohnheit geblieben, nie an der Fassade vorüberzugehen, ohne der Statue des Kardinals Bertrand, die rechts am Portale stand, den Schimpf zu erweisen, worüber Priapus in der Horazischen Satire: Olim truncus eram ficulnus* sich so bitter beklagt. Hierbei blieb er mit solcher Hartnäckigkeit, daß die Inschrift Eduensis episcopus fast erloschen war. Er blieb also, wie gewöhnlich, vor der Statue stehen. Die Straße war ganz einsam. Im Augenblick, wo er nachlässig seine Nesteln wieder zuknüpfte, sah er, wie der Schatten mit so langsamen Schritten auf ihn zuging, daß er mit Muße beobachten konnte, jener trage einen Hut und einen Mantel. Als er ihm nahe war, blieb dieser stehen, und zwar unbeweglicher als die Statue des Kardinals Bertand; Phoebus aber sah aus des Gespenstes Augen ein Licht strömen, gleich dem Schein, den im Dunkel ein Katzenauge wirft.
Der Hauptmann war tapfer und hätte sich um einen Räuber mit dem Stoßdegen in der Hand wenig bekümmert; allein diese wandelnde Statue, dieser steinerne Mensch erfüllte ihn mit Schauder. Damals sprach man in Paris von einem Gespenst, das des Nachts in den Straßen umherstriche; ein solcher Gedanke kam dem Hauptmann in den Sinn. Einige Augenblicke stand er erschrocken da, dann bemühte er sich, zu lächeln, und sagte: „Mein Herr, seid Ihr ein Dieb, wie ich hoffe, so geht es Euch wie dem Reiher, der die taube Nuß ergreift. Mein Lieber, ich bin der Sohn einer zugrunde gerichteten Familie. Ich rate Euch, seitwärts zu gehen. Dort in der Kapelle liegt ein Stück vom wahren Kreuz in silberner Kapsel.“
Die Hand des Gespenstes kam unter dem Mantel hervor und packte mit der Kraft einer Adlerklaue den Arm des Hauptmanns. Zugleich fing auch das Gespenst an zu sprechen.
„Hauptmann Phoebus von Chateaupers!“ – „Was, Teufel! Ihr wißt meinen Namen?“ – „Ich weiß noch mehr als Euern Namen“, erwiderte der Mann im Mantel mit einer Grabesstimme; „heut’ abend habt Ihr ein Stelldichein.“ – „Ja“, antwortete Phoebus erstaunt. – „Um sieben Uhr.“ – „In einer Viertelstunde.“ – „Bei dem Weibe Falourdel.“ – „Ja.“ – „Frevler“, murmelte das Gespenst, „mit einer Frau!“ – „Confiteor.“* – „Sie heißt …“ – „Smeralda“, sagte Phoebus heiter; denn seine ganze muntere Sorglosigkeit kehrte allmählich zurück. Bei dem Namen schüttelte die Kralle den Arm des Hauptmanns mit Wut. – „Hauptmann Phoebus von Chateaupers, du lügst!“
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Wer in diesem Augenblick das entflammte Antlitz des Hauptmanns und seinen Sprung rückwärts, der so heftig war, daß er sich von der Zange losriß, die stolzen Züge, als er die Hand auf den Degen legte, den heftigen Zorn vor der düsteren Unbeweglichkeit des Mannes im Mantel geschaut hätte, wäre sicherlich vor Schrecken erstarrt. Die Szene glich dem Kampfe Don Juans mit der Statue.
„Christ und Satan!“ rief der Hauptmann. „Das Wort vernimmt selten das Ohr eines Chateaupers! Wage es nicht zum zweitenmal!“
„Du lügst!“ sagte kalt das Gespenst.
Der Hauptmann knirschte mit den Zähnen. Popanz, Gespenst und Aberglauben hatte er in dem Augenblick vergessen. Er sah nur einen Mann und eine Beleidigung. „Ha, das geht!“ stammelte er mit einer vor Zorn erstickten Stimme. Er zog den Degen und rief stotternd (denn auch der Zorn erweckt Zittern wie die Furcht): „Hier! Sogleich! Zieh den Degen! Den Degen! Blut aufs Pflaster!“ Der andere aber rührte sich nicht. Als er seinen Gegner in Fechtstellung sah, sprach er mit bitterer Stimme: „Hauptmann Phoebus, Ihr vergeßt Euer Stelldichein.“
Die Aufwallungen von Menschen wie Phoebus gleichen der Milchsuppe, deren Blasen nach einem Tropfen kalten Wassers verschwinden. Dies bloße Wort senkte den Degen, der in des Hauptmanns Hand blitzte. – „Hauptmann“, fuhr der Mann fort, „morgen, übermorgen, in einem Monat, in zehn Jahren findet Ihr mich bereit, Euch den Hals abzuschneiden. Zuerst aber geht Eurem Stelldichein nach.“
„Wirklich?“ sagte Phoebus, als suche er mit sich selbst zu kapitulieren. „Nichts ist schöner, als in einem Stelldichein ein Mädchen und einen Degen zu treffen; allein ich sehe nicht ein, warum ich das eine für das andere hingeben sollte, da ich sie beide haben kann.“
Mit diesen Worten steckte er den Degen ein. – „Geht doch zu Eurem Stelldichein“, sagte der Unbekannte. – „Herr“, erwiderte Phoebus etwas verlegen, „ich danke Euch für Eure Höflichkeit. Morgen ist es ja auch noch Zeit, in die Jacke unseres Vaters Adam Schlitze und Knopflöcher zu schneiden. Ich danke Euch, daß Ihr mir erlaubt, eine Viertelstunde angenehm zuzubringen. Ich hoffte wohl, Euch zum Todesschlaf in die Gosse niederzulegen und noch beizeiten zu der Schönen zu gelangen, besonders da es nicht unschicklich ist, die Frauen in solchen Fällen ein wenig warten zu lassen. Ihr aber seht mir aus wie ein munterer Schelm, und es ist sicherer, die Partie bis morgen zu verschieben. Ich gehe also zu meinem Stelldichein um sieben Uhr, wie Ihr wißt.“ – Hier kratzte sich Phebus hinterm Ohr. „Ach! Gottes Hörner! Ich vergaß, daß ich keinen Heller habe, die Dachkammer zu bezahlen, und die alte Hexe will im voraus bezahlt sein. Sie traut mir nicht.“
„Hier habt Ihr Geld.“ – Phoebus fühlte, wie die eisige Hand des Unbekannten ein großes Stück Geld in die seinige schlüpfen ließ. Er konnte es nicht unterlassen, das Geld zu nehmen und die Hand zu drücken. „Wahrhaftiger Gott“, rief er aus, „Ihr habt ein gutes Herz!“ – „Nur eine Bedingung! Beweist, daß ich unrecht hatte und daß Ihr die Wahrheit sagtet. Verbergt mich in einem Winkel, von wo ich sehen kann, ob das Mädchen wirklich dasselbe ist, von dem Ihr spracht.“
„Oh“, sagte Phoebus, „das ist mir einerlei, wir wollen die Kammer nach Ste. Marthe nehmen; im Hundestall, der seitwärts steht, könnt Ihr nach Belieben zuschauen.“ – „Kommt!“ sprach das Gespenst. – „Wie Euch beliebt. Ich weiß zwar nicht, ob Ihr Herr Satan in Person seid, für heute abend sind wir aber gute Freunde, und morgen will ich Euch alle Schulden mit Börse und Degen bezahlen.“
Sie gingen schnell weiter. Nach einigen Minuten merkten sie an dem Rauschen des Flusses, daß sie auf dem Pont St. Michel waren. – „Erst will ich Euch hereinführen“, sprach Phoebus zu seinem Gefährten, „dann hole ich die Schöne, die mich im Petit-Châtelet erwartet.“ Der Gefährte erwiderte nichts; seitdem sie Seite an Seite gingen, hatte er kein Wort gesprochen. Phoebus hielt an einer niederen Tür und klopfte laut; ein Licht schimmerte durch die Ritzen. – „Wer ist da?“ rief ein zahnloser Mund. – „Gottes Leib! Gottes Kopf! Gottes Bauch!“ fluchte der Hauptmann. – Sogleich öffnete sich die Tür und zeigte den beiden Ankömmlingen ein altes in Lumpen gekleidetes Weib und eine alte Lampe, beide zitternd. Die Alte hatte ein abstoßendes Äußeres; sie wackelte mit dem Kopf und hatte kleine Augen. Das Innere der Hütte war verfallen. In der Mitte befanden sich wankelnde Tische und Schemel; ein schmutziger Knabe lag auf der Asche, und im Hintergrunde befand sich eine Treppe oder vielmehr eine hölzerne Leiter, die in einer Falltür endete. Als er in die Höhle trat, hob des Hauptmanns Gefährte den Mantel bis auf die Augen. Der Hauptmann, ob er gleich wie ein Sarazene fluchte, beeilte sich dennoch, die Sonne in einen Taler strahlen zu lassen. „Gebt uns die Kammer nach Ste. Marthe zu“, sprach er.
Die Alte redete ihn mit gnädiger Herr an und barg den Taler in einer Schublade. Es war das Geldstück, welches der Mann im schwarzen Mantel dem Hauptmann gegeben hatte. Während sie den Rücken wandte, ging der zerlumpte und langhaarige Knabe auf den Zehen zur Schublade, nahm den Taler heraus und legte ein trockenes Blatt, das er aus einem Reisigbündel hervorgesucht hatte, an seine Stelle. Die Alte gab den beiden Edelleuten (so nannte sie die beiden) ein Zeichen, ihr zu folgen, und ging voran, als sie die Treppe hinaufstieg. Als sie zum oberen Stock gelangte, setzte sie die Lampe auf einen Koffer, und Phoebus, ein Kunde ihres Hauses, öffnete eine kleine Tür, die in ein dunkles Loch führte. – „Tretet ein, mein Lieber“, sprach er zu seinem Gefährten. Der Mann im Mantel gehorchte, ohne eine Wort zu erwidern; die Tür fiel zu; er hörte, wie Phoebus den Riegel vorschob und gleich darauf die Treppe mit der Alten wieder hinabstieg. Das Licht war verschwunden.
31. Vom Nutzen der Fenster, die nach dem Flusse hinausgehen
Claude Frollo (denn wir vermuten, der Leser sei scharfsinniger als Phoebus, und habe wahrscheinlich in dem Gespenst den Archidiakonus wiedererkannt) tappte einige Augenblicke in dem dunklen Loch, in das der Hauptmann ihn eingeriegelt hatte, umher. Hier war weder Fenster, noch Luke, und das schräge Dach verhinderte, aufrecht zu stehen. Er wartete schon eine Viertelstunde, und diese schien ihm ein Jahrhundert. Plötzlich hörte er die Leiterstufen knarren. Jemand stieg die Treppe hinan. Es öffnete sich die Falltür und Licht erschien. In der wurmstichigen Tür des Loches war eine ziemlich große Ritze, dort legte er sein Antlitz fest an. So konnte er deutlich alles sehen, was in der Kammer vorging. Die Alte mit dem Katzengesicht erschien zuerst an der Falltür, dann Phoebus, der seinen Schnurrbart drehte, und endlich die schöne, anmutige Gestalt der Esmeralda. Der Priester sah sie gleich einer blendenden Erscheinung aus dem Boden emporsteigen. Er zitterte, Dunkel deckte seine Augen, alles schien ihm zu brausen und sich zu drehen; er sah und hörte nichts mehr.
Als er wieder zur Besinnung kam, saß Phoebus mit Esmeralda allein auf einem hölzernen Koffer. Daneben stand die Lampe, die den Archidiakonus die beiden jugendlichen Gestalten und hinten in der Dachstube ein elendes Bett erkennen ließ. Das junge Mädchen glühte, zitterte. Ihre langen, gesenkten Wimpern beschatteten Purpurwangen. Der Offizier, zu dem sie nicht wagte die Augen aufzuschlagen, strahlte in Heiterkeit. Mit entzückend linkischem Wesen zeichnete sie zusammenhängende Figuren mit der Fingerspitze auf den Deckel des Koffers und sah auf ihren Finger. Ihre Füße sah man nicht; denn die Ziege hatte sich über sie gelegt.
„Ach“, sprach das Mädchen, ohne die Augen aufzuschlagen, „Herr Phoebus, verachtet mich nicht. Ich fühle, daß ich nicht recht tue.“ – „Ich dich verachten, schönes Kind! Ich dich verachten!“ erwiderte der Hauptmann mit hoher, vornehmer Miene; „Gottes Kopf, warum?“ – „Weil ich Euch folgte.“ – „Hierin, Schöne, verstehen wir uns nicht. Ich sollte Euch nicht verachten, sondern Euch hassen.
Das Mädchen fing an, ihn erschreckt zu betrachten. – „Mich hassen?“ – „Weil Ihr Euch so lange bitten ließt.“ – „Ach … ich brach ein Gelübde. – Ich werde meine Eltern nicht wiederfinden. Das Amulett verlor seine Kraft. Aber was tut’s? Was brauche ich jetzt Vater und Mutter?“ So sprechend, heftete sie auf den Hauptmann ihre großen, von Freude und Zärtlichkeit feuchten Augen. – „Der Teufel soll mich holen, wenn ich Euch verstehe!“ rief Phoebus aus. Esmeralda schwieg einen Augenblick; dann entfloß eine Träne ihren Augen; ein Seufzer entstieg ihrer Brust, und sie sprach: „Ach! Gnädiger Herr, wie heiß liebe ich Euch!“
Das Mädchen war von solchem Duft der Keuschheit, von solchem Zauber der Tugend umgeben, daß sich Phoebus nicht ganz behaglich fühlte. Dies Wort aber machte ihn kühn. Er schlang seinen Arm entzückt um die Hüften der Zigeunerin; denn er hatte nur die Gelegenheit erwartet. Der Priester sah dies und prüfte mit dem Finger die Spitze eines Dolches, den er im Busen verborgen hielt.
„Phoebus“, fuhr die Zigeunerin fort, indem sie sanft die festen Hände des Hauptmanns von ihrem Gürtel löste. „Ihr seid gut, edelmütig, schön. Ihr rettetet mich, ein armes Zigeunerkind. Schon lange träumte ich von einem Offizier, der mir das Leben retten sollte, lange noch bevor ich Euch kannte. Mein Traum hatte eine schöne Uniform, wie Ihr, ein stolzes Antlitz, einen Degen. Ihr heißt Phoebus, und das ist ein schöner Name. Ich liebe Euern Namen, ich liebe Euern Degen. Zieht ihn, Phoebus, daß ich ihn sehe.“
„Du bist ein Kind“, sprach Phoebus lächelnd und zog den Degen aus der Scheide. Die Zigeunerin betrachtete den Griff, die Klinge und untersuchte mit liebenswürdiger Neugier die Chiffre der Garde. Dann senkte sie den Degen mit den Worten: „Du bist der Degen eines Tapferen. Ich liebe meinen Hauptmann.“
Phoebus benutzte auch diese Gelegenheit, auf ihren schönen, gebogenen Nacken einen Kuß zu drücken, worauf das Mädchen, rot wie eine Kirsche, sich aufrichtete. Der Priester knirschte im Dunkeln mit den Zähnen.
„Phoebus“, begann die Zigeunerin aufs neue, „laßt mich mit Euch sprechen. Geht doch, daß ich Eure Sporen klingen höre. Wie schön seid Ihr doch!“
Der Hauptmann stand auf, ihren Wunsch zu erfüllen, schmälte jedoch mit selbstzufriedenem Lächeln: „Du bist ein Kind! – Beiläufig gesagt, Liebe, hast du mich im Staatskleide gesehn?“ – „Ach nein!“ – „Oh, das ist schön!“ Dann setzte sich Phoebus wieder zu ihr, aber noch näher als früher. „Höre, meine Teure …!“
Die Zigeunerin schlug ihm leise mit der schönen Hand auf den Mund, voll lieblicher, anmutiger, munterer Kinderei. „Nein, nein, ich höre nicht länger. Liebt Ihr mich? Ich will, daß Ihr mir sagt, ob Ihr mich liebt.“
„Ich liebe dich, Engel meines Lebens!“ rief der Hauptmann niederkniend. „Mein Leben, mein Blut, meine Seele, alles ist dein, alles ist dein. Ich liebe dich. Ich habe nie zuvor geliebt!“
Der Hauptmann hatte in mancher ähnlichen Lage so häufig diese Phrase wiederholt, daß er sie in einem Atem ableierte, ohne auch nur einen Gedächtnisfehler zu begehen. Bei dieser leidenschaftlichen Erklärung richtete die Zigeunerin einen Blick voll Engel-Seligkeit auf die schmutzige Decke, die ihr statt des Himmels diente.
„Ach“, sprach sie leise, „dies sollte der Augenblick des Sterbens sein!“ Phoebus hielt aber „den Augenblick“ für passend, ihr einen neuen Kuß zu rauben, der den unglücklichen Priester aufs neue peinigte.
„Sterben!“ rief der verliebte Kapitän. „Was sagst du da, schöner Engel? Du sollst leben, oder Jupiter ist nur ein Straßenjunge. Sterben im Beginn so vieles Süßen! Gottes Horn, welch ein Scherz! – Höre, liebe Similar … Esmenarda … Verzeihung! Ihr führt aber einen so sarazenischen Namen, daß ich meine Zunge dabei verwickle.“
„Gott“, rief das arme Mädchen, „und ich glaubte, mein Name sei so schön wegen seiner Eigentümlichkeit! Weil er Euch aber mißfällt, möchte ich Goton heißen.“
„Oh, weine nicht um solche Kleinigkeit, meine Anmutige! Ich muß mich daran gewöhnen. Es ist ja weiter nichts. Sobald ich ihn auswendig weiß, wird’s von selbst gehen. Ich liebe Euch ganz erstaunlich und kenne eine Kleine, die vor Neid vergeht …“
Das eifersüchtige Mädchen ließ ihn nicht ausreden. „Wer? …“ – „Was kümmert das uns! Liebst du mich?“ – „Oh! …“ – „Nun, das ist genug. Du sollst sehen, wie ich dich auch liebe. Der Teufel Neptun soll mich auf seine Gabel spießen, wenn ich dich nicht zum glücklichsten Geschöpf auf der Welt mache. Wir wollen irgendwo ein niedliches Zimmer mieten und ich lasse dann meine Leute vor deinem Fenster paradieren. Sie sitzen alle zu Pferde und stechen die des Hauptmanns Mignon aus.“
Seit einigen Augenblicken träumte das Mädchen, in süße Gedanken versunken, dem Schall seiner Stimme nach, ohne den Sinn seiner Worte zu verstehen.
„Oh wie glücklich wirst du sein!“ fuhr der Hauptmann fort und löste zugleich den Gürtel der Zigeunerin. – „Was tut Ihr da?“ sprach sie heftig. Dieser tatsächliche Versuch riß sie aus ihrer Träumerei.
„Nichts“, sagte Phoebus, „ich meine nur, du mußt diese närrische Straßentoilette aufgeben, wenn du bei mir bist.“ – „Wenn ich bei dir bin? Mein Phoebus!“ sprach sie zärtlich und versank wieder in ihr Sinnen.
Der Hauptmann, durch ihre sanfte Zärtlichkeit ermutigt, umfaßte wieder, ohne daß sie Widerstand leistete, ihre Hüften; dann löste er sacht das Mieder des armen Mädchens und verschob ihr Halstuch so geschickt, daß der knirschende Priester bald die schöne, nackte, runde Schulter der Zigeunerin erblickte. Das junge Mädchen ließ Phoebus gewähren und schien dies alles nicht zu bemerken. Das Auge des kühnen Hauptmanns funkelte. Plötzlich wandte sie sich ihm zu. „Phoebus“, sprach sie mit dem Ausdruck unendlicher Liebe, „unterrichte mich doch in deiner Religion.“
Der Hauptmann brach in ein lautes Gelächter aus. „Was! Ich soll dich in meiner Religion unterrichten? Satans Horn und Donnerwetter! Was willst du mit meiner Religion anfangen?“ – „Damit wir heiraten können.“
Das Gesicht des Hauptmanns nahm einen Ausdruck an, der aus Erstaunen, Verachtung, Sorglosigkeit und Liederlichkeit gemischt war. – „Ah bah! Wozu sollen wir heiraten?“
Die Zigeunerin wurde blaß und ließ ihr Haupt auf den Busen sinken. – „Schöne Geliebte“, begann Phoebus aufs neue, „wozu die Torheit? Die Ehe ist etwas Absonderliches! Liebt man weniger, weil einem kein Pfaff Latein in die Bude spie?“ Indem er so mit sanfter Stimme sprach, rückte er der Zigeunerin ganz nah, seine liebkosenden Hände umfaßten wieder ihren feinen, schlanken Wuchs, sein Auge flammte immer mehr und mehr, und alles verkündete, daß Herr Phoebus einem der Augenblicke ganz nahe war, worin Jupiter selbst so viele Dummheiten beging, daß der gute Homer eine Wolke zu Hilfe rufen mußte.
Dom Claude sah alles. Der breitschultrige braune Priester, bis dahin an die strenge Jungfräulichkeit des Kloster gewöhnt, kochte und zitterte vor dieser Szene der Liebe, der Nacht und der Wollust. Ungewöhnliche Bewegung regte ihn auf. Sein Auge tauchte mit lüsterner Eifersucht unter das sich lösende Gewand. Als der Unglückliche sich an die wurmstichigen Bretter lehnte, glich er einem Tiger, der im Käfig einen Schakal beschaut, wie dieser eine Gazelle verschlingt. Sein Augapfel funkelte wie ein Licht durch die Spalten der Tür.
Plötzlich riß Phoebus mit schneller Bewegung der Zigeunerin das Busentuch herunter. Das arme Mädchen, das blaß und sinnend dasaß, fuhr jäh auf, entfernte sich schnell von dem unternehmenden Offizier, warf einen Blick auf ihren nackten Busen, errötete, blieb stumm aus Scham und kreuzte ihre schönen Arme über der Brust, diese zu verbergen. Wäre die Flamme nicht gewesen, die ihre Wangen entzündete, hätte man bei ihrer Unbeweglichkeit glauben können, sie sei eine Statue der Scham. Ihre Augen blieben gesenkt. Die Hand des Hauptmanns hatte auch das geheimnisvolle Amulett, das sie am Busen trug, entblößt. „Was ist das?“ sprach er, um diesen Vorwand benutzen zu können, sich dem schönen Mädchen, das er soeben verscheucht hatte, wieder zu nähern.
„Berührt es nicht“, antwortete sie heftig, „es beschützt mich. Durch dieses Amulett finde ich meine Familie wieder, wenn ich ihrer würdig bleibe. Laßt mich, Herr Hauptmann! Meine Mutter, meine arme Mutter! Wo bist du? Zu Hilfe! Bitte, Herr Phoebus, gebt mir mein Busentuch zurück.“
Phoebus fuhr zurück und sagte kalt: „Oh, Mädchen! Ich sehe wohl, Ihr liebt mich nicht.“
„Ich liebe Euch nicht?“ rief die Unglückliche, hängte sich an seinen Hals und ließ ihn sich neben ihr niedersetzen. „Ich liebe dich nicht, mein Phoebus! Was sagst du da, Böser, mir mein Herz zu zerreißen! Wohlan! Nimm mich, nimm alles. Mach, was du willst! Ich bin dein! Was kümmert mich das Amulett? Was kümmert mich meine Mutter? Du bist mir Mutter, weil ich dich liebe. Phoebus, mein Geliebter, siehst du nicht? Wohl, wir heiraten nicht! Das ist dir nicht angenehm! Wer bin ich? Ein armes Mädchen der Straße, und du bist von Adel. Ja, ich war töricht! Eine Tänzerin wollte einen Offizier heiraten! Nein, Phoebus, nein! Deine Geliebte, dein Vergnügen will ich sein, alles, was du willst. Ach, ich dachte es nicht! Entehrt, verachtet, befleckt! Aber geliebt! Dann bin ich die stolzeste, heiterste aller Frauen. Und bin ich häßlich und alt und kann nicht mehr geliebt werden, will ich Eure Magd sein.“
So sprechend schlang sie ihren Arm um den Hals des Offiziers, betrachtete ihn bittend, lächelnd und mit Tränen in den Augen. Berauscht heftete der Hauptmann seine Lippen auf die schönen nackten Schultern. Das Mädchen richtete die schwimmenden Augen auf die Decke, lag zurückgelehnt und bebte unter dem Kuß. Plötzlich erblickte sie über Phoebus’ Haupt einen zweiten Kopf. Eine leichenfarbene, krampfhaft verzerrte Gestalt mit dem Blick eines Verdammten; neben dem Haupt war ein Dolch erhoben. Bei der furchtbaren Erscheinung war das junge Mädchen stumm, unbeweglich erstarrt; sie konnte nicht einmal einen Schrei ausstoßen und sah, wie der Dolch auf Phoebus sich senkte und rauchend sich erhob. – „Fluch!“ rief der Hauptmann und sank zu Boden.
Sie fiel in Ohnmacht. Als ihre Augen sich schlossen und jedes Gefühl ihr entschwand, glaubte sie auf ihren Lippen eine feurige Berührung, einen Kuß, brennender als das Gluteisen des Henkers, zu empfinden. Als sie wieder zu sich kam, war sie von Soldaten der Wache umgeben; den blutenden Hauptmann trug man fort; der Priester war verschwunden. Sie hörte Stimmen um sich her, sie sagten: „Die Hexe hat den Hauptmann niedergestoßen.“
32. Der verwandelte Taler
Gringoire und der ganze Hof der Wunder schwebte in großer Angst. Schon ein Monat war verflossen, ohne daß man irgend etwas von der verschwundenen Esmeralda gehört hatte, was den Zigeunerherzog und alle Gauner sehr betrübte; auch wußte man nichts von der Ziege, worüber Gringoire doppelt traurig ward. Die Zigeunerin war eines Abends verschwunden, und seitdem hatte man kein Lebenszeichen von ihr bemerkt. Alle Nachforschungen blieben fruchtlos. Einige berichteten Gringoire, sie wären ihr eines Abends auf der Brücke St. Michel mit einem Offizier begegnet; der Zigeuner-Ehemann war aber ein ungläubiger Philosoph und wußte besser als irgend jemand, wie weit seine Frau keusch geblieben war. Er konnte sich das Verschwinden nicht erklären. Sein Kummer war tief. Er wäre mager geworden, hätte dies noch geschehen können. Er vergaß alles, sogar seine literarischen Liebhabereien, sogar sein großes Werk De figuris regularibus et irregularibus, das er, sobald er Geld hatte, drucken lassen wollte. Eines Tages, als er traurig vor der Tournelle vorüberging, bemerkte er ein Gedränge am Tor des Palais de Justice. „Was gibt’s?“ fragte er einen jungen Mann, der heraustrat.
„Ich weiß nicht, Herr“, erwiderte dieser, „es wird dort eine Frau gerichtet, die einen Offizier ermordet hat. Wie es scheint, ist Hexerei dabei im Spiel; der Bischof und der Offizial sind eingeschritten, und mein Bruder, der Archidiakonus, ist ewig dort. Ich möchte ihn sprechen, kann aber wegen des Gedränges nicht zu ihm kommen. Das ist mir sehr unangenehm; denn ich brauche Geld.“
„Ach, Herr“, sprach Gringoire, „ich möchte Euch gern leihen, aber wenn meine Hosentaschen durchlöchert sind, so ist das nicht die Schuld von Talern.“ Er wagte es nicht, dem jungen Mann zu sagen, daß er seinen Bruder kenne, bei dem er seit ihrem Zusammentreffen in der Kirche nicht mehr gewesen war; hierüber war er nämlich ein wenig beschämt. Der Student ging seines Weges, und Gringoire begann, dem Gedränge zu folgen, das die Haupttreppe hinanwogte. Er dachte, nichts sei so sehr geeignet, Trübsinn zu verscheuchen als ein Kriminalprozeß; denn die Dichter zeigen gewöhnlich eine aufheiternde Dummheit. Das Volk, mit dem er fortschritt, ging und stieß sich schweigend mit dem Ellenbogen. Nach einem langen und langweiligen Zappeln auf der dunklen Wendeltreppe, die sich durch das alte Gebäude wie ein Verdauungskanal hinzog, gelangte er durch eine niedrige Tür in einen Saal, den über allen wogenden Häuptern zu durchforschen sein hoher Wuchs ihm erlaubte. Der Saal war breit und sehr düster, so daß er noch größer erschien. Der Tag ging zu Ende; die langen gotischen Fenster ließen nur einen schwachen Lichtstrahl hineindringen, der, bevor er das Gewölbe erreicht hatte, erlosch; dieses war mit Schnitzwerk verziert, dessen tausend Gestalten sich im Schatten zu bewegen schienen. Mehrere Lichter brannten hier und da auf den Tischen und beleuchteten die Köpfe der über Papierstöße sich neigenden Schreiber. Der vordere Teil des Saales war von Zuschauern erfüllt; links und rechts saßen Männer in schwarzen Talaren an Tischen; im Hintergrunde saßen zahlreiche Richter, deren letzte Bänke im Dunkel sich verloren; unbewegliche, unheilvolle Gesichter. „Herr“, frage Gringoire einen seiner Nachbarn, „was wollen alle die Personen, die wie Prälaten im Konzil sitzen?“ – „Herr“, sagte der Nachbar, „rechts sind Räte, die Herrn in schwarzen und die Herren in roten Roben.“ – „Wer ist denn der dicke Rote, der so schwitzt?“ – „Das ist der Herr Präsident.“ – „Und die Ungeheuer hinter ihm?“ (Wie wir schon wissen, konnte Gringoire den Richterstand nicht leiden. Vielleicht stammte dieser Groll von seinem dramatischen Mißgeschick im Palais de Justice.) – „Das sind die Herrn Untersuchungsmeister vom königlichen Hof.“ – „Und das wilde Schwein ganz vorn?“ – „Der Herr Parlamentsschreiber.“ – „Das Krokodil rechts?“ – „Meister Jacques Charmolue, Prokurator des Königs im geistlichen Gerichtshofe mit dem Herrn Offizialen.“ – „Was wollen denn alle diese braven Leute?“ – „Ein Urteil sprechen.“ – „Über wen? Ich sehe keinen Angeklagten.“ – „Über eine Frau. Ihr könnt sie nicht sehen. Sie dreht uns den Rücken zu und ist für uns im Gedränge verborgen. Dort wo Ihr die Partisanengruppe seht, muß sie stehen.“ – „Wer ist denn die Frau? Wißt Ihr ihren Namen?“ – „Nein, ich bin soeben erst gekommen. Ich glaube, Hexerei ist dabei im Spiel, weil der Offizial gegenwärtig ist.“ – „Aha! Wir werden sehen, wie diese Herren Menschenfleisch fressen. Das ist ein Schauspiel, wie jedes andere.“ – „Herr, findet Ihr nicht, daß Meister Charmolue sehr sanft aussieht?“ – „Hm! Ich habe kein Vertrauen zu einer Sanftmut mit zusammengekniffenen Nasenlöchern und dünnen Lippen.“
Hier geboten die Nahestehenden den beiden Schweigen. Man hörte eine wichtige Zeugenaussage.
„Gnädige Herren“, sprach ein altes Weib, dessen Gesicht so sehr unter ihren Kleidern verschwand, daß man es für einen wandelnden Lumpenhaufen hätte halten können, „die Sache ist so wahr, als wie ich Falourdel heiße und schon vierzig Jahre auf dem Pont Saint-Michel, dem Hause des Färbers Tassain-Caillart gegenüber, wohne, das aufwärts vom Wasser liegt und richtig meine Abgaben bezahle. Jetzt ein altes Weib, vor Jahren ein schönes Mädchen, gnädige Herren! Man sagte mir schon immer: Falourdel, spinnt nicht zu spät mit Euerm Rade; der Teufel spießt gern mit seinen Hörnern den Spinnröcken der alten Frauen. Das Gespenst, das im vergangenen Jahre am Temple umging, ist jetzt in der Altstadt. Falourdel, nehmt Euch in acht, daß es nicht an Eure Türe pocht! – Nun sitze ich eines Abends am Rade und spinne. Wer da? Ein Schwarzer mit einem Offizier. Man sah nur seine schwarzen Augen, zwei Kohlen. Alles andere war Hut und Mantel. – Da sagen sie mir: ‚Die Kammer nach Ste. Marthe.‘ Das, gnädige Herrn, ist meine schönste Kammer oben. Sie geben mir einen Taler. Ich lege ihn in meine Schublade und denke: Dafür kaufst du dir morgen Kaldaunen beim Schlächter. Wir steigen hinauf. Wie wir oben sind, verschwindet der schwarze Mann, während ich den Rücken drehe. Das setzt mich ein wenig in Erstaunen. Der Offizier, schön wie ein vornehmer Herr, geht mit mir wieder herunter, und dann aus dem Hause. Als ich ungefähr ein Viertel Zwirn gesponnen hatte, kommt er mit einem schönen Mädchen zurück; es war ein so schönes Püppchen, daß es wie die Sonne hätte glänzen müssen, wenn es Kopfputz getragen hätte. Sie hatte aber einen Ziegenbock bei sich, einen großen weißen oder schwarzen Ziegenbock. Das machte mich nachdenklich; denn ich kann die Tiere nicht leiden, weil sie Hörner und Bärte haben. Sie gleichen Menschen und riechen auch. Ich sagte aber nichts. Ich hatte den Taler; das ist recht, nicht wahr, Herr Richter? Ich leuchte dem Hauptmann und dem Mädchen hinauf und lasse sie dann allein, d. h. mit dem Ziegenbock. Ich gehe herunter und spinne weiter. – Nun muß ich Euch sagen, mein Haus besteht aus einem Erdgeschoß und einem Stock. Hinten ist es auf einen Fluß zu gebaut, wie die andern Häuser der Brücke, so daß unter dem Fenster des Erdgeschosses und des Stockwerks das Wasser fließt. – Ich spann also ruhig weiter, aber ich weiß nicht wie, der Ziegenbock erinnerte mich an das Gespenst, und dann war auch das schöne Mädchen ein wenig wild geputzt. Plötzlich höre ich oben einen Schrei, und wie etwas auf den Boden fällt, und wie das Fenster sich öffnet. Ich laufe an meines und sehe, wie ein schwarzer Klumpen vor meinen Augen ins Wasser fällt. Es war das Gespenst und wie ein Priester gekleidet. Der Mond schien und ich sah es deutlich. Es schwamm nach der Altstadt zu. Da rufe ich zitternd die Wache. Herren treten ein, und im ersten Augenblick, da sie nicht wußten, was es gab, und lustig waren, haben sie mich geprügelt. Ich erzählte ihnen, und wir stiegen hinauf. Meine arme Kammer war voll Blut. Der Hauptmann lag, mit einem Dolch im Nacken, auf dem Boden. Das Mädchen stellte sich tot, und der Ziegenbock war ganz wild. – ‚Oh‘, sagte ich, ‚vierzehn Tage lang muß ich gewiß den Boden waschen und scheuern. Wie fürchterlich!‘ Man trug den Offizier, den armen jungen Mann, und das Mädchen fort. – Wartet noch! Das Schlimmste kommt jetzt. Als ich am nächsten Morgen den Taler nehmen wollte, um mir Kaldaunen beim Schlächter zu kaufen, war er fort, und ich fand ein vertrocknetes Blatt an seiner Stelle.“
Die Alte schwieg; ein Murmeln des Schauders lief im ganzen Auditorium herum. – „Das Gespenst, der Bock“, sagte Gringoires Nachbar, „riecht nach Hexerei.“ – „Und das vertrocknete Blatt!“ sagte ein anderer. – „Ohne Zweifel“, meinte ein dritter, „ist dies eine Hexe, die Umgang mit dem Gespenst hat, um Offiziere zu bestehlen.“
„Frau Falourdel“, sprach der Herr Präsident mit Majestät, „habt Ihr dem Gerichtshofe nichts mehr zu sagen?“
„Nein, gnädiger Herr“, sagte die Alte, „Ihr habt aber im Bericht mein Haus ein schmutziges und stinkendes Loch genannt, und das ist eine Beleidigung. Zwar haben die Häuser auf der Brücke kein stattliches Ansehen, weil viel Volk dort wohnt; aber die Schlächter wohnen noch immer da, und das sind reiche Leute mit reinlichen Frauen.“
Die Gerichtsperson, die auf Gringoire den Eindruck eines Krokodils gemacht hatte, stand auf. „Still!“ sagte sie. „Ich bitte die Herren Richter, nicht zu übersehen, daß man bei der Angeklagten einen Dolch fand. Weib Falourdel, hast du das Blatt mitgebracht, in das sich der Taler, den dir der Teufel gab, verwandelte?“
„Ja, gnädiger Herr, hier ist es.“ Ein Gerichtsdiener übergab das welke Blatt dem Krokodil; dieses schüttelte düster den Kopf, übergab es dem Prokurator des Königs, und es machte so die Runde im Saale. „Es ist ein Birkenblatt“, sprach Meister Jacques Charmolue, „ein neuer Beweis der Hexerei.“
Ein Rat nahm das Wort. „Weib, zwei Menschen sind zugleich bei Euch eingetreten: der Offizier und der schwarze Mann, den Ihr im Anfange eintreten und dann in Priesterkleidern durch die Seine schwimmen saht. Wer hat Euch den Taler gegeben?“
Die Alte bedachte sich einen Augenblick und sagte: „Der Offizier.“
Ein Gemurmel ließ sich im Volke vernehmen. Ach, dachte Gringoire, meine Überzeugung kommt zum Wanken. Allein Meister Philipp Lheulier, außerordentlicher Advokat des Königs, nahm das Wort: „Ich erinnere die Herren, daß der ermordete Offizier in seiner Aussage, die am Krankenbett aufgenommen wurde, erklärte er habe in dem Augenblick, wo der Mann ihn anredete, geahnt, es könne das Gespenst sein, dieses habe ihm dann sehr zugeredet, die Angeklagte aufzusuchen, und auf die Bemerkung des Offiziers, er habe kein Geld, den Taler gegeben, womit er, der Hauptmann, die Falourdel bezahlt habe. So ist also der Taler ein Geldstück des Teufels.“
Diese Schlußbemerkung schien allen Zweifel Gringoires und der anderen Skeptiker im Auditorium zu beseitigen.
„Die Herren haben das Heft der Akten“, fügte der Advokat des Königs sich setzend hinzu, „sie mögen die Aussage des Phoebus von Chateaupers vergleichen.“
Bei diesem Namen erhob sich die Angeklagte; ihr Haupt ragte über das Gedränge hervor. Mit Schrecken erkannte Gringoire die Esmeralda. Sie war blaß; ihre einst so anmutig geflochtenen und mit Flittern geschmückten Haare hingen in Unordnung von ihrem Haupte herunter. Ihre Lippen waren blau, der Ausdruck ihrer hohlen Augen erschreckend.
„Phoebus?“ sprach sie wie wahnsinnig, „wo ist er? Ach, ihr Herrn, ehe ihr mich tötet, übt Gnade und sagt mir, ob er noch lebt!“
„Schweigt, Weib!“ erwiderte der Präsident; „das kümmert uns nicht.“
„Oh, aus Mitleid sagt mir, ob er noch lebt!“ Sie faltete ihre schönen, mageren Hände, wobei man das Klirren der Ketten vernahm.
„Gut“, sagte trocken der Advokat des Königs, „er stirbt. Seid Ihr zufrieden?“
Das unglückliche Mädchen fiel ohne Tränen und Stimme, weiß wie eine Wachsgestalt, auf ihren Schemel. Der Präsident neigte sich zu einem schwarzgekleideten Mann mit goldener Mütze, einer goldnen Kette am Hals und einem Stabe in der Hand. „Türsteher, führt die zweite Angeklagte herein.“
Aller Augen wandten sich auf eine kleine Tür, die erschlossen ward, und woraus, zum Erstaunen Gringoires, eine hübsche Ziege mit vergoldeten Hörnern und Füßen zum Vorschein kam. Das anmutige Tier blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, streckte den Hals, als stände es auf der Spitze eines Felsens und erblickte einen weiten Horizont. Plötzlich sah es die Zigeunerin, sprang über den Tisch und den Kopf des Schreibers, und war in zwei Sprüngen an den Füßen seiner Herrin; anmutig legte es sich auf ihre Füße und schien um eine Liebkosung oder ein Wort zu bitten; allein die Angeklagte blieb unbeweglich, und die arme Djali erhielt keinen Blick.
„Ja, ja, das ist das häßliche Tier“, sagte die alte Falourdel; „ich erkenne sie alle beide wieder.“
Jacques Charmolue fiel ein: „Gefällt es den Herrn, so beginnen wir jetzt mit dem Verhör der Ziege.“
Wirklich war die Ziege die zweite Angeklagte. Nichts war damals gewöhnlicher, Hexenprozesse gegen ein Tier waren damals an der Tagesordnung.
Demnach rief der Prokurator des Königs: „Wenn der Teufel, von dem diese Ziege besessen ist, und der bisher allen Austreibungen widerstand, bei seinen Übeltaten beharrt, setzen wir ihn in Kenntnis, daß wir für ihn die Strafe des Galgens oder des Scheiterhaufens verlangen werden!“
Gringoire stand in kaltem Schweiß. Charmolue legte das Tamburin der Zigeunerin auf den Tisch, stellte es auf eine besondere Weise vor die Ziege hin und fragte: „Was ist die Uhr?“ Die Ziege betrachtete ihn mit verständigem Blick, hob ihren vergoldeten Fuß auf und tat sieben Schläge. Wirklich war es sieben Uhr. Die Versammlung schauderte. Gringoire konnte es nicht länger aushalten. „Sie richtet sich zugrunde“, sprach er ganz laut, „Ihr seht wohl, sie weiß nicht, was sie tut.“
Jacques Charmolue gab vermittels desselben Tamburins mehrere andere Kunststücke der Ziege zum besten, und durch eine optische, den Gerichtsverhandlungen eigentümliche Täuschung erschraken dieselben Zuschauer, die den unschuldigen Künsten Djalis so oft Beifall geklatscht hatten, eben darüber unter den Gewölben des Palais de Justice. Ganz offenbar war die Ziege vom Teufel besessen.
Dies wurde noch schlimmer, als der Prokurator des Königs einen ledernen Sack voll Buchstaben auf den Boden ausleerte; die Ziege streckte die Pfoten aus und schrieb aus den zerstreuten Buchstaben den unheilvollen Namen des Hauptmanns Phoebus. Die Hexerei, welcher der Hauptmann zum Opfer fiel, schien jetzt durchaus erwiesen, und die entzückende Tänzerin, die durch ihre Anmut alle geblendet hatte, war nur noch eine furchtbare Hexe.
Übrigens gab sie kein Lebenszeichen von sich. Weder Djalis anmutige Künste, noch die Drohungen der Richter, noch die dumpfen Verwünschungen der Zuschauer gelangten bis zu ihrem Vorstellungsvermögen.
Um sie aufzuwecken, mußte ein Sergeant sie rauh schütteln und der Präsident feierlich die Stimme erheben. – „Mädchen, Ihr seid vom bösen Zigeunergeschlecht. Zugleich mit jener in den Prozeß verwickelten Ziege habt Ihr in der Nacht des 29. März, im Einverständnis mit dem Fürsten der Finsternis, durch Zauber einen Hauptmann der Schützen von der Ordonnanz des Königs, Herrn Phoebus von Chateaupers, mit dem Dolch ermordet. Beharrt Ihr beim Leugnen?“
„Wie schauderhaft!“ rief das Mädchen und barg ihr Antlitz mit den Händen. „Oh mein Phoebus! Das ist die Hölle!“
„Beharrt Ihr beim Leugnen?“ wiederholte kalt der Präsident.
„Ja“, sprach sie mit furchtbarer Stimme. Sie stand auf und ihr Auge funkelte. Der Präsident fuhr in hartem Tone fort: „Wie erklärt Ihr die Euch zur Last gelegten Verbrechen?“
Sie antwortete mit stockender Stimme: „Ich weiß es nicht. Es ist ein Priester, ein Priester der Hölle, welcher mich verfolgt. Ich kenne ihn nicht.“
„Das ist das Gespenst“, sprach der Richter.
„Ach, gnädige Herren, ich bin nur ein armes Mädchen …“ – „Ein Zigeunermädchen“, fiel der Richter ein.
Meister Jacques Charmolue nahm das Wort in sanften Tone: „Wegen der bedauerlichen Hartnäckigkeit des Mädchens trage ich auf die peinliche Frage an.“
„Bewilligt“, sprach der Präsident.
Die Unglückliche zitterte an allen Gliedern. Auf den Befehl der Partisanenträger stand sie auf und ging mit ziemlich festem Schritt. Voran gingen Charmolue und die Priester des geistlichen Gerichts. Sie durchwandelte zwei Reihen Hellebarden und verschwand in einer kleinen Tür, die sich vor ihr öffnete und plötzlich schloß, und die dem traurigen Gringoire wie ein furchtbarer Rachen erschien, der sie verschlang. Als sie verschwand, vernahm man ein klagendes Meckern: Es war das Klagen der Ziege. Die Gerichtssitzung ward unterbrochen. Ein Rat machte die Bemerkung, die Herren wären ermüdet und es sei schon zu spät, das Ende der Tortur abzuwarten. Der Präsident aber erwiderte, ein Richter müsse seiner Pflicht sich opfern.
„Die verfluchte Hexe“, sagte ein alter Richter, „läßt sich auf die Folter spannen, obwohl wir noch nicht zu Abend gegessen haben.“
Nachdem Esmeralda, von ihren düsteren Wachen umgeben, in einem so dunklen Gange, daß man ihn bei Tage mit Lampen erleuchten mußte, einige Stufen hinauf und hinab gestiegen war, ward sie von den Sergeanten des Justizpalastes in ein furchtbares Zimmer gestoßen. Dieses Zimmer, von runder Form, befand sich in einem Erdgeschoß eines der Türme, die noch jetzt durch die Schicht hervorragen, womit das neue Palais die Gebäude des alten bedeckt. In der Höhle waren keine Fenster; die einzige Öffnung war die niedrige, stark mit Eisen beschlagene Tür. Doch fehlte es hier nicht an Beleuchtung. In einer dicken Mauer befand sich ein Ofen; darin brannte ein starkes Feuer und erleuchtete im Zimmer eine große Anzahl blutiger Werkzeuge, deren Zweck sie nicht begriff. In der Mitte des Zimmers lag ein ledernes Bett, worüber ein Riemen mit Schnallen an einem kupfernen Ring hing, auf dem Bette saß behaglich der geschworene Folterer Pierrat Torterue. Seine Knechte, zwei Gnomen mit viereckigen Gesichtern, in lederner Schürze, hielten die Eisen über das Kohlenfeuer. So sehr auch das arme Mädchen Mut zu fassen suchte, es schauderte, als es eintrat. Die Sergeanten des Bailli du Palais stellten sich auf die eine Seite, die Priester des geistlichen Gerichts auf die andere. Ein Schreiber, ein Tisch und ein Schreibzeug befanden sich im Winkel. Meister Jacques Charmolue trat zu der Zigeunerin und sprach mit einem sehr sanften Lächeln: „Mein liebes Kind, beharrt Ihr noch immer beim Leugnen?“
„Ja“, antwortete sie mit fast schon erloschener Stimme.
„In dem Fall“, begann Charmolue aufs neue, „müssen wir Euch leider schärfer foltern, als wir es wünschen. Habt die Güte, Euch auf dieses Bett zu setzen. Meister Pierrat, macht der Dame Platz und schließt die Tür.“
Pierrat stand grinsend auf. „Schließe ich die Tür“, sagte er, „so erlischt mein Feuer.“ – „Gut, Lieber, so laßt sie offen.“
Esmeralda stand noch aufrecht. Sie schauderte vor dem ledernen Bett, auf dem so viele Unglückliche sich schon gekrümmt hatten. Der Schrecken erstarrte ihr Mark; ohne Besinnung stand sie da. Auf Charmolues Zeichen ergriffen sie die beiden Knechte und setzten sie aufs Bett. Sie taten ihr noch nichts zuleide; als aber beide Männer sie anfaßten, als das Leder sie berührte, empfand sie, wie all ihr Blut zum Herzen strömte. Sie ließ einen wilden Blick im Zimmer umherschweifen; ihr war, als kröchen alle häßlichen Werkzeuge der Tortur auf sie zu, sie zu beißen und zu kneipen; jene Werkzeuge glichen den Fledermäusen, den Tausendfüßen und Spinnen.
„Wo ist der Arzt?“ fragte Charmolue. – „Hier!“ erwiderte ein Schwarzrock, den sie noch nicht gesehen hatte. Sie zitterte.
„Mein Fräulein“, sprach die liebkosende Stimme, „ich frage Euch zum drittenmal, beharrt Ihr bei dem Leugnen?“
Sie konnte nicht mehr reden, gab nur ein Zeichen mit dem Kopfe. Ihr stockte die Stimme. – „Ihr beharrt also? Dann muß ich die Pflicht meines Amtes erfüllen.“
„Herr Prokurator des Königs“, sprach Pierrat mit rauher Stimme, „womit sollen wir beginnen?“
Charmolue schnitt die unentschiedene Fratze eines Dichters, der einen Reim sucht, und sagte dann: „Mit dem spanischen Stiefel.“ – Die Unglückliche fühlte sich von Gott und Menschen verlassen. Ihr Haupt sank wie etwas gänzlich Kraftloses auf ihren Busen.
Der Folterer und der Arzt traten zugleich heran. Die beiden Knechte durchsuchten ihr scheußliches Arsenal. Beim Klirren des furchtbaren Eisens zitterte das unglückliche Mädchen am ganzen Körper. – „Ach“, murmelte sie leise, „mein Phoebus!“ Dann versank sie wieder in die Unbeweglichkeit und das Schweigen des Marmors. Der Anblick hätte jedes andere Herz als das eines Richters zerrissen. Inzwischen hatten die schwieligen Hände der rohen Knechte das schöne Bein und den Fuß entblößt, den die Vorübergehenden einst so oft bewundert hatten. – „Wie schade!“ murmelte der Folterer, als er die so zarten und anmutigen Formen betrachtete. Wäre der Archidiakonus gegenwärtig gewesen, hätte er sich gewiß seines Symbols von Spinne und Fliege erinnert. Bald sah die Unglückliche durch die auf ihren Augen ruhende Wolke, wie der spanische Stiefel näher kam, wie ihr Fuß in die mit Eisen beschlagenen Dielen gezwängt ward und in ihnen verschwand. – Schrecken gab ihr die Kraft zurück. „Nehmt das weg! Gnade!“ rief sie heftig und richtete sich mit zerzausten Haaren auf.
Sie sprang vom Bett herunter, sich dem Prokurator zu Füßen zu werfen; allein ihr Fuß saß fest in dem schweren Eichenklotz und dem Eisen; sie sank über das Foltergerät hin, wie eine Biene mit Blei an den Flügeln. Auf ein Zeichen Charmolues legte man sie wieder aufs Bett, und zwei grobe Hände befestigten den vom Gewölbe herabhängenden Riemen an ihrem Gürtel.
„Zum letzten Male, gesteht Ihr die Tatsachen der Klage?“ fragte Charmolue mit seiner unerschütterlichen Güte. – „Ich bin unschuldig.“ – „Wie wollt Ihr denn die Umstände, die gegen Euch sprechen, erklären?“ – „Ach Herr, ich weiß nicht wie.“ – „Ihr leugnet?“ – „Alles.“ – „Fahrt fort, Meister Pierrat.“
Pierrat drehte den Griff einer Winde, der spanische Stiefel zog sich zusammen, und die Unglückliche stieß einen furchtbaren Schrei aus, den keine menschliche Sprache wiederzugeben vermag.
„Haltet ein“, sprach Charmolue zu Pierrat. „Gesteht Ihr?“ fragte er die Zigeunerin. –„Alles!“ rief das unglückliche Mädchen. „Alles! Gnade!“ Als sie der Folter sich unterzog, hatte sie ihre Kräfte nicht berechnet. Das arme Mädchen, dessen Leben bisher so heiter, anmutig und süß gewesen war, unterlag dem ersten Schmerz.
„Menschlichkeit zwingt mich, Euch zu sagen“, bemerkte der Prokurator, „daß, wenn Ihr Euer Verbrechen eingesteht, Ihr den Tod erwarten müßt.“
„Ich hoffe auf ihn“, erwiderte sie, dann sank sie wie sterbend auf das Bett zurück.
Jacques Charmolue erhob die Stimme: „Schreiber, schreibt nieder! – Zigeunermädchen, Ihr gesteht Euren Anteil an den Mahlen, Sabbatfesten und Übeltaten der Hölle mit Larven, Hexen und Gespenstern? Antwortet.“ – „Ja“, sprach sie so leise, daß ihr Wort im Hauche ihres Mundes sich verlor. – „Ihr gesteht, den Ziegenbock gesehen zu haben, den Beelzebub in den Wolken erscheinen läßt, wenn er den Sabbat versammelt, und der nur von Hexen gesehen wird?“ – „Ja.“ – „Ihr gesteht, mit Hilfe des Teufels und eines Gespenstes, das gewöhnlich der Popanz genannt wird, am 29. März einen Hauptmann, Phoebus von Chateaupers mit Namen, ermordet zu haben?“ – Sie schlug ihr großes, starres Auge auf und antwortete mechanisch ohne Zuckung: „Ja!“ – Ihre Kraft war gebrochen.
„Schreibt“, sprach Charmolue zum Schreiber; dann wandte er sich zu den Folterknechten mit den Worten: „Bindet die Gefangene los, damit sie wieder in den Gerichtssaal geführt werde.“ Als der Fuß der Gefangenen frei war, betrachtete ihn der Prokurator. Der Fuß war von Schmerz noch immer erstarrt. „Kommt“, sagte Charmolue, „das Übel ist noch nicht groß. Ihr schrieet beizeiten. Schöne, du könntest heute noch tanzen.“ – Dann wandte er sich zu den Priestern des geistlichen Gerichts: „Endlich ist die Gerechtigkeit im klaren, das erleichtert unser Gefühl. Mademoiselle wird uns das Zeugnis geben, daß wir mit aller möglichen Milde verfuhren.“
Als sie blaß und hinkend in den Gerichtssaal trat, empfing sie ein allgemeines Murmeln der Zufriedenheit. Bei den Zuschauern war es das Gefühl befriedigter Ungeduld, wie man es im Theater nach dem Schluß des letzten Zwischenaktes der Komödie und beim Beginn des Endes zu empfinden pflegt. Von seiten der Richter war es die Hoffnung, bald zu Abend zu essen. Auch die kleine Ziege meckerte freudig; sie wollte ihrer Herrin entgegenlaufen, man hatte sie aber an die Bank gebunden.
Mühsam hatte sich die Angeklagte auf ihren Platz geschleppt. Als Charmolue sich mit Amtswürde auf den seinigen gesetzt hatte, stand er wieder auf und sprach, ohne viel Eitelkeit über den Erfolg seines Verhörs durchblicken zu lassen: „Die Angeklagte hat alles gestanden.“
„Zigeunermädchen“, begann der Präsident, „Ihr habt also Eure Übeltaten der Zauberei, Schande und des Mordes an Phoebus von Chateaupers eingestanden?“
Ihr Herz zog sich zusammen. Man hörte, wie sie im Dunkel schluchzte. „Alles, was Ihr wünscht, aber tötet mich schnell!“
Meister Charmolue zog ein großes Aktenbündel aus der Tasche und las mit lebhafter Gebärde und im scharfen Ton eines Advokaten eine lateinische Rede vor. Er hatte noch nicht einmal die Einleitung der Rede vollendet, als ihm schon der Schweiß von der Stirn träufelte und die Augen aus den Höhlen traten. Plötzlich hielt er mitten in einer schönen Periode inne, und sein gewöhnlich sanfter, sogar dummer Blick, wurde sprühend. „Meine Herren!“ rief er aus (und zwar französisch, denn dies stand nicht auf seinem Papier), „Satan ist in dieser Angelegenheit so sehr verwickelt, daß er sogar bei den Verhandlungen gegenwärtig ist. Seht! Er äfft der Repräsentanten Seiner Majestät nach.“ Mit den Worten zeigte er mit dem Finger auf die Ziege, die als sie Charmolue gestikulieren sah, auf den Einfall kam, dasselbe tun zu müssen. Sie saß auf den Hinterpfoten und ahmte so gut wie möglich durch Schütteln ihres bärtigen Hauptes und durch Hin- und Herschwenken ihrer Vorderpfoten den Prokurator nach. Der Leser wird sich wohl noch erinnern, dies war eines ihrer artigen Kunststücke. Es brachte aber jetzt eine ungeheure Wirkung hervor; man band der Ziege die Pfoten, und der Prokurator nahm den Faden seines Vortrages wieder auf. Dieser war sehr lang, aber von bewunderungswürdiger Beredsamkeit. Hier folgt die letzte Phrase, wozu man sich noch die heisere Stimme und die letzten angestrengten Gesten Meister Charmolues hinzudenken muß: „Ideo, Domini, coram stryga demonstrata, crimine patente, intentione criminis existente, in nomine sanctae Ecclesiae Nostrae Dominae Parisiensis, quae est in saisina habendi omnimodam altam et bassam justitiam in illa hac intemerata Civitatis insula, tenore praesentium declaramus nos requirere, primo, aliquamdam pecuniariam indemnitatem, secundo amendationem honorabilem ante portalium Nostrae Dominae ecclesiae cathedralis; tertio sententiam, in virtute cujus ista stryga cum sua capella seu in trivio vulgariter dicto la Grève seu in insula exeunte in fluvio Secanae, juxta pointam jardini regalis, executatae sint.“
Dann setzte er seine Mütze auf und ließ sich auf seinen Stuhl nieder.
Hierauf stand ein anderer Mann im schwarzen Kleide neben der Angeklagten auf. Es war ihr Verteidiger. Die hungrigen Richter fingen an zu murren. „Verteidiger, faßt Euch kurz“, sprach der Präsident.
„Herr Präsident“, erwiderte der Verteidiger, „weil die Beklagte ihr Verbrechen eingestand, kann ich den Herren nur ein Wort sagen. Es heißt im Texte des salischen Gesetztes: ‚Frißt ein Hex‘ einen Menschen und wird dessen überführt, soll sie eine Strafe von achttausend Deniers bezahlen, d. h. zweihundert Sous Gold.‘ Es gefalle dem Gerichtshofe, meine Klientin zur Geldstrafe zu verdammen.“
„Der Text ist abgeschafft“, sprach der außerordentliche Advokat des Königs. – „Nego!“ entgegnete der Verteidiger. – „Zur Abstimmung!“ rief ein Rat. „Das Verbrechen ist erwiesen, und es ist schon spät.“
Man schritt zur Abstimmung, ohne den Saal zu verlassen. Die Richter stimmten durch Entblößung ihres Hauptes. Dann ging der Schreiber wieder an seine Arbeit und übergab dem Präsidenten ein langes Pergament. Die Unglückliche vernahm, wie das Volk sich regte, wie die Piken sich stießen, und wie eine eisige Stimme sprach:
„Zigeunermädchen, am Tage, wo es dem König, unserem Herrn, gefällt, sollst du im Hemde mit bloßen Füßen, den Strick um den Hals, auf einem Karren zum Portal von Notre-Dame geführt werden; dort sollst du, mit einer Wachsfackel von zwei Pfund Schwere in der Hand, öffentlich Buße tun und auf dem Grèveplatz gehenkt werden; ebenso deine Ziege. Dem Offizial sollst du drei goldene Löwentaler als Strafe für Hexerei, Bosheit, Üppigkeit und Mord am Herrn Phoebus von Chateaupers bezahlen. Gott sei deiner Seele gnädig!“
„Oh, welch ein Traum!“ sprach sie halblaut und fühlte, wie rohe Hände sie fortschleppten.
33. Lasciate ogni speranza*
Sobald im Mittelalter ein Gebäude vollendet war, gehörten ihm ebensoviel Räume unter wie über der Erde. Paläste, Burgen und Kirchen hatten stets, wenn sie nicht auf eingerammten Pfählen gebaut waren, einen doppelten Grund. In den Kathedralen war dies gleichsam eine zweite unterirdische, geheimnisvolle, dunkle, niedrige, stumme Kathedrale unter dem oberen lichtvollen Schiff, das Tag und Nacht von Orgeln und Glocken ertönte. Bisweilen waren es Gräber. In Palästen und Burgen war der unterirdische Bau ein Kerker, oft ein Grab, bisweilen beides zugleich. Jene mächtigen Bauten hatten nicht allein eine Grundmauer, sondern Wurzeln, die sich in Kammern, Gängen, Treppen unter der Erde wie im oberen Bau ausbreiteten. In der Bastille, dem Justizpalast, dem Louvre waren diese unterirdischen Bauten zu Kerkern bestimmt. Je tiefer die Stockwerke sich senkten, desto enger und düsterer wurden sie. Dante hätte kein treffenderes Bild für seine Hölle finden können. Sobald ein elendes Leben dort begraben war, mußte es dem Tage, der Luft Lebewohl sagen; es trat nur aus der Finsternis, sie mit dem Galgen oder mit dem Scheiterhaufen zu vertauschen. Manche verfaulten dort; die menschliche Gerechtigkeit nannte dies Vergessen. Zwischen den Menschen und dem Verurteilten ruhte auf dem Haupte des letzteren ein Haufen von Steinen und Gefangenenwärtern. Der ganze Bau, die massive Bastille, war gleichsam ein schwerer Riese, der ihn von der lebenden Welt ausschloß.
In eine Höhle dieser Art hatte man die zum Galgen verurteilte Esmeralda geworfen, wahrscheinlich, damit sie nicht entwische. Hier lag sie vernichtet und begraben im Dunkel. Kalt wie Nacht und Tod lag sie da. Kein Lufthauch zog durch ihre Locken, kein menschlicher Laut traf ihr Ohr, kein Strahl des Tages ihr Auge; erdrückt von Ketten, kauerte sie neben einem Wasserkruge und einem Stück Brot auf einem Strohhaufen im Wasserpfuhle, den die Feuchtigkeit des Gefängnisses bildete, ohne Bewegung, fast ohne Atem. Sie litt nicht einmal mehr Schmerzen. Phoebus, die Sonne, der Mittag, die frische Luft, die Straßen von Paris, der Beifall beim Tanz, das süße Liebesgeschwätz mit dem Offizier, dann der Priester, die Alte, der Dolch, Blut, Folter und Galgen, alle diese Vorstellungen drängten sich ihrem Geiste bald als singende, vergoldete Visionen, bald als mißgestalteter Alp auf; doch schien ihr das eine nur als ein furchtbarer Kampf, der sich im Dunkel verlor, das andere als eine ferntönende Musik, die auf der Erde gespielt ward und nicht bis in die Tiefe drang, wohin die Unglückliche hinabgesunken war. Alles dies mischte sich zerbrochen, schwankend, verwirrt in ihren Gedanken. Sie fühlte, wußte, dachte nichts mehr, sie träumte. Noch nie war ein Geschöpf so tief ins Nichts versunken.
Erstarrt, versteinert, hatte sie kaum bemerkt, daß bisweilen eine Falltür, ohne selbst einen Lichtstrahl hereinzulassen, sich über ihr öffnete, und daß dann eine Hand ihr ein Stück schwarzes Brot hinwarf. Dieser Besuch des Gefangenenwärters war demnach ihre einzige Verbindung mit den Menschen. Nur ein Laut traf mechanisch ihr Ohr. Über ihrem Haupte sickerte Feuchtigkeit durch die moosigen Steine des Gewölbes, und in kleinen Zwischenräumen fielen Wassertropfen herab. Stumpf hörte sie den Schall, wenn der Tropfen in den Pfuhl hinabfiel. Dieser niedersinkende Wassertropfen war die einzige Bewegung, die sich in ihrer Umgebung regte, die einzige Uhr, die ihr die Zeit andeutete, der einzige Laut, der von der Oberfläche der Erde zu ihr hinabdrang. Bisweilen fühlte sie auch in dieser Kloake von Sumpf und Dunkel etwas Kaltes, das über Arm und Fuß ihr hinkroch. Dann bebte sie. Wie lange war sie schon hier? Sie wußte es nicht.
Eines Tages oder in einer Nacht (denn Mittag oder Mitternacht hatten in diesem Grabe gleichen Schatten), vernahm sie über ihrem Haupte ein stärkeres Geräusch als das des Gefangenenwärters, wenn er ihr Brot und den Wasserkrug brachte. Sie sah einen rötlichen Lichtstrahl durch die Spalten der Falltür am Gewölbe des „In pace“ dringen. Zugleich kreischten die dumpfen Riegel, die Falltür knarrte in den Angeln, sie sah eine Laterne und zwei Männer. Das Licht wirkte so empfindlich auf ihre Augen ein, daß sie sie schloß.
Als sie die Augen wieder aufschlug, war die Tür geschlossen. Die Laterne stand auf einer Stufe der Treppe und ein Mann allein vor ihr. Ein schwarzer Mantel reichte ihm bis zu den Füßen, eine Kapuze derselben Farbe barg sein Gesicht. Einige Minuten beschaute sie mit starrem Blick dieses Gespenst. Keiner sprach ein Wort; sie glichen zwei einander gegenüberstehenden Statuen.
Endlich brach die Gefangene das Schweigen. „Wer seid Ihr?“ – „Ein Priester.“ Sie zitterte bei dem Wort, dem Akzent und der Stimme.
Der Priester fuhr in dumpfem Tone fort: „Seid Ihr bereit?“ – „Wozu?“ – „Zum Tode.“ – „Bald?“ – „Morgen.“
Ihr Haupt, das sie freudig erhoben hatte, sank auf ihre Brust zurück. „Das dauert noch sehr lange!“ murmelte sie. „Warum nicht heute?“
„Ihr seid wohl sehr unglücklich?“ fragte der Priester nach einer Pause. – „Mich friert.“
Der Priester schien unter seiner Kapuze seine Augen im Gefängnisse herumstreichen zu lassen. –„Ohne Licht und Feuer! Im Wasser! Wie furchtbar!“
„Ach!“ erwiderte sie mit der Miene des Erstaunens, die ihr das Unglück verliehen hatte; „der Tag gehört allen. Warum gab man mir nur die Nacht?“ – „Wißt Ihr“, fragte der Priester nach einer neuen Pause, „weshalb Ihr hier seid?“ – „Ich glaube, ich wußte es“, antwortete sie und fuhr mit ihrer mageren Hand über die Stirn, als wollte sie ihrem Gedächtnis nachhelfen. Dann weinte sie wie ein Kind. – „Mich friert, ich fürchte mich, denn die Tiere kriechen mir über den Leib.“ – „Gut, folgt mir!“ Der Priester ergriff sie beim Arme. Die Unglückliche war erstarrt; aber dennoch schauderte sie beim Druck dieser Hand.
„Ach“, murmelte sie, „es ist die kalte Hand des Todes! Wer seid Ihr?“
Der Priester hob seine Kapuze auf; sie sah das unheilvolle Antlitz, das sie schon so lange verfolgte, jenes Geisterhaupt, das kürzlich über dem angebeteten Haupte ihres Phoebus schwebte, dasselbe Auge, das sie neben dem Dolche funkeln sah. Der Schleier, der auf ihrem Gedächtnis ruhte, zerriß. Alle Einzelheiten ihres nächtlichen Unglücks, von der Szene bei der Falourdel bis zu ihrer Verurteilung in der Tournelle stürmten auf einmal auf sie ein, nicht unbestimmt und verwirrt, wie früher, sondern genau, mit scharfen Umrissen, furchtbar. Alle diese durch das Übermaß der Leiden erloschenen und halb verwischten Erinnerungen belebten wieder die düstere Gestalt, die sie vor sich erblickte, so wie das Feuer auf weißem Papier unsichtbare Buchstaben hervorspringen läßt, die man mit sympathetischer Tinte niederschrieb. Es schien ihr, als würden alle Wunden ihres Herzens plötzlich aufgerissen und bluteten. „Ach“, rief sie, „es ist der Priester“, und bedeckte krampfhaft ihre Augen mit den Händen. Dann ließ sie entmutigt ihre Arme sinken, saß da mit gesenktem Haupte, heftete den Blick zu Boden und zitterte. Der Priester betrachtete sie schweigend.
Sie murmelte leise: „Schnell, schnell, den letzten Schlag.“ Dann drückte sie ihr Haupt zwischen die Schultern, wie ein Schaf, das den Schlag des Schlächters erwartet.
„Ich erwecke Euch Schauder?“ sprach er endlich. Sie erwiderte nichts. „Erwecke ich Euch Schauder?“ wiederholte er seine Frage.
Ihre Lippen zogen sich zusammen, als ob sie lächelte. – „Ja“, sprach sie, „der Henker verhöhnt sein Opfer. Schon seit Monaten verfolgt, bedroht, erschreckt er mich. Wie wär‘ ich glücklich ohne ihn! Er hat ihn getötet! Meinen Phoebus!“ Sie schluchzte und erhob ihr Auge zu dem Priester. „Elender! Wer seid Ihr? Was tat ich Euch? Ihr haßt mich! Was habt Ihr gegen mich?“ – „Ich liebe dich!“ rief der Priester aus.
Plötzlich stockten ihre Tränen; sie beschaute ihn mit stumpfem Blick. Er lag auf den Knien und sein Auge sprühte Flammen.
„Hörst du? Ich liebe dich!“ rief er noch einmal. – „Du liebst mich?“ sprach die Unglückliche bebend. – Er erwiderte: „Mit der Liebe eines Verdammten.“ – Beide schwiegen einen Augenblick, von der Heftigkeit ihrer Gefühle überwältigt; er glich einem Wahnsinnigen, sie einer Blödsinnigen.
„Höre“, sprach endlich der Priester und zeigte eine sonderbare Ruhe, „du sollst alles erfahren; dir will ich sagen, was ich mir kaum selbst zu sagen wage, wenn ich mein Gewissen im tiefsten Dunkel der Nacht, wo Gott uns nicht mehr zu sehen scheint, befragte. Höre! Bevor ich dich schaute, Mädchen, war ich glücklich. Ja, ich war glücklich, oder glaubte es wenigstens zu sein. Ich war rein, meine Seele war durchsichtig – unbefleckt. Kein Haupt erhob sich strahlender und heiterer als das meinige. Priester holten sich bei mir Rat über Keuschheit, Gelehrte über Wissenschaft. Ja, die Wissenschaft war mir alles! Eine Schwester! Und eine Schwester genügte mir. Nur wie ich älter ward, faßte ich andere Gedanken. Mehr als einmal regte sich mein Fleisch, wenn ich an einem Weibe vorüberging. Die Gewalt des Geschlechtes und des Männerblutes, die ich, ein törichter Jüngling, für immer zu erdrücken wähnte, hatte schon so oft krampfhaft an der eisernen Kette des Gelübdes gerüttelt, das mich Elenden an die kalten Steine des Altars fesselte. Doch Fasten, Studien, Gebet, die Tötungen des Fleisches im Kloster hatten der Seele die Herrschaft über den Leib wieder erteilt. Auch mied ich die Weiber. Übrigens brauchte ich nur ein Buch aufzuschlagen und alle unreinen Dünste meines Gehirns verschwanden vor dem Glanz der Wissenschaft. In wenig Minuten empfand ich, wie die dichten Dünste der Erde weithin entflohen, und stand ruhig, aufrecht und heiter vor dem ruhigen Strahl der ewigen Wahrheit. So oft der Teufel mich zu versuchen nur unbestimmte Schatten von Frauen mir vorführte, die in Kirchen, Straßen und Wiesen vor meinen Augen vorüberzogen und in Träumen wiederkehrten, überwand ich leicht. Ach! Ist der Sieg mir nicht geblieben, so ist es die Schuld des Herrn, der den Menschen nicht mit gleicher Stärke wie den Teufel schuf. Höre! Eines Tages …“ Hier hielt er inne, und die Gefangene vernahm, wie seiner Brust ein röchelnder Seufzer entstieg; dann fuhr er fort:
„Eines Tages lehnte ich am Fenster meiner Zelle. – In welchem Buche las ich doch? Oh, alles dies gleicht einem Wirbel in meinem Haupte. Ich höre Musik und den Schall eines Tamburins. Verdrießlich in meiner Träumerei so gestört zu werden, schaute ich auf den Platz. Was ich sah, sahen auch andere; und dennoch war es kein Anblick für Menschenaugen. In der Mitte des Platzes – es war Mittag – ein schöner Tag – tanzte ein Geschöpf, ein Geschöpf so schön, daß Gott sie der Jungfrau vorgezogen und zur Mutter gewählt hätte, um sich von ihr gebären zu lassen, als er Mensch ward. Schwarz und glänzend waren ihre Augen, mitten in ihren dunklen Locken schimmerten einige Haare vom Sonnenschein gefärbt wie Goldfäden. Ihre Füße verschwanden bei ihrer Bewegung gleich Strahlen eines schnell sich umdrehenden Rades. Rings um ihr Haupt waren Metallplatten in die schwarzen Haarflechten gewoben, funkelten im Sonnenschein und bildeten gleichsam eine Sternenkrone um ihre Stirn. Ihr blaues, mit Flittern durchsticktes Kleid flimmerte wie eine Sommernacht mit tausend Sternen. Ihre braunen geschmeidigen Arme knüpften und lösten sich um ihre Gestalt gleich zwei Schärpen. Oh, die glänzende Gestalt löste sich wie etwas Lichtvolles selbst vom Licht der Sonne. – Mädchen, du warst es! –“
Der Priester schwieg einen Augenblick, von Gefühlen überwältigt. Dann fuhr er fort:
„Schon halb betäubt, suchte ich mich an etwas anzuklammern, mich im Sturze zu halten. Ich dachte an die Schlingen, die Satan mir schon gelegt hatte. Das Geschöpf vor meinen Augen war so übermenschlich schön, daß es nur vom Himmel oder aus der Hölle stammen konnte. Es war nicht mehr ein Mädchen aus Staub, im Innern durch den schwankenden Strahl einer Frauenseele erleuchtet. Es war ein Engel, aber ein Engel der Finsternis, nicht des Lichtes, sondern der Flammen. Da ich also dachte, sah ich neben dir eine Ziege, ein Tier des Sabbats; die Mittagssonne ließ ihre Hörner im Feuer strahlen. Da glaubte ich die Schlinge des Teufels zu schauen, zweifelte nicht länger, daß du aus der Hölle stammtest und zu meinem Verderben gekommen wärst. Ich glaubte es.“
Hier sah der Priester der Gefangenen ins Gesicht und fügte kalt hinzu:
„Ich glaub’ es noch! – Der Zauber aber wirkte nur allmählich; dein Tanz wirbelte mir im Gehirn; ich fühlte, wie das geheimnisvolle Verbrechen an mir vollzogen ward. Jede Kraft, die mich hätte erwecken können, schlummerte in meiner Seele, und gleich denen, die im Schnee erfrieren, fühlte ich Wollust, den nahenden Todesschlaf zu empfinden. Plötzlich hörte ich dich singen. Was sollte ich Unglücklicher beginnen? Dein Gesang war noch entzückender als dein Tanz. Ich wollte fliehen. Es war mir unmöglich. Ich war in den Boden gewurzelt, an ihn genagelt. Es schien mir, der Marmor des Bodens sei meinen Leib hinaufgestiegen. Meine Füße erstarrten, mein Haupt kochte. Endlich empfandest du vielleicht Mitleid mit mir, hörtest auf zu singen und verschwandest. Der Widerschein der blendenden Erscheinung, der Widerhall der bezaubernden Musik entschwanden allmählich meinen Augen und Ohren. Da sank ich in die Höhlung des Fensters, schwächer und starrer als eine umgestürzte Statue. Die Vesperglocke erweckte mich. Ich stand auf, ich floh, aber ach, ich war zu tief erschüttert, mein Inneres war allzusehr aufgewühlt; ich konnte nicht fliehen.“
Nach einer Pause fuhr er fort: „Von dem Tage an weilte in mir ein zweiter Mensch, den ich bisher nicht kannte. Ich wollte alle meine Mittel gebrauchen, das Kloster, den Altar, Arbeit und Bücher. Vergeblich! Wie hohl schallt die Wissenschaft, wenn ein Haupt voll Leidenschaft – verzweifelnd – an ihre Mauern rennt. Weißt du, Mädchen, was ich stets zwischen dem Buch und mir erblickte? Deinen Schatten, deine lichtvolle Erscheinung, wie sie einst den Raum vor mir durchschritt. Doch dies Bild war düster, gleich den schwarzen Kreisen, welche lange vor den Augen des Unbesonnenen sich hinzuziehen, der starr in die Sonne schaute. Da ich mich nicht losreißen konnte, da ich stets dein Lied in meinem Kopfe summen hörte, stets deine Füße tanzend auf meinem Brevier erblickte, da stets des Nachts deine Gestalt in Träumen über mein Fleisch hinschlüpft, wollte ich dich wiedersehen, dich schauen und berühren wissen, wer du wärst, versuchen, ob ich die Wirklichkeit an dir dem Ideal gleichfände, und so vielleicht meinen Traum vernichten. Gewiß würde, so hoffte ich, ein neuer Eindruck den ersten erlöschen; denn dieser war mir unerträglich geworden. Ich suchte dich auf und sah dich wieder; zum Unglück! Als ich dich zweimal sah, wollte ich dich tausendmal, wollte ich dich stets sehen! – Wie kann man auf dem Abhange der Hölle verweilen? – Da gehörte ich mir nicht mehr an; mit dem Faden, den der Teufel mir um die Flügel geschlungen hatte, fesselte er jetzt meine Füße. Ich irrte, wie du selbst, umher; erwartete dich in den Hallen; erspähte dich an den Kreuzwegen, beobachtete dich von der Höhe meines Turmes. Jeden Abend kehrte ich entzückter, verzweifelter, vom Zauber stets mehr befangen, unglücklicher heim.
Ich erfuhr, wer du seist. Eine Zigeunerin! Wie konnte ich an schwarzer Kunst zweifeln? Ich hoffte, ein Prozeß würde mich vom Zauber retten. Eine Hexe hatte Bruno d’Ast bezaubert, er ließ sie verbrennen und ward geheilt. Ich wußte dies und wollte das Mittel versuchen. Anfangs ließ ich dir nur den Platz vor Notre-Dame verbieten; denn ich hoffte, dich zu vergessen, wenn du nicht wiederkehrtest. Du kehrtest dich nicht daran und erschienst dort aufs neue. Da wollte ich dich entführen und versuchte es eines Nachts. Wir hatten dich schon, als der schändliche Offizier kam und dich befreite. Da begann mein Unglück, deines und seines. Endlich, da ich nicht mehr wußte, was ich tun und was aus mir werden sollte, gab ich dich bei dem Offizial als Hexe an und hoffte, wie Bruno d’Ast geheilt zu werden. Auch hegte ich ein dunkles Gefühl, der Prozeß werde dich meinen Händen überliefern; im Gefängnisse wärst du mein, dort konntest du mir nicht entschlüpfen, ich besäße dich, wie du so lange mich besaßest. Tut man Böses, so darf man nicht einhalten. Das wäre Wahnsinn! Das höchste Verbrechen schafft Wahnsinn der Freude. Ein Priester und eine Hexe, die sich auf dem Strohbündel des Kerkers vereinigen.
Darum zeigte ich dich als Hexe dem geistlichen Gericht an. Damals erschreckte ich dich, wenn ich dich antraf. Der Plan, den ich spann, der Sturm, den ich über deinem Haupte ansammelte, entfuhr mir in Drohungen und Blitzen. Doch ich schwankte. Mein Plan zeigte mir furchtbare Seiten, vor denen ich schauderte.
Vielleicht hätte ich auf meinen scheußlichen Gedanken verzichtet, vielleicht wäre er in meinem Gehirn vertrocknet, ohne Früchte zu tragen. Stets, dachte ich, werde es von mir abhängen, den Prozeß zu verfolgen oder fallen zu lassen. Doch jeder böse Gedanke ist unerbittlich und bestrebt, zur Tatsache zu werden; und da, wo ich mich allmächtig glaube, ist das Verhängnis mächtiger als ich. Ach, ach, das Verhängnis ergriff dich, überlieferte dich den furchtbaren Rädern der Maschine, die ich im Dunkel baute. Höre, jetzt bin ich dem Ende nahe.
Einst sah ich an einem sonnigen Tage einen Mann vorübergehen, der deinen Namen lachend aussprach, und dem Wollust aus den Augen blickte. Verdammung! Ich folgte ihm. Du kennst den Erfolg.“
Er schwieg. Das Mädchen konnte nur ein Wort aussprechen: „Oh mein Phoebus!“
„Nenne den Namen nicht“, sprach der Priester und drückte heftig ihren Arm. „Sprich ihn nicht aus! Wir Unglücklichen! Der Name stürzte uns alle miteinander ins Verderben! – Oder nein! Wir stürzten uns alle miteinander ins Verderben durch das unerklärbare Spiel des Verhängnisses! – Du leidest Schmerz; nicht wahr? – Dich friert; du erblindest im Dunkel; ein Gefängnis umschließt dich; aber in deinem Innern strahlt noch Licht, wenn es auch nur die kindliche Liebe für den albernen Menschen ist, der dein Herz besitzt. Meinen Kerker trage ich in der Brust, in mir ist Winter, Eis, Verzweiflung; Nacht herrscht in meiner Seele. Ahntest du, wie ich litt? Bei deinem Prozeß war ich gegenwärtig und saß auf der Bank des Offizials. Unter einer Priesterkapuze krümmte sich ein Verdammter. Gegenwärtig war ich, als du hereingeführt, gegenwärtig, als du verhört wurdest. Mein Verbrechen, meinen Galgen schaute ich auf deiner Stirn. Bei jedem Zeugenverhör, jedem Beweis, jeder Verhandlung war ich gegenwärtig; jeden deiner Schritte auf dem Wege des Schmerzes konnte ich zählen. Dort war ich als das reißende Tier. – Oh! Die Folter hatte ich nicht geahnt. – Höre! Ich folgte dir in die Kammer der Schmerzen. Ich sah dich entkleiden und unter den scheußlichen Händen des Folterers. Ich sah deinen Fuß. Ihn küssen zu können, hätte ich ein Reich hingegeben; mein Haupt würde ich mit Entzücken unter ihm zerschmettern, ich sah ihn im furchtbaren spanischen Stiefel, der die menschlichen Glieder zu blutigem Kot quetscht. Ich Unglücklicher! Während ich dies erblickte, trug ich unter meinem Mantel einen Dolch und zerfleischte damit meine Brust. Als du schriest, stieß ich ihn ins Fleisch! Sieh, die Wunde blutet noch.“
Er riß sein Priestergewand auf. Seine Brust war wirklich wie von einer Tigerklaue zerfleischt, und in der Seite klaffte eine ziemlich große Wunde! Die Gefangene fuhr schaudernd zurück.
„Oh!“ rief der Priester, „Mädchen, habe Mitleid mit mir! Du ahnst nicht, was Unglück ist! Ein Weib zu lieben! Zu fühlen, wie man für das geringste Lächeln Blut, Leben, Heil, Unsterblichkeit und Ewigkeit hingeben könnte! Welch ein Schmerz, König, Kaiser, Engel, Gott nicht zu sein, um als ein größerer Sklave ihr zu Füßen zu sinken! Tag und Nacht in Träumen und Gedanken an sie zu schwelgen und dann zu sehen, wie sich sich in ein Soldatenkleid verliebt! Und ihr nur ein Priesterkleid bieten zu können, vor dem sie schaudert! Wütend aus Eifersucht, war ich gegenwärtig, als sie an einen elenden Pinsel von Prahlhans alle Schätze ihrer Liebe und Schönheit verschwendete! Ich schaute, wie der Leib, bei dessen Form ich entbrenne, wie dein süßer Busen, dein Fleisch unter den Küssen eines andern zitterte und errötete. Oh Himmel! Wenn ich an die Schultern, die braune Haut, die blauen Adern dachte, krümmte ich mich oft auf dem Pflaster meiner Zelle, und alle Liebkosungen, die ich für dich erträumte, führten dich nur zur Tortur! Mir allein gelang es, dich auf das lederne Bett zu strecken! Mein Gefühl empfand die Zangen der Hölle! Glücklich der, den man zwischen zwei Brettern zersägt, den man mit Pferden zerreißt. Kennst du die Qual, die in langen Nächten, kochende Adern, ein zerspringendes Herz, Zähne, die die Hände zerfleischen, erschaffen? Ach, die unerbittlichen Folterer kehren unaufhörlich mit Gedanken der Liebe, Verzweiflung und Eifersucht wieder. Mädchen, übe Gnade! Nur für einen Augenblick. Ach, nur ein wenig Asche für diese Glut! Trockne den Schweiß, der von meiner Stirne rinnt! Habe Mitleid, Mädchen, habe Mitleid!“
Der Priester wälzte sich im Wasser des Fußbodens und rannte mit dem Schädel gegen die Ecken der steinernen Stufe. Als er erschöpft und keuchend schwieg, wiederholte sie halblaut: „Oh mein Phoebus!“
Der Priester schleppte sich zu ihr auf den Knien.
„Ich flehe dich an! Bist du nicht ohne Herz, so stoße mich nicht zurück! Ich liebe dich! Ich bin mehr als elend! Unglückliche, sprichst du den Namen, dann ist es mir, als würden die Fibern meines Herzens unter deinen Zähnen zerrieben. Gnade! Stammst du aus der Hölle, so gehe ich dorthin mit dir; die Hölle ist mein Paradies, erblicke ich dich dort; dein Anblick entzückt mich höher als der Anblick Gottes! Sprich! Du willst nicht! Ich wähnte, am Tage, wo ein Weib solche Liebe verschmähte, müßten sich Berge bewegen. – Oh, wenn du wolltest! Wie glücklich könnten wir sein. Wir fliehen! Wir wählen uns den Ort auf der Erde, wo die schönste Sonne scheint, wo die schönsten Bäume blühen, und wo der Himmel stets heiter bleibt. Wir wollen uns lieben, unsere Seelen ineinander gießen, mit unauslöschbarem Durst, unaufhörlich aus dem nie versiegenden Becher der Liebe schlürfen!“
Sie unterbrach ihn mit lautem, furchtbarem Lachen. „Seht doch, Vater! Blut fließt aus Euern Nägeln!“
Einige Augenblicke war der Priester versteinert und heftete sein Auge starr auf die Hand. „Ja“, begann er endlich mit sonderbar sanftem Tone, „beschimpfe mich, spotte meiner! Aber komm, komm! Eile! Morgen, sage ich dir. Du kennst den Galgen des Grèveplatzes. Er ist bereit. Wie furchtbar! Du auf dem Karren! Gnade! – Noch nie habe ich es so empfunden, wie sehr ich dich liebe. – Oh, folge mir! Du kannst mich lieben, wenn ich dich gerettet. Du kannst mich hassen, wenn du willst! Aber komm. Morgen! Morgen! Der Galgen, dein Tod! – Rette dich! Schöne meine!“
Wild ergriff er ihren Arm; er wollte sie fortschleppen. Sie blickte ihn starr an. – „Wo ist mein Phoebus?“ – „Ach!“ rief der Priester, „du bist ohne Mitleid!“ – „Wo ist mein Phoebus?“ wiederholte sie kalt. – „Tot.“ – „Tot!“ sprach sie erstarrt und unbeweglich: „Warum wollt Ihr, daß ich lebe?“
Er hörte nicht. – „Ja“, sprach er zu sich selbst, „er muß tot sein. Die Klinge drang tief ein; ich glaube, das Herz berührte ich mit der Spitze. Oh, ich fühle durch und durch selbst mit der Spitze des Dolches!“
Wie eine Tigerin erhob sich das junge Mädchen und stieß ihn mit übernatürlicher Kraft an die Stufen der Treppe. – „Fort, Ungeheuer! Mörder! Laß mich sterben! Unser Blut sei ein ewiger Flecken an deiner Stirn! Dein sein! Nie, nie! Nichts wird uns vereinen, selbst nicht die Hölle! Sei verflucht! Nie!“ Der Priester taumelte zur Treppe. Schweigend löste er seine Füße aus den Falten seines Kleides, nahm seine Laterne und stieg langsam die Stufen hinan, die zur Tür führten. Er öffnete sie und ging. Plötzlich sah das Mädchen, wie sein Haupt über dem ihrigen wieder erschien; furchtbar war sein Ausdruck, und sie vernahm den röchelnden Ruf: „Ich sage dir, er ist tot!“
Sie fiel mit dem Antlitz zu Boden, und man vernahm kein anderes Geräusch im Kerker, als das Fallen der Wassertropfen, die auf den Pfuhl im Dunkel hinabsanken.
34. Die Mutter
Es gibt wohl nichts Lieblicheres als die Gedanken, die im Herzen einer Mutter erwachen, wenn sie den kleinen Schuh ihres Kindes erblickt, hauptsächlich, wenn dieser ein Schuh für den Sonntag, für Feste, ein Taufschuh, bis zur Sohle gestickt ist, womit das Kind noch keinen Schritt tat. Ein solcher Schuh besitzt soviel Anmut und Zierlichkeit, daß es unmöglich scheint, mit ihm zu gehen; der Mutter scheint es dann, als ob sie ihr Kind erblickte. Sie lächelt ihm zu, küßt ihn, sprich mit ihm, fragt sich selbst, ob ein so kleiner Schuh möglich sei. Ist das Kind abwesend, so genügt der zierliche Schuh, der Mutter das geliebte und zerbrechliche Geschöpf vor Augen zu führen. Sie glaubt es gesund, lächelnd, heiter, mit zarten Händen, rundem Kopf, reinen Lippen, heiteren, blauen Augen zu erblicken. Hat aber die Mutter ihr Kind verloren, so wird der kleine Schuh statt eines Bildes der Zärtlichkeit und Freude ein Gegenstand der Pein für das Mutterherz. Nicht die Hand eines Engels hält ihr ihn vor, sondern die Kralle eines Teufels.
An einem schönen Maimorgen hörte die Klausnerin im Tour-Roland ein Klirren von Wagenrädern und Eisenwerk auf dem Grèveplatz. Sie kümmerte sich kaum darum, legte ihre Haare über die Ohren, damit sie nicht mehr höre, und fuhr fort, den leblosen Gegenstand, den sie seit fünfzehn Jahren anbetete, zu betrachten. Der kleine Schuh war, wie wir schon sagten, für sie die Welt. Bei ihm sollten ihre Gedanken bis zum Tode verweilen. Wieviel bittere Verwünschungen, rührende Klagen, Gebet und Schluchzen sie bei diesem kleinen Stück rosafarbenen Atlas gen Himmel sandte, hat allein jene düstere Höhle des Tour-Rolland erfahren. An dem Morgen schien der Schmerz noch heftiger als gewöhnlich bei ihr hervorzubrechen, und man vernahm außen, wie sie mit herzzerreißender, lauter, einförmiger Stimme klagte.
„Oh Tochter“, sprach sie, „meine Tochter! Mein liebes, teures Kind, ich werde dich nie mehr sehen. Es ist vorbei! Nie werde ich dich wiedersehen! Noch immer scheint es mir, als wäre es erst gestern geschehen. Gott! Gott! Warum nahmst du sie mir so schnell! Hättest du sie mir doch nicht gegeben! Weißt du nicht, daß die Kinder ein Teil unseres Leibes sind, und daß Mütter, denen man sie nimmt, nicht mehr an Gott glauben? – Ich Unglückliche, daß ich an dem Tage ausging! Oh Herr! Herr! Du sahst sie nie, wenn sie saugend, lächelnd an meiner Brust ruhte. Gott! Hättest du das gesehen, du hättest Mitleid gefühlt mit meinem Entzücken und mir nicht die einzige Liebe genommen, die meinem Herzen verblieb. War ich ein so elendes Geschöpf, Herr, daß du mich nicht anschauen konntest, bevor du mich verdammtest? Ach! Ach! Der Schuh! Wo ist der Fuß? Wo ist mein Kind? Tochter! Herr, gib sie mir zurück, auf einen Tag, eine Stunde, eine Minute! Nur auf eine Minute, und dann verstoße mich auf ewig in die Hölle! Meine Knie sind wund durch fünfzehn Jahre langes Gebet. Ist das nicht genug der Buße! Oh, wüßte ich, wo nur ein Zipfel deines Kleides sich hinschleppt, dort klammerte ich mich an mit beiden Händen, und du müßtest mir mein Kind zurückgeben! Oh Herr, hab Mitleid; kannst du eine arme Mutter zu fünfzehnjähriger Todesqual verurteilen? Heilige Jungfrau! Himmelskönigin, ach, gib mir mein Jesuskind. Man stahl es, fraß es auf einer Heide, trank sein Blut, benagte seine Knochen! Heilige Jungfrau, erbarme dich meiner! Oh meine Tochter! Was hilft es mir, daß sie im Paradiese weilt! Ich will keinen Engel, ich will mein Kind! Herr, bewahre mir mein Kind! Sieh, meine Arme sind zernagt; hat Gott kein Mitleid? Oh, gib mir nur Salz und schwarzes Brot mit meiner Tochter, sie wird mich gleich der Sonne erwärmen. Ach Gott! Herr, ich war eine Sünderin, durch meine Tochter ward ich aber fromm. Für sie war ich voll Liebe und Gottesfurcht; wenn sie lächelte, glaubte ich den Himmel zu schauen. Könnte ich nur einmal, ein einzig mal den Schuh über den schönen Fuß ziehen, dann würde ich sterben, dich, heilige Jungfrau, segnend. – Fünfzehn Jahre! Jetzt wäre sie erwachsen. – Unglückliches Kind! Nie werde ich dich wieder erblicken! Nicht einmal im Himmel! Dort darf ich nicht eintreten! Oh, welch Elend! Nur ihr Schuh! Sie ist für mich auf ewig verloren.“
Die Unglückliche ergriff den Schuh, sei Jahren zugleich Trost und Verzweiflung, und ihre Brust schien wie am ersten Tage durch Schluchzen springen zu wollen. Der Schmerz altert nicht, ob die Trauerkleider auch abgenutzt verbleichen; das Herz bleibt ewig verdunkelt. In dem Augenblick drangen frische, heitere Kinderstimmen in ihre Zelle. Ein Knabe sagte: „Heute wird die Zigeunerin gehängt.“
Mit dem schnellen Sprunge, wie die Kreuzspinne sich auf die Fliege stürzt, war sie an der Luke. Sie sah eine Leiter am Galgen, und der Henker legte die durch Regen verrosteten Ketten zurecht. Einiges Volk stand in der Runde.
Die Kinder waren schon weit entfernt. Die Klausnerin suchte mit dem Blick einen der Vorübergehenden, um ihn befragen zu können. Plötzlich bemerkte sie seitwärts von ihrer Zelle einen Priester, der dem Anschein nach in dem öffentlichen Gebetbuch las, der sich aber wirklich weit weniger um das vergitterte Buch bekümmerte als um den Galgen, wohin er von Zeit zu Zeit einen düsteren Blick warf. Sie erkannte in ihm den Archidiakonus von Notre-Dame, den heiligen Mann.
„Vater“, fragte sie, „wer wird gehängt?“ Der Priester sah sie an und antwortete nicht. Sie wiederholte ihre Frage; da sagte er: „Ich weiß nicht.“ – „Kinder sagten, es wäre eine Zigeunerin.“ – „Ich glaube, ja.“
Da brach Paquette la Chantefleurie in das Gelächter einer Hyäne aus. – „Schwester“, sprach der Priester, „Ihr haßt wohl die Zigeunerinnen?“ – „Ob ich sie hasse, sie sind Hexen und stehlen Kinder. Sie fraßen meine Tochter, mein Kind, mein einziges Kind! Ich bin ohne Herz! Sie fraßen mein Herz!“ Sie war furchtbar. Der Priester betrachtete sie mit kaltem Blick.
„Eine besonders hasse ich“, begann sie aufs neue, „und verfluche sie, ein Mädchen in dem Alter, in dem jetzt meine Tochter sein würde, hätte die Mutter jener diese nicht gefressen. So oft die junge Viper bei meiner Zelle vorübergeht, regt sich in mir das Blut.“
„Nun Schwester, freue dich“, sprach der Priester, starr wie eine Statue, „du wirst sie sterben sehen.“
Sein Haupt fiel nieder auf die Brust, und er entfernte sich langsam. Die Klausnerin rieb sich vor Freude die Hände. „Ich hatte es ihr vorhergesagt, daß sie die Leiter dort hinaufsteigen würde! Dank dir, Priester!“ rief sie aus.
Dann ging sie mit großen Schritten, mit fliegendem Haar, mit flammendem Auge vor ihrer Luke auf und ab, sie stieß die Mauern mit ihren Schultern und glich einer Wölfin im Käfig, die lange gehungert hat und merkt, es nahe die Stunde ihrer Mahlzeit.
35. Drei verschieden gebildete Männerherzen
Phoebus war übrigens nicht gestorben. Menschen seiner Art haben ein zähes Leben. Als Meister Philipp Lheulier, außerordentlicher Advokat des Königs, der armen Esmeralda gesagt hatte: er stirbt, war es von seiner Seite Irrtum oder Scherz. Als der Archidiakonus der Verurteilten wiederholte: er ist tot, wußte er es zwar keineswegs, glaubte es aber, rechnete darauf, und zweifelte nicht daran, weil er die Hoffnung hegte. Gewiß konnte man auch nicht von ihm erwarten, daß er dem Mädchen, das er liebte, gute Nachricht von seinem Nebenbuhler überbringen sollte. Jeder Mann hätte an seiner Stelle ebenso gehandelt.
Allerdings war die Wunde des Hauptmanns gefährlich gewesen, aber doch nicht in dem Grade, wie der Archidiakonus es hoffte. Der Heilkünstler, zu dem die Soldaten der Wache ihn im ersten Augenblicke getragen hatten, fürchtete acht Tage lang für sein Leben und sagte ihm dies sogar in lateinischer Sprache. Jugendkraft hatte aber die Oberhand behalten, und wie es oft, ungeachtet aller Annahmen geschieht, hatte die Natur es sich einfallen lassen, den Kranken zu retten und den Arzt zu verhöhnen. Während er noch auf seinem Bett lag, hatte er das erste Verhör von Philipp Lheulier und dem Untersuchungsrichter des geistlichen Gerichts überstanden, sich auch dabei nicht wenig gelangweilt. Als er daher an einem heitern Morgen sich recht gut befand, ließ er dem Apotheker seine goldenen Sporen als Bezahlung zurück und machte sich aus dem Staube. Übrigens war dies durchaus kein Hindernis hinsichtlich der Untersuchung. Die damaligen Richter bekümmerten sich durchaus nicht um Vollständigkeit in einem Kriminalprozeß. Sie wollten weiter nichts, als daß der Angeklagte gehängt wurde. Nun hatten ja aber die Richter schon genug Beweise gegen Esmeralda. Sie glaubten, Phoebus sei tot, und das genügte. Phoebus seinerseits war auch nicht weit geflohen, sondern begab sich ganz einfach nach Queue-en-Brie in Isle de France, einige Meilen von Paris entfernt, wo seine Kompanie in Garnison lag. Übrigens war ihm durchaus nichts daran gelegen, bei dem Prozesse zu erscheinen. Er hegte ein dunkles Gefühl, dort werde er sich lächerlich machen. Übrigens wußte er selbst nicht recht, was er von der Sache denken sollte. Eben nicht fromm, aber desto mehr abergläubisch, wie jeder Soldat, der nur Soldat ist, war er, wenn er sich die Sache bedachte, nicht ganz über die Ziege, das sonderbare Zusammentreffen mit Esmeralda, über die ebenso sonderbare Weise, wie sie ihn ihre Liebe erraten ließ, über ihre Geburt als Zigeunerin und über das Gespenst im reinen. Er erblickte in der Geschichte mehr Zauberei als Liebe, hielt die Zigeunerin für eine Hexe und den Schwarzrock für den Teufel; er beruhigte sich bald über die Zauberin Esmeralda oder Similar, wie er sie nannte, über den Dolchstich der Zigeunerin oder des Gespenstes und über den Ausgang des Prozesses. Sobald sein Herz in dieser Hinsicht frei war, nahm Fleur-de-Lys ihren alten Platz dort wieder ein; so erschien denn eines Morgens der liebende Ritter vor der Tür des Hauses Gondelaurier, band sein Pferd an einen Ring der Halle und stieg munter die Treppe zu seiner Verlobten hinan.
Diese war allein bei ihrer Mutter. Die Szene mit der Hexe, der Ziege, dem verwünschten Alphabeth und des Phoebus lange Abwesenheit waren ihr seitdem immer im Kopf herumgegangen. Als sie aber den Hauptmann eintreten sah, fand sie sein Wams so neu, sein Wehrgehenk so glänzend, seinen Ausdruck so leidenschaftlich, daß sie vor Freude errötete; sie war schöner als je. Ihre Haare waren entzückend geflochten; sie trug ein himmelblaues Kleid, wie es den Blondinen so gut steht, und ihr Auge schwamm in verliebtem Schmachten. Das Mädchen saß am Fenster und stickte noch immer an ihrer Neptunsgrotte. Der Hauptmann beugte sich über die Lehne ihres Stuhls, und sie schmälte mit halb liebkosendem Ton: „Böser Mann, warum seid Ihr seit zwei Monaten nicht gekommen? „ – „Ich schwöre Euch“, erwiderte Phoebus ein wenig verlegen, „Ihr seid so schön, um selbst einen Erzbischof schwermütig zu machen.“ – Sie mußte lächeln. – „Schon gut, schon gut! Laßt jetzt meine Schönheit, wie sie ist, und antwortet. Wahrhaftig, meine Schönheit muß groß sein!“ – „Nun gut, liebe Kusine, ich mußte nach meiner Garnison zurück.“ – „Wohin? Und warum kamt Ihr nicht, Abschied zu nehmen?“ – „Ich mußte nach Queue-en-Brie.“
Phoebus war entzückt, daß die erste Frage ihm Gelegenheit gab, die zweite unbeachtet zu lassen.
„Das ist ja ganz in der Nähe. Warum besuchtet Ihr mich nicht ein einziges Mal?“
Hier war Phoebus wirklich verlegen.
„Ich wurde abgehalten … durch den Dienst … und ich war auch krank, schöne Kusine.“
„Krank?“ fragte sie erschreckt.
„Ja … verwundet.“
„Verwundet?“
Das arme Mädchen erschrak heftig. „Nun ja“, sprach Phoebus in nachlässigem Ton, „es war gar nichts, ein Zank und ein Degenstoß. Was gilt Euch das!“
„Was mir das gilt?“ rief Fleur-de-Lys und erhob ihre in Tränen schwimmenden Augen. „Ach! Ihr sagt mir nicht, was Ihr hierüber denkt. Was war das für ein Degenstoß? Ich muß alles wissen.“ – „Gut, liebe Kusine. Ich zankte mich mit Mahé Fédy, dem Leutnant von St. Germain-en-Laye. Wir hackten einander einige Zoll Hau vom Leibe. Weiter war es nichts!“
Der Hauptmann wußte sehr wohl, als er so log, eine Ehrensache hebe stets einen Mann in der Meinung einer Dame. Wirklich sah ihm auch Fleur-de-Lys von Furcht, Bewunderung und Vergnügen bewegt, ins Gesicht. Sie war aber noch nicht ganz beruhigt.
„Seid Ihr auch ganz geheilt, mein Phoebus? Ich kenne Mahé Fédy nicht, – aber er ist ein häßlicher Mann. Woher kam denn der Zank?“
Hier begann Phoebus, dessen Phantasie eben keine Schöpfungskraft besaß, wirklich in Verlegenheit zu geraten, wie er seine Heldentat durchführen sollte. „Oh! … was weiß ich … ein Nichts, ein Wort … ein Pferd! … – Schöne Kusine“, brach er plötzlich ab, um dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, „was bedeutet der Lärm auf dem Platz?“
Er trat ans Fenster. – „Oh Gott, schöne Kusine, welch ein Gedränge!“
„Ich weiß es nicht“, sprach Fleur-de-Lys, „wie es scheint, soll eine Hexe vor der Kirche öffentlich Buße tun, um nachher gehängt zu werden.“
„Oh Gott Jesus!“ sprach die Mutter, „jetzt gibt es so viel Hexen, daß man sie verbrennt, ohne ihre Namen zu kennen. Es wäre dasselbe, als wollte man alle Namen der Wolken am Himmel wissen. Übrigens kann man darüber ruhig sein. Gott führt genau Buch.“ – Die alte ehrwürdige Dame stand auf und öffnete das Fenster. – „Gott!“ rief sie aus, „Phoebus, Ihr habt recht. Welch eine Masse Pöbel! Sogar auf den Dächern! Gott sei gelobt! Wißt Ihr, Phoebus, das erinnert mich an die Zeiten meiner Jugend, an den Einzug König Karls VII., bei dem auch solch Gedränge war. Ich weiß nicht mehr, in welchem Jahre. Wenn ich Euch das erzähle, so scheint Euch das wohl sehr alt, mir aber noch sehr neu. Oh, das Gedränge war noch ärger als jetzt und ging sogar bis an das Dach des Tores St. Antoine. Der König ritt mit der Königin hinten auf dem Sattel, und so alle Hoheiten und Herrschaften. Ich erinnere mich noch, man lachte sehr, weil neben Amanyon de Garlande, die von kurzem Wuchs war, ein Ritter von riesenhafter Gestalt saß, der die Engländer haufenweise getötet hatte. Das war schön. Es war eine Prozession aller französischen Edelleute mit ihren Oriflammen, Ritter mit Fahnen und Bannern. Was weiß ich? Ach! Wie wehmütig ist der Gedanke, daß es damals so viel Schönes gab, und daß jetzt alles dies verschwunden ist!“
Die beiden Verliebten hörten der ehrwürdigen Witwe schon lange nicht mehr zu. Phoebus hatte sich wieder über die Stuhllehne seiner Verlobten gebeugt und behauptete so einen lieblichen Posten, von wo sein lüsternes Auge in alle Öffnungen des Leibchens von Fleur-de-Lys drang.
„Phoebus“, sprach plötzlich leise Fleur-de-Lys, „in drei Monaten werden wir heiraten; schwört mir, daß Ihr nie ein anderes Mädchen liebtet.“
„Schöner Engel, ich schwöre es Euch! Ich schwöre es Euch!“ und sein leidenschaftlicher Blick vereinte sich, um Fleur-de-Lys zu überzeugen, mit dem aufrichtigen Ton seiner Stimme. Vielleicht glaubte er es selbst in dem Augenblicke. Entzückt, die Verlobten in so gutem Einverständnis zu sehen, verließ die gute Mutter das Zimmer, um irgendein häusliches Geschäft zu besorgen; Phoebus bemerkte es, und die Einsamkeit machte den mutigen Hauptmann so kühn, daß sonderbare Gedanken ihm in den Kopf kamen. Fleur-de-Lys liebte ihn; er war ihr Verlobter; sie war mit ihm allein im Zimmer; seine alte Neigung war wieder erwacht, zwar nicht mit aller Frische, aber mit aller Glut; auch ist es ja kein großes Verbrechen, wenn man von seinem Korn, wenn es noch grün ist, ein wenig speist; ich weiß nicht, ob ihm dergleichen Gedanken durch den Kopf gingen, aber Fleur-de-Lys wurde plötzlich durch den Ausdruck seines Blickes erschreckt. Sie sah im Zimmer umher und bemerkte, daß ihre Mutter sich entfernt hatte. „Gott!“ rief sie, schamrot und unruhig; „Wie heiß!“ – „Jawohl“, sagte Phoebus, „die Mittagssonne scheint. Wir brauchen ja nur die Vorhänge herabzulassen.“ – „Nein, nein“, rief die arme Kleine, „ich bedarf im Gegenteil der frischen Luft!“ Wie ein Reh, welches von weitem die Meute wittert, sprang sie auf, öffnete das Fenster und eilte auf den Balkon. Phoebus folgte ihr ein wenig verdrießlich. Der Platz von Notre-Dame, nach dem der Balkon, wie wir wissen, hinausging, zeigte in dem Augenblick ein sonderbares und unheilvolles Schauspiel. Ein ungeheures Gedränge, welches aus allen benachbarten Straßen herbeiflutete, füllte den größeren Platz. Die breiten Tore der Kirche waren geschlossen und bildeten einen Gegensatz zu den vielen Fenstern des Platzes, die offen standen und unzählige Köpfe zeigten.
Die Oberfläche dieses Gedränges war grau, schmutzig und erdfahl. Das erwartete Schauspiel war offenbar eines von denen, die die niedrigste Hefe der Bevölkerung herbeizulocken pflegen. Ein scheußlicher Lärm erhob sich aus dem Gewimmel gelber Kopfbedeckungen und struppiger Haare. Vo Zeit zu Zeit durchdrang eine scharfe, vibrierende Stimme den allgemeinen Lärm. „Ohe! He! Matthieu Valifre, wer wird da gehängt?“ – „Pinsel! Es ist nur die Buße im Sünderhemde. Gott spuckt ihr Latein ins Gesicht. Willst du den Galgen sehen, so geh auf den Grèveplatz.“ – „Nachher.“ – „Sag‘, ist es wahr, hat sie nicht beichten wollen?“ – „Ja, so scheint es.“ – „Das Heidenmädchen!“ –
„Herr, das ist so Sitte. Der Bailli des Palais übergibt den verurteilten Verbrecher zur Hinrichtung, wenn er ein Laie ist, dem Prévot von Paris; ist es ein Geistlicher, dem Offizial des Bischofs.“ – „Ich danke Euch, Herr.“
„Gott!“ rief Fleur-de-Lys, „das arme Geschöpf.“
Dieser Gedanke gab dem Blick, den sie über das Volk schweifen ließ, einen traurigen Ausdruck. Der Hauptmann beschäftigte sich unterdes mehr mit ihr als mit dem Pöbelhaufen und zerknitterte das Band ihres Gürtels. Sie wandte sich bittend und lächelnd zu ihm um. – „Bitte, Phoebus, laßt mich. Wenn meine Mutter wieder einträte, sähe sie Eure Hand.“
In diesem Augenblick schlug die Glocke von Notre-Dame langsam zwölf Uhr. Ein Murmeln der Zufriedenheit erhob sich im Volke. Die letzte Bewegung des zwölften Schlages war kaum erloschen, als alle Häupter sich wie Wogen vor dem Winde aufrichteten. Der Ruf: „Da ist sie!“ erscholl von Dächern, Fenstern und vom Pflaster.
Fleur-de-Lys hielt beide Hände vors Gesicht, um nicht zu sehen. „Schöne“, sprach Phoebus, „wollt Ihr wieder hereintreten?“ – „Nein“, erwiderte sie und öffnete aus Neugier wieder die Augen, die sie aus Scheu geschlossen hatte. Ein Karren, gezogen von einem starken normannischen Gabelpferd, das durch ein violettes Tuch mit weißen Kreuzen ganz verhüllt ward, kam auf den Platz. Mit Hieben bahnten die Sergeanten der Wache ihm den Weg. Neben dem Karren ritten mehrere Beamte der Gerechtigkeit und der Polizei; an ihrer Spitze paradierte Meister Jacques Charmolue. Auf dem unheilvollen Wagen saß ein Mädchen mit auf den Rücken gebundenen Armen; kein Priester befand sich ihr zur Seite. Sie war im Hemde, ihr langes schwarzes Haar (damals war es Sitte, das Haar erst unter dem Galgen abzuschneiden) fiel ihr über den Nacken und die halbentblößten Schultern.
Über diesem wogenden Haar schlang ein dicker, rauher und grauer Strick einen Knoten und rollte sich um ihren schönen Hals, wie ein Regenwurm um eine Blume. Auf dem Strick glänzte ein kleines Amulett von grünem Glas, das man ihr wohl deshalb gelassen hatte, weil man einem Sterbenden nichts verweigert. Die Zuschauer von den Fenstern konnten im Karren ihre nackten Beine erkennen, die sie mit dem instinktartigen Schamgefühl eines Weibes unter sich zu verbergen suchte. Zu ihren Füßen lag eine kleine geknebelte Ziege. Die Verurteilte hielt ihr lose gebundenes Hemd mit den Zähnen. Es schien, sie empfand ihr Unglück noch schmerzlicher, da sie allen Blicken so nackt preisgegeben ward. Ach! Die Scham gilt nichts in so furchtbaren Lagen.
„Jesus!“ sprach heftig Fleur-de-Lys, „seht doch, schöner Vetter, es ist die abscheuliche Zigeunerin mit der Ziege.“ So sprechend wandte sie sich um; er hatte das Auge auf den Karren geheftet und war sehr blaß.
„Welche Zigeunerin?“ fragte er stammelnd. – „Wie! Erinnert Ihr Euch nicht …“ – Phoebus unterbrach sie: „Ich weiß nicht, was Ihr meint.“
Er wollte zurücktreten, allein Fleur-de-Lys, deren Eifersucht noch kürzlich durch diese Zigeunerin so heftig erregt ward und jetzt wieder erwachte, warf ihm einen durchdringenden mißtrauischen Blick zu. Sie erinnerte sich dunkel, sie habe gehört, ein Hauptmann sei in den Prozeß verwickelt.
„Was habt Ihr?“ fragte sie Phoebus, „es scheint, dies Weib macht Euch verlegen?“ – Phoebus suchte zu lächeln: „Mich? Nicht im geringsten. Nun, ja.“ – „So bleibt“, erwiderte sie unerschüttert; „sehen wir beide bis zum Schlusse zu.“
Der Hauptmann mußte nun wohl bleiben. Ein wenig ward er dadurch beruhigt, daß die Verurteilte den Blick von dem Boden des Karrens nicht aufschlug. Es war nur zu wahr, Esmeralda saß auf dem Karren. Auf dieser letzten Stufe der Schmach und des Unglücks war sie aber noch immer schön. Im übrigen schien alles bei ihr unbestimmt zu schwanken; außer der Scham schien sie durch nichts erregt zu werden, so sehr war ihr Gefühl durch stumpfe Verzweiflung gebrochen. Ihr Körper fuhr bei jedem Rütteln des Karrens in die Höhe wie eine Leiche; ihr Blick war düster und starr. In ihrem Augapfel schimmerte zwar noch eine Träne, diese aber schien unbeweglich und gleichsam gefroren.
Der düstere Zug durchzog die Masse unter allgemeinem Geschrei der Freude und der Neugier. Wir müssen aber als treue Historiker berichten, daß manche, und selbst die Härtesten, Mitleid empfanden, als sie die schöne, unglückliche Esmeralda erblickten. Der Karren fuhr in den Vorhof und hielt vor dem Portal. Die Wache stellte sich an beiden Seiten in Schlachtordnung. Die Menge schwieg, und mitten in dieser angstvollen feierlichen Stille öffneten sich die beiden Flügeltüren des Haupttores knarrend gleichsam von selbst. Man sah in die tiefe, düstere, kaum durch einige Wachskerzen auf dem Hauptaltar erleuchtete Kirche, wie sie sich gleich einem finsteren Schlund auf den von Licht strahlenden Platz hin öffnete. Das Schiff war einsam. Nur in den fernen Stühlen des Chors sah man unbestimmt einige Priesterköpfe, und als das Haupttor sich erschloß, ertönte aus der Kirche ein lauter, ernster, eintöniger Gesang, der der Verurteilten Bruchstücke von Leichenpsalmen an das Haupt schleuderte.
Zugleich ertönte, vom Chor gesondert, an den Stufen des Hauptaltars eine andere düstere Stimme: „Qui verbum meum audit, et credit ei qui misit me, habet vitam aeternam et in judicium non venit, sed transit a morte in vitam.“ Dieser Gesang, den einige im Dunkel verschwindende Greise über dies schöne Geschöpf voll Jugend und Leben, wie die Frühlingslüfte mit ihm koseten, sangen, war die Totenmesse.
Das Volk lauschte andächtig.
Die Unglückliche, verstörten Sinnes, schien keine Vorstellung vom Innern der Kirche zu haben. Ihre bleichen Lippen regten sich wie zum Gebet, und als ein Henkersknecht auf sie zutrat, um ihr vom Karren hinabzuhelfen, hörte er, wie sie mit leiser Stimme sprach: „Phoebus!“ Man band ihr die Hände los und ließ sie vom Karren hinabsteigen mit der auch losgebundenen Ziege, die aus Freude über ihre Freiheit laut meckerte. Barfuß mußte Esmeralda dann auf dem harten Pflaster bis zu den Stufen gehen. Der Strick um ihren Hals schleppte hinter ihr her und glich einer ihr folgenden Schlange. Da hörte der Gesang in der Kirche auf. Ein großes goldenes Kreuz und eine Reihe Wachskerzen setzten sich im Dunkel in Bewegung. Man hörte die Hellebarden der buntgekleideten Türsteher schallen, und nach einigen Augenblicken zeigte sich eine Prozession von Priestern in Meßgewändern und von Diakonen in Dalmatiken, die mit ernsten Psalmen auf die Verurteilte zuging, den Blicken der Menge. Esmeraldas Blick aber weilte nur auf dem, der voranging, unmittelbar hinter dem Kreuzträger. „Ach“, sprach sie bebend, „der Priester ist es wieder!“
Der Archidiakonus war es wirklich. Rechts von ihm ging der Untersänger und links der Sänger mit dem Stabe seines Amtes. Er trat vor mit rücklings gebogenem Haupt, mit starren, offenen Augen, und sang:
„De ventre inferi clamavi et exaudisti vocem meam. Et projecisti me in profundum in corde maris, et flumen circumdedit me.“
Im Augenblick, wo er, in einen weiten Mantel mit silbernem Kreuz gewickelt, unter dem Portal hervortrat, war er so blaß, daß mancher unter den Zuschauern dachte, eine der marmornen Bildsäulen der im Chore auf Gräbern knienden Bischöfe sei erstanden und empfange auf der Schwelle des Grabes die zum Tode Bestimmte. Sie, nicht weniger blaß und starr, hatte kaum bemerkt, daß man ihr eine schwere, brennende Wachskerze in die Hand gab; sie hörte nicht die kreischende Stimme des Schreibers, der die Bußformel vorlas, und als man ihr sagte, sie müsse Amen sagen, sprach sie Amen. Um ihr einiges Leben und einige Kraft wiederzugeben, mußte der Priester ihr ein Zeichen geben, sich zu nähern, und ihren Wächtern, sich zu entfernen. Da fühlte sie, wie das Blut ihr zu Kopfe stieg, und ein letzter Zorn entzündete sich in dieser schon kalten und erstarrten Seele.
Langsam ging der Archidiakonus auf sie zu. Auch noch in diesem letzten Augenblick schaute sie, wie sein Auge, funkelnd von Lüsternheit, Eifersucht und Verlangen, auf ihren nackten Formen weilte. Dann sprach er laut: „Mädchen, hast du zu Gott gebetet, dir deine Sünden und Fehler zu verzeihen?“ – Er neigte sich zu ihrem Ohr (die Zuschauer meinten, er wolle ihre letzte Beichte hören): „Willst du mein sein? Noch kann ich dich retten.“
Sie sah ihn mit starrem Blick an. – „Geh, Teufel, oder ich klage dich an.“ – Er lächelte furchtbar: „Man wird dir nicht glauben, du wirst nur Ärgernis zum Verbrechen hinzufügen: Antworte schnell! Willst du mein sein?“ – „Wo ist mein Phoebus?“ – „Tot.“
In diesem Augenblick erhob der elende Archidiakonus mechanisch sein Haupt, und sah auf dem Balkon des Hauses Gondelaurier den Hauptmann neben Fleur-de-Lys stehen. Er wankte, fuhr mit der Hand über die Augen, sah noch einmal hin, murmelte eine Verwünschung, und alle seine Züge zogen sich heftig zusammen.
„Gut; du sollst sterben! Niemand soll dich haben“, murmelte er zwischen den Zähnen. Dann erhob er die Hand und rief mit einer Leichenstimme: „I nunc, anima anceps, et sit tibi deus misericors!“
Dies war die furchtbare Formel, womit man damals diese düstern Zeremonien schloß, das Zeichen, das der Priester dem Scharfrichter gab. Das Volk sank auf die Knie.
„Kyrie Eleyson!“ riefen die Priester unter dem Spitzbogen des Portals. „Kyrie Eleyson!“ wiederholte das Volk mit einem Rauschen über alle Köpfe, gleich dem Brausen eines bewegten Meeres. „Amen!“ sprach der Archidiakonus. Er wandte der Verurteilten den Rücken; sein Haupt sank auf seine Brust; er kreuzte die Hände, und dann sah man ihn mit dem Kreuz, den Kerzen und Priestern unter den dunklen Bogen der Kathedrale verschwinden, seine männliche Stimme erlosch allmählich im Chor mit dem Gesange der Verzweiflung: „Omnes gurgites tui et fluctus tui super me transierunt.“
Die Tore von Notre-Dame standen noch offen und zeigten die Kirche leer, einsam, trauernd, ohne Kerzen und Gesang.
Die Verurteilte stand unbeweglich auf ihrem Platz und wartete, daß man sie ergreife. Zwei gelbgekleidete Männer, Knechte des Henkers, gingen auf sie zu, ihr die Hände zu binden. Vielleicht empfand die Unglückliche, als sie den unheilvollen Karren wieder bestieg, bitteren Schmerz über den Verlust des Lebens. Sie erhob ihre roten, trockenen Augen zum Himmel, zur Sonne und zu den silbernen Wolken, dann blickte sie über die Menge auf die Häuser … Plötzlich, während der Mann im gelben Kleide ihr die Arme band, stieß sie ein furchtbares Freudengeschrei aus. Dort auf dem Balkon erblickte sie ihren Geliebten, ihren Herrn, ihren Phoebus! Der Richter, der Priester hatte gelogen! Er war es selbst, sie konnte nicht länger zweifeln; dort stand er, schön, lebendig, im prächtigen Kleide mit der Feder auf dem Hut und dem Degen an der Seite.
„Phoebus!“ rief sie, „mein Phoebus!“
Sie wollte ihm die von Liebe und Entzücken zitternden Arme entgegenstrecken, sie waren ihr aber auf den Rücken gebunden. Da sah sie, wie der Hauptmann die Stirn runzelte, wie ein junges an ihm lehnendes Mädchen mit verächtlichen Lippen und gereizten Augen ihn anblickte; dann sprach Phoebus einige Worte, die nicht zu ihr gelangten, und beide verschwanden schnell hinter der Glastür des Balkons, die geschlossen wurde.
„Phoebus!“ rief sie außer sich, „du solltest es glauben!“ Ein furchtbarer Gedanke erschütterte sie; sie erinnerte sich, als Mörderin des Hauptmanns Phoebus verurteilt zu sein. Bis dahin hatte sie alles ertragen, doch dieser letzte Schlag war zu hart. Besinnungslos fiel sie aufs Pflaster. – „Tragt sie zum Karren“, sprach Charmolue, „und macht der Sache ein Ende!“
Niemand hatte bis dahin auf der Galerie der Königsstatuen über den Spitzbögen des Portals einen sonderbaren Zuschauer bemerkt, der bis dahin unbeweglich, mit ausgestrecktem Halse, mit so entstelltem Gesicht zugeschaut hatte, daß man ohne sein halb rotes und violettes Kleid ihn für eines der steinernen Ungeheuer gehalten hatte, aus deren Rachen seit sechshundert Jahren die Rinnen der Kathedrale sich ausleeren. Diesem Zuschauer war nichts entgangen, was seit zwölf Uhr am Portal sich ereignet hatte. Schon in den ersten Augenblicken hatte er, ohne daß es jemand bemerkte, einen dicken Strick mit Knoten, dessen Zipfel bis auf die Treppe hinabhing, an ein Säulchen der Galerie gebunden. Dann schaute er ruhig zu und pfiff bisweilen, wenn eine Amsel vorüberflog. Plötzlich, als ein Henkersknecht sich anschickte, den Befehl des Meisters Charmolue auszuführen, sprang er blitzschnell über das Geländer, packte den Strick mit Füßen, Knien und Händen, dann glitt er an der Fassade herunter wie ein Regentropfen, der an einer Glasscheibe hinabrinnt, stürzte mit der Schnelligkeit einer vom Dach gefallenen Katze auf die beiden Henker los, schlug sie mit seinen Fäusten zu Boden, hob die Zigeunerin mit einer Hand, wie ein Kind seine Puppe, in die Höhe und sprang mit einem Satz in die Kirche zurück, indem er das Mädchen über seinem Haupte hielt und mit furchtbarer Stimme schrie: „Freistatt! Freistatt!“
„Freistatt! Freistatt!“ rief auch das Volk. Zehntausende klatschten in die Hände, und Quasimodos einziges Auge funkelte vor Freude und Stolz. Dieser Lärm erweckte die Zigeunerin aus ihrer Betäubung. Sie schlug ihr Auge auf und schaute Quasimodo an, schloß es aber sogleich wieder, als scheue sie sich vor ihrem Retter. Charmolue, die Henker, die Wache standen erstaunt da. In den Mauern von Notre-Dame war die Verurteilte unverletzlich. Die Kathedrale war tatsächlich eine Freistatt. Auf ihrer Schwelle erstarb jede menschliche Gerechtigkeit.
Quasimodo blieb unter dem Portale stehen. Seine breiten Füße schienen auf dem Pflaster der Kirche so fest zu wurzeln, wie die römischen Pfeiler. In seinen schwieligen Händen hielt er das zitternde Mädchen mit soviel Vorsicht, als fürchte er, er möchte sie zerbrechen oder knicken. Es schien, als fühle er, sie sei zartes, köstliches Spielzeug, für andere Hände als für die seinigen geschaffen. Sein Gnomenauge senkte sich voll Zärtlichkeit, Schmerz und Mitleid bald auf ihre Gestalt, bald aber erhob es sich plötzlich funkelnd. Die Frauen lachten und weinten, die Menge jauchzte; denn in dem Augenblick zeigte Quasimodo eine eigentümliche Schönheit. Er, die Waise, das Findelkind, der Auswurf der Menschheit, war schön; er fühlte sich erhaben und stark; er blickte der Gesellschaft, aus der er verbannt war, in die er mit solcher Gewalt eingriff, ins Antlitz; er empfand, wie er der menschlichen Gerichtsbarkeit die Beute entrissen hatte, wie jene Tiger, Richter, Sbirren, Herren, mit den Zähnen im Leeren knirschten, wie er, der Hefe des Volkes entstammend, die Macht des Königs mit Gottes Kraft zerbrach.
Nach einigen Minuten des Triumphes stürzte Quasimodo mit seiner Last in die Kirche hinein. Das Volk, das für wirkliche Heldentaten stets etwas übrig hat, folgte ihm im dunklen Schiff mit dem Blick und bedauerte, daß er sich so schnell seinem Zuruf entzog. Plötzlich sah man ihn am äußersten Punkte der Königsgalerie wieder zum Vorschein kommen; er durchlief sie wie wahnsinnig, hob das Mädchen auf den Armen empor und rief: „Freistatt! Freistatt!“ Wieder ließ das Volk donnernden Beifall vernehmen. Nachdem Quasimodo die Galerie durcheilt, stürzte er in das Innere der Kirche zurück; sogleich aber erschien er auf der oberen Platte, trug die Zigeunerin, lief wie wahnsinnig umher, und rief: „Freistatt!“ Lauter Jubel erhob sich aufs neue. Endlich erschien er zum dritten Male auf der Spitze des Glockenturms; es schien, als wolle er stolz der ganzen Stadt das gerettete Mädchen zeigen, und seine furchtbare Stimme, die man so selten vernahm, und die er selbst nie hörte, rief bis in die Wolken: „Freistatt! Freistatt! Freistatt!“
„Bravo, Bravo!“ rief das Volk, und dieser ungeheure Zuruf setzte selbst die Klausnerin am Grèveplatz in Erstaunen, die, das Auge auf den Galgen geheftet, noch immer wartete.
36. Das Fieber
Claude Frollo war nicht mehr in Notre-Dame, als sein Adoptivsohn so gewaltsam die verhängnisvolle Schlinge durchschnitt, in der der Archidiakonus sich selbst und die Zigeunerin gefangen hielt. Als er in die Sakristei trat, riß er die Alba, die Stola, den Chormantel sich heftig vom Leibe, warf sie dem erstaunten Küster in die Hände, entschlüpfte durch die Hintertür des Klosters und befahl einem Schiffer, ihn auf das linke Seineufer überzusetzen. Dort eilte er in die hügeligen Straßen der Universität, ohne zu wissen, wohin er ging, wo er war, was er dachte und ob er träumte. Er lief in jede Straße, auf die er zufällig traf, ohne sie zu wählen; er sah sich gleichsam verwirrt, getrieben von dem schrecklichen Grèveplatz, von dem er dunkel fühlte, er liege hinter ihm. Er fuhr fort zu fliehen, solange er die Ringmauern der Türme der Universität und die spärlichen Häuser der Vorstadt erblicken konnte; als aber eine Bodensenkung ihm das verhaßte Paris gänzlich entzogen hatte, als er sich, auf hundert Stunden von der Stadt entfernt, im Felde und in einer Wüste wähnen konnte, blieb er stehen, und es schien, als atme er auf.
Da drängten sich furchtbare Gedanken in seinem Geiste. Er durchschaute seine Seele und bebte. Er dachte an das unglückliche Mädchen, das er vernichtete und durch das er vernichtet ward. Er warf einen verstörten Blick auf die gewundenen Pfade, auf die das Geschick sie beide führte, bis sie am Durchschneidungspunkte unerbittlich beide aneinander zerschmetterten. Er dachte an die Torheit der ewigen Gelübde, an die Eitelkeit des Wissens, der Keuschheit, der Religion, der Tugend, an die Nutzlosigkeit der Gottesidee. Mit Freude versank er in böse Gedanken, und je mehr er sich in sie vertiefte, desto mehr vernahm er das Hohnlachen des Satans in seinem Herzen. Plötzlich ward er wieder blaß; denn er betrachtete die scheußliche Seite seiner unheilvollen Leidenschaft, die giftige, nagende, hassende, unversöhnliche Liebe, die das Weib nur zum Galgen, ihn selbst zur Hölle führte, für Esmeralda das Todesurteil, für ihn die ewige Verdammnis. Dann begann er zu lachen; denn er dachte, Phoebus lebe; der Hauptmann sei munter und heiter, trage ein schöneres Wams denn je, und besitze eine neue Geliebte, die er hinführe, zu schauen, wie die frühere den Tod erleide. Sein Lacher der Verzweiflung verdoppelte sich, wenn er bedachte, daß von allen lebendigen Wesen, deren Tod er erstrebte, er nur die Zigeunerin nicht verfehlte, das einzige Geschöpf, das er nicht haßte.
Und wenn er dann wieder das Glück zu ahnen suchte, das ihm auf der Erde hätte zuteil werden können, wäre er nicht Priester, wäre sie nicht Zigeunerin, hätte sie Phoebus nicht erblickt und ihn, den Archidiakonus, geliebt; wenn er dachte, ein Leben voll Heiterkeit und Liebe sei auch ihm möglich gewesen; auf der Erde gäbe es hin und wieder glückliche Paare, die beim Anblick der Abendsonne oder der gestirnten Nacht am Ufer der Quellen und in Orangenhainen unter süßem Gespräche schwelgten; hätte Gott es gewollt, so wäre er mit ihr ein gesegnetes Paar geworden. Dann zerschmolz sein Herz in Zärtlichkeit und Verzweiflung. Dann quälte ihn der Gedanke, jetzt sei vielleicht der Augenblick, wo die scheußliche Kette, die er am Morgen erblickte, die scheußliche Schleife, den schönen, schlanken Hals zuschnürte. Schweiß drang aus allen seinen Poren. Dann lachte er wieder teuflisch, wenn er bedachte, wie er Esmeralda am ersten Tage heiter, sorglos, geputzt, tanzend, geflügelt, und an ihrem letzten Tage im Hemd erblickte, wie sie langsam, mit nackten Füßen die eckige Leiter des Galgens hinaufstieg. Dies doppelte Bild machte einen solchen Eindruck auf ihn, daß er einen furchtbaren Schrei ausstieß.
Während dieser Orkan der Verzweiflung seine Seele durchtobte, zerriß und niederbeugte, beschaute er rings um sich die Natur. Zu seinen Füßen durchsuchten Hühner pickend ein Gesträuch, strahlende Käfer erhoben sich zur Sonne, über seinem Haupte flohen graue Wolken am Himmel vorüber; die Turmspitze der Abtei St. Viktor strebte vom schiefernen Obelisk empor; ein Müller betrachtete pfeifend, wie die arbeitenden Schwingen seiner Mühle sich regten. Dies tätige, geordnete, ruhige Leben erweckte aufs neue seinen Schmerz; er stürzte weiter. Bis zum Abend rannte er durchs Feld. Diese Flucht vor Natur, Leben, Gott und Menschen dauerte den Tag hindurch. Bisweilen stürzte er mit dem Antlitz zu Boden und wühlte mit den Nägeln das emporkeimende Korn aus der Erde. Bisweilen stand er in einsamen Dorfgassen still; dann nahm er sein Haupt zwischen die Hände, suchte es von den Schultern zu reißen und auf dem Pflaster zu zerschmettern; so unerträglich waren seine Gedanken.
Als die Sonne unterging, überdachte er seine Stimmung und fühlte sich dem Wahnsinn nahe. Der Sturm, der in ihm von dem Augenblick an wütete, wo er Hoffnung und Willen, die Zigeunerin zu retten, verloren hatte, ließ ihm nicht einen ruhigen und gesunden Gedanken. Seine Vernunft war fast gänzlich untergraben; in seinem Geiste weilten nur zwei deutliche Bilder, Esmeralda und der Galgen; alles andere war verdunkelt. Beide Vorstellungen zeigten ihm eine furchtbare Gruppe; je fester er hierauf alle ihm noch übrige Denkungskraft richtete, stieg in phantastischer Steigerung der Reiz, die Schönheit, das Licht der einen, die Schrecken der anderen, so daß Esmeralda ihm zuletzt wie ein Stern, der Galgen wie ein ungeheurer, fleischloser Arm erschien. Es ist bemerkenswert, daß der Unglückliche während dieser Folter nie daran dachte, sich selbst zu töten. So war sein Charakter; er hing am Leben; vielleicht schaute er wirklich die Hölle jenseits der Grenze seines irdischen Daseins.
Es ward immer dunkler. Das ihm noch verbliebene Lebensgefühl mahnte ihn an die Rückkehr. Er wähnte von Paris weit entfernt zu sein, fand aber, als er sich orientierte, daß er nur die Ringmauer der Universität umwandelt hatte, und er schlug einen Fußweg ein, der ihn in wenigen Augenblicken nach Paris zurückführte. Er scheute sich vor jedem Menschenantlitz und wollte nur so spät als möglich in die Stadt zurückkehren. Als er endlich zum Seineufer gelangte, fand er einen Schiffer, der ihn für einige Heller den Strom hinabfuhr und ihn am Grèveplatz ans Land setzte. Das einförmige Schaukeln des Kahnes und das Brausen des Wassers hatten den unglücklichen Claude einigermaßen betäubt. Die ihn umgebenden Gegenstände erblickte er nur durch vergrößerte Schwingungen, die ihm eine Art Nebelbild aus dem Ganzen bildeten.
Als er wieder die Straßen betrat, erschienen ihm die Vorübergehenden, die beim Schein der Kaufmannsläden sich drängten, als hin und her wandelnde Gespenster. Sonderbares Geräusch schwirrte ihm in den Ohren, sonderbare Phantasien verwirrten seine Gedanken. Er sah weder Häuser, noch Wagen, noch das Pflaster, noch Männer und Frauen, sondern nur ein Chaos verwirrter Gegenstände, deren Umrisse ineinander verschwammen. An einer Straßenecke war ein Gewürzladen, dessen Schirmdach nach uraltem Gebrauch rings mit blanken eisernen Reifen besetzt war, woran im Kreise hölzerne Lichter hingen, die im Winde wie Kastagnetten klapperten. Er glaubte, im Dunkel das Bündel der Skelette von Montfaucon klappern zu hören.
„Oh!“ murmelte er, „der Nachtwind schlägt sie aneinander und mischt das Klappern ihrer Knochen mit dem Klirren der Ketten. Vielleicht hängt auch sie hier!“
Als er auf die Brücke St. Michel kam, sah er vor einem Fenster im Erdgeschoß ein Licht; er trat heran. Durch die zerbrochenen Scheiben blickte er in ein schmutziges Zimmer, das eine dunkle Erinnerung ihm erweckte. In diesem, nur matt durch eine Lampe erleuchteten Zimmer, saß ein blonder, frischer Jüngling mit heiterem Gesicht, der ein leicht bekleidetes Mädchen unter lautem Lachen umarmte; neben der Lampe saß ein altes Weib, das mit meckernder Stimme sang. Da der junge Mann nicht fortwährend lachte, so hörte der Priester bruchstückweise den Gesang der Alten.
Wimmle, Grèveplatz, und lärme,
Trag des Volkes dichte Schwärme,
Während du, mein Rocken, schön
Fäden spinnst, den Strick zu drehn;
Wimmle, Grèveplatz, und lärme.
Oh, von Hanf, ihr lieben Seile!
Leute, streut auf manche Meile
Statt des Korns des Hanfes Saat!
Diebe wissen doch nicht Rat,
Zu entwenden Galgenseile.
Wimmle, Grèveplatz, gedrängt!
Wird ein lieblich Kind, gehängt,
Schön den schmier’gen Galgen schmücken,
Sind die Fenster voll von Blicken;
Wimmle, Grèveplatz, gedrängt!
Der junge Mann lachte und liebkoste das Mädchen. Die Alte war die Falourdel, das Mädchen eine feile Dirne, der Jüngling Claudes Bruder Jehan.
Er sah, wie Jehan ein Fenster hinten im Zimmer öffnete, einen Blick auf den Kai warf, wo tausend erleuchtete Fenster in der Ferne blinkten, es wieder zuschlug und sagte: „Bei meiner Seele! Die Nacht fängt an. Die Bürger zünden ihre Lichter und Gott seine Himmelslampen an.“ Dann kehrte er zu dem Freudenmädchen zurück, zerbrach eine auf dem Tisch stehende Flasche und rief aus: „Schon leer! Beim Teufel! Ich habe kein Geld mehr! Isabeau, meine Liebe, ich bin nicht eher mit Jupiter zufrieden, als bis er deine weißen Brüste in zwei schwarze Flaschen verwandelt hat, aus denen ich Tag und Nacht Beaune-Wein trinken kann.“
Das Mädchen lachte über den schönen Scherz, und Jehan trat aus dem Hause. Der Archidiakonus hatte kaum Zeit, sich zu Boden zu werfen, um von seinem Bruder, der ihm gerade entgegentrat, nicht erkannt zu werden. Glücklicherweise war die Straße dunkel und der Student betrunken. Dieser bemerkte dennoch den Archidiakonus, wie er auf dem Pflaster lag. „Oh, oh!“ rief er aus, „der hat lustig gelebt!“ Dann stieß er Dom Claude, der den Atem anhielt, mit dem Fuß. „Gänzlich betrunken, regungslos“, meinte Jehan. „Ein Blutegel, der vom Faß gefallen ist. Er ist ein Kahlkopf, ein Greis. Fortunate senex!“
Jetzt hörte Dom Claude, wie er sich mit den Worten entfernte: „Die Vernunft ist doch etwas sehr Schönes! Mein Bruder, der Archidiakonus ist doch sehr glücklich, Vernunft und Geld zu besitzen!“ Da stand der Archidiakonus auf und rannte auf Notre-Dame zu, deren ungeheure Türme er im Schatten über die Häuser emporragen sah. Als er keuchend auf den Vorplatz gelangte, fuhr er zurück und wagte nicht, die Augen zu dem unheilvollen Gebäude zu erheben.
„Ach!“ sprach er leise, „so Furchtbares ist heute morgen hier wirklich vorgegangen?“
Endlich wagte er, einen Blick auf die Kirche zu werfen. Die Fassade war düster; der Himmel strahlte hinter ihm von Sternen. Die Mondscheibe, die am Himmel daherzog, befand sich in dem Augenblick am Gipfel des Turmes rechts und schien wie ein leuchtender Vogel am Rande des mit schwarzen Kreuzen durchschnittenen Geländers zu sitzen.
Das Tor des Klosters war verschlossen. Der Archidiakonus trug aber stets den Schlüssel des Turmes, in dem sein Laboratorium war, bei sich. Er schloß die Kirche auf.
Dort fand er das Dunkel und das Schweigen einer Höhle. Im dichten Schatten sah er jedoch, daß die Gewänder der Zeremonie des Morgens noch nicht entfernt waren. Das große silberne Kreuz schimmerte noch auf dem schwarzen Tuch, gleich der Milchstraße am Nachthimmel, die langen Fenster des Chores zeigten über dem schwarzen Gewande die oberste Spitze ihrer Bogenfenster, deren Gläser, von einem Mondstrahl durchdrungen, nur die zweifelhaften Farben der Nacht in einer Art Violett, Weiß und Blau zeigten, die man sonst nur auf Leichengesichtern bemerkt. Der Archidiakonus, als er ringsum die bleichen Spitzen der Bogenfenster schaute, wähnte die Mitren der zur Hölle verdammten Bischöfe zu erblicken. Er schloß die Augen, und als er sie wieder öffnete, schien es ihm, als beschaue ihn ein Kreis blasser Gesichter. Er floh durch die Kathedrale. Da schien es ihm, als bewege und belebe sich, als schwanke die Kirche, jede Säule schlage wie mit Klauen in den steinernen Grund, die gigantische Kathedrale werde zum wunderbaren Elefanten, der mit seinen Pfeilern wie mit Füßen wandle, die Türme wie den Rüssel ausstrecke, und dem das große schwarze Tuch zur Decke diene. Das Fieber oder der Wahnsinn war auf solche Höhe gestiegen, daß die ganze äußere Welt dem Unglücklichen nur zur sichtbaren, furchtbaren, berührbaren Apokalypse wurde. Für einen Augenblick fühlte er Erleichterung. Als er unter die Seitensäulen trat, bemerkte er hinter Pfeilern ein rötliches Licht. Er eilte darauf zu, als wär’s ein Stern. Es war eine ärmliche Lampe, die Tag und Nacht das öffentliche Breviarium von Notre-Dame hinter ehernem Gitter erleuchtete. Begierig stürzte er auf das heilige Buch zu; denn er hoffte, in ihm Trost und Ermutigung zu finden. Das Buch war bei einer Stelle Hiobs aufgeschlagen, die sein starrer Blick durchlief: „Ein Geist fuhr an meinem Antlitz vorüber, ich hörte seinen Hauch, und mein Haar sträubte sich empor.“
Als er die düsteren Worte las, empfand er das Gefühl eines Blinden, der Stacheln an dem Stabe fühlt, den er aufnahm. Seine Knie wankten, er sank aufs Pflaster und dachte an die, die an dem Tage gestorben war. Er fühlte, wie soviel ungeheure Dünste durch sein Gehirn zogen, daß sein Kopf ihm ein Schornstein der Hölle zu werden schien. Wahrscheinlich blieb er lange in dieser Lage unfähig zu denken und unter der Hand des Teufels gleichsam versunken. Endlich raffte er einige Kräfte zusammen und faßte den Gedanken, zu seinem treuen Quasimodo in den Turm zu fliehen. Er stand auf, und da er Furcht empfand, nahm er, um sich auf dem Wege zu leuchten, die Lampe des Breviariums. Dies galt für Schändung des Heiligtums; doch er kümmerte sich jetzt nicht um solche Kleinigkeit. Langsam, voll geheimen Schauders, der sogar die wenigen auf dem Vorplatz Vorüberwandelnden ergriff, als sie das geheimnisvolle Licht von Luke zu Luke im Turm emporsteigen sahen, wandelte er die Treppe hinauf.
Plötzlich empfand er die Frische des Luftzugs auf seinem Gesicht und stand unter dem Tore der höchsten Galerie. Die Luft war kalt, an dem Himmel zogen Wolken vorüber, deren breite, weißliche Streifen übereinander herfuhren und an den Winkeln sich stießen, so daß sie dem Eisgang eines Flusses im Winter glichen. Die Mondscheibe, in der Mitte der Wolken gleichsam strandend, schien ein Schiff des Himmels unter Schollen der Luft. Er senkte den Blick, beschaute einen Augenblick durch das Gitter von Säulchen, das beide Türme vereint, durch einen Flor von Nebel und Rauch die schwelgende Masse der spitzen, zahlreichen Dächer von Paris, wie sie gedrängt und klein dem sanftwogenden Meer einer Sommernacht glichen. Der Mond warf schwache Strahlen darüber hin, so daß Himmel und Erde eine Aschenfärbung erlangten.
In dem Augenblicke ertönte die schrille Stimme der Glocke. Sie schlug zwölf. Der Priester dachte an zwölf Uhr mittags. „Oh“, sprach er leise, „jetzt wird sie schon kalt sein!“
Plötzlich löschte ein Windstoß seine Lampe, und zugleich sah er an der entgegengesetzten Seite der Galerie eine weiße weibliche Erscheinung. Er zitterte. Neben dem Mädchen stand eine kleine Ziege, die ihr Meckern mit dem letzten Schlage der Turmuhr mischte. Er besaß noch Kraft hinzuschauen. Sie war es; blaß und düster; ihr Haar umflog, wie am Morgen, ihre Schultern. Doch um den Hals war kein Strick geschlungen, ihre Hände waren frei; sie schien ihm frei und tot. Ihr Kleid war weiß, und ein weißer Schleier floß von ihrem Haupte herab.
Langsam, den Blick zum Himmel gewandt, ging sie auf ihn zu. Ihr folgte die wunderbare Ziege. Er fühlte sich versteinert, so daß es ihm unmöglich war, zu fliehen. Bei jedem ihrer Schritte, mit dem sie vorwärts trat, trat er einen Schritt zurück. So kam er in das dunkle Gewölbe der Treppe. Er erstarrte bei dem Gedanken, auch sie werde ihm hierher folgen; hätte sie dies getan, wäre er vor Schrecken gestorben. Wirklich trat sie zur Tür der Treppe, sie weilte dort einen Augenblick, blickte starr ins Dunkel, doch, wie es schien, ohne den Priester zu sehen, und ging vorüber. Sie schien ihm größer als zu ihren Lebzeiten; durch ihr weißes Kleid erblickte er den Mond: Er hörte ihren Atem.
Als sie vorüber war, stieg er mit der Langsamkeit, die er bei dem Gespenst gesehen, die Treppe hinab; seine Haare sträubten sich; die erloschene Lampe hielt er in der Hand. Und wie er die Wendeltreppe hinabwandelte, vernahm er deutlich eine höhnende Stimme, die ihm zuflüsterte: „Ein Geist zog vor meinem Antlitz vorüber, ich vernahm seinen Hauch, und es sträubte sich mein Haar.“
37. Bucklig, einäugig, hinkend
Im Mittelalter bis auf Ludwig XII. besaß jede Stadt in Frankreich ihre Freistatt. In der Flut der Strafgesetze und der barbarischen Gerichte, die die Stadt überschwemmte, waren es Inseln, die über dem Strom menschlicher Gerichtsbarkeit emporragten. Jeder Verbrecher, der sie betrat, war gerettet. In einem Weichbild befanden sich sogar ebenso viele Freistätten wie Galgen. Auf der einen Seite sah man Mißbrauch der Straflosigkeit, auf der anderen Mißbrauch der Strafen, als strebten beide Mißbräuche sich auszugleichen. Königliche Paläste, Schlösser der Prinzen, besonders aber Kirchen besaßen das Recht der Freistatt. Wollte man bisweilen eine ganze Stadt wieder bevölkern, so ernannte man sie zu einer Freistatt. So ernannte Ludwig XI. Paris 1487 zum Asyl.
Sobald der Verbrecher die Freistatt einmal betreten hatte, war er geheiligt; er mußte sich aber hüten, sie zu verlassen; ein Schritt außer dem Heiligtum stürzte ihn wieder in die Wellen. Rad und Galgen bewachten das Heiligtum sehr scharf und lauerten stets auf ihre Beute, wie Haifische ein Schiff umschwärmen. Man sah Verurteilte, die im Kloster, auf der Treppe eines Palastes Greise wurden; so ward denn auch die Freistatt zum Gefängnis, wie jedes andere. Bisweilen verletzte auch ein feierliches Urteil des Parlaments die Freistatt und überlieferte den Verurteilten dem Henker; doch dies ereignete sich selten. Wehe dem, der mit bewaffneter Hand eine Freistatt verletzte, wenn nicht ein Spruch des Parlaments vorhanden war! Man kennt den Tod von Robert von Clermont, Marschall von Frankreich, und Jean von Châlons, Marschall von Champagne, und dennoch handelte es sich nur um einen elenden Mörder, einen gewissen Perrin Marc, den Diener eines Wechslers. Allein die beiden Marschälle hatten die Tore von St. Mery erbrochen, und darin bestand das unerhörte Verbrechen. Jede Freistatt wurde von solcher Achtung umgeben, daß diese nach der Tradition sich sogar bis auf die Tiere erstreckte. Aymoin erzählt, ein von Dagobert gejagter Hirsch habe sich in der Kapelle des heiligen Dionys geflüchtet, und die Meute habe plötzlich bellend stillgestanden.
Die Kirchen hatten in der Regel ein Kämmerchen, die Geflüchteten aufzunehmen. So ließ Nicolas Flamel unter den Gewölben von St. Jacques de la Boucherie ein kleines Zimmer bauen, das ihn vier Livres sechs Sous sechzehn Heller kostete. In Notre-Dame war dies eine kleine Zelle oben am Seiteneingang unter den Gewölbepfeilern. Dort hatte Quasimodo nach seinem triumphierenden Lauf um die Galerien und Türme Esmeralda niedergelegt. So lange der Lauf dauerte, hatte das Mädchen nicht zur Besinnung kommen können; halb schlafend, halb wachend, fühlte sie nur, daß sie emporstieg, in der Luft schwebte und flog, kurz, das etwas sie über die Erde erhob. Von Zeit zu Zeit traf das laute Lachen, die brausende Stimme Quasimodos ihr Ohr; dann schlug sie die Augen auf und sah ein verwirrtes Bild der tausend Schiefer- und Ziegeldächer von Paris wie ein rotes und blaues Mosaik, und über ihrem Haupte die verzückte, erschreckende Gestalt Quasimodos. Ihre Augenwimpern schlossen sich wieder, sie wähnte, alles sei vorbei, sie sei hingerichtet, und der mißgestaltete Geist, der ihr Geschick geleitet, habe sie wieder ergriffen und entführt. Sie wagte ihn nicht anzuschauen und ließ sich forttragen.
Als aber der Glöckner, keuchend und mit zerzausten Haaren, sie in der Zelle der Freistatt niedergelegt hatte, als sie empfand, wie seine groben Hände sanft den Strick lösten, der ihren Arm verwundete, empfand sie einen solchen Stoß, wie schlafende Reisende auf einem Schiff in dunkler Nacht plötzlich erweckt werden, wenn jenes ans Ufer stößt. Auch ihre Gedanken erwachten und kehrten allmählich wieder. Sie sah, wo sie war, erinnerte sich, den Händen des Henkers entrissen zu sein, Phoebus lebe und liebe sie nicht mehr; beide Gedanken, wobei der eine zu viel Bitterkeit über den andern ausgoß, drängten sich zusammen der Verurteilten auf: Sie wandte sich zu Quasimodo, der vor ihr stand, und vor dem sie sich scheute, mit den Worten: „Warum habt Ihr mich gerettet?“
Er betrachtete sie mit ängstlichem Blick, als suche er zu erraten, was sie ihm sagte. Sie wiederholte die Frage; da warf er ihr einen Blick des tiefsten Schmerzes zu und entfloh. Sie erstaunte. Nach einigen Augenblicken kehrte er mit einem Bündel zurück und warf ihr dies hin. Es waren Kleider, welche von barmherzigen Frauen für sie auf der Schwelle der Kirche niedergelegt waren. Sie senkte die Augen, sah sich fast nackt und errötete. Das Leben kehrte zu ihr zurück. Quasimodo schien etwas von dieser Scham zu empfinden. Mit seiner breiten Hand bedeckte er die Augen und entfernte sich, aber diesmal mit langsamen Schritten.
Schnell legte sie die Kleider an. Diese bestanden aus einem Novizengewand des Hotel-Dieu: einem weißen Anzug mit dem weißen Schleier. Kaum war sie hiermit fertig, als Quasimodo wieder hereintrat. Unter dem einen Arm trug er einen Korb, und unter dem andern eine Matraze. Im Korbe lag eine Weinflasche, einige Nahrungsmittel mit Brot. Er stellte den Korb auf den Boden und sprach: „Eßt!“ – Er breitete die Matraze aus und sprach: „Schlaft!“ – Der Glöckner hatte ihr sein eigenes Mahl und sein eigenes Bett gebracht. Die Zigeunerin schlug die Augen auf, ihm zu danken, konnte aber kein Wort hervorbringen. Der arme Teufel hatte wirklich ein furchtbares Äußeres. Sie senkte den Kopf mit einem Zittern des Schauders.
Da sagte er: „Ich erwecke Euch Furcht, nicht wahr? Ich bin sehr häßlich. Schaut mich nicht an, hört nur, was ich sage. Am Tage müßt Ihr hier bleiben, des Nachts könnt Ihr in der Kirche umherwandeln. Verlaßt sie aber nie, sonst würde man Euch töten und ich müßte sterben.“
Gerührt erhob sie das Haupt, ihm zu antworten; er war verschwunden. Sie war allein und versank, erstaunt über die rauhe und doch so sanfte Stimme, in Nachsinnen über die sonderbaren Worte des fast unmenschlich gebildeten Wesens. Dann untersuchte sie ihre Zelle. Diese war ein Kämmerchen von ungefähr sechs Quadratfuß mit einer Luke und einer Tür in der leicht sich neigenden Fläche des Dachs von Steinplatten. Mehrere Rinnen mit Tiergestalten schienen sich zur Zelle zu neigen und den Hals auszustrecken, um in die Luke zu sehen. Am Rande des Dachs erblickte sie die Spitzen von tausend Schornsteinen, welche den Rauch aller Feuer von Paris bis zu ihren Augen emportrugen. Welch ein trauriges Schauspiel für eine arme Zigeunerin, ein Findelkind, ein unglückliches, zum Tode verurteiltes Geschöpf ohne Vaterland, Familie und Herd! Im Augenblick, wo der Gedanke ihres verlassenen und vereinsamten Zustandes quälender als je erschien, fühlte sie, wie ein zottiger und bärtiger Kopf zwischen ihre Hände und unter ihre Knie schlüpfte. Sie zitterte, denn jetzt erschrak sie über alles, und blickte hin. Es war die arme Ziege, die behende Djali, die in dem Augenblick entwischt war, wo Quasimodo Charmolues Brigade zerstreute. Schon beinahe eine Stunde lang lag sie liebkosend auf den Füßen ihrer Gebieterin, ohne nur einen Blick von ihr zu erhaschen. Die Zigeunerin bedeckte sie aber jetzt mit Küssen. „Oh Djali“, sprach sie, „wie hatt’ ich dich vergessen! Du denkst noch immer an mich! Du bist nicht undankbar!“ – Als ob eine unsichtbare Hand die Last abgenommen, die so lange ihr Herz erdrückte, begann sie darauf zu weinen und empfand, je mehr ihre Tränen flossen, das Bittere und Nagende ihres Schmerzes entschwinde immer mehr und mehr.
Als der Abend anbrach, schien ihr die Nacht so schön, die Strahlen des Mondes so sanft zu sein, daß sie die hohe Galerie umwandelte, welche die Kirche umgibt. Sie fand einige Erleichterung ihres Kummers, so ruhig erschien ihr die Erde, von solcher Höhe aus gesehen.
38. Taub
Am nächsten Morgen bemerkte sie beim Erwachen, daß sie geschlafen habe. Sie erstaunte, denn schon lange hatte sie sich des Schlafes entwöhnt. Ein heiterer Sonnenstrahl fiel durch die Luke auf ihr Gesicht. Zugleich aber mit dem Sonnenschein bemerkte sie an der Luke eine Erscheinung, über die sie erschrak, Quasimodos unglückliche Gestalt. Unwillkürlich schloß sie die Augen, aber dies war vergeblich; durch ihre rosigen Lider wähnte sie stets die zahnlückige, einäugige Gnomenmaske zu erblicken. Da vernahm sie, indem sie noch immer die Augen schloß, eine rauhe Stimme, die mit sehr sanftem Ausdruck sprach: „Fürchtet Euch nicht, ich bin Euer Freund; ich kam, Euch schlafen zu sehen. Nicht wahr, das kränkt Euch nicht? Es ist Euch gewiß nicht widerlich, wenn ich Euch schlafen sehe? Ihr schließt ja dann die Augen. Jetzt gehe ich. Seht, ich stehe hinter der Mauer. Ihr könnt die Augen wieder aufschlagen.“
In dem Tone, womit diese Worte ausgesprochen wurden, lag eine noch tiefere Klage. Gerührt öffnete die Zigeunerin ihre Augen; er war wirklich von der Luke verschwunden. Sie trat heran und sah, wie der arme Bucklige in einer Ecke der Mauer voll Schmerz und in sein Schicksal ergeben kauerte. Mit Gewalt überwand sie den Abscheu, den er ihr einflößte. „Kommt“, sprach sie sanft. Quasimodo glaubte, als sie ihre Lippen bewegte, sie wollte ihn fortjagen, stand auf, entfernte sich langsam hinkend, mit gesenktem Haupt, und wagte seinen Blick voll Verzweiflung nicht einmal zu der Zigeunerin aufzuschlagen. „Kommt“, rief sie lauter; aber er fuhr fort, sich zu entfernen. Da stürzte sie aus der Zelle, lief auf ihn zu und faßte ihn beim Arme. Quasimodo zitterte an allen Gliedern, wie er ihre Berührung fühlte. Er schlug sein bittendes Auge auf, und da er sah, daß sie ihn zu sich zurückführte, strahlte sein Antlitz von Freude und Zärtlichkeit. Sie wollte ihn in ihre Zelle führen, allein er blieb auf der Schwelle stehen. „Nein, nein“, sprach er, „der Uhu darf nicht in das Nest der Lerche.“
Dann setzte sie sich anmutig auf ihr Lager. Die Ziege schlief zu ihren Füßen. Beide blieben einen Augenblick unbeweglich und betrachteten schweigend, er so viel Schönheit, sie so große Entstellung. Mit jedem Augenblick entdeckte sie an Quasimodo eine neue Mißgestaltung. Ihr Blick stieg von den gebogenen Knien zum buckligen Rücken, vom buckligen Rücken zum einzigen Auge. Sie konnte kaum glauben, daß solche Mißgestalt wirklich lebte. Über diese war aber so viel Schmerz und Sanftmut verbreitet, daß sie anfing, sich daran zu gewöhnen.
Er brach zuerst das Schweigen. „Ihr sagtet mir also, ich sollte zu Euch kommen?“ Sie winkte mit dem Kopfe und sprach: „Ja.“ Er verstand das Zeichen. „Ach“, sprach er, als trage er Bedenken, alles zu sagen, „ich bin … ich bin taub.“ – „Armer Mann!“ rief die Zigeunerin mit dem Ausdruck des wohlwollenden Mitleids. Er lächelte schmerzlich. „Nicht wahr, Ihr sagtet, das fehlte mir nur noch? Ja, ich bin taub. So bin ich geschaffen. Nicht wahr, wie furchtbar! Und Ihr seid so schön.“ In dem Ton des Unglücklichen lag ein so tiefes Gefühl seines Elends, daß sie alle Kraft verlor, noch ein Wort zu sprechen. Er hätte es auch nicht gehört. Er fuhr fort:
„Noch nie habe ich meine Mißgestalt wie jetzt gefühlt. Vergleiche ich mich mit Euch, fühle ich Mitleid mit mir, dem armen Wechselbalg. Ja, ja, das bin ich! Nicht wahr, auf Euch mach ich einen Eindruck wie ein Tier. Ihr seid ein Sonnenstrahl, ein Tropfen Tau, ein Vogellied! – Ich bin ein Scheusal, weder Mensch noch Tier, noch etwas Härteres, mit Füßen getreten, häßlicher als ein Kieselstein.“
Er lachte laut, und sein Lachen war herzzerreißend. Dann fuhr er fort: „Ja ich bin taub, aber Ihr könnt mit mir in Zeichen sprechen. Mein Herr spricht so mit mir. Auch ahne ich Euren Willen an Eurem Blick, an der Bewegung Eurer Lippen.“ – „Nun“, fragte sie lächelnd, „warum habt Ihr mich denn gerettet?“
Er schaute ihr, während sie so sprach, mit Aufmerksamkeit ins Gesicht. „Ich verstehe Euch“, erwiderte er; „Ihr wollt wissen, weshalb ich Euch rettete. Ihr habt den Elenden vergessen, der Euch einst in einer Nacht zu entführen suchte, und dem Ihr selbst am folgenden Tage an jenem schändlichen Schandpfahl Hilfe brachtet. Für den Tropfen Wasser und für das wenige Mitleid will ich Euch mit meinem Leben vergelten. Ihr vergaßt den Unglücklichen, er erinnerte sich Euer.“
Sie hörte ihn mit tiefer Rührung. Eine Träne glänzte im Auge des Glöckners; es schien aber, als sei es ihm Ehrensache, die Träne zurückzudrängen.
„Hört“, begann er wieder, als er nicht länger besorgte, die Träne möchte ihm aus dem Auge rollen, „die Türme da sind hoch, wer hinabstürzt, ist tot, bevor er das Pflaster berührt; wollt Ihr, daß ich hinabstürze, so genügt ein Blick, Ihr braucht nicht einmal ein Wort zu reden.“
Dann stand er auf. So unglücklich die Zigeunerin auch war, erweckte dies sonderbare Wesen dennoch ihr Mitleid. Sie gab ihm ein Zeichen zu bleiben. „Nein, nein“, sprach er, „ich darf nicht zu lange bleiben; hier fühle ich mich nicht behaglich. Nur aus Mitleid wendet Ihr nicht die Augen von mir ab. Ich werde irgendwohin gehen, wo ich Euch sehe, ohne daß Ihr mich erblickt. Das ist am besten.“
Er zog aus seiner Tasche eine kleine Metallpfeife. „Nehmt sie“, sprach er; „bedürft Ihr meiner und wollt, daß ich komme, fühlt Ihr nicht zu großen Schauder, mich zu erblicken, so pfeift; den Laut kann ich hören.“
Er legte die Pfeife auf den Boden und entfloh.
39. Steingut und Kristall
Tage vergingen. Ruhe kehrte in Esmeraldas Seele zurück. Übermaß des Schmerzes, wie Übermaß der Freude ist zu heftig, um lange zu dauern. Ein Menschenherz kann nicht lange in der heftigsten Stimmung bleiben. Die Zigeunerin hatte so viel gelitten, daß ihr nur das Staunen darüber verblieb. Mit dem Gefühl der Sicherheit war ihr Hoffnung wiedergekehrt. Sie war aus der Gesellschaft, aus dem Leben ausgestoßen, fühlte aber undeutlich, daß sie in beide wieder eintreten könne. Sie glich einer Toten, die den Schlüssel ihres Grabes bei sich führt. Allmählich entschwanden ihr die furchtbaren Bilder, die sie so lange gequält hatten. Alle scheußlichen Gespenster, Pierre Torterue, Jacques Charmolue, selbst der Priester, erloschen in ihrer Vorstellung. Auch lebte Phoebus, sie wußte es gewiß, denn sie hatte ihn gesehen. Phoebus’ Leben galt ihr alles. Nach den vielen verhängnisvollen Erschütterungen, die alles in ihr niederrissen, fand sie in ihrer Seele nur ein Gefühl, die Liebe zu dem Hauptmann. Die Liebe gleicht einem Baum; sie sproßt von selbst hervor, treibt tiefe Wurzeln in unser Sein und grünt oft noch auf einem gebrochenen Herzen.
Es ist gewiß unerklärlich, daß je blinder diese Leidenschaft, desto hartnäckiger sie ist. Sie wurzelt nie fester, als wenn die Vernunft keinen Teil an ihr hat. Gewiß dachte Esmeralda nicht ohne Bitterkeit an den Hauptmann. Gewiß war es für sie ein schmerzlicher Gedanke, daß auch er getäuscht wurde, daß er etwas Unmögliches glaubte, daß er wähnen konnte, jener Dolchstoß stamme von ihr, die tausend Leben gern für ihn hingegeben hätte. Doch durfte man ihm nicht zu sehr darum zürnen. Hatte sie nicht ihr Verbrechen gestanden? War sie nicht, ein schwaches Weib, der Folter unterlegen? Jede Schuld lag an ihr. Sie hätte sich eher die Nägel als solch ein Wort entreißen lassen sollen. Sähe sie ihn nur noch einmal wieder! Ein Wort, ein Blick würde ihn belehren und zu ihr zurückführen. Daran zweifelte sie nicht. So betäubte sie sich auch über mehrere sonderbare Dinge, über den Zufall von Phoebus’ Gegenwart am Tage der Buße, und über das Mädchen, das neben ihm stand. Das war gewiß seine Schwester. Die Erklärung war wohl unvernünftig, aber sie begnügte sich damit, denn sie bedurfte des Glaubens, Phoebus liebe sie noch und nur sie allein. Hatte er es ihr nicht geschworen? Dies genügte dem leichtgläubigen, arglosen Kinde. Und dann war ja auch der Schein mehr gegen sie als gegen ihn. Sie wartete also und hoffte.
Wenn der Gedanke an Phoebus ihr Zeit ließ, dachte sie bisweilen an Quasimodo. Er war das einzige Band, der einzige Weg, wodurch sie mit den Menschen und der Welt in Berührung blieb. Die Unglückliche, sie war mehr als Quasimodo von den Menschen getrennt und konnte den sonderbaren Freund, den der Zufall ihr gegeben hatte, nicht verstehen. Oft machte sie sich Vorwürfe, daß ihre Dankbarkeit stets die Augen schloß. An den armen Glöckner konnte sie sich aber durchaus nicht gewöhnen. Er war zu häßlich. Die Pfeife, die er ihr gegeben, hatte sie auf dem Boden liegen lassen. Dies aber hielt Quasimodo nicht ab, in den ersten Tagen von Zeit zu Zeit einzutreten. Sie tat alles mögliche, um nicht mit zu starkem Widerwillen sich abzuwenden, wenn er ihr den Korb voll Nahrungsmittel und einen Wasserkrug hereinbrachte; allein er bemerkte die kleinste Bewegung der Art und entfernte sich dann voll Schmerz. Einmal trat er in dem Augenblick ein, wo sie Djali liebkoste. Sinnend stand er vor der anmutigen Gruppe der Zigeunerin und der Ziege und sprach dann, sein schwerfälliges, häßliches Haupt schüttelnd: „Es ist mein Unglück, daß ich noch zu sehr den Menschen gleiche. Ich möchte gänzlich ein Tier sein wie die Ziege.“
Sie schlug einen Blick des Erstaunens auf. Er antwortete auf den Blick: „Ja, ich weiß wohl warum“, und ging. Ein andermal erschien er an der Tür der Zelle (er trat niemals herein), als Esmeralda eine alte spanische Romanze sang, deren Worte sie nicht verstand, die aber in ihrem Ohr stets widertönten, weil die Zigeuner sie als Kind damit in den Schlaf sangen. Beim Anblick der häßlichen Gestalt, die mitten im Liede plötzlich hereintrat, unterbrach das Mädchen ihren Gesang mit einer unwillkürlichen Bewegung des Schauders. Der unglückliche Glöckner sank an der Schwelle der Tür auf die Knie und faltete mit flehendem Ausdruck im Antlitz seine dicken mißgestalteten Hände. „Oh“, sprach er traurig, „ich flehe Euch an, singt weiter, jagt mich nicht fort!“ Sie wollte ihn nicht kränken, und zitternd begann sie den Gesang der Romanze aufs neue. Allmählich verlor sich aber ihr Schauder, und sie gab sich endlich der schwermütigen Melodie hin. Er lag auf den Knien, faltete die Hände, als ob er bete, wagte kaum zu atmen und heftete den Blick auf die strahlenden Augen der Zigeunerin. Es schien, als ob er ihr Lied mit den Augen vernehme. Ein andermal trat er auf sie zu mit linkisch blöder Miene. „Hört mich an“, sprach er mit sichtbarer Überwindung, „ich habe Euch etwas zu sagen.“ Sie gab ihm ein Zeichen, sie wolle hören. Er seufzte, öffnete die Lippen, schien einen Augenblick bereit zum Reden, dann sah er sie an, schüttelte den Kopf, hielt seine Stirn in den Händen und entfernte sich langsam. Erstaunt blickte ihm die Zigeunerin nach.
Eines Tages war Esmeralda bis an den Rand des Daches getreten und schaute auf den Platz. Quasimodo stand hinter ihr. Dort stellte er sich aus eigenem Antrieb hin, um dem Mädchen so viel wie möglich das Unangenehme seines Anblicks zu entziehen. Plötzlich zitterte die Zigeunerin, Tränen und der Glanz der Freude schimmerten zugleich in ihren Augen, sie sank am Rande des Daches auf die Knie und streckte voll Sehnsucht ihre Arme zum Platze aus mit dem Rufe: „Phoebus, komm! Ein Wort! Ein einziges Wort! Im Namen des Himmels! Phoebus! Phoebus!“ Stimme, Antlitz, Bewegung, Gestalt zeigten den herzzerreißenden Ausdruck eines Schiffbrüchigen, welcher das Notsignal einem Schiffe gibt, das munter im Sonnenschein am fernen Horizont vorüberfährt. Quasimodo blickte auf den Platz und bemerkte, daß der Gegenstand dieses zärtlichen, beinah wahnsinnigen Gebetes ein junger Mann, ein Hauptmann, ein schöner, von Waffen und Schmuck strahlender Ritter war, der sein Roß im Hintergrunde des Platzes tummelte und eine Dame, die vom Balkon ihm zulächelte, mit dem Federbusch grüßte. Der Offizier hörte aber nicht die Stimme der Unglücklichen, die ihm zurief; er war zu weit entfernt.
Der arme Taube merkte den Sinn von Esmeraldas Worten. Ein tiefer Seufzer hob seine Brust, er kehrte um; sein Herz schwoll von Tränen, die er zurückdrängte; mit krampfhaft geballten Fäusten schlug er an sein Haupt, und als er die Hände wieder zurückzog, hielt er in jeder einen Büschel seiner roten Haare. Die Zigeunerin achtete nicht auf ihn. Da knirschte er mit den Zähnen und sprach leise: „Verdammung! So muß man sein! Nur schön von außen!“
Sie aber lag auf den Knien und rief mit heftiger Leidenschaft: „Er steigt vom Pferde! Er will ins Haus treten! Phoebus! Er hört mich nicht! Oh, das böse Mädchen da spricht mit ihm, so daß er mich nicht hören kann! Phoebus! Phoebus!“
Der Taube sah sie an. Er verstand ihre Gebärde. Das Auge des armen Glöckners füllte sich mit Tränen; doch ließ er keine hinabfließen. Plötzlich zupfte er leise an ihrem Ärmel. Sie wandte sich um; sein Antlitz war ruhig. Er sprach: „Soll ich ihn Euch herholen?“
Sie stieß einen Freudenruf aus. – „Schnell, schnell! Führt ihn her, den Hauptmann! Ich will Euch lieben!“ Sie umarmte seine Knie. Er konnte es nicht unterlassen, den Kopf voll Schmerz zu schütteln. – „Ich will ihn Euch holen“, sprach er mit schwacher Stimme, dann wandte er das Haupt und stürzte unter lautem Schluchzen die Treppe hinab.
Als er auf den Platz trat, sah er nur ein schönes Pferd, das am Tore des Hauses Gondelaurier angebunden war. Der Hauptmann war schon eingetreten. Esmeralda befand sich noch immer auf demselben Platze in derselben Stellung. Er gab ihr ein trauriges Zeichen mit dem Kopfe; dann lehnte er sich an einen Stein der Vorhalle, entschlossen, zu warten, bis der Hauptmann wieder herauskäme. Im Hause Gondelaurier ward ein Fest gegeben, wie dergleichen dem Hochzeitstage vorauszugehen pflegt. Quasimodo sah viele Leute hineingehen, aber niemand herauskommen. Von Zeit zu Zeit sah er auf das Dach. Die Zigeunerin regte sich ebensowenig wie er. Ein Stallknecht band das Pferd los und führte es in den Stall. So verging der Tag. Quasimodo lehnte sich auf den Stein. Esmeralda kniete auf dem Dache, und Phoebus lag ohne Zweifel zu den Füßen der Fleur-de-Lys.
Endlich brach die Nacht an. Sie war dunkel. Quasimodo heftete vergebens den Blick auf Esmeralda; in der Dämmerung sah er nur etwas Weißes, bald aber gar nichts mehr. Alles erlosch und wurde schwarz.
Dann sah Quasimodo, wie die Fassade des Hauses von oben bis unten erleuchtet ward, und wie bald nacheinander die übrigen Fenster des Platzes von Licht erglänzten. Auch sah er, wie sie nacheinander wieder erloschen, denn er blieb den ganzen Abend hindurch auf seinem Posten. Der Offizier kam nicht heraus. Als die letzten Vorübergehenden heimgekehrt waren, als die Fenster aller Häuser dunkel wurden, blieb Quasimodo ganz allein in der Finsternis. Damals war der Vorplatz von Notre-Dame noch nicht erleuchtet. Die Fenster des Hauses Gondelaurier blieben aber auch nach Mitternacht hell. Quasimodo sah unbeweglich und aufmerksam vor den buntfarbigen Scheiben ein Gedränge von lebhaften, tanzenden Schatten vorüberfliegen. Wäre er nicht taub gewesen, hätte er, je mehr Paris in Schlaf versank, den Lärm des Festes, der Musik und des Lachens im Innern des Hauses Gondelaurier desto deutlicher vernehmen können. Gegen ein Uhr morgens begannen die Gäste sich zu entfernen. Quasimodo, in Finsternis gehüllt, sah sie alle unter der durch Fackeln erleuchteten Halle vorübergehen. In keinem erkannte er den Hauptmann.
Er war voll trauriger Gedanken, bisweilen blickte er in die Luft, wie jemand, der sich langweilt. Schwarze, zerrissene Wolken hingen wie Hängematten von Flor auf dem gestirnten Boden des Himmels. Da sah er, wie plötzlich die Fenstertür des Balkons, dessen Geländer über seinem Kopfe emporragte, sich öffnete. Durch die dünne Glastür traten zwei Personen; leise ward sie geschlossen; jene waren ein Mann und ein Mädchen. Und mit Mühe konnte Quasimodo in dem Manne den Hauptmann und in dem Mädchen dieselbe Dame erkennen, die den Offizier vom Balkon herab so freundlich begrüßte, wie er am Morgen gesehen hatte. Der Platz war dunkel, und ein doppelter Karmoisin-Vorhang, der hinter der Tür im Augenblick hinabgesunken war, wie sie sich schloß, ließ das Licht des Zimmers auf den Balkon nicht eindringen.
Der junge Mann und das Mädchen, so weit unser Tauber es beurteilen konnte, schienen sich einem sehr zärtlichen Gespräche hinzugeben. Das Mädchen schien dem Offizier erlaubt zu haben, seinen Arm zu ihrem Gürtel zu machen, und sträubte sich nur sanft gegen einen Kuß. Die Unterredung der beiden ward immer lebhafter. Die junge Dame schien den Offizier anzuflehen, um nicht weiter zu bitten. Da öffnete sich plötzlich die Tür des Balkons und eine alte Dame kam zum Vorschein. Die Schöne schien verlegen, der Offizier sah verdrießlich aus, und alle drei traten ins Zimmer zurück.
Bald darauf schnaubte ein Roß unter der Halle, und der glänzende Offizier ging, in seinen Nachtmantel gehüllt, schnell an Quasimodo vorüber. Der Glöckner ließ ihn um die Straßenecke reiten, lief dann mit der Schnelligkeit eines Affen hinter ihm her und rief: „He, Herr Hauptmann!“
Der Hauptmann hielt sein Roß an. „Was will der Schuft?“ sprach er, da er eine Art von Krüppel keuchend hinter sich herrennen sah.
Quasimodo erreichte ihn und griff keck in den Zügel seines Pferdes mit den Worten: „Folgt mir, Herr Hauptmann! Jemand will Euch sprechen.“
„Mahoms Horn!“ murmelte Phoebus, „dich häßlichen, zerzausten Vogel habe ich schon irgendwo gesehen. Holla, Meister, willst du den Zügel meines Pferdes loslassen?“
„Herr Hauptmann“, antwortete der Taube, „fragt Ihr mich nicht, wen ich meine?“
„Ich sage dir, laß mein Pferd los“, fuhr ihn Phoebus ärgerlich an. „Was hängst du dich in den Zügel meines Renners? Meinst du, mein Pferd sei ein Galgen?“
Quasimodo, weit entfernt, den Zügel fahren zu lassen, suchte das Pferd umzulenken. Da er sich den Widerstand des Offiziers nicht erklären konnte, sagte er schnell: „Kommt, Herr Hauptmann; ein Mädchen erwartet Euch.“ Dann fügte er mit Selbstüberwindung hinzu: „Ein Mädchen, das Euch liebt.“
„Der Schelm“, rief der Offizier, „glaubt, ich müßte allen Weibern nachlaufen, die mich lieben. Uhu-Gesicht, wenn sie dir gleicht, sag ihr, ich werde mich verheiraten. Sie mag zum Teufel gehen!“
„Hört doch!“ rief Quasimodo, und glaubte durch ein Wort den Widerstand des Reiters zu überwinden. „Es ist die Zigeunerin. Ihr wißt schon.“
Dies Wort brachte auf Phoebus einen großen Eindruck hervor, jedoch nicht den von Quasimodo erwarteten. Der Leser erinnere sich, wie der galante Offizier einige Augenblicke, bevor Esmeralda gerettet ward, sich mit Fleur-de-Lys entfernte. Seitdem hatte er sich wohl gehütet, bei seinen Besuchen im Hause Gondelaurier das Mädchen zu erwähnen, dessen Andenken ihm lästig war, und Fleur-de-Lys hielt es nicht für klug, ihm zu hinterbringen, die Zigeunerin sei noch am Leben. Phoebus also glaubte, die arme Similar sei tot, denn zwei Monate waren schon verflossen. Dazu kam noch, daß der Hauptmann an das tiefe Dunkel der Nacht, an die übernatürliche Häßlichkeit, an die Leichenstimme des sonderbaren Boten dachte, daß Mitternacht vorüber und die Straße ebenso einsam war wie an dem Abend, wo das Gespenst zu ihm herantrat, daß endlich sein Pferd zu schnauben anfing, da es Quasimodo erblickte.
„Die Zigeunerin“, rief er beinahe erschreckt. „Kommst du aus der Welt der Gespenster?“ Mit diesen Worten legte er die Hand an seinen Dolch.
„Schnell, schnell“, sprach der Taube, indem er das Pferd umzuwenden suchte. „Kommt!“
Phoebus gab ihm einen heftigen Stoß mit dem Stiefelabsatz auf die Brust. Quasimodos Auge funkelte. Er schickte sich an, auf den Hauptmann loszustürzen; dann erstarrte er plötzlich und sprach: „Wie glücklich seid Ihr, daß jemand Euch liebt!“ Das Wort jemand betonte er scharf; dann ließ er den Zügel des Pferdes los und sprach: „Geht, wohin Ihr wollt!“
Phoebus spornte fluchend sein Roß. Quasimodo sah, wie er im Nebel der Straße verschwand. – „Oh“, sprach leise der arme Taube, „das auszuschlagen!“
Er kehrte zur Kirche zurück, zündete seine Lampe an und stieg den Turm hinan. Wie er vermutet hatte, befand sich die Zigeunerin noch immer an derselben Stelle. Sobald sie ihn erblickte, eilte sie auf ihn zu. „Allein“, sprach sie, voll Schmerz die Hände faltend.
„Ich konnte ihn nicht auffinden“, sagte kalt Quasimodo.
„Du hättest die ganze Nacht warten sollen“, rief sie zornig. Er sah ihre zornige Bewegung und verstand den Vorwurf. „Ein andermal will ich besser aufpassen“, erwiderte er, das Haupt senkend.
„Geht fort“, sprach sie. Er verließ sie. Sie war mit ihm unzufrieden. Er wollte lieber von ihr mißhandelt werden, als sie betrüben. Den Schmerz bewahrte er nur für sich selbst. Von dem Tage an sah ihn die Zigeunerin nicht mehr; er kam auch nicht mehr zu ihrer Zelle. Höchstens sah sie noch die Gestalt des Glöckners auf der Turmspitze, wie er schwermütig auf sie hinblickte. Sobald sie ihn aber erschaute, verschwand er sogleich.
Sie sah ihn nicht mehr, fühlte aber die Gegenwart ihres schützenden Genius. Während ihres Schlummers erneuten sich ihre Nahrungsmittel durch eine unsichtbare Hand. Eines Morgens fand sie an ihrem Fenster einen Vogelkäfig. Oben an ihrer Zelle war eine Gestalt gemeißelt, vor der sie sich fürchtete. Mehrere Male hatte sie dies gegen Quasimodo geäußert. Eines Morgens (denn dies alles geschah des Nachts) war die Gestalt zerbrochen. Der, welcher so hoch hinaufkletterte, hatte sein Leben gewagt.
Bisweilen hörte sie des Abends eine unter dem Wetterdach des Kirchturms verborgene Stimme, die ein trauriges, sonderbares Lied sang, um sie gleichsam einzuschläfern. Es waren Verse ohne Reim, wie sie ein Tauber dichten kann.
Sieh nicht auf Form,
Mädchen, sieh aufs Herz.
Das Herz des schönen Mannes ist oft gar häßlich.
In vielen Herzen bleibt die Liebe nicht.
Die Tanne, Mädchen, ist nicht schön,
So schön nicht wie die Pappel;
Doch bleibt ihr Laub im Winter.
Ach! Wozu hilft dies Wort?
Was schön nicht ist, ist besser tot.
Nur Schönheit liebt die Schönheit.
April verschmäht den Januar.
Vollkommen ist die Schönheit,
Die Schönheit ist allmächtig.
Die Schönheit ist allein nie halb geschaffen.
Der Rabe fliegt am Tage,
Der Uhu fliegt des Nachts,
Der Schwan fliegt Tag und Nacht.
Eines Morgens sah sie, erwachend, am Fenster zwei Blumengläser. Das eine war ein Kristallglas, schön und glänzend, aber gespalten. Quasimodo hatte das Wasser herauslaufen lassen, und die Blumen, die es enthielt, waren verwelkt. Das andere war ein steinerner, grober und gewöhnlicher Topf, allein voll Wasser, mit frischen purpurnen Blumen.
Esmeralda nahm den verwelkten Blumenstrauß (ich weiß nicht, ob mit Absicht) und trug ihn den ganzen Tag hindurch am Busen. An dem Tage vernahm sie nicht den Gesang im Turme; darum aber bekümmerte sie sich wenig. Sie vertrieb sich die Zeit, indem sie Djali liebkoste, auf das Tor des Hauses Gondelaurier blickte, über Phoebus leise mit sich selbst sprach, und mit Brotkrumen Schwalben fütterte. Quasimodo sah und hörte sie nicht mehr. Der arme Glöckner schien aus der Kirche verschwunden zu sein. Jedoch einst in der Nacht, als sie nicht schlief und an ihren schönen Hauptmann dachte, vernahm sie neben ihrer Zelle einen tiefen Seufzer. Erschrocken stand sie auf und sah im Mondlicht eine mißgestaltete Masse quer vor ihrer Tür liegen. Quasimodo schlief dort auf dem steinernen Fußboden.
40. Der Schlüssel der roten Tür
Der Archidiakonus hörte das Gerücht von der wunderbaren Rettung der Zigeunerin. Als er dies vernahm, wußte er kaum, was er empfand. Für den Tod der Esmeralda hatte er schon ganz seine Stimmung eingerichtet und war ruhig, denn die Tiefe des möglichen Schmerzes hatte er schon berührt. Das Menschenherz kann nur einen gewissen Grad der Verzweiflung fassen. Ist der Schwamm gesättigt, kann ein Meer über ihn hinströmen, ohne daß noch ein Tropfen eindringen könnte. So war auch für Dom Claude der Schwamm gesättigt, als er Esmeralda für tot hielt; für ihn war alles vorbei; da er aber erfuhr, Esmeralda und Phoebus seien beide am Leben, begannen Erschütterungen, Qualen, kurz das Leben für ihn aufs neue; und Claude war alles dessen müde.
Als er die Nachricht erfuhr, schloß er sich in seine Klosterzelle ein. Er erschien weder in den Versammlungen des Kapitels, noch beim Gottesdienste. Seine Tür blieb allen, selbst dem Bischofe, verschlossen. Mehrere Wochen lang war er so eingemauert. Man hielt ihn für krank und er war es wirklich. Welchen Gedanken mochte der Unglückliche erliegen? Begann er einen letzten Kampf mit seiner furchtbaren Leidenschaft? Entwarf er einen letzten Plan, sie und sich zu vernichten? Sein geliebter Bruder Jehan, sein verzogenes Kind, kam einmal an seine Tür, klopfte, bat, fluchte, flehte, nannte zehnmal seinen Namen. Claude öffnete nicht.
Ganze Tage stand er vor den Fensterscheiben seiner Zelle im Kloster. Von dort aus sah er die Kammer der Esmeralda. Oft erblickte er sie in Gesellschaft ihrer Ziege. Er bemerkte die Dienstfertigkeit, den Gehorsam, die zärtlichen und unterwürfigen Manieren des häßlichen Tauben bei der Zigeunerin. Er erinnerte sich (denn sein Gedächtnis war scharf, und das Gedächtnis quält Eifersüchtige am heftigsten) des sonderbaren Blickes, den der Glöckner eines Abends auf die Tänzerin richtete. Er legte sich die Frage vor, welcher Beweggrund Quasimodo zu ihrer Rettung habe antreiben können. Er war Zeuge von tausend kleinen Szenen zwischen der Zigeunerin und dem Tauben, dessen von fern gesehene und durch Leidenschaft gedeutete Pantomimen ihm sehr zärtlich zu sein schienen. Er mißtraute der sonderbaren Laune der Weiber. Dann empfand er, wie in dunklem Gefühle eine Leidenschaft in ihm erwachte, die er nie erwartet hatte, wobei Scham und Zorn ihm das Blut in die Wangen trieb. – Den Hauptmann ließ ich noch gelten, dachte er, aber dieses Scheusal! – Der Gedanke verrückte ihm den Kopf. Furchtbar waren seine Nächte. Seitdem er wußte, die Zigeunerin lebe, verschwanden die kalten Gedanken des Grabes und Gespenstes, die ihn eine Zeitlang quälten, und das Fleisch stachelte ihn aufs neue. Er krümmte sich auf seinem Lager, wenn er das junge Mädchen so dicht in seiner Nähe sich schlafend dachte.
Jede Nacht führte seine rasende Phantasie ihm Esmeralda in allen Stellungen vor, die in seinen Adern das Blut zum Kochen gebracht hatten. Er sah sie hingestreckt unter dem niedergestoßenen Hauptmann mit geschlossenen Augen, wie des Phoebus’ Blut über ihren schönen nackten Busen strömte, in dem Augenblick des Entzückens, wo der Archidiakonus auf die blassen Lippen den Kuß drückte, dessen Brennen die Unglückliche, ob auch schon halb tot, empfand. Er sah sie von den rohen Händen der Folterknechte entkleidet, wie sie ihren kleinen Fuß, das runde, schöne Bein, das schmächtige und weiße Knie entblößen und in den spanischen Stiefel schließen ließ. Er schaute noch stets das Knie von Elfenbein, wie es allein aus Torterues furchtbarem Werkzeuge noch hervorragte. Endlich dachte er sich das junge Mädchen im Hemde, mit dem Strick um den Hals, mit entblößten Schultern und Füßen, beinah nackt, wie er sie am letzten Tage sah. Schuf er sich diese wollüstigen Bilder, dann ballte sich seine Faust und er fühlte, wie ein Schauder seine Wirbelsäule hinablief.
In einer Nacht erhitzten die Bilder so heftig sein priesterliches Blut, daß er ein Kopfkissen mit den Zähnen zerriß, aus seinem Bett sprang, einen Mantel über sein Hemd warf und die Zelle halb nackt, die Lampe in der Hand und mit glühendem Blick, verließ. Er wußte, wo der Schlüssel der roten Tür, die vom Kloster in die Kirche führte, zu finden war, und wie der Leser schon weiß, hatte er einen Schlüssel zur Turmtreppe stets in der Tasche.
In jener Nacht schlief Esmeralda in ihrer Kammer, eingewiegt von Hoffnung und süßen Gedanken. Einige Zeit war sie schon in Schlaf versunken, als es ihr schien, sie vernehme ein Geräusch. Ihr Schlaf war leicht und unruhig, wie der eines Vogels; eine Kleinigkeit erweckte sie. Sie schlug die Augen auf; die Nacht war dunkel; an der Luke aber sah sie dennoch eine Gestalt, die sie anschaute, und eine Lampe erleuchtete die Erscheinung. Im Augenblick als diese merkte, sie sei von Esmeralda erblickt, blies sie die Lampe aus. Dennoch hatte das Mädchen noch Zeit genug zum Erkennen und schloß aus Schrecken ihre Augenlider. „Oh!“ rief sie mit erloschener Stimme: „Der Priester!“ All ihr Unglück zog wie ein Blitz vor ihren Augen vorüber, erstarrt lag sie auf ihrem Bette. Gleich darauf fühlte sie an ihrem Körper die Berührung des seinen, worüber sie so erzitterte, daß sie erwachend, sich erschrocken auf dem Lager aufrichtete. Der Priester lag neben ihr und umschlang sie mit seinen Armen. Sie wollte schreien, aber sie konnte es nicht. „Fort, Ungeheuer, fort, Mörder!“ sprach sie mit einer aus Zorn und Furcht leisen Stimme.
„Gnade, Gnade!“ murmelte der Priester, indem er seine Lippen auf ihre Schultern drückte. Sie ergriff sein kahles Haupt bei den noch wenigen zurückgebliebenen Haaren, und suchte seinen Küssen, als wären es giftige Bisse, auszuweichen. – „Gnade“, rief der Unglückliche, „kennst du meine Liebe! Sie ist Feuer, geschmolzenes Blei, Messerstiche im Herzen!“
Er hielt ihre beiden Arme mit übernatürlicher Kraft. Außer sich sprach sie: „Laß mich los oder ich speie dir ins Gesicht!“
Er ließ sie los. – „Vernichte mich, schlage mich, sei boshaft, aber liebe mich! Gnade!“
Sie schlug ihn wütend wie ein Kind, spannte ihre schönen Hände, ihm das Gesicht zu zerkratzen. – „Fort, Teufel!“
„Mitleid!“ rief der arme Priester, indem er sich auf sie wälzte und ihre Schläge durch Liebkosungen erwiderte. Plötzlich fühlte sie ihn stärker als sich. – Er knirschte mit den Zähnen und sprach: „Jetzt will ich meinen Willen haben!“
Besiegt, zitternd, gebrochen lag sie in seinen Armen, ihm überlassen. Sie fühlte seine üppige Hand. Sie rief mit letzter Kraftanstrengung: „Zu Hilfe! Ein Vampir!“
Niemand kam, Djali allein war erwacht und meckerte voll Angst.
„Schweig!“ sprach der Priester keuchend. Plötzlich fühlte die Hand der ringenden Zigeunerin etwas Kaltes, Metallisches am Boden. Es war Quasimodos Pfeife.
Sie ergriff sie, hielt sie an die Lippen und pfiff mit der ihr noch übrigen Kraft. Die Pfeife gab einen scharfen, schrillenden Ton.
„Was soll das?“ fragte der Priester.
Fast in demselben Augenblick fühlte er, wie ein starker Arm ihn aufhob. Die Kammer war dunkel und er konnte nicht deutlich erkennen, wer ihn in den Fäusten hielt; er vernahm aber knirschende Zähne, und im Dunkel war noch soviel Licht verbreitet, daß er über seinem Haupte eine lange Messerklinge erblicken konnte.
Der Priester glaubte Quasimodos Gestalt zu erkennen. Er vermutete, nur dieser könne es sein, und erinnerte sich, über eine vor der Tür ausgestreckten Masse gestrauchelt zu sein.
Da aber die Erscheinung kein Wort sprach, wußte er nicht, was er davon denken sollte. Er stürzte auf den Arm, der das Messer hielt, mit dem Rufe: „Quasimodo!“ denn er vergaß im ersten Schrecken, Quasimodo sei taub. In einem Augenblick war der Priester zu Boden gestreckt und fühlte ein schweres Knie auf seiner Brust. Am eckigen Druck erkannte er Quasimodo. Was konnte er aber beginnen? Wie sollte er sich ihm zu erkennen geben? Die Nacht machte den Tauben auch noch blind.
Er war verloren. Das Mädchen war wie eine gereizte Tigerin und suchte ihn nicht zu retten. Das Messer nahte sich seinem Haupte; der Augenblick war kritisch. Plötzlich schien sein Gegner zu zaudern. „Von Blut darf sie nicht bespritzt werden“, sprach er.
Der Priester hörte Quasimodos Stimme, und fühlte, wie eine breite Hand ihn an den Füßen zur Tür hinausschleppte, als solle er vor der Zelle sterben. Glücklicherweise für ihn war der Mond vor einigen Augenblicken aufgegangen, dessen blasser Strahl vor der Kammertür auf die Gestalt des Priesters fiel. Quasimodo schaute ihm ins Antlitz, zitterte, ließ den Priester los und fuhr zurück.
Die Zigeunerin war auf die Schwelle getreten und sah erstaunt, wie beide ihre Rolle wechselten. Der Priester drohte, Quasimodo flehte. Der Priester überhäufte den Tauben mit Zorn und Vorwurf und gab ihm endlich ein Zeichen, sich zu entfernen. Der Taube senkte den Kopf, dann kniete er vor der Tür. „Gnädiger Herr“, sprach er mit ernster Stimme, „tut was Ihr wollt, aber tötet mich zuerst.“
So sprechend, reichte er dem Priester sein Messer. Dieser, außer sich, stürzte darauf zu. Allein das Mädchen war schneller als er. Sie riß das Messer Quasimodo aus der Hand, lachte wütend und sprach: „Jetzt tritt näher!“ Sie hielt die Klinge empor. Der Priester stand unentschlossen da. Sie hätte ihn gewiß niedergestochen. „Feigling“, rief sie ihm zu, „du wagst es nicht!“ Dann fügte sie mit unerbittlichem Ausdruck hinzu: „Ja, ich weiß, daß Phoebus lebt!“ Sie wußte wohl, daß sie des Priesters Herz mit glühendem Eisen durchbohrte.
Der Archidiakonus stieß Quasimodo mit einem Fußtritt zu Boden und stürzte knirschend in das Treppengewölbe zurück. Als er fort war, nahm Quasimodo die Pfeife auf, durch die die Zigeunerin gerettet worden war. „Sie wird rostig“, sprach er, sie ihr zurückgebend, und ließ sie dann allein. Das junge Mädchen, außer sich, sank aufs Bett und schluchzte laut. Ihr Horizont zeigte neue Gewitterwolken. Der Priester tappte in seine Zelle zurück. Um Esmeralda war es geschehen. Dom Claude war auf Quasimodo eifersüchtig. Mit sinnender Miene wiederholte er seinen Unglücksruf: „Niemand soll sie haben!“
41. Gringoire hat mehrere gute Einfälle
Seit Peter Gringoire gesehen hatte, wie die Sache einen sehr üblen Ausgang nahm, wie Strick, Hängen und andere Unannehmlichkeiten den Hauptschauspielern der Komödie bevorstanden, ließ er es sich nicht einfallen, am Spiel teilzunehmen. Die Landstreicher, unter denen er geblieben war, denn er dachte, dies sei doch noch im schlimmsten Falle die beste Gesellschaft von Paris, nahmen andauernd Anteil an der Zigeunerin. Dies fand er ganz natürlich bei Leuten, die, wie sie, nur Aussicht auf Charmolue und Torterue hatten, und die nicht, wie er, in den Regionen der Phantasie auf des alten Pegasus Flügeln umherschwärmten. Von ihnen hatte er erfahren, seine Gemahlin vom zerbrochenen Kruge habe sich in die Kirche Notre-Dame gerettet, und das war ihm sehr angenehm. Allein er verspürte nicht einmal die Versuchung, sie dort zu besuchen; nur bisweilen dachte er an die kleine Ziege. Übrigens führte er des Tages, um seinen Unterhalt zu erwerben, Kunststücke auf und verfaßte des Nachts eine Schrift gegen den Bischof von Paris. Gringoire ging von der Liebe einer Idee zur Liebe ihrer Form über. Eines Tages blieb er bei St. Germain-l’Auxerrois an der Ecke eines Hauses stehen, das man For-l’Evèque nannte, und das einem andern, For-le-Roy, gegenüber lag. An diesem For-l’Evèque befand sich eine schöne Kapelle aus dem fünfzehnten Jahrhundert, deren Chor auf die Straße hin gerichtet war. Gringoire untersuchte andächtig ihr äußeres Schnitzwerk und befand sich in einem Augenblicke egoistischen Genusses, wo der Künstler in der Welt nur die Kunst, und die Kunst in der Welt erblickt. Plötzlich fühlte er eine schwere Hand auf seiner Schulter. Er wandte sich um; hinter ihm stand sein alter Freud, sein alter Lehrer, der Archidiakonus.
Er wurde verlegen; schon lange hatte er den Archidiakonus nicht gesprochen, und Dom Claude war einer der feierlichen und leidenschaftlichen Menschen, deren Bewegung das Gleichgewicht eines skeptischen Philosophen stets zu stören pflegt. Der Archidiakonus schwieg einige Augenblicke, so daß Gringoire ihn mit Muße betrachten konnte. Er fand Dom Claude sehr verändert, blaß wie einen Wintermorgen, mit hohlen Augen und fast grauen Haaren. Endlich brach der Priester das Schweigen mit der Frage in ruhigem, aber eisigem Tone: „Wie geht’s Euch, Meister Peter?“ – „Ihr fragt nach meiner Gesundheit? I nun, man kann dies und jenes davon sagen. Im ganzen ist sie gut. Ich überlade mich niemals. Ihr wißt, Meister, das Geheimnis, sich gut zu befinden nach Hippokrates id est: cibi, potus, somni, venus, omnia moderata sint.“* – „Ihr habt also keine Sorgen?“ fragte der Archidiakonus, indem er Gringoire mit festem Blick betrachtete. – „Wahrhaftig nein.“ – „Was treibt Ihr denn?“ – „Wie Ihr seht, Meister, erforsche ich den Schnitt der Steine und die Art, wie dies Basrelief gehauen ist.“
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Der Priester lächelte bitter, indem er nur einen Mundwinkel in die Höhe schob. – „Daran findet Ihr Vergnügen?“ – „Mir ist dies das Paradies“, antwortete Gringoire. Dann legte er sich über die Skulpturen mit der verzückten Miene eines Naturforschers hin, der ein Phänomen des Lebens erklärt. „Findet Ihr nicht, daß dieser Übergang in kaum erhabener Arbeit mit viel Zartheit, Gewandtheit und Geduld ausgeführt ist? Seht dies Säulchen, an welchem Kapitäl kann man zarteres und vom Meißel gleichsam geliebkostes Laub erblicken? Seht die drei Hautreliefs von Jean Maillevin. Es sind die schönsten Werke dieses großen Meisters. Die Naivität, die Sanftmut der Gesichter, die Heiterkeit der Stellungen und Draperien, die unaussprechliche Anmut, welche mit den Fehlern gemischt ist, macht aus den Figuren sehr heitere und zarte Gestalten, vielleicht in nur zu hohem Grade. – Findet Ihr dies nicht sehr unterhaltend?“
„Allerdings“, antwortete der Priester.
„Säht Ihr nur das Innere der Kirche“, fuhr der Dichter in schwatzhafter Begeisterung fort. „Überall sind Skulpturen. Es ist belaubt wie ein Kohlkopf. Besonders zeigt die obere Ausschmückung einen so frommen und eigentümlichen Stil, wie ich sonst noch nie gesehen habe.“
Dom Claude begann aufs neue: „Ihr seid also glücklich?“ – Gringoire erwiderte mit Feuer: „Auf Ehre, ja! Zuerst liebte ich Frauen, dann Tiere; jetzt liebe ich Steine. Sie sind ebenso unterhaltend wie Tiere und Frauen, aber nicht so treulos.“
Der Priester legte die Hand auf die Stirn. Es war seine gewöhnlichste Bewegung; dann sprach er: „Wahrhaftig, Ihr habt recht!“
„Ja“, sagte Gringoire, „welch ein Genuß!“ Er nahm den Priester, der sich fortziehen ließ, beim Arm und führte ihn in das Türmchen der Treppe vom For-l’Evèque. – „Seht diese Treppe! So oft ich sie sehe, fühle ich mich glücklich. Wie einfach und seltener Art sind die Stufen, unten sämtlich ausgetreten! Ihre Schönheit und Einfachheit besteht in ihren Beinen von ungefähr einem Fuß, die ineinander gefügt, geschachtelt und geschnitten, auf wahrhaft feste und zierliche Weise ineinandergreifen.“ – „Ihr wünscht nichts mehr?“ – „Nein.“ – „Ihr bedauert nichts?“ – „Ich fühle weder Bedauern noch Wünsche. Ich habe mein Leben mir geordnet.“ – „Was der Mensch ordnet, verwirren die Dinge.“ – „Ich bin ein skeptischer Philosoph und halte alles im Gleichgewicht.“ – „Wie erwerbt Ihr Euren Unterhalt?“ – „Bisweilen dichte ich Epopöen und Tragödien; die Industrie aber, Meister, die Ihr kennt, bringt mir am meisten ein; ich trage eine Stuhlpyramide mit den Zähnen.“
„Das Handwerk ist grob und nicht philosophisch.“ – „Eine Folge des Gleichgewichts. Einen Hauptgedanken findet man überall wieder. Das weiß ich.“
Nach einer Pause sprach der Priester: „Ihr seid aber doch in einem elenden Zustande.“ – „Jawohl; aber in keinem unglücklichen.“
In dem Augenblick erschallten Huftritte, und unsere beiden sich unterredenden Gesellen sahen am Ende der Straße eine Kompanie der Armbrustschützen von der Ordonnanz des Königs, mit hochgetragenen Lanzen und dem Offizier an der Spitze, vorüberziehen. Der Zug war glänzend und das Pflaster ertönte unter ihm.
„Warum betrachtet Ihr so den Offizier?“ sprach Gringoire zum Archidiakonus. – „Ich glaube ihn zu kennen.“ – „Wie heißt er?“ – „Phoebus von Chateaupers, wie ich glaube.“ – „Phoebus! Ein sonderbarer Name! Es gibt einen Phoebus, Graf von Foir. Auch erinnere ich mich, ein Mädchen gekannt zu haben, das nur beim Namen Phoebus schwur.“ – „Kommt“, sprach der Priester, „ich muß Euch etwas sagen.“
Nachdem die Reiter vorübergezogen waren, durchbebte einige Aufregung die eisige Hülle des Archidiakonus. Er ging; Gringoire folgte ihm. Denn wie jeder, der mit diesem Manne von überlegenem Geiste einmal in Berührung gekommen war, war er gewohnt, ihm zu gehorchen. Schweigend gelangten sie an die ziemlich einsame Straße der Bernardiner. Dom Claude stand hier still.
„Meister, was habt Ihr mir zu sagen?“ fragte Gringoire. – „Findet Ihr nicht“, erwiderte der Archidiakonus mit dem Ausdruck des tiefsten Nachsinnens, „daß das Kleid jener Reiter schöner ist als Eures und meines?“
Gringoire schüttelte jedoch den Kopf. „Meiner Treu, ich liebe mein gelb-rotes Wams mehr als diese Schuppen von Eisen und Stahl.“ – „Also Gringoire, Ihr habt diese schönen Kerle im Kriegskleide nie beneidet?“ – „Weshalb, Herr Archidiakonus? Um ihre Disziplin, ihre Stärke, ihre Rüstung? Philosophie und Unabhängigkeit in Lumpen ist mehr wert. Ich will lieber ein Fliegenflügel als ein Löwenkopf sein.“ – „Sonderbar“, sprach der Priester mit finsterem Antlitz, „ein schönes Kleid ist doch schön!“
„Peter Gringoire“, fuhr der Archidiakonus fort, „was habt Ihr mit der kleinen Zigeunerin, der Tänzerin, angefangen?“ – „Ihr meint die Esmeralda? Nun, Ihr wechselt sehr plötzlich den Gegenstand des Gesprächs.“ – „War sie nicht Eure Frau?“ – „Ja, vermittels des zerbrochenen Kruges. – Wir hatten vier Jahre zusammen zu leben. Beiläufig gesagt“, fügte Gringoire mit halb scherzender Miene hinzu, indem er den Archidiakonus ins Gesicht sah, „Ihr denkt noch immer daran?“ – „Ihr nicht mehr?“ – „Selten. Mir liegen so viele Dinge im Kopf. Gott, wie schön war doch die Ziege!“ – „Hat Euch die Zigeunerin nicht das Leben gerettet?“ – „Wahrhaftig! Ja.“ – „Nun, was ist aus ihr geworden, was habt Ihr mit ihr angefangen?“ – „Ich kann’s Euch nicht sagen. Man hat sie, glaube ich, gehenkt.“ – „So?“ – „Ich weiß es nicht gewiß. Als ich sah, es ging ans Henken, habe ich mich aus dem Spiel gezogen.“ – „Weiter wißt Ihr nichts?“ – „Wartet. Ja; ich hörte, sie habe sich in die Kirche Notre-Dame geflüchtet und sei dort in Sicherheit. Mir ist dies sehr lieb. Ich habe nicht entdecken können, ob die Ziege sich auch hat retten können. Weiter weiß ich nichts.“ – „Ich will Euch noch Näheres sagen“, sprach Dom Claude, und seine bis dahin langsame, fast dumpfe Stimme ward plötzlich donnernd. „Ja, sie hat sich in die Kirche Notre-Dame geflüchtet. Aber die Gerechtigkeit wird sie in drei Tagen dort herausholen, um sie auf dem Grèveplatz zu henken. So befiehlt es ein Parlamentsbeschluß.“ – „Das tut mir leid“, sprach Gringoire.
Der Priester war in einem Augenblick kalt und ruhig geworden.
„Wer zum Teufel“, fuhr der Dichter fort, „hat sich das Vergnügen gemacht, einen Beschluß der Wiederverhaftung nachzusuchen? Konnte man nicht das Parlament in Ruhe lassen? Was ist daran gelegen, ob ein armes Mädchen unter den Schwibbögen der Kirche neben Schwalbennestern Schutz sucht? – „In der Welt gibt es Teufel“, erwiderte der Archidiakonus. – „Das ist verteufelt eingerichtet“, bemerkte Gringoire.
Nach einer Pause begann der Archidiakonus aufs neue: „Sie rettete Euch das Leben.“ – „Ja, bei meinen Freunden, den Landstreichern. Beinah hätten sie mich gehenkt. Jetzt würde es ihnen leid tun.“ – „Ihr wollt nichts für sie tun?“ – „Oh ja, Dom Claude, ich lade mir da aber eine schlimme Angelegenheit auf den Hals.“ – „Was ist daran gelegen!“ – „So? Was ist daran gelegen? Wahrhaftig, Meister, Ihr seid gutmütig. Ich habe zwei große Werke angefangen.“ – Der Priester schlug sich vor die Stirn. Ungeachtet seiner scheinbaren Ruhe enthüllte von Zeit zu Zeit eine heftige Bewegung seine inneren Zuckungen. – „Wie kann man sie retten?“
Gringoire antwortete: „Ich, Meister, würde erwidern: Gott ist unsere Hoffnung.“
„Wie kann man sie retten?“ fragte Claude nachsinnend. – „Hört, Meister, meine Einbildungskraft ist lebhaft. Ich will Mittel ausfindig machen. Soll man den König um ihre Begnadigung bitten?“ – „Ludwig XI.? Entreiße dem Tiger seinen Raub!“
Gringoire suchte eine Lösung des Knotens. „Wollt Ihr, daß ich eine Erklärung an die Hebammen richte mit der Behauptung, das Mädchen sei schwanger?“
Das hohle Auge des Priesters blitzte. – „Schelm! Weißt du das vielleicht?“
Gringoire erschrak über des Priesters Ausdruck und sagte schnell: „Ich gewiß nicht. Unsere Ehe war ein wahres Foris maritagium.* Ich blieb immer vor der Tür stehen. Man erhält aber so einen Aufschub.“ – „Torheit! Schande! Schweig!“ – „Ihr habt unrecht, so zornig zu werden. Man erhielte einen Aufschub.“
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Der Priester hörte ihn nicht mehr. – „Dort muß sie aber fort“, murmelte er. „Der Parlamentsbeschluß ist binnen drei Tagen auszuführen. Und dann Quasimodo! Die Weiber haben doch sonderbar schlechte Neigungen. – Meister Peter“, sprach er lauter, „ich habe die Sache überlegt; es gibt nur ein Mittel.“ – „Welches? Ich sehe keins.“ – „Hört, Meister, vergeßt nicht, daß sie Euch das Leben rettete. Ich will Euch offen meine Gedanken sagen. Die Kirche wird Tag und Nacht bewacht. Man läßt nur die hinausgehen, die man hineintreten sah. Ihr könnt hineingehen. Ihr mögt kommen, und ich will Euch zu ihr führen. Dann könnt Ihr die Kleider wechseln, sie legt Euer Wams, Ihr legt ihren Weiberrock an.“
„Nun, bis dahin ginge alles gut“, meinte der Philosoph. „Aber weiter!“ – „Nun, sie geht in Eurer Kleidung aus der Kirche, und Ihr bleibt dort mit der ihrigen. Vielleicht wird man Euch henken, aber sie wird gerettet.“
Gringoire kratzte sich bedächtig hinter den Ohren. – „So, so! Der Gedanke wäre mir niemals eingefallen.“
Bei dem unerwarteten Vorschlag Dom Claudes verfinsterte sich plötzlich das gutmütige und offene Antlitz des Dichters, wie eine heitere italienische Gegend, wenn ein Windstoß eine Gewitterwolke herbeitreibt.
„Nun, Gringoire, was haltet Ihr von dem Mittel?“ – „Ich meine, Meister, man wird mich nicht vielleicht, sondern ganz gewiß henken.“ – „Das kümmert uns nicht.“ – „Pest!“ – „Sie rettete Euch das Leben. Ihr bezahlt eine Schuld.“ – „Ich bezahle andere Schulden bisweilen auch nicht.“ – „Meister Peter, Ihr müßt!“ – Der Archidiakonus sprach mit gebieterischer Stimme.
„Hört, Dom Claude!“ erwiderte niedergeschlagen der Dichter; „Ihr habt unrecht, bei dem Gedanken hartnäckig zu verharren. Ich sehe nicht ein, weshalb ich mich anstatt eines andern sollte henken lassen.“ –„Was fesselt Euch denn so sehr ans Leben?“ – „Tausend Gründe.“ – „Welche? Wenn’s beliebt.“ – „Luft, Sonnenschein, Morgen, Abend, Mondschein, meine Freunde, die Landstreicher, Mädchen, die schönen Gebäude, die ich studiere, drei Bücher, die ich schreiben will, worunter eins gegen den Bischof und seine Mühlen. Was weiß ich? Anaxagoras sprach, er sei auf der Welt, die Sonne zu bewundern. Und endlich habe ich das Glück, täglich in Gesellschaft eines Mannes von Geist zu leben. Der bin ich nämlich selbst; und das ist sehr angenehm.“
„Strohkopf“, murmelte der Archidiakonus. „Nun sprich, wer erhielt dir dies so angenehme Leben? Wem verdankst du Luft, Sonnenschein und dein Vergnügen an Possen und Torheiten? Wo wärst du, ohne sie? Du willst, sie soll sterben, und verdankst ihr das Leben? Dies göttliche, schöne, anbetungswürdige Geschöpf, notwendig dem Licht der Welt und göttlicher als Gott, soll sterben, während du, zur Hälfte weise und zur Hälfte ein Tor, du Auswurf von Etwas, du Pflanze, die du wandeln und zu denken wähnt, dein ihr gestohlenes Leben führst, und du bist doch so nutzlos wie eine Kerze am hellen Mittag! Gringoire, habe Mitleid! Sei auch einmal edelmütig! Sie war es zuerst.“
Der Priester wurde heftig. Gringoire hörte ihm anfangs mit dem Ausdruck der Unentschlossenheit zu und schnitt endlich eine tragische Fratze, die seinem bleichen Antlitz Ähnlichkeit mit einem neugeborenen Kinde verlieh, das an der Kolik leidet.
Er trocknete eine Träne und sprach: „Ihr seid pathetisch. Nun, ich will’s überlegen. Ihr habt da einen drolligen Einfall!“ – Nach einer Pause fuhr er fort: „Nun, wer weiß? Vielleicht henkt man mich nicht. Wer sich verlobt, heiratet nicht immer. Findet man mich in ihrer Kammer so possierlich gekleidet mit Weiberrock und Haube, fangen die Häscher vielleicht an zu lachen. Und henkt man mich, so ist der Strick ein Tod wie jeder andre, oder vielmehr kein Tod wie jeder andre, ein Tod würdig eines Weisen, der sein ganzes Leben hindurch schwankte, weder Fleisch, noch Fisch, wie der Geist des wahren Skeptikers, ein Tod voll Pyrrhonismus und Bedenken, der Euch zwischen Himmel und Erde in der Schwebe läßt, der Tod eines Philosophen, der mir vielleicht vorherbestimmt war. Es ist herrlich zu sterben, wie man lebte.“
Der Priester unterbrach ihn. „Also ist die Sache abgeschlossen.“ – „Was ist denn im Notfall der Tod?“ sprach Gringoire begeistert weiter, „ein schlimmer Augenblick, ein Brückenzoll, der Übergang von wenig zu nichts. Als jemand Cercidas aus Megalopolis fragte, ob er mit Freuden stürbe, gab er zur Antwort: ‚Warum nicht? Bald sehe ich die großen Männer, Pythagoras unter den Philosophen, Hecatäus unter den Geschichtsschreibern, Homer unter den Dichtern, Olympus unter den Musikern.‘ “
Der Archidiakonus reichte ihm die Hand. „Also die Sache ist abgeschlossen. Ihr kommt morgen.“
Diese Bewegung führte Gringoire zur Wirklichkeit zurück. „Meiner Treu, nein!“ sagte er. „Gehenkt werden? Abgeschmackt! Ich habe keine Lust.“ – „Gut! Lebt wohl. – Ich werde dich schon wieder treffen“, murmelte der Archidiakonus. Der Teufel von Pfaffen soll mich nicht wieder treffen, dachte Gringoire und lief hinter ihm her. „Hört, Herr Archidiakonus, keine Feindschaft zwischen alten Freunden! Ihr nehmt Anteil an dem Mädchen, an meiner Frau, wollte ich sagen. Ihr habt eine List ersonnen, sie aus Notre-Dame zu bringen, die aber sehr unangenehm für mich ist. Wenn ich nun ein anderes Mittel bereit hätte? Ich sage Euch, mir fällt in dem Augenblick ein lichtvoller Gedanke ein, sie aus der Verlegenheit zu ziehen, ohne meinen Hals mit irgendeiner Schlinge in Berührung zu bringen. Was meint Ihr? Ist es denn durchaus notwendig, daß ich auch gehenkt werde?“
Der Priester riß ärgerlich an den Knöpfen seines Kleides. „Strom von Worten! Sag’, was ist dein Mittel?“ „Ja, ja“, sprach Gringoire zu sich selbst und legte den Zeigefinger auf die Nase. „Ich hab’s! Die Landstreicher sind brave Jungen! Der Zigeunerstamm liebt sie. Beim ersten Wort werden sie in Aufruhr geraten. Nichts leichter. Eine Überrumpelung! Während des Getümmels kann man sie leicht entführen. Morgen abend … Es wird ihnen ganz recht sein.“
Der Priester schüttelte ihn. „Dein Mittel! Schnell!“ Gringoire wandte sich majestätisch zu ihm. „Laßt mich. Ihr seht, ich bin schlau.“ Dann überlegte er noch einige Augenblicke, klatschte in die Hände und rief: „Bewunderungswürdig! Der Erfolg ist sicher!„
„Dein Mittel!“ rief Claude zornig. – „Hört, ich will’s Euch ins Ohr sagen. Eine wahrhaft schlaue Gegenmine, die uns alle aus der Angelegenheit zieht. Wahrhaftig, ich bin doch kein Einfaltspinsel, gesteht es ein! … Ah so, ist die Ziege bei meiner Frau?“ – „Ja, der Teufel mag dich holen!“ – „Sie wollen auch die henken?“ – „Was kümmert’s mich?“ – „Ja, ganz gewiß. Vergangenen Monat hing ein Zuchtschwein am Galgen. Dem Henker ist das sehr willkommen. Er kann das Tier verspeisen. Arme Djali! Armes, kleines, unschuldiges Lamm!“ – „Verflucht! Du bist der Henker! Schelm, welches Rettungsmittel hast du gefunden?“ – „Meister, hört!“
Gringoire neigte sich zum Ohr des Archidiakonus, sprach sehr leise und warf von einem Ende der Straße zum andern einen unruhigen Blick, um zu sehen, ob niemand vorüberginge. Als er mit Dom Claude gesprochen, drückte ihm dieser die Hand und sprach kalt: „Also morgen!“
„Ja, morgen“, wiederholte Gringoire. Als der Archidiakonus fortging, schlug er einen entgegengesetzten Weg ein und sprach halblaut: „Eine gewaltige Geschichte, Herr Peter Gringoire! Was tut’s? Wenn man klein ist, erschrickt man noch nicht vor großen Unternehmungen. Bachstelzen und Grasmücken fliegen übers Meer.“
42. Werde Landstreicher!
Als der Archidiakonus wieder ins Kloster trat, fand er seinen Bruder Jehan wartend an der Tür seiner Zelle. Jehan vertrieb sich die Langeweile des Wartens, indem er das Gesicht seines Bruders, mit einer übermäßig verlängerten Nase bereichert, mit einer Kohle auf die Wand zeichnete. Dom Claude bemerkte seinen Bruder kaum, denn andere Gedanken nahmen ihm den Kopf ein. Des mutwilligen Knaben fröhliches Gesicht, dessen Ausdruck das düstere Antlitz des Priesters sonst erheitert hatte, vermochte jetzt nicht, den Nebel zu zerteilen, der aus dieser sumpfigen, verdorbenen Seele täglich verdichteter aufstieg.
„Bruder“, sprach Jehan furchtsam, „ich besuche Euch.“ Der Archidiakonus schlug nicht einmal die Augen auf. „Weiter!“ sprach er. „Bruder“, begann der Heuchler, „Ihr seid so gütig, gebt mir so oft guten Rat, daß ich immer wieder zu Euch komme.“ – „Weiter!“ – „Ach Bruder, Ihr hattet wohl recht, als Ihr sagtet: Jehan, Jehan! Cessat doctorum doctrina, discipulorum disciplina! Jehan, bleibe die Nächte nicht aus dem Kollegium weg ohne rechtsmäßigen Grund und Erlaubnis deines Lehrers. Prügele nicht die Picardier! Noli, Joannes verberare Picardos! Verfaule nicht, wie ein unwissender Esel, quasi asinus illiteratur, auf dem Futterstroh der Schule! Jehan, laß dich nach Gutbefinden des Lehrers strafen! Jehan, geh jeden Abend in die Kapelle und singe dort einen Psalm der glorreichen Jungfrau Maria! Ach, das war ein trefflicher Rat!“ – „Weiter!“ – „Bruder, Ihr seht einen elenden, schuldigen Verbrecher, ein Scheusal, einen Liederlichen! Lieber Bruder, Jehan trat Euren Rat wie Mist mit Füßen. Ich bin schwer bestraft, denn Gott ist gerecht. Solange ich Geld hatte, trieb ich Possen und führte ein lustiges Leben. Ausschweifung, so schön von vorn, ist doch häßlich von hinten! Ich habe keinen Heller! Verkaufte Hemd, Tisch- und Handtuch! Das lustige Leben ist vorbei! Die schöne Kerze ist erloschen, und ein elendes Talglicht dampft mir unter der Nase. Ich trinke Wasser; ich werde von Gewissensbissen und Gläubigern gepeinigt.“
„Weiter!“ sprach der Archidiakonus.
„Ach, lieber Bruder, ich möchte mich bessern! Ich trete zerknirscht vor Eure Augen! Ich tue Buße und beichte! Auf die Brust schlage ich mit geballten Fäusten. Ihr hattet recht, daß ich einst Submonitor und Lizentiat im Kollegium Torchi werden sollte. Für diesen Stand fühle ich jetzt herrlichen Beruf. Ich habe aber keine Tinte und muß sie doch kaufen; ich habe weder Bücher noch Papier und muß beides doch kaufen! Dazu brauche ich ein wenig Geld und komme deshalb zu Euch, mein Bruder, voll Zerknirschung.“ – „Weiter nichts?“ – „Ja, ein wenig Geld!“ – „Ich habe keins.“
Da sprach der Student mit entschlossener und ernster Miene: „Gut, Bruder, es tut mir leid, Euch sagen zu müssen, daß man mir andererseits sehr vorteilhafte Anträge gemacht hat. Ihr wollt kein Geld geben?“ – „Nein.“ – „In dem Falle werde ich Landstreicher.“
Als er dies furchtbare Wort aussprach, gab er sich die Miene eines Ajax, der erwartet, der Blitz werde auf sein Haupt niederstürzen.
Der Archidiakonus sprach kalt: „Werde Landstreicher!“ Jehan grüßte ihn mit tiefer Verbeugung und ging pfeifend die Treppe hinab. Als er durch den Klosterhof kam, hörte er, wie das Fenster seines Bruders aufgerissen ward. Er reckte die Nase in die Höhe und sah das strenge Gesicht des Archidiakonus hervorragen. – „Geh zum Teufel!“ rief Dom Claude, „das ist das letzte Geld, das du von mir bekommst!“
Zugleich warf der Priester eine Börse hinab, die Jehan eine Beule auf der Stirn verursachte, worauf Jehan, zugleich verdrießlich und vergnügt, wie ein Hund fortging, den man einen Markknochen an den Kopf wirft.
43. Es lebe die Lust!
Der Leser hat wohl vergessen, daß ein Teil des Hofes der Wunder durch die alte Ringmauer der Stadt begrenzt ward, die damals anfing zu verfallen. Ein Turm dieser Mauer war von den Landstreichern zum Vergnügungsort bestimmt. Im Keller war eine Schenke, das übrige in den oberen Stockwerken. Dieser Turm war der lebendigste und folglich auch der scheußlichste Teil des Wunderhofes, eine Art ungeheuren Bienenkorbes, in dem es Tag und Nach summte. Des Nachts, wenn der übrige Teil des Bettlerquartiers schlief, wenn kein Fenster an den schmutzigen Häusern des Platzes mehr leuchtete, wenn man kein Geräusch aus diesen unzähligen Hütten, den Ameisenhaufen von Dieben, von den Mädchen, gestohlenen oder Bastardkindern mehr vernahm, fiel der der Freude dienende Turm noch immer auf durch den dort herrschenden Lärm, das rote Licht, das zugleich durch die Luftlöcher, die Fenster, die Mauerspalten, gleichsam aus allen seinen Poren drang.
Der Keller also war die Schenke. Man stieg durch eine niedrige Tür und eine Treppe hinab, die ebenso schwerfällig war wie ein klassischer Alexandriner. Am Tore hing als Schild ein wunderbares Gesudel von neuen Sous und getöteten Hühnern, mit der Inschrift: Zu den Glöcknern für geschiedene Seelen.
Eines Abends, als überall in Paris die Abendglocke erschallte, ward in der Schenke der Landstreicher mehr als gewöhnlich getrunken und geflucht. Außen standen zahlreiche Gruppen, die sich leise unterhielten, als werde ein großer Entwurf geschmiedet. Hin und wieder wetzte auch ein Schelm seine eiserne Klinge auf einem Pflasterstein. Übrigens bildeten Wein und Spiel in der Schenke selbst eine so bedeutende Abweichung von den Hauptgedanken des Gaunerstammes, daß man nur mit Mühe aus den Reden der Trinker erraten konnte, um was es sich handle. Nur schienen sie froher als gewöhnlich, und bei allen sah man eine Waffe zwischen den Beinen glänzen, ein Faschinenmesser, eine Axt, einen großen Haudegen oder auch eine alte Hakenbüchse. Der große, runde Saal war gedrängt voll.
Beim ersten Blick konnte man drei Hauptgruppen erkennen, die sich um drei Personen drängten, mit denen der Leser schon bekannt ist. Eine derselben, mit orientalischen Fetzen aufgeputzt, war Matthias Hungadi Spicali, der Zigeunerherzog. Dieser saß mit gekreuzten Beinen auf einem Tisch, hielt einen Finger in die Höhe und verkündete mit lauter Stimme seine Wissenschaft weißer und schwarzer Magie an seine Umgebung, die ihm mit offenem Munde zuhörte. Eine andere Masse drängte sich um unsern alten Freund, den tapfern König von Thunes, der bis an die Zähne bewaffnet war. Clopin Trouillefou ordnete mit leiser und ernster Stimme die Ausleerung einer ungeheuren, vor ihn gestellten und mit Waffen gefüllten Tonne, woraus Beile, Degen, Helme, Schuppenpanzer, Lanzen- und Hellebardenspitzen, wie aus einem Füllhorn Äpfel und Trauben, hervorkamen. Jeder nahm ein Stück, der eine eine Pickelhaube, der andere einen Stoßdegen. Selbst Kinder bewaffneten sich. Endlich bedeckte ein dritter Kreis, der lärmendste, munterste und zahlreichste, Bänke und Tische. In ihrer Mitte sprach und fluchte eine Flötenstimme, die aus einer schweren, vom Helm bis zu den Sporen vollständigen Rüstung hervordrang. Jener Gewappnete verschwand gänzlich unter dem Kriegskleide, so daß man von seiner ganzen Gestalt nur eine freche, etwas aufgestülpte rote Nase und eine blonde Haarlocke, auch zwei kühne Augen und einen roten Mund erblickte. Sein Gürtel war voller Dolche, an seiner Seite hing ein Degen, und über die linke Schulter eine verrostete Armbrust; vor ihm stand ein Weinkrug und rechts neben ihm ein dickes Mädchen mit entblößter Brust. Alle Männer rings um ihn lachten, fluchten und tranken.
Neben diesen Hauptgruppen erblickte man noch viele kleine. Im Hintergrunde des Saales, die Füße in der Asche, saß ein sinnender Philosoph, Peter Gringoire.
„Auf! Schnell! Zu den Waffen! In einer Stunde wird der Marsch begonnen!“ rief Clopin seinen Kauderwelschen zu. – „Söhne“, sprach der Zigeunerherzog mit hoher Stimme zu seinen Zuhörern, „die französischen Hexen gehen zum Sabbat ohne Besen, ungesalbt und ohne Böcke zum Reiten, ganz allein mit einigen Zauberworten. Die italienischen Hexen haben stets einen Ziegenbock zu ihren Diensten an ihrer Tür. Alle müssen durch den Schornstein fliegen.“
Die Stimme des jungen Schelms, der von Kopf bis zu Füßen bewaffnet war, beherrschte den Lärm. „Hussa!“ rief er, „heute ist meine Waffenprobe! Landstreicher! Christi Bauch, ich bin Landstreicher! Schenkt ein! Freunde, ich heiße Jehan Frollo du Moulin und bin ein Edelmann. Brüder, wir werden eine herrliche Tat vollbringen, die Kirche belagern, Türen einschlagen, das schöne Mädchen herausbringen, es vor Priestern und Richtern retten, das Kloster niederreißen, den Bischof in seinem Palast verbrennen, und dies alles in kürzerer Zeit vollbringen, als ein Bürgermeister braucht, einen Löffel Suppe zu essen. Unsere Sache ist gerecht, wir plündern Notre-Dame und damit ist’s vorbei. Wir hängen Quasimodo. Meine Damen, kennt ihr Quasimodo? Habt ihr ihn gesehen, wie er um Pfingsten auf der großen Glocke keucht? Bei meines Vaters Hörnern! Da sollte man ihn nicht für einen Teufel, der auf einem Drachen reitet, halten? – Freunde, hört mich. Landstreicher bin ich mit ganzer Seele, Kauderwelscher von Herzen und als Liederlicher geboren. Ich war reich und habe mein Geld durchgebracht. Meine Mutter wollte mich zum Offizier, mein Vater zum Subdiakonus, meine Tante zum Gerichtsrat, meine Großmutter zum Protonotar des Königs, meine Großtante zum Schatzmeister machen; ich aber bin Landstreicher geworden. Ich sagte dies meinem Vater, der mir seinen Fluch ins Gesicht spie, meiner Mutter, der alten Frau, die zu weinen und zu geifern anfing, wie jenes Scheitholz auf dem Feuerbock. Es lebe die Lust! Ich bin ein wahrer Tollhäusler! Wirtin, meine Liebe, andern Wein!“
Laut lachend klatschten die Zuhörer Beifall, und als der Student den Lärm noch immer sich steigern hörte, rief er aus: „Oh, welch ein Freudengeschrei! Populi debacchantis populosa debacchatio!“ Dann sang er wie ein Kanonikus die Vesper, wobei sein Auge in Verzückung schwamm: „Quae cantica! Quae organa! Quae cantilenae! Quae melodiae hic sine fine decantantur! Sonant melliflua hymnorum organa, suavissima angelorum melodia, cantica canticorum mira! … Säuferin des Teufels, gib mir Wein!“
Hier entstand eine Pause, während der die scharfe Stimme des Zigeunerherzogs sich erhob, wie er seine Leute belehrte. „Das Wiesel heißt Aduine, der Fuchs Blaufuß oder Waldläufer, der Wolf Graufuß oder Goldfuß, der Bär Herr Großvater. – Die Mütze eines Gnomen macht unsichtbar und daß man unsichtbare Dinge sehen kann. – Wird eine Kröte getauft, so muß sie rot oder schwarz gekleidet sein, eine Klingel am Hals und am Fuße haben. Der Gevatter hält ihr den Kopf, die Gevatterin das Hinterteil. – Der Teufel Sidragasum läßt die Mädchen ganz nackt tanzen.“
„Bei der Messe“, unterbrach ihn Jehan, „der Teufel Sidragasum möchte ich sein!“
Unterdes fuhren die Landstreicher am andern Ende des Saales fort, sich zu bewaffnen. Man brachte Jehan sein Abendessen, er legte die Hand auf den Busen seiner Nachbarin und rief: „Beim heiligen Gesicht von Lucca! Ich bin vollkommen glücklich! Vor mir sehe ich einen Pinsel, der mich mit der gewichtigen Miene eines Erzherzogs betrachtet. Links steht ein anderer, dessen Zähne bis über das Kinn reichen. – Mahoms Bauch! Kamerad, du siehst aus wie ein Trödeljude und setzest dich neben mich. Freund, ich bin von Adel! Handelsstand paßt nicht zum Adelsstand. Pack’ dich! – Holla! Ihr da! Prügelt euch nicht! Baptiste Dieb, du hast eine so schöne Nase und wagst sie gegen die Faust jenes Ochsen. Non cuiquam datum est habere nasum.* – Wahrhaftig, Jacqueline Rotohr, du bist göttlich! Wie schade, daß du keine Haare mehr hast! – Hollah, ich heiße Jehan Frollo, und mein Bruder ist Archidiakonus. Der Teufel soll ihn holen! Alles, was ich sage, ist Wahrheit. Als ich Landstreicher ward, verzichtete ich von ganzem Herzen auf ein im Paradiese gelegenes Haus, das mir mein Bruder versprach. Dimidiam domum in paradiso.** Ich zitiere den Text. Ich besitze ein Lehen, Rue Tirechappe, und alle Weiber sind in mich verliebt, so wahr St. Eloi ein guter Goldschmied war.“
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Unterdessen war Clopin Trouillefou mit der Waffenverteilung zu Ende. Er trat zu Gringoire, der, in tiefes Nachdenken versunken, die Füße auf ein Holzscheit gestützt hatte. „Peter“, sprach der König von Thunes, „woran denkst du?“ Gringoire wandte sich zu ihm mit schwermütigem Lächeln. „Lieber Herr, ich liebe das Feuer, nicht wegen des gemeinen Grundes, weil Feuer unsere Füße wärmt und Suppe kocht, sondern weil Funken sprühen. Bisweilen besehe ich mir stundenlang die Funken und entdecke tausend Dinge in den Sternen, die vom schwarzen Grunde des Herdes aufspringen. Die Sterne da sind Welten.“ – „Donnerwetter, ich verstehe dich nicht! Weißt du, was die Uhr ist?“ – „Nein.“
Clopin trat zum Zigeunerherzog heran. „Kamerad Matthias, die Zeit ist nicht gut gewählt. Man sagt, König Ludwig sei in Paris.“ – „Ein Grund mehr, ihm unsere Schwester aus den Krallen zu ziehen.“ – „Matthias, du sprichst wie ein Mann. Übrigens wird alles leicht vonstatten gehen. In der Kirche finden wir keinen Widerstand. Die Canonici sind Hasen, und wir sind stark. Morgen sind die Leute des Parlaments geprellt, wenn sie Esmeralda holen wollen. Bei den Gedärmen des Papstes, schöne Mädchen sollen sie nicht henken!“ – Clopin verließ hierauf die Schenke.
Unterdes schrie Jehan mit heiserer Stimme: „Ich esse, trinke, bin betrunken, bin Jupiter! Peter Totschläger, siehst du mich noch einmal so an, so stülpe ich dir die Nase mit Nasenstübern.“
Clopin trat wieder ein und rief mit Donnerstimme: „Mitternacht!“ Dieses Wort brachte die Wirkung eines Marschsignals bei einem rastenden Regiment hervor. Alle Landstreicher, Männer, Weiber, Kinder, drängten sich unter lautem Waffengeklirr aus der Schenke. Der Mond war mit Wolken bedeckt, der Wunderhof stockfinster, man sah kein Licht, allein er war nicht verlassen. Eine Masse Männer und Weiber sprachen leise miteinander; man hörte ein Summen und konnte im Dunkel die blanken Waffen erblicken. Clopin stieg auf einen Stein. „Bildet eure Reihen, Kauderwelsche, Zigeuner, Galiläer!“ rief er laut. Im Schatten entstand eine Bewegung. Die ungeheure Masse schien sich als Kolonne zu bilden. Nach einigen Minuten erhob noch einmal der König von Thunes seine Stimme: „Duchzieht Paris im tiefsten Schweigen! Das Losungswort sei: Kleine Flamme zum Spiel! Die Fackeln werden erst vor der Kirche Notre-Dame angezündet. Marsch!“
Nach zehn Minuten flohen die Reiter der Wache voll Schrecken vor einer Prozession schwarzer und schweigender Männer, die zum Pont-aux-Changes hin die gewundenen Straßen durchzog, die das Viertel der Hallen nach allen Richtungen hin durchschneiden.
44. Ein ungeschickter Freund
In derselben Nacht war Quasimodo noch nicht eingeschlafen. Er hatte seine letzte Runde in der Kirche gehalten und nicht bemerkt, daß der Archidiakonus, als er die Tore schloß, bei ihm vorüberging und einigen Ärger zeigte, weil Quasimodo das ungeheure Eisenwerk, das den beiden Türflügeln die Festigkeit einer Mauer verlieh, mit großer Sorgfalt verkettete und verriegelte. Dom Claude schien noch mehr als gewöhnlich von Gedanken gepeinigt zu sein. Auch mißhandelte er Quasimodo seit dem nächtlichen Abenteuer in der Zelle fortwährend; er mochte ihn aber noch so sehr anfahren, sogar mitunter schlagen, der Gehorsam, die Geduld und die Hingebung des treuen Glöckners wurden durch nichts erschüttert. Beleidigungen, Drohungen, Schläge des Archidiakonus duldete er, ohne einen Vorwurf zu murmeln oder eine Klage auszustoßen. Höchstens sah er ihm unruhig nach, wenn der Archidiakonus die Turmtreppe hinaufstieg; allein dieser hatte freiwillig darauf verzichtet, vor der Zigeunerin wieder zu erscheinen. Quasimodo war in jener Nacht, nachdem er einen Blick auf seine arme verlassenen Glocken geworfen, auf den Gipfel des nördlichen Turmes gestiegen, stellte seine wohlgeschlossene Blendlaterne auf das bleierne Dach und besah Paris. Wie wir schon sagten, war die Nacht sehr dunkel. Paris, das damals sozusagen noch nicht erleuchtet war, bot seinem Auge einen wirren Haufen schwarzer Massen, hier und da durch die weißliche Krümmung der Seine durchschnitten. Nur an einem weit entfernten Fenster sah Quasimodo ein Licht an einem Hause, dessen unbestimmtes düsteres Profil sich hoch über die Dächer am Tore St. Antoine hinzeichnete; auch dort wachte jemand.
Als er den Blick seines einzigen Auges über diesen Horizont von Nacht und Nebel schweben ließ, empfand er im Herzen eine unaussprechliche Angst. Seit mehreren Tagen hielt er genaue Wache. Stets sah er Leute mit unheilvollem Gesicht die Kirche umschwärmen, welche das Asyl des Mädchens nie aus dem Auge verloren. Er ahnte, eine Verschwörung werde gegen die arme Geflüchtete angezettelt, und meinte, derselbe Volkshaß, der ihn verfolge, gelte auch dem armen Mädchen, so daß in kurzem sich wohl etwas ereignen könne. Darum stand er wachsam auf der Turmspitze und behielt Paris und die Zelle stets im Auge, wie ein wachsamer Hund, der Mißtrauen gefaßt hat. Als er so die große Stadt mit dem einzigen Auge betrachtete, das die Natur, ihn gleichsam zu entschädigen, so durchdringend geschaffen hatte, daß es die ihm fehlenden Organe ersetzen konnte, schien es ihm, der Schattenriß des Quai de la vieille Pelletrie biete etwas Sonderbares, eine Bewegung finde dort statt, und die schräge Linie der Brüstung am weißlichen Strom sei nicht gerade, wie die der anderen Kais, sondern woge wie ein Fluß oder wie die Köpfe einer sich bewegenden Menschenmasse.
Dies schien ihm auffallend. Er verdoppelte seine Aufmerksamkeit. Die Bewegung schien sich zur Altstadt zu richten. Es schimmerte kein Licht. Die Bewegung dauerte einige Zeit auf dem Kai, dann verschwand die Bewegung allmählich, als dringe sie in das Innere der Insel. Endlich hörte sie gänzlich auf und die Linie des Kais war gerade und unbeweglich. Im Augenblick, wo Quasimodo sich in Vermutungen erschöpfte, schien es ihm, die Bewegung komme in der Straße des Vorplatzes wieder zum Vorschein, die in gerader Linie auf die Vorderseite von Notre-Dame führte. So dicht auch die Finsternis war, sah er, wie eine Kolonnenspitze aus der Straße hervordrang und auf den Platz plötzlich eine Volksmasse ausgoß, von der man nur erkennen konnte, daß es ein Haufen Menschen war. Dieses Schauspiel bot etwas Schreckliches dar. Die sonderbare Prozession, die so sorgfältig im dichten Dunkel sich zu verbergen schien, beobachtete aber kein vollkommenes Schweigen. Ein Geräusch mußte aufsteigen, war es auch nur das Gestampf der Füße. Dies Geräusch gelangte nun zwar nicht zu unserm Tauben, aber die so in seiner Nähe sich bewegende und gehende Masse brachte bei ihm den Eindruck eines stummen, unkörperlichen, im Rauche sich verlierenden Haufens von Toten hervor. Es schien ihm, als nahe sich ein Nebel von Menschen, als regten sich Schatten im Dunkel.
Er ward wieder von Furcht ergriffen, und der Gedanke eines Unternehmens gegen die Zigeunerin drängte sich ihm auf. In dem Augenblick faßte er seinen Entschluß nach schnellerer und besserer Überlegung, als man bei einem so unvollkommen gebildeten Gehirn hätte erwarten sollen. Sollte er die Zigeunerin wecken und sie entwischen lassen? Aber wohin? Die Straßen waren besetzt, und die Kirche stieß hinten an den Fluß. Weder Schiff noch Ausgang! Er konnte nur einen Entschluß fassen: an der Schwelle von Notre-Dame sich töten zu lassen, so lange Widerstand zu leisten, bis vielleicht Hilfe käme, und den Schlaf der Esmeralda nicht zu stören. Die Unglückliche mußte früh genug erwachen, um zu sterben. Als er diesen Entschluß einmal gefaßt hatte, beobachtete er den Feind mit mehr Ruhe.
Die Masse auf dem Vorplatz schien mit jedem Augenblick anzuwachsen. Quasimodo vermutete, sie mache wenig Lärm, weil die Fenster und Türen des Platzes geschlossen blieben. Plötzlich glänzte ein Licht, und dann ragten sieben bis acht angezündete Fackeln über den Häuptern empor und schüttelten im Dunkel ihre Flammenbüschel. Quasimodo sah deutlich auf dem Platze eine Herde zerlumpter Männer und Weiber sich gleich Wogen kräuseln, sah Sicheln, Piken, Partisanen und Gartenmesser. Hin und wieder ragten schwarze Gabeln hervor. Er erinnerte sich dunkel der Volksmasse und glaubte die Köpfe wieder zu erblicken, die ihn vor einigen Monaten zum Narrenpapst gewählt hatten. Ein Mann, der in der einen Hand eine Fackel und in der andern eine Lanze hielt, stand auf einem Eckstein und schien eine Rede zu halten. Zugleich führte das sonderbare Heer einige Bewegungen aus, als nähme es Stellung rings um die Kirche. Quasimodo nahm seine Laterne und stürzte auf die Platte zwischen den Türmen, um mehr in der Nähe zu sehen und auf Verteidigungsmittel sinnen zu können.
Clopin Trouillefou hatte seine Leute vor dem Portale wirklich in Schlachtordnung aufgestellt. Ob er gleich keinen Widerstand erwartete, wollte er als kluger General Ordnung halten, so daß er im Notfall gegen einen Angriff der Wache oder der Sergeanten Front machen konnte. Es war übrigens kaum zu befürchten, daß der Sturm auf Notre-Dame von irgendeiner Seite gestört werden würde.
In den Städten des Mittelalters war eine Unternehmung wie die der Landstreicher gegen Notre-Dame nicht so selten. Was wir gegenwärtig Polizei nennen, war damals noch nicht vorhanden. In den volkreichen, besonders den Hauptstädten, war eine obere Zentralgewalt noch nicht gebildet. Das Lehnswesen hatte diese gewaltigen Kommunen auf sonderbare Weise eingerichtet. Eine Stadt war eine Ansammlung von tausend Herrschaften, die sich in Teile jeglicher Art und Größe schieden. Tausend Polizeien kreuzten sich, d. h. es gab keine Polizei. Alle diese Feudalherren erkannten die Oberherrschaft des Königs nur dem Namen nach an; jeder hatte sein eigenes Gericht in seinem Bezirk. – Nachdem die ersten Anordnungen getroffen waren, stieg der würdige Führer der Bande auf die Brüstung des Vorhofs, wandte sich gegen Notre-Dame, schüttelte die Fackel, deren vom Wind bewegte und im Rauche oft verhüllte Flamme die rötliche Fassade der Kirche den Augen abwechselnd zeigte und wieder verschwinden ließ, und rief mit rauher, drohender Stimme:
„Louis Beaumont, Bischof von Paris, Rat im Parlamentshofe, dir künde ich, Clopin Trouillefou, König von Thunes, Groß-Cosra, Prinz von Kauderwelsch, Bischof der Narren, wie folgt: Unsere Schwester, wegen Zauberei ungerecht verurteilt, flüchtete sich in deine Kirche. Du schuldest ihr Freistatt und Sicherheit. Der Parlamentshof aber will sie dort ergreifen lassen, und du gabst deine Einwilligung, so daß sie morgen auf dem Grèveplatz gehenkt wird, wenn Gott und die Landstreicher sie verlassen. Bischof, darum kommen wir zu dir. Ist deine Kirche geheiligt, so ist es auch unsere Schwester. Deshalb fordern wir dich auf, uns das Mädchen zu übergeben, willst du die Kirche retten, oder wir nehmen das Mädchen und plündern die Kirche. So wahr dies geschehen wird, pflanze ich hier mein Banner auf, und Gott beschütze dich, Bischof von Paris.“
Ein Landstreicher reichte Clopin sein Banner, und dieser pflanzte es feierlich zwischen zwei Pflastersteinen auf. Es war eine Gabel, an deren Zacken ein blutiges Stück Luder herabhing. Hierauf wandte sich der König zu seinem Heer, einer wilden Schar, deren Blicke fast ebenso wie die Piken strahlten. Nach einer kleinen Pause rief er aus: „Vorwärts, Söhne! Ans Werk!“
Dreißig Männer mit viereckigen Gliedern, mit Gesichtern von Schlossern, traten mit Hämmern, Kneipzangen und Brechstangen hervor. Sie traten zum Haupttor, stiegen die Stufen hinan, kauerten unter dem Spitzbogen und arbeiteten an der Tür mit Kneipzangen und Hebeln. Viele Landstreicher folgten, um zuzuschauen und zu helfen. Die zwölf Stufen des Portals waren schnell bedeckt. Die Tür aber hielt. „Teufel, die ist hart und eigensinnig“, sagte einer. – „Mut, Kameraden“, rief Clopin. „Ich wette meinen Kopf gegen einen Pantoffel, Ihr nehmt das Mädchen, entkleidet den Hauptaltar, bevor ein Büttel erwacht. Hört, ich glaube, das Schloß verrückt sich schon.“
Clopin ward durch einen furchtbaren Lärm unterbrochen, der in dem Augenblick hinter ihm ertönte. Er wandte sich um. Ein ungeheurer Balken fiel von oben herab und zerschmetterte ein Dutzend Landstreicher auf den Stufen der Kirche, sprang auf dem Pflaster mit dem Schall eines Kanonenschiffes in die Höhe und zerbrach noch hier und da die Knie der mit einem Schrei des Schreckens entweichenden Gauner. In einem Augenblick war der enge Vorplatz geräumt. Die von der tiefen Wölbung des Portals geschützten Arbeiter mit Brecheisen verließen das Tor, und Clopin selbst trat in einer achtungsvollen Entfernung von der Kirche zurück.
„Ich bin dem Balken kaum entwischt“, sprach Jehan. „Ochsenkopf! Ich roch ihn von weitem. Aber Peter Totschläger ist totgeschlagen.“
Staunen und Bestürzung bemächtigte sich der Banditen beim Niederfallen des Balkens. Einige Minuten lang blickten sie starr in die Luft, erschrockener als über tausend Häscher des Königs. – „Satan!“ brummte der Zigeunerherzog, „das riecht nach Hexerei.“ – „Der Mond schickt uns dieses Scheitholz“, meinte ein anderer. – „Ja, ja“, sagte ein dritter, „der Mond soll ein Freund der heiligen Jungfrau sein.“ – „Tausend Päpste“, rief Clopin, „ihr alle seid Pinsel!“ Den Fall des Balkens konnte er sich aber auch nicht erklären. Oben auf der Fassade, wohin der Fackelschein nicht reichte, konnte man nichts bemerken. Der schwere Balken lag mitten auf dem Vorplatz, und man vernahm das Gestöhn der Unglücklichen, die den ersten Stoß erhalten hatten und deren Glieder zerschmettert waren. Als die erste Bestürzung vorüber war, fand der König von Thunes endlich eine Erklärung, die seinen Gefährten annehmbar schien. – „Gottes Rachen! Verteidigen sich die Pfaffen? Tötet sie! Tötet sie!“
„Tötet sie!“ rief das Volk mit furchtbarem Gebrüll. Eine Ladung aus Armbrüsten und Hakenbüchsen ward gegen die Fassade geschossen.
Bei dem Krach erwachten die friedlichen Bewohner der benachbarten Häuser. Mehrere Fenster wurden geöffnet; Nachtmützen und Lichter kamen zum Vorschein. „Schießt auf die Fenster“, rief Clopin. Die Fenster wurden sogleich geschlossen, und die armen Bürger, die kaum Zeit hatten, einen verstörten Blick auf diese Szene des Tumults und Fackelscheins zu werfen, legten sich, vor Angst schwitzend, wieder in ihre Betten.
„Schlagt tot!“ riefen die Kauderwelschen, wagten aber nicht, näher zu treten. Sie betrachteten die Kirche und den Balken. Der Balken regte sich nicht; die Kirche schien ruhig und einsam. Allein irgend etwas verursachte den Landstreichern Entsetzen.
„Ans Werk! Brecht die Tür auf!“ rief Clopin. – Keiner wagte einen Schritt. – „Bart und Bauch!“ rief Clopin; „Männer fürchten sich vor einem Balken!“
Ein alter Arbeiter mit dem Brecheisen redete ihn an: „Hauptmann, der Balken ärgert uns nicht; die Tür ist mit Eisenbarren verrammelt; Brecheisen vermögen hier nichts.“ – „Womit könnt Ihr sie denn einbrechen?“ – „Nur mit einem Widder.“
Der König von Thunes lief keck zu dem furchtbaren Balken, stellte den Fuß darauf und rief: „Hier ist einer! Die Pfaffen haben ihn geschickt.“ Dann machte er eine spöttische Verbeugung gegen die Kirche und sprach: „Habt Dank, Pfaffen!“
Diese Keckheit verfehlte ihre Wirkung nicht; der Zauber des Balkens war gebrochen. Bald stürzte die schwere Masse, von kräftigen Armen gehoben, mit Wut gegen die Tür, die zu erschüttern man schon versucht hatte. Beim Stoß des Balkens hallte die halb metallische Tür wie eine ungeheure Trommel wider. Sie ward nicht erbrochen, allein die ganze Kathedrale bebte, und man vernahm den Nachhall in den tiefsten Höhlungen des Baus. In diesem Augenblick begann ein Regen großer Steine von der Fassade auf die Angreifenden hinabzusinken. – „Teufel!“ rief Jehan, „schütteln die Türme ihr Geländer uns auf den Kopf?“ – Der Antrieb war aber einmal gegeben, der König von Thunes gab das Beispiel. Der Bischof, dachten die Landstreicher, verteidigt sich; sie stießen mit noch größerer Wut an die Tür, obgleich die Steine manchen Schädel zerschmetterten.
Sonderbarerweise fiel immer nur ein Stein hinab, aber der eine folgte dicht auf den andern. Die Kauderwelschen fühlten immer zwei, einen auf dem Kopfe, einen andern auf den Beinen. Nur wenige verfehlten ihr Ziel, und schon blutete und zuckte eine große Schicht von Toten unter den Füßen der Angreifenden, die in Wut stets aufs neue heranstürzten. Der lange Balken stieß in regelmäßigen Zeiträumen wie der Klöppel einer Glocke; dann regneten Steine und die Tür krachte.
Es war Quasimodo, von dem dieser unerwartete Widerstand, der die Landstreicher erbitterte, herrührte. Der Zufall war dem tapferen Tauben unglücklicherweise behilflich gewesen. Als er auf die Platte zwischen den Türmen stieg, waren alle Vorstellungen bei ihm verwirrt. Wie wahnsinnig lief er einige Minuten lang auf der Galerie hin und her, als er von oben aus die dichte Masse der Landstreicher bereit sah, sich auf die Kirche zu stürzen. Er flehte zu Gott und zum Teufel, die Zigeunerin zu retten. Er kam auf den Gedanken, den südlichen Glockenturm zu besteigen und die Sturmglocke zu läuten; aber bevor die brausende Stimme der Marie nur einen Schall geben konnte, mußte die Tür der Kirche zehnmal erbrochen sein. In dem Augenblick nahten Arbeiter mit dem Brecheisen. Was sollte er beginnen?
Plötzlich fiel ihm ein, Maurer hätten den Tag hindurch das Zimmerwerk, die Mauer und das Dach des südlichen Turmes ausgebessert. Dies war ihm ein Lichtstrahl. Die Mauer war von Stein, das Dach von Blei, das Zimmerwerk von Holz (es war dasselbe wunderbare, vielverzweigte Zimmerwerk, welches man den Wald nannte). Quasimodo eilte zu jenem Turm. Die inneren Kammern waren wirklich mit Baumaterial angefüllt. Dort lagen Haufen von Brecheisen, gerollte Bleiplatten, Lattenbündel, starke, schon gesägte Balken und Schutthaufen. Kurz, dort fand sich ein vollständiges Arsenal. Die Gefahr war dringend. Pfähle und Hämmer arbeiteten unten. Mit einer durch das Gefühl der Gefahr verzehnfachten Kraft hob er einen Balken, den schwersten und längsten, in die Höhe, steckte ihn durch eine Luke, packte ihn wieder außerhalb des Turmes, schob ihn über den Winkel des Geländers, das die Platte umringt, und ließ ihn den Abgrund hinabfallen. Das ungeheure Holz schabte die Mauer, zerbrach die gemeißelten Werke, drehte sich im Fall von mehr als hundertsechzig Fuß mehrere Male um, gleich einem Windmühlenflügel, der allein durch leeren Raum fliegt. Endlich berührte er den Boden; ein furchtbares Geschrei erhob sich, und der schwarze Balken, auf dem Pflaster zurückprallend, glich einer ungeheuren, springenden Schlange. Quasimodo sah, wie die Landstreicher beim Sturz des Balkens, wie Asche beim Hauche eines Kindes, auseinanderflogen. Er benutzte ihre Furcht, und während sie einen abergläubischen Blick auf die vom Himmel gesunkene Keule hefteten und die steinernen Heiligen des Portals mit einer Ladung von Schrot und Pfeilen einäugig machten, häufte Quasimodo schweigend Steine, sogar die Mauergeräte, auf den Rand der Balustrade, von wo der Balken schon hinabgestürzt war. Sobald sie an das Haupttor zu stoßen begannen, fiel der Steinhagel herab, so daß es ihnen schien, die Kirche reiße sich selbst nieder, um auf ihre Häupter zu stürzen.
Die Gauner wurden aber nicht entmutigt. Schon mehr als zwanzigmal erbebte das dichte Tor, gegen das sie so erbittert anrannten, unter der Schwere des eichenen Widders, durch die Kraft von mehr als hundert Menschen vervielfacht. Die Vertiefungen krachten, das Schnitzwerk flog in Splittern umher, bei jedem Stoß sprangen die Angeln auf den Ringnägeln in die Höhe, die Bretter verrückten sich, das Holz fiel neben dem Eisenbeschlag zerbröckelt nieder. Glücklicherweise für Quasimodo war mehr Eisen als Holz an der Tür. Er merkte aber, die Tür wankte. Obgleich er die Stöße nicht hörte, fühlte er, alle Höhlungen der Kirche würden erschüttert. Er sah, wie die Landstreicher, voll Wut und Siegesfreude, der dunklen Fassade mit der Faust drohten; für sich und die Zigeunerin beneidete er die Eulen, die in Schwärmen über seinem Haupte davonflogen, um ihre Flügel. Sein Steinregen genügte nicht mehr, die Stürmenden zurückzutreiben. In diesem Augenblick bemerkte er, etwas tiefer als die Balustrade, von wo er die Landstreicher zerschmetterte, zwei lange, steinerne Dachrinnen, die unmittelbar über das Haupttor ausliefen. Die innere Öffnung dieser Rinnen ging vom Pflaster der Platte aus. Da faßte er einen Gedanken. Aus einer Glockenzelle holte er ein Reisigbündel, legte Latten und Bleirollen darauf, Munition, die er noch nicht benutzt hatte, und als er den Scheiterhaufen vor dem Loch der Rinne zurechtgelegt hatte, zündete er ihn mit seiner Laterne an.
Als nun die Steine nicht mehr hinabfielen, hörten die Gauner auf, nach der Fassade hinzublicken. Gleich einer Meute, die den Eber in seinem Lager überwältigt, drängten sie sich um das zwar entstellte, aber noch immer nicht zersprengte Haupttor. Schäumend horchten sie auf den Hauptstoß, der es aufreißen sollte. Jeder suchte sich heranzudrängen, um zuerst in die Kathedrale zu stürzen, in den reichen Behälter, wo die Schätze von drei Jahrhunderten sich aufgehäuft hatten. Sie erinnerten einander mit dem Brüllen der Freude und Habgier an die schönen silbernen Kreuze, die Brokatmäntel, die Gräber mit vergoldetem Silber, die Pracht des Chors, die blendenden Feste, die von Fackeln funkelnden Weihnachten, die im Sonnenschein strahlenden Ostern, an alle glänzenden Feste, wo Kronleuchter, Monstranzen, Tabernakel, Reliquien, die von Gold und Diamanten starren, die Altäre schmückten. Gewiß dachten alle in diesem schönen Augenblick weniger an die Befreiung der Zigeunerin als an die Plünderung der Kirche. Auch glauben wir gern, daß der Name Esmeralda für die meisten nur ein Vorwand war, wenn Diebe überhaupt eines Vorwands bedürfen.
Plötzlich, als sich alle zur letzten Kraftanstrengung um den Widder sammelten, wobei jeder den Atem anhielt und die Muskeln straff zusammenzog, um dem entscheidenden Stoße alle Kraft zu verleihen, erhob sich aus ihrer Mitte ein Geheul, noch furchtbarer als der Schrei, der unter dem Balken ausbrach, und erstarb. Wer nicht tot war oder verwundet, blickte nach oben. Zwei Strahlen geschmolzenen Bleis flossen vom Gebäude herab in das dichteste Gedränge. Man sah, wie vor Schmerz brüllende und sterbende Männer sich wanden. Das Geschrei war herzzerreißend. Alle flohen, die Furchtsameren wie die Kühnsten, und warfen den Balken auf die Leichen. In einem Augenblick war der Vorplatz geräumt. Aller Augen erhoben sich zur Kirche. Was sie dort sahen, war außergewöhnlich. Auf dem höchsten Gipfel der Galerie über der Zentralrosette stieg eine lodernde Flamme mit Funkenwirblen, deren Spitze hin und wieder in den Rauch aufschoß, zwischen den beiden Türmen empor. Unter der Flamme spien zwei Rachen von Ungeheuern unaufhörlich einen brennenden Regen aus, dessen Strom einen silberfarbenen Schein auf das Dunkel der unteren Fassade warf. Ein Schweigen des Schreckens herrschte unter den Landstreichern. Man hörte nur den Notruf der in ihrem Kloster eingeschlossenen Priester, die geängsteter waren als Pferde in einem brennenden Stall, das schnelle Öffnen und Zuschlagen der Fenster, den Lärm im Innern des Hotel-Dieu, den Wind in der Flamme, das Röcheln der Sterbenden und das fortwährende Prasseln des Bleiregens auf dem Pflaster.
Die Führer der Landstreicher zogen sich unter die Vorhalle des Hauses Gondelaurier zurück und hielten Rat. Der Zigeunerherzog saß auf einem Markstein und betrachtete mit abergläubischer Furcht den geisterhaften Scheiterhaufen, der zweihundert Fuß hoch in der Luft strahlte. Clopin Trouillefou biß wütend in seine breiten Fäuste. – „Unmöglich einzudringen!“ murmelte er zwischen den Zähnen.
„Eine gefeite Kirche“, brummte der alte Zigeuner Matthias Hungardi Spicali.
„Beim Schnurrbart des Papstes!“ rief ein alter, schon ergrauter Spitzbube, der als Landsknecht gedient hatte, „die Dachrinnen der Kirche speien uns geschmolzenes Blei noch besser ins Gesicht, als die Schießscharten von Lectoure.“
„Seht Ihr den Teufel, der beim Feuer hin und her rennt?“ rief der Zigeunerherzog.
„Bei Gott“, sprach Clopin „das ist der verdammte Glöckner Quasimodo.“
Der Zigeuner erhob den Kopf. – „Ich sage, es ist der Geist Sabnac, der große Markgraf, der Teufel der Festungen. Er sieht aus wie ein gewaffneter Soldat und hat einen Löwenkopf. Bisweilen sitzt er auf einem scheußlichen Roß. Menschen verwandelt er in Steine und baut Türme mit ihnen. Er befehligt fünfzig Legionen Teufel. Er ist’s, ich erkenne ihn wieder. Bisweilen trägt er ein schönes Kleid mit Gold nach Art der Türken.“
„Wo ist Bellevigne-de-l’Etoile?“ fragte Clopin.
„Tot“, erwiderte eine Zigeunerin. – „So gibt’s denn kein Mittel, das Tor zu sprengen?“ rief der König von Thunes, mit dem Fuße stampfend. Der Zigeunerherzog zeigte ihm traurig die beiden siedenden Bleiströme, welche die schwarze Fassade wie zwei lange Spinnrocken von Phosphor zu beleuchten fortfuhren. – „Schon oft“, sagte er seufzend, „verteidigten sich so die Kirchen. St. Sophia in Konstantinopel warf dreimal Mohammeds Halbmond ab und schüttelte ihre Kuppeln, die ihre Häupter sind. Guillaume von Paris, der Notre-Dame baute, war ein Hexenmeister.“
„Sollen wir denn demütig Reißaus nehmen“, sagte Clopin „und unsere Schwester da lassen, damit sie morgen die bekappten Wölfe hängen?“
„Und die Sakristei, wo Wagen voll Gold liegen“, fügte ein Gauner hinzu, dessen Namen wir leider nicht kennen.
„Mahoms Bart!“ rief Trouillefou. – „Versuchen wir’s noch einmal“, sagte jener Gauner.
Matthias Hungardi erhob den Kopf: „Durch das Tor können wir nicht eindringen. Wir müssen die schwache Seite der Rüstung jener alten Fee ausfindig machen, ein Loch, eine Hintertür, irgendein Panzergelenk.“ – „Ich kehre zurück! Wer folgt?“ sprach Clopin. „Aber wo ist der kleine Student Jehan, der ganz in Eisen steckte? – „Wahrscheinlich tot“, erwiderte jemand, „man hört sein Gelächter nicht mehr.“
Der König von Thunes runzelte die Brauen. „Sehr schlimm! Ein tapferes Herz schlug unter der Rüstung. Wo ist aber Meister Peter Gringoire?“ – „Kapitän Clopin“, antwortete Andry-le-Rouge, „er hat sich fortgeschlichen, als wir noch nicht am Pont-aux-Changeurs waren.“
Clopin stampfte mit dem Fuße. „Gottes Rachen! Er hat uns aufgehetzt und ein schönes Geschäft auf den Hals geladen! Der feige Schwätzer.“
„Kapitän Clopin“, rief Andry-le-Rouge, der in die Straße des Vorplatzes hinaufblickte, „dort kommt der Student.“
„Pluto sei gelobt“, sprach Clopin, „aber beim Teufel, was schleppt er hinter sich her?“
Jehan war es wirklich. Er lief so schnell, wie es seine schwere Rüstung und eine lange Leiter erlaubten, die er tapfer auf dem Pflaster schleppte.
„Sieg! Sieg! Te Deum!“ schrie der Student. „Hier ist die Leiter der Auslader von dem Hafen St. Landry.“
Clopin trat zu ihm heran. – „Kind, was willst du mit der Leiter anfangen?“ – „Gottes Horn! Da ist sie“, antwortete Jehan keuchend. „Ich wußte, wo sie war – im Wagenschuppen des Leutnants. – Ich kenne seine Tochter. – Sie glaubt, ich sei schön wie Kupido. – Mahoms Ostern! Da ist die Leiter. – Das Mädchen kam im Hemde, mir aufzuschließen.“ – „Ja“, sagte Clopin, „aber was willst du mit der Leiter?“
Jehan betrachtete ihn mit pfiffiger, schlauer Miene und klapperte mit den Fingern, wie mit Kastagnetten. In dem Augenblick war er erhaben. „Was ich tun will, erhabener König von Thunes? Siehst du über den drei Portalen die Reihe von Pinseln dort?“ – „Nun?“ –„Das ist die Galerie der Könige von Frankreich.“ – „Was geht das mich an?“ – „Warte doch! Am Ende der Galerie ist eine Tür, die nur mit einem Drücker geschlossen wird. Ich steige mit der Leiter hinauf und bin in der Kirche.“ – „Kind, laß mich zuerst hinaufsteigen.“ – „Nein, Kamerad. Die Leiter ist mein. Ihr könnt der Zweite sein.“ – „Beelzebub erwürge dich, ich will keinem nachstehen!“ – „So such dir eine andere Leiter!“
Jehan lief, die Leiter schleppend, über den Platz und rief: „Folgt mir, Jungens!“ Sogleich ward die Leiter aufgestellt und auf die Balustrade der unteren Galerie der Seitenportale gestützt. Die Masse der Gauner stürzte unter lautem Ruf heran, hinaufzusteigen. Jehan aber bestand auf seinem Recht und setzte zuerst den Fuß auf die Sprossen. Er stieg langsam hinan, denn die schwere Rüstung drückte ihn; mit der einen Hand hielt er sich an der Leiter, in der anderen hielt er die Armbrust. Ihm folgten die Landstreicher. Auf jeder Stufe stand seiner. Als man diese Linie geharnischter Reiter wogend im Dunkel sich erheben sah, hätte man wähnen können, eine beschuppte Schlange richte sich gegen die Kirche auf. Jehan, der pfeifend an der Spitze stand, machte die Täuschung vollständig. Der Student berührte endlich die Platte der Galerie, sprang unter dem Beifallklatschen des ganzen Landstreicherschwarms behend mit den Knien hinauf. Als Herr der Zitadelle stieß er ein Freudengeschrei aus, hielt aber plötzlich wie versteinert still. Er bemerkte Quasimodos funkelndes Auge hinter einer Königsstatue im Dunkel.
Bevor ein Zweiter auf der Galerie Fuß fassen konnte, sprang der furchtbare Bucklige zur Spitze der Leiter, ergriff, ohne ein Wort zu sagen, mit seinen gewaltigen Fäusten das Ende der beiden senkrechten Balken, hob diese in die Höhe und schüttelte einen Augenblick die von oben bis unten mit Stürmenden beladene schlanke Leiter unter dem Angstruf aller und warf plötzlich diesen Menschenbüschel mit übermenschlicher Kraft auf den Platz zurück. Die zurückgeschleuderte Leiter stand einen Augenblick senkrecht; dann beschrieb sie einen furchtbaren Bogen mit einem Radius von achtzig Fuß und stürzte, von Banditen überladen, schneller aufs Pflaster, als eine Zugbrücke niederfällt, deren Ketten zerrissen sind. Eine furchtbare Verwünschung ertönte, dann schwieg alles und einige unglückliche Verstümmelte krochen aus dem Totenhaufen hervor.
Ein Geschrei des Schmerzes und Zornes folgte bei den Stürmenden auf das erste Kriegsgeschrei. Quasimodo stützte die Ellenbogen auf die Balustrade und schaute unbeweglich zu. Er glich einem alten, langhaarigen König, der aus dem Fenster schaut.
Jehan Frollo befand sich in einer kritischen Lage. Er war in der Galerie mit dem furchtbaren Glöckner allein, von seinen Gefährten durch eine senkrechte Mauer von achtzig Fuß getrennt. Während Quasimodo mit der Leiter spielte, lief der Student zur Tür, die er für geöffnet hielt. Der Taube hatte sie aber geschlossen, als er auf die Galerie trat. Jehan hatte sich hinter einem König von Stein versteckt, wagte kaum zu atmen und heftete auf den furchtbaren Buckligen einen verstörten Blick wie jemand, der der Frau eines Menagerie-Aufsehers den Hof macht, eines Abends zum Stelldichein der Liebe sich zu begeben wähnt, aber im Heraufsteigen sich hinsichtlich der Mauer täuscht und sich plötzlich allein mit einem Eisbären sieht. Im ersten Augenblick bemerkte ihn der Taube nicht, endlich aber wandte er den Kopf und richtete sich plötzlich auf. Er sah den Studenten.
Jehan bereitete sich auf einen harten Angriff vor. Allein der Taube blieb unbeweglich, er stand allein dem Studenten, der ihm ins Gesicht sah, gegenüber.
„Ho! Ho!“ rief Jehan, „was siehst du mich mit deinem einzigen häßlichen Auge an?“ Und mit den Worten bereitete der Student mit tückischer Miene seine Armbrust.
„Quasimodo!“ rief er aus, „deinen Zunamen will ich ändern. Du sollst Blinder heißen.“
Der gefiederte Pfeil flog davon, pfiff und drang in den linken Arm des Buckligen. Quasimodo aber kümmerte sich um seine Wunde ebensowenig, als um einen Riß König Pharamonds. Er riß den Pfeil aus seinem Arm und zerbrach ihn ruhig auf seinem breiten Knie, dann ließ er die beiden Stücke zu Boden sinken. Allein Jehan hatte keine Zeit, zum zweiten Male zu schießen. Quasimodo atmete tief auf, nachdem er den Pfeil zerbrochen, und stürzte auf den Studenten, dessen Rüstung auf der Mauer plattgedrückt ward.
Da sah man im Halblicht, worin der Schein der Fackeln zitterte, eine furchtbare Tat. Quasimodo ergriff mit der linken Hand beide Arme Jehans, der sich nicht regte, denn er fühlte wohl, er sei verloren. Mit der Rechten riß der Taube ihm alle Stücke seiner Rüstung mit unheilvoller Langsamkeit nacheinander vom Leibe, den Degen, die Dolche, den Helm, den Harnisch, die Schienen. Quasimodo warf Stück für Stück der Eisenschale des Studenten ihm vor die Füße.
Als dieser sich entwaffnet, entkleidet, schwach und in den furchtbaren Händen Quasimodos sah, machte er keinen Versuch, mit dem Tauben zu reden, sondern lachte ihm frech ins Gesicht und sang mit der Sorglosigkeit eines Knaben von sechzehn Jahren das damals beliebte Volkslied:
Die Stadt Cambray, schön gekleidet,
Wird von Marafin ausgeweidet.
Er endete sein Lied nicht. Man sah, wie Quasimodo an der Brüstung der Galerie stand, den Studenten an den Füßen packte und ihn wie eine Schleuder in der Luft im Kreise schwang, dann sah man etwas hinabfallen, das an einem Schnörkel der Architektur hängen blieb. Es war ein toter Körper, der dort zerknickt, mit zerschmetterten Lenden und leerem Gehirn schwebte.
Ein Schrei des Schauders erhob sich unter den Landstreichern. „Rache!“ schrie Clopin. – „Nieder mit ihm!“ erwiderte die Menge. – „Sturm! Sturm!“ – Ein furchtbares Geheul erschallte, worin sich alle Sprachen, alle Akzente, alle Provinzialdialekte mischten. Der Tod des armen Studenten befeuerte die Menge mit glühender Wut. Sie empfand Scham und Zorn, durch einen Buckligen so lange in Schach gehalten zu sein. Die Wut fand Leitern, vervielfältigte die Fackeln, und nach einigen Minuten sah Quasimodo bestürzt, wie das furchtbare Gewimmel von allen Seiten zum Sturm hinankletterte. Die Stadt schien sich zu regen. Der Platz funkelte von tausend Fackeln. Die bis dahin im Dunkel verhüllte Szene der Verwirrung entzündete sich plötzlich im Feuerschein. Sturmglocken schallten in der Ferne. Die Landstreicher keuchten, heulten, fluchten und stiegen hinan. Quasimodo, kraftlos gegen so viele Feinde, zitterte für das Leben der Zigeunerin, als er die wütenden Fratzen der Galerie stets näher erblickte. Er flehte zum Himmel um ein Wunder und rang die Arme in Verzweiflung.
45. Ludwig XI. in der Bastille
Vielleicht hat der Leser noch nicht vergessen, daß Quasimodo, als er kurz vor dem Herannahen der Landstreicher Paris von der Turmspitze her besah, nur ein Licht erblickte, das ein Fenster im höchsten und düstersten Gebäude am Tore St. Antoine erhellte. Dies Gebäude war die Bastille, und das Licht rührte von der Wachskerze Ludwigs XI. her. Zwei Tage schon war König Ludwig in der Hauptstadt, die er aber in zwei Tagen schon wieder verlassen wollte. Seiner guten Stadt Paris stattete er immer nur kurze und seltene Besuche ab, weil er dort nicht genug Fußeisen, Galgen und schottische Bogenschützen in seiner Umgebung hatte. An diesem Tage wollte er in der Bastille schlafen. Sein großes Schlafgemach im Louvre mit seinen fünf Quadrat-Klaftern Umfang, mit seinem Bett von elf Fuß Breite und zwölf Fuß Länge, war ihm gar nicht behaglich. Der gute König mit bürgerlichen Neigungen zog seine Bastille vor mit einem Kämmerchen und Bettchen. Und dann war die Bastille ja auch bei weitem fester als der Louvre.
Dieses Kämmerchen, das der König in seinem berühmten Staatsgefängnisse sich vorbehalten hatte, war ziemlich breit und nahm das höchste Stockwerk eines Türmchens ein. Es war ein halbrunder Winkel, tapeziert mit glänzendem Strohgeflecht, mit Balken an der Decke, die mit Linien von vergoldetem Zinn beschlagen und deren Zwischenräume gefärbt waren; das Getäfel, mit zinnernen Rosetten durchsät, war aus schönem Holz und kunstvoll angestrichen. Im Zimmer befand sich nur ein Fenster, ein langer Spitzbogen mit eisernem Drahtgitter; die Fensterscheiben waren mit dem Wappen des Königs und der Königin bemalt. Nur ein Eingang, mit nach neuerem Geschmack gedrücktem Bogen, führte hinein. In diesem Zimmer fand man nichts als einen prächtigen Armstuhl, zum Zeichen, daß nur eine Person im Gemache das Recht besaß, sich zu setzen. Seitwärts vom Stuhle stand ein mit einem Teppich bedeckter Tisch. Auf dem Tisch stand ein Schreibzeug, daneben lagen einige Pergamente und ein Gebetbuch. Endlich stand im Hintergrunde ein einfaches Bett von gelbem Damast; das Zimmer war sehr dunkel, und nur ein Wachslicht mit zitterndem Schein stand auf dem Tisch, fünf Personen zu leuchten, die in der Kammer auf verschiedene Weise sich gruppierten.
Der erste, auf den das Licht fiel, war ein prächtig gekleideter Herr, in Wams und Hosen und Scharlach mit Silberstickerei und mit einem Überrock von Gold-Tuch. Dieser Mann trug im Gürtel einen prächtigen Dolch, dessen purpurner Griff in einem Helmschmuck ausgeschnitten und mit einer Grafenkrone gekrönt war. Sein Antlitz war unheilverkündend und stolz; den Kopf hielt er aufrecht. Beim ersten Blick erkannte man auf seinem Gesichte Anmaßung, beim zweiten List. Er stand entblößten Hauptes mit einer langen Papierrolle in der Hand hinter dem Armstuhl, auf dem ein ärmlich gekleideter Mann saß, einen alten, fettigen Hut von grobem Tuch mit einer runden Schnur von Bleifiguren auf dem Haupte. Er neigte den Kopf so tief auf die Brust, daß man von seinem Gesicht nichts sah als nur die Spitze einer sehr langen Nase. An der Magerkeit der gerunzelten Hand erkannte man den Greis. Dieser Mann war Ludwig XI.
In einiger Entfernung hinter beiden sprachen zwei nach flamländischer Mode gekleidete Männer mit leiser Stimme zusammen. Jeder Zuschauer bei Gringoires Mysterium hätte in ihnen die beiden flamländischen Gesandten, Guillaume Rym, den schlauen Ratsherrn von Gent, und Jacques Coppenole, den populären Strumpfmacher, wiedererkannt. Man erinnert sich, daß beide in die geheime Politik Ludwigs XI. eingeweiht waren. Endlich stand im Hintergrunde vor der Tür ein starker Mann mit untersetzten Gliedern, in kriegerischem Harnisch, im Oberkleid mit gesticktem Wappen. Sein viereckiges Gesicht mit hervorgedrängten Augen, mit ungeheurem Munde, niedriger Stirn, hatte etwas vom Hunde und vom Tiger. Alle standen entblößten Hauptes, mit Ausnahme des Königs. Der Herr neben dem König las ihm eine Art langer Rechnung vor, wobei Seine Majestät sehr aufmerksam zuzuhören schien. Die beiden Flamländer flüsterten.
„Gottes Kreuz!“ brummte Coppenole, „ich bin vom Stehen müde; ist denn hier kein Stuhl?“
Rym antwortete mit einem klugen Lächeln und mit Kopfschütteln.
„Gottes Kreuz!“ begann Coppenole aufs neue, unglücklich, so leise sprechen zu müssen, „ich habe große Lust, mich mit gekreuzten Beinen, als Strumpfmacher, auf den Fußboden zu setzen, wie ich’s in meiner Bude zu tun pflege.“
„Hütet Euch, Meister Jacques.“ – „Oh, Meister Guillaume, so darf man hier nur stehen?“ – „Ja, oder knien“ –
In dem Augenblick erhob sich die Stimme des Königs. Die beiden schwiegen.
„Fünfzig Sous für die Kleider Unserer Bedienten, zwölf Livres für die Mäntel der Schreiber Unserer Krone! Was ist das? Ihr werft das Geld zum Fenster hinaus! Seid Ihr verrückt, Olivier?“
Mit den Worten richtete der Greis sein Haupt auf. An seinem Halse sah man die Kette des Sankt Michael-Ordens funkeln. Das Licht beschien sein mageres und mürrisches Profil. Er riß dem andern das Schreiben aus der Hand.
„Ihr richtet Uns zugrunde“, sprach er, indem er mit den hohlen Augen das Heft durchlief. „Was soll das? Was brauchen Wir ein so verschwenderisches Haus! Zwei Kaplane mit zehn Livres jährlich! Mein Ritter der Küche mit sechzig Livres jährlich! Ein Spießdreher, ein Suppenkoch, ein Schleifer, ein Waffendiener, zwei Bettdiener mit zehn Livres monatlich und der Meister Unserer Hofhaltungskammer eintausendzweihundert Livres! Und der Kontrolleur fünfhundert! … Was weiß ich! Das ist ja Raserei! Das Gehalt Unsrer Bedienten plündert Frankreich rein aus! Ja, ja, Wir müssen Unser Silbergeschirr verkaufen, und nächstes Jahr, wenn Gott und Unsere Frau (hier nahm der König den Hut ab) Uns Leben schenken, trinken Wir Unsere Medizin aus zinnernem Topf.“
Bei den letzten Worten warf er einen Blick auf den silbernen Becher, der auf dem Tisch stand, hustete und fuhr fort: „Meister Olivier, die Fürsten, welche große Reiche regieren, die Könige und Kaiser dürfen keine Verschwendung an ihrem Hofe einreißen lassen. – Denn von da läuft das Feuer in die Provinzen. – Also, Meister Olivier, merk dir das. Unsere Ausgaben steigen mit jedem Jahr. Das mißfällt Uns sehr. Gottes Ostern! Bis 79 überstiegen sie nie sechsunddreißigtausend Livres, und 80 beliefen sie sich schon auf dreiundvierzigtausendsechshundertundneunzig Livres – die Summe weiß ich noch ganz genau – und 81 sechzigtausendsechshundertundachtzig Livres, und dieses Jahr, bei der Treue meines Leibes, werden sie achtzigtausend Livres betragen! Verdoppelt in vier Jahren! Ungeheuer!“
Er schwieg außer Atem, fing aber sogleich voll Ärger wieder an: „Alle Leute in meiner Umgebung fressen sich an meiner Magerkeit fett! Ihr saugt mir Taler aus allen Poren!“
Alle schwiegen. Des Königs Zorn der Art war man gewohnt. Man ließ ihn reden, soviel er wollte. Ludwig fuhr fort: „Auf die lateinische Bittschrift des französischen Adels sollten Wir, was sie die großen Kronämter nennen, wieder errichten! Oh, ihr Herren meint, Wir könnten kein König sein, zu regieren dapifero nullo, buticulario nullo!* Gottes Ostern! Euch will ich zeigen, ob Wir König sind!“
(
Hier lächelte er im Gefühl seiner Macht; sein Ärger ward besänftigt, und er wandte sich zu den Flamländern:
„Seht Ihr, Gevatter Guillaume, der Großkämmerer, der Großseneschall, der Großkellermeister, sind nicht soviel wert wie der unterste Bediente. – Merkt Euch das, Gevatter Coppenole. – Sie dienen zu gar nichts. Wenn sie so nutzlos um den König stehen, kommen sie mir vor wie die vier Evangelisten an der Uhr des Palais, die Philippe Brille aufgeputzt hat. Sie sind vergoldet, aber helfen nichts beim Stundenanzeigen, und die Uhr kann ohne sie fertig werden. – Olivier, lies weiter.“
Die mit diesem Namen bezeichnete Person nahm das Papier wieder zur Hand und las laut:
„Dem Adam Tenon, Kommis der Siegelbewahrung der Prévoté von Paris, für Silber, Gravur und Form genannter Siegel, die neu verfertigt sind, weil die früheren, durch Alter abgenutzt, nicht mehr zu gebrauchen waren, zwölf Livres.
Dem Guillaume Frère die Summe von vier Livres vier Sous für Mühe und Gehalt, weil er die Tauben in den Taubenhäusern des Hotel-des-Tournelles im Januar, Februar und März dieses Jahres fütterte und dazu sieben Scheffel Gerste hergab.
Einem Kapuziner, der einem Verbrecher die Beichte hörte, vier Sous.“
Der König hörte schweigend zu, hustete von Zeit zu Zeit, hielt dann den Becher an die Lippen und nahm einen Schluck Medizin, wobei er eine Fratze schnitt.
„In diesem Jahr sind beim Trompetenschall auf den Kreuzwegen von Paris sechsundfünfzig Ausrufe verkündigt – die Rechnung ist noch zu berichtigen.
Weil man an gewissen Orten, sowohl in Paris, als sonst in Frankreich, nach Geld gegraben, das dort versteckt sein sollte, aber nichts fand, fünfundvierzig Livres.“
„So“, sagte der König, „man gräbt einen Taler ein, um einen Sou auszugraben.“
„Für zwei neue Ärmel am alten Wams des Königs zwanzig Sous. – Für eine Büchse Fett, die Stiefel Sr. Majestät zu schmieren, fünfzehn Heller. – Für einen neuen Stall zur Wohnung der schwarzen Schweine des Königs dreißig Livres. – Für mehrere Verschläge, Gruben und Fallen, die Löwen in St. Paul einzuschließen, zweiundzwanzig Livres.“
„Die Bestien sind teuer“, sprach Ludwig XI. „Was tut’s. Das ist prächtiger, königlicher Aufwand und ich liebe diese großen schönen Löwen. Meister Guillaume, saht Ihr sie schon? Fürsten müssen wunderbare Tiere besitzen. Uns Königen müssen Hunde die Löwen und Katzen die Tiger sein. Das Großartige ziemt den Kronen. Wenn zur Zeit der Heiden das Volk den Kirchen hundert Stiere und hundert Schafe opferte, schenkten die Kaiser ihnen hundert Löwen und hundert Adler. Das war wild und schön. Die Könige von Frankreich umgaben stets ihren Thron mit solchem Gebrüll. Man muß mir aber doch Gerechtigkeit widerfahren lassen, ich gebe dafür weniger Geld aus als meine Ahnen und bin sehr bescheiden mit Löwen, Bären, Elefanten und Leoparden. – Weiter, Meister Olivier. Wir wollten Unsern lieben Flamländern das sagen.“
Guillaume Rym verbeugte sich tief, während Coppenole mit seiner mürrischen Miene wie einer der Bären aussah, von denen Se. Majestät sprach. Der König achtete nicht darauf. Er setzte seine Lippen an den Becher, spie aber das Getränk wieder aus mit den Worten: „Puh! Die bittere Medizin!“ Der Vorleser fuhr fort:
„Zur Ernährung eines Landstreichers, der seit sechs Monaten im kleinen Gefängnis der Schinderei eingeschlossen ist, bis man weiß, was man mit ihm beginnen soll, sechs Livres vier Sous.“
„Was!“ fiel der König ein. „Soll ich Leute ernähren, die gehängt werden müssen. Für die Nahrung, Gottes Ostern!, gebe ich keinen Heller mehr her. Olivier, besprecht die Sache mit dem Herrn von Estouteville und trefft noch heute abend die Anstalten zur Hochzeit des Galans mit dem Galgen. Fahrt fort.“
Olivier machte mit dem Daumennagel ein Zeichen beim Landstreicher und las weiter:
„Für Henriet Cousin, Henkermeister der Gerechtigkeit zu Paris, die Summe von sechzig Sous, die ihm vom Herrn Prévot zu Paris zuerkannt war, weil er ein großes Schwert gekauft hat, Personen hinzurichten und zu enthaupten, die von der Gerechtigkeit wegen Missetaten verurteilt sind, und weil er dies Schwert mit Scheide und Zubehör versah; gleicherweise das alte Schwert wieder auszubessern, das bei dem Vollstrecken der Gerechtigkeit an Herrn Ludwig von Luxemburg zersplittert und schartig geworden war, wie noch deutlicher erhellet aus …“
„Ah“, sprach der König und faßte die beiden Lehnen des Stuhles mit den Händen, „ich wußte wohl, daß ich zu irgendeinem Zweck in die Bastille gekommen war. Wartet, Meister Olivier, ich will den Käfig selbst sehen. Ihr könnt mir die Rechnung vorlesen, während ich ihn untersuche. Ihr Herren Flamländer, kommt mit mir, das ist merkwürdig anzusehen.“
Er stand auf, stützte sich auf den Arm seines Vorlesers, gab dem scheinbar Stummen, der an der Tür stand, ein Zeichen, ihm voranzugehen, den beiden Flamländern, ihm zu folgen, und verließ das Zimmer.
Die königliche Gesellschaft ergänzte sich an der Tür der Kammer mit Schwerbewaffneten und Pagen, die Fackeln trugen. Sie wandelte einige Zeitlang im Innern des düsteren Turmes, der bis in die Dicke der Mauern mit Gängen und Treppen durchbrochen war. Der Kapitän der Bastille ging voran und ließ die Pförtchen vor dem alten, gebückt hinschreitenden König aufschließen, der im Gehen fortwährend hustete.
An jedem Pförtchen mußten alle den Kopf neigen, mit Ausnahme des vom Alter gekrümmten Greises. „Hm!“ murmelte er zwischen dem Zahnfleisch, denn seine Zähne hatte er schon verloren, „wir sind schon bereit zum Tore des Grabes. Für niedrige Tür ein gebückter Mann.“ Endlich gelangten sie an ein letztes Pförtchen, das mit Schlössern so sehr versehen war, daß es nur in einer Viertelstunde aufgeschlossen werden konnte, und betraten einen hohen, gotischen Saal, in dessen Mitte man beim Fackelschein einen dicken, schweren Kubus aus Holz und Eisen erblickte. Das Innere war hohl. Dies war einer jener berühmten Käfige für Staatsgefangene, die man des Königs Töchterlein nannte. In seinen Wänden waren zwei oder drei kleine Fenster, aber mit dicken Eisenstangen so fest vergittert, daß man das Glas nicht sehen konnte. Die Tür war eine große Steinplatte wie bei Gräbern, eine Tür der Art, wie sie nur zum Eintritt dient.
Der König ging langsam um das kleine Gebäude herum und untersuchte es sorgfältig, während Olivier laut die Rechnung las: „Für einen neuen hölzernen Käfig von dicken Balken mit Einfassung und Sohlen, neun Fuß Länge, acht Fuß Breite, sieben Fuß Höhe, der in einer Kammer eines Turmes der Bastille St. Antoine aufgestellt ist und auf Befehl unseres Herrn, des Königs, einen Gefangenen enthält, der früher in einen alten, verfallenen Käfig gesperrt war. Sind an genanntem Käfig gebraucht: sechsundneunzig liegende, zweiundfünfzig stehende Bretter, zehn Balken von drei Klaftern …“
„Sehr schönes Eichenholz“, sprach der König, indem er mit der Faust an die Bretter klopfte.
„… Sind gebraucht zu dem Käfig“, fuhr der Vorleser fort, „neunundzwanzig Eisenklammern und Zubehör im Gewicht von dreitausendsiebenhundertfünfunddreißig Pfund …“
„Viel Eisen, um einen Leichten in Ruhe zu halten“, meinte der König.
„… Das Ganze beträgt dreihundertsiebzehn Livres fünf Sous sieben Heller.“
„Gottes Ostern!“ rief der König.
Bei diesem Lieblingschwur Ludwigs XI. schien im Innern des Käfigs jemand zu erwachen. Man vernahm das Klirren der über den Boden geschleiften Kette; und es erhob sich eine schwache Stimme, die aus dem Grabe zu kommen schien.
„Sire! Sire! Gnade! Gnade!“
Man konnte den Redenden nicht sehen.
„Dreihundertsiebzehn Livres fünf Sous sieben Heller!“ sagte der König noch einmal.
Die klagende aus dem Käfig erschallende Stimme erstarrte alle Anwesenden, selbst den Meister Olivier. Nur der König sah aus, als hätte er sie nicht gehört. Auf seinen Befehl las Meister Olivier weiter, und Se. Majestät fuhr fort, den Käfig kalt und ruhig zu untersuchen.
„… Außerdem erhielt ein Maurer, der die Löcher für die Fenstergitter und den Fußboden der Kammer, wo der Käfig steht, machte, weil der alte Fußboden den Käfig nicht hätte tragen können wegen seiner Schwere, siebenundzwanzig Livres vierzehn Sous …“
Die Stimme seufzte tief: „Gnade, Sire! Ich schwöre es, nicht ich, nur der Herr Kardinal von Angers beging den Verrat!“
„Der Maurer ist unverschämt, so viel zu fordern“, meinte der König. „Weiter!“
„… Für den Zimmermann, für Bretter, Fenster, Nachtstuhl und andere Dinge zwanzig Livres zwei Sous.“
Die Stimme fuhr fort:
„Ach, Sire! Ihr hört mich nicht! Nicht ich schrieb dem Herrn von Guyenne die Sache, sondern der Herr Kardinal Balue.“
„Der Tischler ist teuer“, bemerkte der König. „Jetzt bist du doch fertig?“
„Nein, Sire … Dem Glaser für die Fenster jener Kammer sechsundvierzig Sous acht Heller.“
„Gnade, Sire! Oh, gewiß war es genug, daß man mein Vermögen meinen Richtern, mein Silbergerät dem Herrn von Torcy, meine Bibliothek dem Meister Pierre Doriolle, meine Tapeten dem Gouverneur des Roussillon schenkte. Ich bin unschuldig, schon vierzehn Jahre lang zittere ich vor Kälte im eisernen Käfig. Gnade, Sire; Gott wird es Euch lohnen!“
„Meister Olivier, wieviel beträgt das Ganze?“ – „Dreihundertsiebenundsechzig Livres acht Sous drei Heller.“ –
„Bei Unserer Frau, das ist ein teurer Käfig!“
Mit diesen Worten riß die Majestät dem Meister Olivier das Papier aus der Hand und prüfte, an den Fingern zählend, die Rechnung und den Käfig. Man hörte, wie der Gefangene schluchzte. Ein düsterer Eindruck herrschte bei allen, und alle Gesichter betrachteten einander erblassend.
„Vierzehn Jahre, Sire, vierzehn Jahre! Seit April 1469. Heilige Mutter Gottes! Sire, hört mich! Ihr erfreuet Euch unterdes der Sonnenwärme! Ich Unglücklicher! Werde ich nie den Tag sehen? Sire, seid barmherzig! Erbarmen ist königliche Tugend, woran der Strom des Zornes sich bricht. Glaubt Eure Majestät, es bedeute für einen König das Gefühl höchster Zufriedenheit auf dem Sterbebette, wenn er keine Beleidigung ungestraft ließ? Oh Sire, ich habe Euch ja auch nicht verraten! Es war der Herr von Angers! Am Fuße schleppe ich eine Kette mit einer dicken Kugel. Die ist schwerer, als recht ist! Ach, Sire, Mitleid! Gnade!“
Der König richtete den Kopf auf: „Olivier, ich sehe, daß man mir die Tonne Kalk zu zwanzig Sous angerechnet hat, und ist doch nur zwölf wert. Ihr müßt die Rechnung hierin abändern.“
Er wandte dem Käfig den Rücken und schickte sich an, die Kammer zu verlassen. Der unglückliche Gefangene schloß aus der Entfernung der Fackeln und dem Geräusch, der König gehe fort. „Sire! Sire!“ rief er voll Verzweiflung. – Die Tür schloß sich. – Schweigend stieg der König die Treppe zu seiner Kammer hinan; sein Gefolge war erschreckt durch den Jammer des Verurteilten. Plötzlich wandte sich Seine Majestät zum Gouverneur der Bastille mit den Worten: „Sagt doch, war jemand in dem Käfig?“ – „Sicherlich, Sire!“ antwortete dieser, über die Frage erstaunt. – „Wer?“ – „Der Herr Bischof von Verdun.“
Der König wußte das besser als jeder andere. So aber war einmal seine Art.
„Ah“, sprach er mit einem so naiven Ausdruck im Gesicht, als falle ihm das erst jetzt ein; „Ah so! Guillaume von Harancourt, Freund des Herrn Kardinals Balue. Ein guter Tropf von Bischof!“
Während der Abwesenheit des Königs hatte man einige Depeschen auf den Tisch gelegt. Ludwig erbrach die Siegel selbst und las eine Depesche nach der andern, gab Oliver, der bei ihm das Amt eines Ministers zu vertreten schien, ein Zeichen und diktierte ihm leise die Antworten, die dieser, vor dem Tisch kniend, in sehr unbequemer Stellung niederschrieb.
Guillaume Rym beobachtete alles. Der König aber sprach so leise, daß die Flamländer nichts hören konnten als nur einige vereinzelte und kaum verständliche Sätze: „… Um die fruchtbaren Gegenden durch Handel, die unfruchtbaren durch Fabriken zu bereichern … den Herrn Engländern unsere vier Bombarden zu zeigen … Die Artillerie ist Ursache, daß der Krieg gegenwärtig mit größerer Kunst geführt wird … Unserm lieben Herrn Bressuire … Die Armeen können ohne Abgaben nicht erhalten werden“, und so weiter.
Einmal erhob er die Stimme: „Gottes Ostern! Der Herr König von Sizilien siegelt seine Briefe mit gelbem Wachs, wie der König von Frankreich. Vielleicht haben Wir unrecht, ihm dies zu erlauben. Die Größe der Häuser wird durch die Unverletzlichkeit der Vorrechte erhalten. Merke das an, Gevatter Olivier.“
Ein andermal: „Oh, oh! Der dicke Packen! Was will denn Unser Bruder, der Kaiser? Wahrhaftig! Das heilige Deutsche Reich ist so groß und mächtig, daß man es kaum glauben kann. – Wir vergessen aber das alte Sprichwort nicht: Die schönste Grafschaft ist Flandern, das schönste Herzogtum Mailand, das schönste Königreich Frankreich. Nicht wahr, ihr Herren Flamländer?“
Diesmal verneigte sich Coppenole mit Guillaume Rym. Der Patriotismus des Strumpfwirkers war geschmeichelt. Eine letzte Depesche überzog Ludwigs Stirn mit Runzeln. „Was ist das?“ rief er zornig. „Klagen und Beschwerden über Unsere Garnisonen in der Picardie. Olivier, schreibt schnell dem Marschall von Rouault: daß die Diziplin nachläßt – daß die Ordonnanzgendarmen, die Bannerritter, die Freischützen, die Schweizer den Einwohnern viel Böses zufügen – daß der Kriegsmann sich nicht mit der Nahrung begnügt, die er im Hause der Bauern findet, und sie mit Stock- oder Lanzenschlägen zwingt, in die Städte zu gehen, um Fische, Gewürz und andere Gegenstände der Ausschweifung zu kaufen, – daß der König das erfahren hat, – daß Wir Unser Volk vor Plünderung, Raub und Unziemlichkeiten bewahren wollen, – daß es uns gar nicht genehm ist, wenn Minstrels, Barbiere, Kriegsknechte sich wie Prinzen mit Samt, Goldtuch und Ringen schmücken, – daß solche Eitelkeit Gott mißfällt, – daß Wir, obgleich Wir von Adel sind, Uns mit einem Wams von Tuch zu sechzehn Sous die Elle begnügen. Daß die Troßbuben da sich auch dazu herablassen können – befehlt und gebietet – Herrn Rouault, Unserm lieben Getreuen. – Gut.“
Er diktierte den Brief mit abgebrochener, lauter Stimme. Im Augenblick, da er fertig war, öffnete sich die Tür, und eine sechste Person stürzte verstört ins Zimmer mit dem Ausruf: „Sire, Sire, das Volk von Paris ist in Aufruhr!“
Die ernste Gestalt Ludwigs zog sich zusammen; jedoch die bei ihm sichtbare Aufregung ging wie ein Blitz vorüber. Er sagte mit seinem gewöhnlichen, ruhigen Ernst: „Gevatter Jacques, Ihr tretet etwas unhöflich ein!“ – „Sire, Sire, ein Aufruhr!“ rief Gevatter Jacques außer Atem.
Der König stand auf, packte ihn hart am Arm und sagte ihm mit unterdrückter Wut und einem Seitenblick auf die Flamländer ins Ohr: „Schweig oder sprich leise.“
Der neue Ankömmling schien sein Versehen zu begreifen und gab dem König einen hitzigen Bericht, den dieser ruhig anhörte. Kaum hatte er ihn vernommen, als er laut auflachte: „Wahrhaftig, Gevatter Coictier, was schwatzet Ihr so leise? Die heilige Jungfrau weiß, daß Wir vor Unsern lieben Freunden, den Flamländern, nichts verbergen.“ – „Aber Sire …“ – „Sprecht laut!“ Der Gevatter Coictier verstummte vor Erstaunen. „Sprecht“, begann der König aufs neue. „Sprecht doch, Herr! In Unsrer guten Stadt Paris ist ein Aufruhr der Bewohner?“ – „Ja, Sire.“ – „Der, wie Ihr sagt, gegen den Herrn Bailli des Justizpalastes gerichtet ist?“ – „Allerdings, so scheint es“, sprach der Gevatter, welcher noch immer stotterte, ganz erstaunt über die plötzliche, unerklärliche Veränderung in der Stimme des Königs.
Ludwig XI. begann aufs neue: „Wo begegnete die Wache dem Zusammenlauf?“ – „Er kam von dem großen Landstreicherquartier und ging zum Pont-aux-Changeurs. Ich begegnete dem Schwarm, als ich hierher kam auf Befehl Eurer Majestät. Ich hörte, wie einige riefen: ‚Nieder mit dem Bailli des Palais!‘ “ – „Und welche Beschwerden führten sie über den Bailli?“ – „Ach!“ sagte Gevatter Jacques, „er sei ihr Gerichtsherr.“ – „Wahrhaftig!“ – „Ja, Sire, es sind die Spitzbuben des Hofes der Wunder. Schon lange beklagen sie sich über den Bailli, dessen Vasallen sie sind. Sie wollen ihn weder als Gerichts- noch als Lehensherrn anerkennen.“
„Ah so!“ sagte der König mit einem Lächeln der Freude, das er vergeblich zu unterdrücken suchte.
„In allen ihren Bittschriften an das Parlament behaupten sie, nur zwei Herren zu haben, Eure Majestät und ihren Gott, der, wie ich glaube, der Teufel ist.“
„Ei! Ei!“ rief der König, rieb sich die Hände und lachte innerlich, so daß das ganze Gesicht vor Freude strahlte. Er konnte diese nicht verbergen, ob er sich gleich zu fassen suchte. Niemand konnte seine Stimmung begreifen, nicht einmal Meister Olivier. Einen Augenblick schwieg der König mit nachsinnender, aber zufriedener Miene.
„Sind sie in starker Zahl?“ fragte er plötzlich. – „Ja, gewiß“, antwortete Gevatter Jacques. – „Wie viel?“ – „Wenigstens sechstausend.“ – Der König konnte den Ausruf: „Sehr gut!“ nicht unterdrücken. „Sind sie bewaffnet?“ – „Mit Sicheln, Piken, Hakenbüchsen, Schaufeln, allen Arten gewaltiger Waffen.“
Der König schien sich nicht im geringsten über alle diese Berichte zu beunruhigen. Gevatter Jacques glaubte hinzufügen zu müssen: „Wenn Eure Majestät dem Bailli nicht schnelle Hilfe sendet, ist er verloren.“
„Ich will ihm Hilfe senden“, sprach der König mit verstelltem Ernst. „Sehr gut! Oh gewiß werden Wir ihm Hilfe senden. Der Herr Bailli ist Unser Freund. Sechstausend entschlossene, kecke Schelme! Welche Frechheit! Ja, ja, Wir sind sehr zornig, haben aber heute nacht wenig Truppen in der Nähe. Morgen früh ist noch immer Zeit.“
Gevatter Jacques rief: „Sogleich, sogleich, Sire! Morgen früh kann das Palais zwanzigmal geplündert, das Herrenrecht geschändet, der Bailli gehängt sein. Bei Gott, Sire, schickt noch heute nacht.“
Der König sah ihm starr ins Gesicht. „Ich sagte Euch, morgen früh!“ Der Blick Ludwigs war von der Art, daß man darauf nicht zum zweitenmal erwiderte.
Nach einer Pause erhob der König wieder die Stimme: „Gevatter Jacques, Ihr müßt das wissen, wie weit erstreckt sich … erstreckt sich die Feudalgerichtsbarkeit des Bailli?“ – „Sire, der Bailli hat die Straße de la Calandre bis zur Herberie, den Platz St. Michel, die sogenannten kleinen Mauern neben der Kirche, den Hof der Wunder, das Krankenhaus, genannt das Weichbild, und die Straße, die von da nach dem Tore St. Jacques führt. Von allen diesen Orten ist er Lehnsherr und besitzt hohe, mittlere und niedere Gerichtsbarkeit.“ – „Ja, ja“, sagte der König und kratzte sich am linken Ohr, „das ist ein schöner Zipfel Unserer Stadt. Ha, der Herr Bailli war dort König!“ Dann fuhr er nachsinnend fort, als spräche er mit sich selbst: „Sehr schön, Herr Bailli! Ihr hieltet ein artiges Stück von Unserm Paris zwischen den Zähnen.“
Plötzlich brach er aus: „Gottes Ostern! Wer sind die Leute, die Gerichtsherrn und Gebieter in Unserm Reiche sich zu nennen erfrechen? Die ihren Zoll auf jedem Felde erheben? Die ihre Gerechtigkeit und ihren Henker auf jedem Kreuzwege haben? Wie der Grieche an so viele Götter glaubte, wie er Quellen schaute, der Perser, wie er Sterne sah, glaubt der Franzose an so viele Könige, wie er Galgen sieht. Bei Gott! Das taugt nichts und mißfällt Uns höchlichst. Ich möchte wissen, ob es durch Gottes Gnade einen anderen Gerichtsherrn als den König, ein anderes Gericht als Unser Parlament, einen andern Herrscher in Unserm Reiche als Uns gibt? Bei meiner Seele! Der Tag muß kommen, wo es in Frankreich nur einen Herrn, einen Richter, einen Henker gibt, wie es im Himmel nur einen Gott gibt.“
Er nahm seine Mütze ab und fuhr fort, stets nachsinnend, wie ein Jäger, der seine Meute hetzt und losläßt: „Bravo, mein Volk! Auf! Zerbrich die falschen Götzen! Auf! Auf! Plündere, packe, hänge sie! Ah, ihr Herren, ihr möchtet Könige sein. Auf, mein Volk!“
Hier aber brach er plötzlich ab, biß sich auf die Lippen, als wolle er seine entschlüpften Gedanken wieder einholen, richtete einen durchdringenden Blick auf die fünf Personen, nahm seinen Hut in die Hände, besah ihn und sagte: „Oh, ich würde dich verbrennen, wüßtest du, was in meinem Kopfe vorgeht.“
Dann warf er wieder um sich den aufmerksamen, unruhigen Blick des Fuchses, der vorsichtig in seine Höhle zurückkehrt. „Was tut’s? Dem Herrn Bailli eilen Wir zu Hilfe. Unglücklicherweise haben Wir gegen so viel Volk nur wenig Truppen bei der Hand und müssen bis morgen warten. Dann soll die Ruhe in der Altstadt wiederhergestellt und sollen alle Gefangenen gehängt werden.“
„Sire“, sprach Gevatter Coictier, „ich habe in der ersten Bestürzung vergessen, daß die Wache zwei Nachzügler von der Bande aufgegriffen hat. Will sie Eure Majestät sehen, so sind sie da.“
„Ob ich sie sehen will!“ rief der König. „Gottes Ostern! Wie kannst du so etwas vergessen! Olivier, laufe schnell hin, sie zu holen.“
Meister Olivier ging hinaus, kehrte aber sogleich mit zwei von Ordonnanzhäschern umringten Gefangenen zurück. Der eine hatte ein blödsinniges, breites Gesicht. Erstaunen und Trunkenheit lag in seinem Ausdruck. Er war in Lumpen gekleidet, beugte das Knie und schleppte den Fuß beim Gehen. Der andere war eine dem Leser schon bekannte, blase und lächelnde Gestalt.
Der König sah beide an, ohne ein Wort zu reden. Dann fuhr er plötzlich den ersteren an: „Dein Name?“ – „Gieffroi Pincebourde.“ – „Stand?“ – „Landstreicher.“ – „Was wolltest du bei dem verdammten Aufruhr?“ Der Landstreicher betrachtete den König mit stumpfem Gesicht, indem er seine Arme schaukelte. Er war ein unvollkommen gebildeter Kopf, in dem Verstand sich ebenso unbehaglich fühlte, wie ein Licht unter einem Löschhütchen.
„Ich weiß nicht“, sagte er, „weil die andern gingen, ging ich mit.“ – „Wolltet ihr nicht Euern Herrn, den Bailli des Palais, aufrührerisch plündern?“ – „Ich weiß weiter nichts, als daß man etwas bei jemandem holen wollte.“
Ein Soldat zeigte dem König ein Gartenmesser, das man dem Landstreicher genommen hatte. „Erkennst du die Waffe?“ fragte der König. – „Ja, es ist mein Gartenmesser. Ich bin Winzer.“ – „Erkennst du diesen Menschen als deinen Gefährten?“ (Bei den Worten zeigte der König auf Gringoire.) – „Nein.“ – „Genug!“
Hierauf gab der König der schweigenden, regungslosen Person an der Tür, die wir dem Leser schon angedeutet haben, ein Zeichen: „Gevatter Tristan, ein Mann für Euch.“
Tristan l’Hermite verneigte sich, gab mit leiser Stimme zwei Häschern einen Befehl, und der arme Landstreicher wurde abgeführt.
Jetzt trat der König zum zweiten Gefangenen, dem der Angstschweiß von der Stirne lief. „Dein Name?“ – „Peter Gringoire.“ – „Dein Stand?“ – „Philosoph, Sire.“ – „Wie wagst du, Schelm, Unsern Freund, den Herrn Bailli des Palais, anzugreifen, und was sagst du von diesem Aufruhr?“ – „Sire, ich war nicht dabei.“ – „Strohkopf! Bist du nicht von der Wache in schlechter Gesellschaft aufgegriffen worden?“ – „Sire, aus Versehen. Es ist Fügung des Schicksals. Ich dichte Tragödien. Sire, ich flehe zu Eurer Majestät, mich anzuhören. Ich bin Dichter. Leute dieses Standes gehen aus Schwermut des Nachts spazieren. Heute abend kam ich zufällig dort vorbei, man verhaftete mich mit Unrecht. Ich bin schuldlos an diesem bürgerlichen Sturm. Eure Majestät sah, daß mich der Landstreicher nicht erkannte. Ich beschwöre Eure Majestät …“
„Schweig“, sagte der König zwischen zwei Zügen aus seinem Becher, „du sprengst mir den Kopf.“
Tristan l’Hermite trat heran, zeigte mit dem Finger auf Gringoire und fragte: „Sire, darf ich auch den hängen lassen?“ Dies war das erste Wort, das er sprach. – „Nun“, sagte nachlässig der König, „ich sehe da kein Hindernis.“ – „Aber ich“, sprach Gringoire.
In dem Augenblick ward unser Philosoph grüner als eine Olive. An der kalten und gleichgültigen Miene des Königs bemerkte er, seine einzige Rettung liege in etwas sehr Pathetischem. Er stürzte dem König zu Füßen und rief mit den Gebärden der Verzweiflung:
„Sire, Eure Majestät lasse sich herab, mich zu hören. Sire, schleudert Euren Donner nicht gegen ein so kleines Geschöpf, wie ich bin. Gottes Blitz zerschmettert keinen Lattich. Sire, Ihr seid ein erhabener, mächtiger Monarch. Sire, habt Mitleiden mit einem armen, ehrlichen Mann, der einen Aufruhr ebensowenig anzuschüren vermag, wie eine Eisscholle dem Steine Funken entlocken kann. Gnädiger Sire, Gutmütigkeit ist die Tugend der Löwen und der Könige! Ach, die Strenge erbittert nur die Gemüter, der ungestüme Drang des Windstoßes ist nur Ursache, daß man den Mantel für den Augenblick ablegt; die Sonne aber, die allmählich wirkt, erhitzt ihn so, daß man sich bis aufs Hemd entkleidet. Sire, Ihr seid die Sonne! Mein hoher Gebieter und Herr, ich versichere Euch, ich bin kein liederlicher, diebischer Landstreichergeselle! Aufruhr und Raub gehören nicht zum Gefolge Apollos. Ich bin ein treuer Vasall Eurer Majestät. Die Eifersucht des Mannes hinsichtlich seiner Frau, die ängstliche Besorgnis eines Sohnes hinsichtlich der Liebe seines Vaters muß ein guter Vasall für den Ruhm seines Königs hegen; er muß aus Eifer für des Königs Haus, für das Wachsen seiner Macht sich ausdörren. Jede andere Leidenschaft, die ihn hinreißen könnte, wäre Wahnsinn. Dies sind meine Staatsgrundsätze, Sire! Wenn auch mein Wams an den Ärmeln abgeschabt ist, haltet mich nicht für einen Aufrührer und Dieb. Wenn Ihr mir Gnade schenkt, will ich Tag und Nacht auf den Knien für Euch beten. Ach! Ich bin nicht sehr reich, das ist wohl wahr. Ich bin selbst ein wenig arm, aber darum noch nicht lasterhaft. Meine Schuld ist’s nicht. Jeder weiß, daß aus den schönsten Wissenschaften keine bedeutenden Reichtümer gepreßt werden, und daß Leute, die die besten Bücher schreiben, des Winters nicht immer warmes Feuer haben. Man hat vierzig sehr schöne Sprichwörter über den durchlöcherten Mantel der Philosophen. Oh Sire, Barmherzigkeit trägt die Fackel allen anderen Tugenden voran. Ohne sie sind Menschen Blinde, die Gott suchend im Dunkeln tappen. Gnade ist dasselbe wie Barmherzigkeit und erschafft die Liebe der Untertanen, die für den Leib des Fürsten die sicherste Wache bleibt. Was schadet’s Euch, Majestät, deren Antlitz blendet, ob ein armer Mensch mehr auf der Erde lebt? Ein armer, unschuldiger Philosoph, der mit leerer Hosentasche, worüber sein Bauch lärmt, im Dunkel des Elends watet. Übrigens, Sire, bin ich ein Gelehrter, und die großen Könige halten den Schutz der Wissenschaften für eine Perle ihrer Krone. Nun ist es doch eine unzweckmäßige Art, die Wissenschaften zu beschützen, wenn man die Gelehrten hängt. Welch ein Flecken für Alexander, hätte er Aristoteles aufhängen lassen! Sire, ich dichtete ein sehr schönes Hochzeitsgedicht für die Prinzessin von Flandern und den gnädigen Herrn Dauphin. Das ist doch kein Feuerbrand, Rebellion anzuschüren. Eure Majestät sieht, ich bin kein Abc-Schütz, habe studiert und besitze viel natürliche Beredsamkeit. Gnade, Sire! Ihr begeht durch Eure Barmherzigkeit eine galante Handlung gegen Unsere Frau, und ich schwöre Euch, mich erschreckt der Gedanke, am Galgen zu baumeln.“
Als er die Rede geendet, küßte Gringoire verzweifelnd die Pantoffeln des Königs, und Guillaume Rym sagte leise zu Coppenole: „Er hat recht, sich auf dem Boden hinzuschleppen. Den Königen geht’s wie dem Jupiter von Kreta. Sie haben ihre Ohren nur an den Füßen.“ Der Strumpfwirker, ohne auf den Jupiter von Kreta acht zu geben, erwiderte mit schwerfälligem Lächeln, indem er Gringoire ansah: „Ja, ja, ich glaube den Kanzler Hugonet zu hören, wie er mich um Gnade anflehte.“
Als Gringoire endlich außer Atem inne hielt, erhob er zitternd sein Haupt zum König, der mit dem Nagel einen Flecken seiner Beinkleider am Knie abkratzte, dann nahm die Majestät einen Schluck Medizin. Übrigens sprach sie kein Wort, und dies Schweigen quälte Gringoire. Endlich sah ihn der König an mit den Worten: „Du furchtbarer Schreier!“ Dann wandte er sich zu Tristan l’Hermite: „Bah! Laß ihn laufen!“
Vor Freude erschrocken, fiel Gringoire auf den Rücken.
„Soll ich ihn laufen lassen?“ fragte Tristan knurrend. „Will Eure Majestät nicht, daß man ihn ein wenig in den Käfig sperrt?“
„Gevatter“, antwortete Ludwig XI., „glaubst du, daß Wir Käfige zu dreihundertsiebenundsechzig Livres acht Sous drei Heller für solche Vögel machen lassen? Laß den Strohkopf sogleich los (Ludwig XI. gebrauchte das Wort Strohkopf, das mit Gottes Ostern den Grundstock seines Humors bildete), und gib ihm einige Rippenstöße mit auf den Weg.“
„Oh“, rief Gringoire, „welch ein großer König!“ und aus Furcht vor einem Gegenbefehl stürzte er sich schnell zur Tür, die Tristan ihm ziemlich verdrießlich öffnete. Die Soldaten ging zugleich mit ihm fort und stießen ihn mit Fauststößen vor sich her, was Gringoire als ein wahrer stoischer Philosoph ertrug. Die gute Laune des Königs drang in allem durch, seitdem der Aufruhr gegen den Bailli ihm angezeigt war. Diese ungewöhnliche Milde war ein sehr bedeutsames Zeichen. Tristan l'Hermite hatte das knurrige Gesicht einer Dogge, der man einen Knochen zeigt, aber nicht gibt. Der König trommelte vergnügt auf den Armlehnen seines Sessels den Marsch Pont-Audemer mit den Fingern. Dieser Fürst wußte sich gewiß zu verstellen, allein Schmerz und Ärger konnte er besser verstecken als Freude. Dergleichen Äußerungen der Freude bei guten Nachrichten gingen oft sogar zu weit; z. B. beim Tode Karls des Kühnen weihte er dem heiligen Martin von Tours ein silbernes Geländer, und bei seiner Thronbesteigung vergaß er, das Begräbnis seines Vaters zu befehlen.
„He, Sire“, rief plötzlich Jacques Coictier, „was ist aus dem plötzlichen Krankheitsanfall geworden, weshalb Eure Majestät mich rufen ließ.“
„Oh, Gevatter“, sprach der König, „ich bin sehr krank. Mir pfeift es in den Ohren und es kommt mir vor, als kratzten glühende Harken in der Brust.“
Coictier ergriff des Königs Hand und befühlte ihm den Puls mit gelehrter Miene.
„Seht, Coppenole“, sprach Rym leise, „da steht er zwischen Coictier und Tristan. Für sich hält er den Arzt, für andere den Henker.“
Coictiers Ausdruck ward immer unruhiger, während er den Puls befühlte. Ludwig XI. betrachtete ihn mit einiger Ängstlichkeit. Coictier ward immer düsterer. Der gute Mann hatte nämlich keine andere Meierei als das Übelbefinden des Königs, das er denn so gut wie möglich ausbeutete. „Oh, oh“, murmelte er endlich, „das ist gefährlich!“ – „Nicht wahr?“ sprach der König sehr unruhig. – „Pulsus creber, anhelans, crepians, irregalis“, fuhr der Arzt fort. – „Gottes Ostern!“ – „Das Übel kann in drei Tagen seinen Mann töten.“ – „Bei Unserer Frau! Das Mittel, Gevatter?“ – „Sire, ich sinne darüber nach.“
Er ließ Ludwig XI. die Zunge herausstrecken, richtete den Kopf auf, schnitt ein ernstes Gesicht und sagte mitten in dieser Ziererei: „Wahrhaftig, Sire, ich muß Euch sagen, die Stelle eines Einnehmers bei den Regalien ist erledigt, und ich habe einen Neffen.“ –
„Ja, ja, dein Neffe soll die Stelle haben, aber zieh mir das Feuer aus der Brust.“ – „Weil Eure Majestät so gnädig ist, wird sie mich auch wohl ein wenig unterstützen wegen meines Baues in der Rue St. André des Arcs.“
„Was?“ rief der König aus.
„Ich bin mit meinem Geld am Ende“, fuhr der Doktor fort, „und es wäre wirklich schade, erhielte mein Haus kein Dach; nicht wegen des Hauses, denn das ist einfach-bürgerlich, sondern wegen der Gemälde Jehan Fourbaults, die das Täfelwerk schmücken. Dort ist unter andern eine Diana, die in der Luft schwebt, so schön zart, ungezwungen, mit schönem Hauptschmuck und dem Halbmond, mit so weißem Fleisch, daß alle, welche die Gestalt zu aufmerksam betrachten, in Versuchung geführt werden. Ferner eine andere sehr schöne Göttin, die Ceres. Sie sitzt auf Korngarben und ist eine der unschuldigsten, vollkommensten Schönheiten, die je der Pinsel schuf.“
„Du Henker!“ brummte Ludwig, „wo soll das hinaus?“ – „Ich muß für diese Gemälde ein Dach haben, und obgleich das sehr unbedeutend ist, habe ich kein Geld mehr.“ – „Wieviel kostet dein Dach?“ – „Höchstens zweitausend Livres; ein Kupferdach mit Vergoldung.“ – „Oh du Mörder!“ rief der König aus; „du ziehst mir keinen Zahn aus, der nicht ein Diamant wäre.“ – „Soll ich mein Dach haben?“ – „Ja, und geh zum Teufel, aber erst kuriere mich!“
Jacques Coictier verneigte sich tief und sprach: „Sire, ein zurücktreibendes Mittel wird Euch retten. Wir legen Euch auf die Schenkel das große Verteilungsmittel bestehend aus Wachspflaster, armenischen Bolus, Eiweiß, Öl und Essig. Mit dem Trank fahrt fort, und ich stehe für Eure Majestät ein.“
Eine brennende Kerze lockt mehr als eine Fliege herbei. Meister Olivier, da er den König so freigebig sah, hielt den Augenblick für güngstig und trat heran: „Sire …“ – „Was? Willst du auch etwas haben?“ – „Sire, Eure Majestät weiß, Meister Simon Radin ist gestorben.“ – „Nun?“ – „Er war Rat des Königs im Justizschatze.“ – „Nun?“ – „Sire, seine Stelle ist erledigt.“
Bei diesen Worten vertauschte Meister Olivier den hochmütigen Ausdruck seines Gesichts mit dem demütigen. Bekanntlich ist dies der einzige Wechsel, den die Gestalt eines Höflings zeigt. Der König sah ihm starr ins Gesicht und sprach trocken: „Ich verstehe Euch!“ – Dann begann er aufs neue nach einer Pause: „Meister Olivier, der Marschall von Boucicaut sagte: ‚Der König ist Schenkgeber, wie das Meer Fischgeber.‘ Ich sehe, Ihr habt auch die Meinung des Herrn von Boucicaut angenommen. Jetzt hört mich an. Wir haben ein gut Gedächtnis. 1468 machten Wir Euch zum Kammerherrn; 69 zum Wächter des Schlosses an der Brücke St. Cloud. Im November 73 ernannten Wir Euch zum Hüter des Waldes von Vincennes; 75 zum Richter des Forstes von Rouvraylez-St.-Cloud; 78 übertrugen Wir Euch gnädigst durch Patentbriefe mit doppeltem Siegel von grünem Wachs eine Rente von zehn Livres für Euch und Eure Frau, die Ihr von der Schule St. Germain auf dem Platz aux Marchands erhebt; 79 machten Wir Euch zum Forstrichter des Waldes von Senart anstatt des armen Teufels Jehan Daiz; dann zum Hauptmann des Schlosses Loches; dann zum Gouverneur von St. Quentin; dann zum Hauptmann der Brücke von Meulan, von der Ihr den Grafentitel führt. Von den fünf Sous, die als Geldstrafe ein Barbier zahlt, der an Festtagen rasiert, bekommt Ihr drei Sous und ich nur zwei. Auch waren Wir so gütig, Euren Namen Böse, der zu gut für Euer Gesicht paßte, zu ändern. 74 gewährten Wir Euch zum Ärger unseres Adels, ein buntes Wappenschild, das Euch die Brust eines Pfaus verleiht. Seid Ihr noch nicht satt? Fürchtet Ihr nicht, ein Salmen mehr möchte Euer Schiff zum Sinken bringen? Gevatter, dein Übermut richtet dich noch zugrunde! Übermut wird stets von Schmach und Untergang begleitet. Bedenk dies und schweig!“ Diese mit Ernst gesprochenen Worte gaben dem mürrischen Gesicht Meister Oliviers wieder den Ausdruck der Unverschämtheit. „Gut!“ brummte er ganz laut; „man sieht der König ist heute krank. Er gibt alles dem Arzt.“
Ludwig XI., weit davon entfernt, sich über diese Grobheit zu ärgern, erwiderte ziemlich sanft: „Halt! Ich vergaß noch, daß ich Euch zum Gesandten in Gent bei Madame Marie machte. – Ja, ihr Herren“, (der König wandte sich zu den Flamländern), „dieser war mein Gesandter. – Nun, Gevatter“, (er wandte sich wieder zu Meister Olivier) „zank dich nicht mit mir. Wir sind alte Freunde. Es ist spät; Wir haben Unsere Arbeit beendet; jetzt komm, rasiere mich.“
Der Leser hat gewiß bereits in Meister Olivier den furchtbaren Figaro erkannt, den die Vorsehung, die Dichterin der größten Dramen, so künstlich mit dem langen, blutigen Schauspiel Ludwigs XI. verflocht. Der Barbier des Königs führte drei Namen. Bei Hofe nannte man ihn höflich Olivier-le-Daim*. Das Volk nannte ihn Olivier der Teufel. Sein wahrer Name war Olivier der Böse.
* Dies war der Name, den ihm der König gegeben. Daher der Damhirsch im vorher beschriebenen Wappen. Sein wahrer Name war Lemauvais, der Böse.
Olivier stand unbeweglich, schmollte über den König und brummte zwischen den Zähnen: „Ja, ja, der Arzt.“ – „Ja, ja, der Arzt“, wiederholte Ludwig mit sonderbarer Gutmütigkeit. „Der Arzt hat noch mehr Kredit als du. Ganz natürlich; du packst mich nur beim Kinn, er beim Leibe. Komm, armer Barbier, es wird sich schon alles finden. Was sollte aus dir werden, wäre ich ein König wie König Chilperich, der gewohnt war, den Bart in der Hand zu halten. Komm, Gevatter, tu’, was deines Amtes, rasiere mich! Hole das Gerät!“
Als Olivier sah, daß der König lachte, und daß er nicht einmal Gelegenheit finden konnte, sich zu ärgern, ging er verdrießlich fort, den Befehl auszuführen. Der König stand auf, trat ans Fenster und öffnete es plötzlich in heftiger Aufregung. Dann klatschte er in die Hände und rief: „Oh welch ein Feuerschein über der Stadt. Das Haus des Bailli brennt. Oh, gewiß, es ist nichts anderes! Oh, mein treffliches Volk, wie hilfst du mir endlich, die Herrschaften alle zusammenzuschmeißen!“
Dann wandte er sich zu den Flamländern: „Ihr Herren, seht den roten Feuerschein!“
Die beiden Genter traten heran. – „Ein großes Feuer“, sprach Guillaume Rym. – „Ho“, fügte Coppenole hinzu, und seine Augen leuchteten plötzlich, „das erinnert mich an den Brand des Hauses des Herrn von Hymbercourt. Dort muß ein großer Aufruhr sein.“
„Ihr meint so, Meister Coppenole?“ (Der Blick des Königs zeigte in dem Augenblick ebensoviel Freude wie der des Strumpfwirkers.) „Nicht wahr, es ist schwer, Widerstand zu leisten?“ – „Gottes Kreuz; Eure Majestät wird da manche Kompanie von Kriegsleuten zersplittern.“ – „Was, ich? Das wäre was anderes“, erwiderte der König; „wollte ich …“
Der Strumpfmacher unterbrach ihn keck: „Ist der Aufstand so stark, wie ich glaube, Sire, dann hilft Euer Wille Euch nichts.“ – „Gevatter“, sprach Ludwig XI., „mit zwei Ordonnanz-Kompanien und einer Ladung von Serpentinen wird man mit einem Pöbel von Bürgern bald fertig.“
Der Strumpfmacher schien, ungeachtet der Zeichen Guillaume Ryms, entschlossen, dem König zu widersprechen: „Sire, auch die Schweizer waren Bürger. Der Herr Herzog von Burgund war ein mächtiger Edelmann und verspottete sie als Pöbel. Sire, in der Schlacht von Granson rief er aus: ‚Kanoniere, feuert auf die Bauern-Lumpen!‘ und schwur bei dem Ritter St. Georg; aber der Ammann Scharnachthal stürzte sich auf den edlen Herzog mit seinem Volk und seiner Keule, und das strahlende Heer der Burgunder ward durch die Bauern im Büffelwams auseinandergesprengt wie eine Glasscheibe durch Kiesel. Da wurden viele Ritter und viele Knechte erschlagen.“
„Freund“, entgegnete der König, „Ihr sprecht von einer Schlacht und ich von einer Meuterei. Die brächte ich zum Schweigen, sowie ich nur die Stirn runzelte.“
Coppenole erwiderte gleichgültig: „Vielleicht, Sire! Dann hat die Stunde des Volkes eben noch nicht geschlagen.“
Guillaume Rym glaubte einschreiten zu müssen. – „Meister Coppenole, Ihr sprecht mit einem mächtigen König.“ – „Das weiß ich“, erwiderte ernst der Strumpfwirker.
„Laßt ihn doch reden, Herr Rym; lieber Freund“, sagte der König, „ich liebe solchen Freimut. Mein Vater, Karl VII., meinte, die Wahrheit sei krank. Ich glaubte, sie sei tot und fände keinen Beichtiger. Den Irrtum benahm mir Meister Coppenole.“ Dann legte er zutraulich die Hand auf Coppenoles Schulter mit den Worten: „Also Ihr meintet, Meister Jacques …“ – „Ich meinte, Sire, die Stunde des Volkes habe bei Euch noch nicht geschlagen.“
Ludwig XI. sah ihn mit durchdringendem Blicke an. – „Meister, wann wird sie schlagen?“ – „Man wird sie schon hören.“ –„Auf welcher Uhr, wenn’s beliebt?“
Coppenole führte mit seiner ruhigen, bäuerlichen Haltung den König ans Fenster. „Hört, Sire! Hier ist ein Turm, eine Glocke, Kanonen, Soldaten, Bürger. Wenn die Glocke schallt, wenn die Kanonen brüllen, wenn der Turm lärmend einstürzt, wenn Bürger und Soldaten heulen und sich töten, dann hat die Stunde geschlagen.“
Des Königs Antlitz ward düster und nachdenklich. Einen Augenblick schwieg er; dann klopfte er sanft mit der Hand an die Mauer des Turms, wie man den Hals eines Renners zu klopfen pflegt, und sagte: „Oh nein, gute Bastille, so leicht wirst du nicht sinken!“
Dann drehte er sich plötzlich wieder zu dem kecken Flamländer mit den Worten: „Saht Ihr jemals einen Aufstand?“ – „Ich habe Aufstände erregt.“ – „Wie fingt Ihr das an?“ – „Oh, das ist nicht so schwer; es gibt hundert Arten. Erstens muß man in der Stadt unzufrieden sein. Das ereignet sich oft genug. Zweitens muß der Charakter der Einwohner dazu geeignet sein. Die Genter sind das besonders. Sie lieben stets den Sohn des Fürsten, den Fürsten nie. Nun setze ich voraus, man tritt eines Morgens in meine Bude und spricht: ‚Vater Coppenole, es gibt dies und das; die Prinzessin von Flandern will ihre Minister retten, der Großbailli verdoppelt die Mahlsteuer, oder es gibt sonst was anderes.‘ Man weiß, was man will. Ich lasse meine Arbeit liegen, gehe aus meiner Werkstatt auf die Straße und schreie: ‚Herbei!‘ Dort liegt wohl immer eine Tonne mit eingestoßenem Boden. Ich steige hinauf und sage, was mir gerade vom Herzen in den Mund kommt, und gehört man zum Volk, Sire, so hat man stets etwas auf dem Herzen. Es bilden sich Haufen, man schreit, läutet die Glocken, bewaffnet die Bürger mit den Waffen der Soldaten; die Bauern auf dem Markt schließen sich an, und man setzt sich in Marsch. So wird’s immer gehen, solange noch Herren in den Herrschaften, Bürger in den Städten und Bauern auf dem Lande wohnen.“
„Und gegen wen rebelliertet Ihr so?“ fragte der König. „Gegen Eure Baillis, Eure Adligen!“
„Wie es sich gerade trifft. Bisweilen auch gegen den Herzog.“
Ludwig XI. setzte sich wieder und sprach lächelnd: „Ah! Hier sind sie noch bei den Baillis!“
In dem Augenblick trat Olivier-le-Daim wieder ins Zimmer. Ihm folgten zwei Pagen des Königs; Ludwig XI. aber fiel es auf, daß Olivier auch vom Prévot von Paris und dem Ritter der Wache, die beide sehr niedergeschlagen zu sein schienen, begleitet war. Auch der noch immer grollende Barbier sah bestürzt, aber auch zugleich zufrieden aus. Er nahm das Wort: „Sire, ich bitte Eure Majestät um Verzeihung wegen der unheilvollen Nachricht, die ich bringe.“
Der König wandte sich heftig um und zerkratzte mit den Füßen seines Sessels die Matte des Fußbodens. „Was heißt das?“
„Sire“, antwortete Olivier-le-Daim mit der boshaften Miene eines Mannes, welcher sich freut, einen heftigen Schlag geben zu können, „der Volksaufstand gilt nicht dem Bailli des Palais.“ – „Wem sonst?“ – „Euch, Sire!“
Der greise König richtete sich gerade wie ein Jüngling auf. „Wieso, Olivier? Beweise, was du sagst! Gevatter, achte auf deinen Kopf! Ich schwöre dir beim Kreuz von St. Lô, lügst du zu dieser Stunde, so ist das Schwert, das den Hals des Herrn von Luxemburg durchschnitt, noch nicht so schartig, daß es nicht auch deinen durchsägen könnte!“
Der Eid war furchtbar. Ludwig XI. hatte nur zweimal in seinem Leben beim Kreuz von St. Lô geschworen. Olivier öffnete den Mund, zu antworten: „Sire …“
„Knie nieder“, unterbrach ihn zornig der König. „Tristan, gib acht auf den Menschen!“
Olivier kniete nieder und sprach kalt: „Sire! Eine Hexe ward durch Euren Parlamentshof verurteilt. Sie floh in die Kathedrale Notre-Dame. Dort will sie das Volk mit Gewalt herausreißen. Der Herr Prévot und der Ritter der Wache, die von dem Aufruhr herkommen, mögen mich Lügen strafen, sage ich nicht die Wahrheit. Das Volk belagert Notre-Dame!“
„Ha so!“ sprach der König leise, vor Zorn zitternd und erblassend. „Notre-Dame! Sie belagern Unsere Frau, meine gnädige Herrin in Notre-Dame! – Olivier, steh auf! Du hast recht. Ich gebe dir die Stelle des Simon Radin. Du hast recht. – Mich greift man an. Die Hexe steht unter dem Schutz der Kirche. Und ich glaubte, das Volk empöre sich gegen den Bailli! Nein, gegen mich!“
Durch Wut verjüngt, ging er mit großen Schritten im Zimmer umher. Er lachte nicht mehr, er war grauenhaft-furchtbar; der Fuchs verwandelte sich in die Hyäne. Er schien vom Zorn so sehr benommen, daß er nicht reden konnte. Seine Lippen bebten, seine fleischlosen Hände kniffen sich zusammen. Plötzlich richtete er das Haupt auf; sein hohles Auge schien zu funkeln, und seine Stimme schallte hell wie eine Trompete: „Nieder, Tristan! Nieder mit den Schurken! Tristan, Freund, töte, töte!“ Nachdem dieser erste Ausbruch vorüber war, setzte er sich nieder und sprach mit kalter Wut:
„Hier! Tristan. – In dieser Bastille sind die fünfzig Lanzen des Vicomte de Gif, dreihundert Pferde. Ihr nehmt sie. Hier ist auch Unsere Ordonnanz-Kompanie des Herrn von Chateaupers; Ihr nehmt sie. Ihr seid Prévot des Maréchaux, Ihr habt die Leute Eurer Prévoté. Ihr nehmt sie. Im Hotel St. Pol findet Ihr vierzig Schützen von der neuen Garde des Herrn Dauphin. Ihr nehmt sie. Mit den Truppen eilt auf Notre-Dame zu. – Ha! Ihr Herren Bürger von Paris, Ihr werft Euch der Krone Frankreichs, der Heiligkeit Unserer Frau und dem Frieden dieses Staates entgegen! – Tristan, vernichte sie! Vernichte sie! Keiner entschlüpft!“
Tristan verbeugte sich. – „Es soll geschehen, Sire.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Was soll ich mit der Hexe anfangen?“
Der König überlegte. – „Ah so!“ sagte er endlich, „die Hexe? Herr d’Estouteville, was wollte das Volk mit ihr anfangen?“
„Sire“, erwiderte der Prévot von Paris, „ich glaube, weil das Volk sie aus der Freistatt holen will, ist es über ihre Sicherheit wütend und will sie hängen.“
Der König schien einen Augenblick nachzusinnen, dann wandte er sich zu Tristan mit den Worten: „Gut, Gevatter! Vernichte das Volk und hänge die Hexe.“
„So ist seine Handlungsweise“, flüsterte Rym Coppenole ins Ohr, „er straft das Volk für den Willen und tut, was es verlangt.“
„Gewiß, Sire“, antwortete Tristan l’Hermite, „wenn aber die Hexe noch in Notre-Dame ist, soll ich sie dann dort trotz der Freistatt herausholen?“
„Gottes Ostern! Die Freistatt!“ sagte der König und kratzte sich hinter dem Ohr. „Das Weib muß aber doch gehängt werden!“
Dann sank er, als fiele ihm plötzlich etwas ein, vor dem Sessel in die Knie, nahm seinen Hut ab, stellte ihn vor sich hin und betrachtete andächtig eins der Bleibilder, womit der Hut beladen war. „Oh“, sprach er mit gefalteten Händen, „Notre-Dame von Paris, meine gnädige Beschützerin, verzeih mir! Die Verbrecherin muß ich bestrafen. Vergib mir diesmal, Unsere Frau von Paris; ich will es nicht wieder tun und dir eine schöne silberne Statue schenken. So sei es. Amen.“
Er schlug das Zeichen des Kreuzes, setzte den Hut wieder auf, erhob sich und sprach zu Tristan: „Eilt, Gevatter! Nehmt Herrn von Chateaupers mit Euch; laßt Sturmglocken läuten. Zerschmettert den Pöbel! Hängt die Hexe! Die Hinrichtung soll unter Eurer Leitung geschehen. Ich will’s. Ihr werdet mir Rechenschaft ablegen. – Olivier, komm. Heute nacht will ich nicht schlafen. Rasiere mich.“
Tristan l’Hermite verbeugte sich und ging. Der König verabschiedete Rym und Coppenole mit einer Handbewegung und den Worten: „Gott beschütze Euch, meine lieben Herren Flamländer. Ruht ein wenig. Die Nacht ist schon vorgerückt, und wir sind dem Morgen näher als dem Abend.“
Beide entfernten sich; als sie ihre Schlafgemächer unter der Leitung des Hauptmanns der Bastille erreichten, sprach Coppenole zu Guillaume Rym: „Hm! Von dem hustenden König habe ich genug! Ich sah Karl von Burgund betrunken; er war aber nicht so boshaft wie der kranke Ludwig XI.“
„Meister Jacques“, erwiderte Rym, „der Wein wirkt nicht so grausam bei Königen wie Medizin.“
46. Der kleine Schuh
Als Gringoire die Bastille verließ, rannte er so schnell wie ein scheues Pferd die Straße St. Antoine hinab. An der Porte Baudoyer lief er geradewegs auf das steinerne Kreuz zu, das mitten auf dem Platz errichtet war, als habe er im Dunkel die Gestalt eines schwarzgekleideten und mit einer Kapuze verhüllten Menschen erkannt, der auf den Stufen des Kreuzes saß. „Seid Ihr’s, Meister?“ fragte Gringoire. Die schwarze Gestalt erhob sich. „Tod und Hölle! Ihr laßt mich hier kochen, Gringoire. Der Nachtwächter auf dem Turm St. Gervais hat schon zwei Uhr morgens ausgerufen.“ – „Oh“, erwiderte Gringoire, „meine Schuld ist das nicht; sondern es liegt ganz allein an der Scharwache des Königs. Ich bin nur mit Not entwischt und gewiß dazu vorherbestimmt, immer nahe daran zu sein, gehängt zu werden.“ – „Du verfehlst alles; schnell! Das Losungswort!“ – „Denkt Euch, Meister, ich sah den König und komme von ihm. Er trägt wollene Hosen. Ein wahres Abenteuer!“ – „Oh du Spinnrocken von Worten! Weißt du das Losungswort der Landstreicher?“ – „Ja, seid unbesorgt: Kleine Flamme beim Spiel.“ – „Gut, sonst könnten wir nicht in die Kirche kommen, die Landstreicher versperren die Straßen. Glücklicherweise, scheint es, fanden sie Widerstand. Wir kommen wohl noch zur rechten Zeit.“ – „Ja, Meister. Wie können wir aber in Notre-Dame eindringen?“ – „Ich habe den Schlüssel zu den Türmen.“ – „Und wie kommen wir hinaus?“ – „Hinter dem Kloster führt eine kleine Tür zum Terrain und von da zum Fluß. Ich habe den Schlüssel bei mir und habe heute morgen einen Kahn dort angebunden.“ –„Beinahe wäre ich gehängt worden.“ – „Komm schnell.“
Beide gingen mit großen Schritten zur Stadt hinab.
Vielleicht erinnert sich noch der Leser der kritischen Lage, in der wir Quasimodo verließen. Der tapfere Taube hatte, wenn auch nicht den Mut, doch alle Hoffnung verloren, die Zigeunerin zu retten (denn an sich selbst dachte er nicht). Verzweifelnd lief er auf der Galerie hin und her. Notre-Dame war nahe daran, von den Landstreichern erstürmt zu werden. Plötzlich vernahm man starken Pferdegalopp in den benachbarten Straßen; man sah eine lange Reihe Fackeln und eine dichte Kolonne von Reitern, die mit verhängten Zügeln und gesenkten Lanzen einhersprengten. Wie ein Orkan drang auf den Platz das Wutgeschrei: „Frankreich! Frankreich! Nieder mit den Bürgern! Chateaupers zum Angriff! Prévoté, Prévoté!“
Die Landstreicher wandten sich auf einmal um. Quasimodo, der nichts hörte, sah die blanken Degen, Fackeln, Lanzenspitzen, und erkannte an der Spitze der Reiter den Hauptmann Phoebus von Chateaupers; er sah die Verwirrung der Landstreicher, die Furcht der einen, Bestürzung bei den Tapfersten, und fand durch diese unerwartete Hilfe so viel Kraft, daß er die vordersten der Stürmenden, die mit den Knien schon über das Geländer sprangen, hinabstürzen konnte.
Die Truppen des Königs waren eingetroffen. Die Landstreicher fochten tapfer und verteidigten sich als Verzweifelte. In der Flanke und im Rücken angegriffen, zugleich Belagerer und Belagerte, wurden sie gegen die Kirche gedrängt. Das Gemetzel war furchtbar. Die Reiter des Königs, in deren Mitte Phoebus von Chateaupers tapfer focht, gaben keinen Pardon. Die schlechtbewaffneten Landstreicher schäumten und bissen. Sie stürzten sich auf den Rücken, den Bug der Pferde, klammerten sich an wie Katzen, mit Zähnen und Nägeln, Händen und Füßen. Andere schlugen den Reitern ihre Fackeln ins Gesicht und verbrannten ihnen die Augen. Andere stießen mit Haken nach dem Halse der Reiter oder schossen. Die gefallenen Reiter wurden zerfetzt. Man bemerkte einen der Landstreicher, der mit breiter, strahlender Sichel die Füße der Rosse mähte. Er war furchtbar, sang in näselndem Ton ein Lied und führte fortwährend die Sichel. Mit jedem Schlage warf er zerschnittene Glieder um sich. So drang er in das dichteste Reitergewühl mit der ruhigen Langsamkeit und dem regelmäßigen Atemholen des Schnitters, der ein Feld abmäht. Endlich streckte ein Büchsenschuß auch ihn zu Boden. Es war Clopin Trouillefou.
Unterdes wurden die Fenster geöffnet. Als die Nachbarn das Kriegsgeschrei der Leute des Königs vernahmen, mischten sie sich in den Streit und Kugeln regneten von allen Dächern auf die Landstreicher herab. Der Vorplatz war voll vom dicken Rauch des Flintenfeuers. Nur undeutlich erkannte man die Fassade von Notre-Dame und das alte Hotel-Dieu mit einigen mageren Krankengesichtern, die aus den Luken des schuppigen Daches hinabblickten. Endlich wichen die Landstreicher. Ermüdung, Mangel an guten Waffen, der Schrecken der Überrumpelung, das Flintenfeuer der Fenster, der tapfere Angriff der Reiter des Königs, alles schlug ihren Mut nieder. Sie durchbrachen die Linie der Angreifenden, flohen nach allen Richtungen und verließen die Haufen ihrer Toten auf dem Vorplatz.
Als Quasimodo, der nicht ein Augenblick aufgehört hatte zu fechten, die Niederlage erblickte, fiel er auf die Knie und erhob die Hände zum Himmel; dann lief er fort, trunken vor Freude, stieg mit der Schnelligkeit eines Vogels zur Zelle hinauf, deren Zugang er so unerschrocken verteidigt hatte. Er hatte nur einen Gedanken, vor dem Mädchen auf die Knie zu sinken, nachdem er es zum zweitenmal gerettet. Als er aber in die Zelle trat, fand er sie leer.
Esmeralda schlief, als die Landstreicher die Kirche stürmten. Bald aber entriß sie der stets wachsende Lärm und das unruhige Meckern der Ziege ihrem Schlummer. Sie richtete sich auf dem Lager auf, horchte und blickte auf den Platz. Erschreckt durch den Lärm und Fackelschein, enteilte sie ihrer Zelle, um besser sehen zu können. Das Aussehen des Platzes, die hin und her flutenden Erscheinungen, die Unordnung des nächtlichen Sturmes, die scheußliche Volksmasse, hüpfend wie ein Schwarm Frösche, und, im Dunkel nur undeutlich erblickt, die herumgereichten und im Dunkel sich kreuzenden Fackeln wie Irrlichter auf Morästen in der Nacht, die ganze Szene machte bei ihr den Eindruck einer Schlacht zwischen den Phantomen des Sabbats und den Ungeheuern der Kirche. Von Kindheit an voll des Aberglaubens der Zigeuner, dachte sie zuerst, sie habe die sonderbaren Nachtgeister bei ihren Übeltaten überrascht. Erschreckt eilte sie fort, sich in ihre Zelle zu ducken, und erhoffte auf ihrem Lager einen weniger furchtbaren Alp.
Allmählich zerstreuten sich jedoch die ersten Eindrücke der Furcht. An dem stets wachsenden Lärm und an einigen anderen Zeichen der Wirklichkeit merkte sie, daß sie nicht von Gespenstern, sondern von Menschen überfallen werden sollte. Da verwandelte sich ihr Schrecken, ohne sich zu vermehren. Sie hatte schon an die Möglichkeit eines Volksaufstandes gedacht, um sie ihrem Asyl zu entreißen. Der Gedanke, noch einmal ihr Leben, jegliche Hoffnung auf Phoebus, mit dessen Bild sie noch immer die Zukunft erheiterte, zu verlieren, das tiefe Gefühl ihrer Schwäche, der Unmöglichkeit, zu fliehen, keiner Stütze, ihres Alleinseins und tausend andere Gedanken erdrückten sie. Sie sank auf die Knie, stützte ihr Haupt aufs Bett, faltete die Hände, zitterte voll Angst und betete zum Gott der Christen und Unserer Frau, ihre Beschützerin, ob sie gleich als Zigeunerin Heidin war. Hegt man auch gar keinen religiösen Glauben, so gibt es doch im Leben Augenblicke, wo man einfach die Religion des Tempels, in dem man sich befindet, annimmt. So lag sie lange Zeit auf dem Boden. In Wahrheit, sie zitterte stärker, als sie betete, und erstarrte immer mehr bei dem Hauch der herandringenden wütenden Menge, wußte nicht, was vorging, was man tat und wollte, ahnte aber einen furchtbaren Ausgang.
Plötzlich vernahm sie den Schall von Schritten in ihrer Nähe. Sie wandte sich um. Zwei Männer, von denen einer eine Laterne trug, traten in ihre Zelle. Sie stieß einen schwachen Schrei aus.
„Fürchtet nichts“, sprach eine ihr nicht unbekannte Stimme. „Ich bin’s.“ – „Wer?“ fragte sie. – „Peter Gringoire.“
Dieser Name beruhigte sie. Sie schlug die Augen auf und erkannte wirklich den Dichter. Neben ihm aber stand eine schwarze, bis auf die Füße verhüllte Gestalt, über deren Schweigen sie betroffen ward.
„Ah!“ sprach Gringoire mit dem Tone des Vorwurfs, „Djali hat mich eher erkannt als Ihr.“
Die kleine Ziege hatte wirklich nicht gewartet, bis Gringoire seinen Namen nannte. Kaum war er eingetreten, als sie sich zärtlich an seinem Knie rieb.
„Wer ist bei Euch?“ sprach die Zigeunerin mit leiser Stimme. „Seid unbesorgt“, erwiderte Gringoire, „ein Freund von mir.“
Hierauf setzte der Dichter seine Laterne auf den Boden, kauerte nieder und rief voll Entzücken, indem er Djali mit den Armen umschlang: „Oh, welch ein zierliches Tier, gewiß merkwürdiger wegen seiner Reinlichkeit als wegen seiner Größe, klug, fein und gelehrt, wie ein Schulmeister! Komm, Djali; kannst du deine hübschen Streiche noch machen? Wie macht Meister Jacques Charmol …“
Der schwarze Mann ließ ihn nicht ausreden; er trat heran und schlug Gringoire derb auf die Schulter. Der Dichter stand auf. „Ach ja“, sprach er, „wir haben Eile; das vergaß ich. – Dies, Meister, ist aber noch kein Grund, die Leute so mit Gewalt zu treiben. – Mein liebes, schönes Kind, Euer Leben ist in Gefahr und auch das Leben Eurer Djali. Wir sind Eure Freunde und kommen, Euch zu retten. Folgt!“ – „Gewiß?“ rief sie bestürzt. – „Ja, ja, kommt schnell!“ – „Recht gern“, stammelte sie; „aber warum spricht Euer Freund kein Wort?“ – „Ach, sein Vater und seine Mutter waren sonderbare Leute und haben ihm ein schweigsames Gemüt gegeben.“
Sie mußte sich mit dieser Erklärung begnügen. Gringoire faßte sie bei der Hand; sein Gefährte nahm die Laterne und ging voran. Das Mädchen war von Furcht betäubt. Es ließ sich fortführen. Die Ziege folgte hüpfend und so vergnügt, Gringoire wiederzusehen, daß er fast bei jedem Schritt strauchelte, weil sie ihre Hörner ihm zwischen die Beine steckte. „So ist das Leben“, sprach der Philosoph, so oft er dem Falle nahe war; „unsere besten Freunde bringen uns oft zum Sturze.“
Schnell stiegen sie die Turmtreppe hinab, durchschritten die dunkle, einsame, vom Getöse widerhallende Kirche, deren Schweigen mit dem Lärm draußen einen schrecklichen Kontrast bot, und traten in den Klosterhof durch die rote Tür. Das Kloster war leer; die Priester hatten sich in den Bischofspalast geflüchtet, dort zusammen zu beten; nur einige erschrockene Diener kauerten im Dunkel. Sie schritten zum kleinen Tor, das vom Hofe zum Terrain führte. Der schwarze Mann öffnete mit einem Schlüssel, den er bei sich trug. Sie fanden die Umzäunung gänzlich verödet. Dort herrschte schon weniger Lärm. Das Getöse des Sturmes gelangte gedämpfter und undeutlicher zu ihnen. Man konnte schon ziemlich deutlich das Rauschen des frischen Windes vernehmen, der das Laub des einzigen Baumes auf jenem Terrain bewegte. Dennoch waren sie der Gefahr sehr nahe.
Der Mann mit der Laterne ging geradeswegs auf den Fluß zu. Im Schatten war eine kleine Barke versteckt. Der Mann gab Gringoire und seiner Gefährtin ein Zeichen, einzusteigen. Ihnen folgte die Ziege; der Mann trat zuletzt hinein, löste das Tau, stieß die Barke mit einer Stange vom Lande, ergriff die zwei Ruder, setzte sich vorn hin und ruderte mit allen Kräften in die Mitte des Flusses. Die Seine ist dort sehr reißend und es kostete viel Mühe, über die Spitze der Insel hinauszugelangen. Als Gringoire in der Barke war, nahm er die kleine Ziege auf den Schoß. Er setzte sich in das Hinterteil, und das Mädchen, das wegen des Unbekannten eine unaussprechliche Angst empfand, setzte sich dicht neben den Dichter.
Als unser Philosoph merkte, das Schiff bewege sich auf dem Wasser, klatschte er in die Hände und küßte Djali zwischen die Hörner. „Oh“, sprach er, „jetzt sind wir alle vier gerettet!“ Dann fügte er nach einer Pause mit dem Ausdruck des tiefsten Denkers hinzu: „Den glücklichen Ausgang großer Unternehmungen verdankt man bisweilen der List, bisweilen dem Glücke.“
Langsam glitt das Schiff dem rechten Ufer zu. Das Mädchen betrachtete den Unbekannten mit geheimer Furcht. Er hatte das Licht seiner Blendlaterne sorgfältig verschlossen. Im Dunkel, auf dem Vorderteil der Barke, glich er einem Gespenst. Seine stets niedergezogene Kapuze diente ihm als Maske; so oft er rudernd seine Arme ausbreitete, von denen lange schwarze Ärmel hinabhingen, glichen diese zwei großen Fledermausflügeln. Übrigens hatte er noch kein Wort gesprochen, noch nicht einmal laut geatmet. Im Schiffe herrschte kein anderes Geräusch als das des Hin- und Herbewegens der Ruder, vermischt mit dem Rauschen der Wasserfurche und der Wasserkreise, die das Schiff zog.
„Bei meiner Seele!“ rief plötzlich Gringoire, „wir sind munter wie Kobolde und still wie Pythagoräer oder Fische! Gottes Ostern! Ich möchte wohl, meine Lieben, daß jemand mit mir spräche – die Menschenstimme ist Musik dem Menschenohre! Nicht ich sage dies, sondern Didymus von Alexandrien, und die Worte sind trefflich. Gewiß, Didymus von Alexandrien war kein schlechter Philosoph. – Ein Wort, schönes Kind, bitte nur ein Wort! – Beiläufig gesagt, Ihr habt ja ein so hübsches kleines Mäulchen; verzieht Ihr das noch immer? Wißt Ihr auch, meine Liebe, daß über alle Freistätten das Parlament Gerichtsbarkeit besitzt, und daß Ihr in Eurem Kämmerchen zu Notre-Dame Euch großer Gefahr ausgesetzt habt? Ach! Der kleine Vogel Trochylus baut sein Nest in dem Rachen des Krokodils. – Meister, der Mond kommt wieder hervor – wenn man uns nur nicht sieht! – Wir begehen eine löbliche Handlung, indem wir Euch, mein Fräulein, retten, und packte man uns, würde man uns dennoch im Namen des Königs hängen. Ach! Alle menschlichen Handlungen haben zwei Henkel. Worum man dich krönt, darum hängt man mich. Mancher bewundert Cäsar, welcher Katilina tadelt. – Nicht wahr, Meister? Was haltet Ihr von der Philosophie? Ich besitze Philosophie aus Instinkt, von Natur, ut apes geometriam.* – Niemand antwortet. Verdrießliche Launen habt ihr beide. – Ich muß mit mir allein reden. Das nennen wir in Tragödien Monologe halten. – Gottes Ostern! Ich habe König Ludwig gesehen und den Schwur behalten. – Also: Gottes Ostern! Welch ein Geheul in der Altstadt! – Es ist ein häßlicher, boshafter, alter König, ganz in Pelz gemummt. Auch ist er mir noch immer das Geld für mein Hochzeitsgedicht schuldig; ich kann noch froh sein, daß er mich heute abend nicht aufhängen ließ, denn dies wäre mir sehr ungelegen gekommen. Gegen Männer von Verdienst ist er ein Geizhals. Er sollte die vier Bücher adversus avaritiam des Salvianus Coloniensis lesen. – Wahrhaftig, gegen Gelehrte ist er grob und begeht auch sehr viele Grausamkeiten. Er liegt wie ein Schwamm auf dem Volke und saugt dessen Geld ein. Seine Sparkasse ist wie die Milz, welche bei der Magerkeit anderer Glieder anschwillt. – Auch werden die Klagen über die Kälte der Jahreszeit zum Murren gegen den König. Unter dieser andächtigen, sanften Majestät brechen die Galgen von der Zahl der Gehängten, und die Schafottblöcke verfaulen durch Menschenblut; die Gefängnisse bersten wie vollgepfropfte Bäuche. Der König nimmt mit der einen und hängt mit der andern Hand. Er ist der Staatsprokurator der Dame Abgabe und des Herrn Galgen. Die Großen sind ihrer Würde beraubt, und die Kleinen werden stets durch neue Lasten erdrückt. Der Fürst ist übermäßig gefräßig. Ich liebe ihn nicht; vielleicht Ihr, Meister?“
(
Der schwarze Mann ließ den schwatzhaften Dichter sprechen und steuerte emsig gegen die heftige Strömung.
„Beiläufig gesagt, Meister“, begann Gringoire plötzlich wieder; „bemerkte Euer Ehrwürden in dem Augenblick, als wir durch die tollen Landstreicher auf den Vorplatz der Kirche kamen, den armen kleinen Teufel, dem Euer Tauber gerade im Begriff war, das Gehirn an dem Geländer der Königsgalerie zu zerschmettern? Ich bin kurzsichtig und konnte ihn nicht erkennen. Wißt Ihr vielleicht, wer es ist?“ Der Unbekannte erwiderte kein Wort, hörte aber plötzlich auf zu rudern, seine Arme sanken wie zerbrochen nieder, sein Haupt fiel auf die Brust, und Esmeralda hörte ihn krampfhaft seufzen. Sie bebte, denn solche Seufzer hatte sie schon vernommen. Die sich selbst überlassene Barke ward einige Augenblicke vom Strome fortgetrieben. Endlich aber raffte der schwarze Mann sich wieder auf, ergriff das Ruder und suchte den Strom wieder hinaufzufahren. Er umschiffte die Spitze der Insel Notre-Dame.
„Ach“, sprach Gringoire, „dort steht das Palais Barbeau. Seht, Meister, die Gruppe schwarzer Dächer mit sonderbaren Winkeln unter der niedrigen, faserigen, schmutzigen Wolkenmasse, durch die der Mondschein wie das Gelbe eines Eies durch die zerbrochene Schale dringt. Das ist ein schönes Haus. Dort steht eine Kapelle, gekrönt mit einem kleinen Gewölbe voll schöner Schnörkel; darüber ragt ein zierlich durchschnittener Turm. Dann kommt ein schöner Garten mit einem Teich, und da steht auch ein Baum, welcher der Liebesbaum heißt, weil er dem Vergnügen einer berühmten Prinzessin und eines galanten Dichters, eines Connetables von Frankreich, diente. – Ach, wir armen Dichter sind mit einem Connetable verglichen, dasselbe, was ein Kohl- und Radieschenbeet im Garten des Louvre. Was tut’s! Das menschliche Leben ist für die Großen wie für uns aus Leid und Freude gemischt. Der Schmerz folgt stets auf die Freude, wie der Spondeus auf den Daktylus. Meister, ich muß Euch die Geschichte des Hauses Barbeau erzählen. Sie endet tragisch und ereignete sich 1319 unter Philipp V., dem längsten aller Könige von Frankreich. Die Moral von der Geschichte ist die Lehre, daß die Versuchung des Fleisches boshaft und verderblich ist. Seht die Frau Eures Nachbarn nicht zu scharf an, so sehr auch Euer Auge durch Schönheit sich kitzeln läßt. Die Wollust ist ein sehr frecher Gedanke; Ehebruch ein sonderbar Gelüst zum Vergnügen eines andern … – Oh, der Lärm verdoppelt sich dort!“
Wirklich mehrte sich der Tumult um Notre-Dame. Sie horchten. Man hörte deutliches Siegesgeschrei. Plötzlich erschienen hundert Fackeln, in denen die Helme Bewaffneter funkelten, auf allen Höhen der Kirche, auf den Türmen, Galerien, unter den Gewölbepfeilern. Die Fackeln schienen etwas zu suchen, und bald konnten die Flüchtlinge deutlich die Worte vernehmen: „Die Zigeunerin! Die Hexe! Es sterbe die Zigeunerin!“
Das Haupt der Unglücklichen sank in ihre Hände, und der Unbekannte ruderte mit heftiger Anstrengung wütend auf das Ufer zu. Unser Philosoph versank in Nachsinnen, er drückte die Ziege in die Arme und rückte sacht von der Zigeunerin fort, die sich stets näher an ihn drängte, als sei er der Einzige, der ihr bliebe. Gewiß war Gringoire in grausamer Verlegenheit. Er dachte, nach den bestehenden Gesetzen werde auch die Ziege gehängt, wenn sie wieder ertappt würde. Wie schade! Die arme Djali! Zwei Verurteilte neben ihm seien zu viel; auch sein Gefährte wünsche ja nichts mehr, als die Rettung der Zigeunerin auf sich zu nehmen. In seinen Gedanken entbrannte ein heftiger Kampf, worin er, wie Jupiter in der Ilias, die Zigeunerin und die Ziege gegeneinander abwog. Er beschaute sie nacheinander mit feuchten Augen und murmelte zwischen den Zähnen: „Ich kann Euch doch nicht beide retten!“
Der Kahn stieß ans Land. Noch immer füllte der unheimliche Lärm die Altstadt. Der Unbekannte stand auf, ging auf die Zigeunerin zu und wollte sie am Arm ergreifen, um ihr beim Aussteigen zu helfen. Sie stieß ihn zurück, hängte sich an Gringoires Ärmel, der sie seinerseits, mit der Ziege beschäftigt, beinah zurückstieß. Da sprang sie allein aus dem Kahn. Sie war so verwirrt, daß sie nicht wußte, was sie tat und wohin sie ging. Bewußtlos sah sie einen Augenblick das Wasser fließen. Als sie ein wenig wieder zu sich kam, stand sie mit dem Unbekannten allein an dem Hafen. Gringoire schien den Augenblick des Ausschiffens benutzt zu haben, sich mit der Ziege fortzustehlen. Die arme Zigeunerin erbebte, als sie sich mit dem Manne allein sah. Sie wollte sprechen, schreien, Gringoire rufen; ihre Zunge war im Munde wie erstarrt, und kein Laut kam über ihre Lippen. Plötzlich fühlte sie die Hand des Unbekannten auf der ihrigen. Sie war kalt und stark. Der Mann sprach kein Wort. Schnell ging er auf den Grèveplatz zu und riß sie mit sich fort. In dem Augenblick empfand sie, das Verhängnis sei unwiderstehlich. Sie hatte alle Hoffnung verloren und ließ sich fortreißen. Sie ließ den Blick nach allen Seiten hin schweifen. Niemand ging vorüber. Sie hörte nur den Lärm entfernter Männer in der tobenden und rotglühenden Altstadt, von der sie nur durch einen Arm des Flusses getrennt war, und von wo ihr Name, mit Todesgeschrei untermischt, bis zu ihren Ohren gelangte. Das übrige Paris war in Dunkel gehüllt.
Der Unbekannte riß sie unter fortdauerndem Schweigen und mit gleicher Schnelligkeit fort. Sie wußte nicht, in welcher Gegend sie sich befand. Als sie endlich bei einem erleuchteten Fenster vorüberkamen, versuchte sie eine letzte Anstrengung und rief: „Zu Hilfe!“ Ein Bürger kam im Hemde mit einer Lampe zum Vorschein, sah mit stumpfen Blick auf den Kai, sprach einige Worte, die sie nicht verstand, und schloß den Fensterladen. Da erlosch für sie der letzte Hoffnungsschimmer.
Der schwarze Mann sprach keine Silbe, er hielt sie fest und ging noch schneller. Sie folgte ihm mit gebrochenem Mute. Bisweilen sammelte sie ein wenig Kraft und sprach, von Stößen auf dem Pflaster und vom Keuchen unterbrochen: „Wer seid Ihr? Wer seid Ihr?“ – Er gab keine Antwort.
So gelangten sie, den Kai hinablaufend, auf eine ziemlich großen Platz. Der Mond schien ein wenig. Sie standen auf dem Grèveplatze. Man sah in der Mitte ein großes, stehendes Kreuz; dies war der Galgen. Sie erkannte ihn und wußte jetzt, wo sie war. Der Mann stand still, wandte sich zu ihr und hob seine Kapuze auf. „Oh“, stammelte sie erschrocken, „ich wußte, daß er es war.“
Der Mann blieb stehen. Sein Antlitz im Mondschein war wie das eines Gespenstes; wie es scheint, sieht man bei diesem Lichte nur die geisterhaften Umrisse der Dinge.
„Hier“, sprach er, und sie zitterte beim Ton dieser unheilvollen Stimme, die sie schon lange nicht mehr vernommen hatte. Er fuhr fort in kurzen, keuchenden Absätzen, die durch ihre Gewaltsamkeit ein heftiges inneres Zittern enthüllten. „Höre! Hier stehen wir! Ich will dich sprechen. Dies ist der Grèveplatz, ein äußerster Punkt. Das Verhängnis überlieferte uns einander. Ich entscheide über dein Leben, du über meine Seele. Hier ist ein Platz und eine Nacht, die für uns beide verhängnisvoll werden können. Höre, was ich sage. Vor allem sprich nicht von deinem Phoebus! (Er ging bei dem Namen hin und her wie ein Mensch, der nicht auf einem Platze stehen bleiben kann, und riß sie stets mit fort.) Sprichst du den Namen aus, so weiß ich nicht, was ich tun werde, aber gewiß etwas Furchtbares.“
Als er dies gesprochen, stand er wie ein Körper, der seinen Schwerpunkt wiedergefunden, still; aber seine Worte enthüllten noch immer heftige Bewegung. Seine Stimme ward immer leiser. „Wende den Kopf nicht um, höre mich: Die Angelegenheit ist ernst. Höre, was vorging – oh, ich schwöre dir, darüber lacht man nicht. – Was sagte ich doch? Erinnere mich daran. – Ah so! Das Parlament erließ einen Beschluß, der dich dem Tode wieder überliefert. Ich habe dich ihren Händen entrissen, aber sie verfolgen dich. Sieh!“ –
Er streckte den Arm zur Altstadt aus. Die Nachsuchungen schienen fortgesetzt zu werden. Der Lärm kam näher. Der Turm des Hauses der Wachoffiziere, der dem Grèveplatz gegenüberlag, war voll von Getöse und Fackelschein. Man sah auf dem entgegengesetzten Kai Soldaten mit Fackeln unter dem Geschrei umherlaufen: „Die Zigeunerin! Wo ist die Zigeunerin? Zum Tode mit ihr! Zum Tode!“
„Du siehst, sie verfolgen dich, und ich lüge nicht. Ich liebe dich! – Öffne den Mund nicht; sprich noch nichts, wenn du mir sagen willst, wie du mich hassest. Ich will das nicht mehr hören. – Ich rettete dich. – Laß mich enden. – Ich kann dich gänzlich retten. Alles habe ich vorbereitet. Du brauchst nur zu wollen. Komm, wenn du willst.“ Er unterbrach sich heftig: „Nein, so darf ich nicht reden.“
Sie mit sich fortreißend (denn er ließ sie nicht los), lief er gerade auf den Galgen zu, zeigte ihn ihr und sprach kalt: „Wähle zwischen uns beiden.“
Sie riß sich los, sank am Fuße des Galgens nieder, umarmte dies Gerüst des Todes, wandte ihr schönes Haupt zur Hälfte um und blickte den Priester über die Schulter an. So glich sie der heiligen Jungfrau am Fuße des Kreuzes. Der Priester stand unbeweglich da, erhob den Arm noch immer zum Galgen und glich, indem er die Stellung beibehielt, einer Statue. Endlich sprach die Zigeunerin: „Vor dem Galgen schaudere ich weniger als vor Euch!“
Da ließ er den Arm langsam sinken und beschaute das Pflaster mit dem tiefsten Schmerz. „Könnten die Steine reden“, sprach er, „so würden sie sagen, ich sei der unglücklichste Mensch!“
Das Mädchen kniete vor dem Galgen nieder und ließ, von seinem langen Haar umflossen, ihn weiterreden. Jetzt nahm seine Stimme einen sanften, klagenden Ton an, der mit dem rauhen Stolz seiner Züge in schmerzlichem Gegensatz stand. Er begann wieder:
„Ich liebe dich! Oh, wie wahrhaft! So teilt denn dies Herz dir nichts von dem Feuer mit, welches es verbrennt! Verdient dies kein Mitleid? Ich sage dir, die Liebe quält mich Tag und Nacht! Sie gleicht der Folter. – Oh, armes Kind, ich leide unendlich. – Ich versichere dich, ich bin des Mitleids wert. Du siehst, ich rede sanft mit dir. Ich möchte wohl, daß du nicht so vor mir schaudertest. – Ist es die Schuld eines Mannes, wenn er ein Weib liebt? Oh Gott! Du wirst mir nie verzeihen! Stets mich hassen? Es ist vorbei! Siehst du, so werde ich ein Bösewicht! Ich schaudere vor mir selbst. – Du blickst mich nicht einmal an. Du denkst vielleicht an etwas anderes, während ich auf der Schwelle der Ewigkeit, für uns beide zitternd, mit dir rede. – Vor allem sprich mir nicht von jenem Offizier! Wie? Ich sollte dir zu Füßen stürzen! Ich sollte nicht deine Füße (du wirst es nicht wollen), nein, den Boden unter deinen Füßen küssen; ich würde schluchzen wie ein Kind, aus meiner Brust nicht Worte, nein, mein Herz und meine Eingeweide reißen, dir zu zeigen, wie ich dich liebe, und alles wäre vergeblich! – Und dennoch ist deine Seele zart und gütig; du strahlst von Sanftmut, du bist mitleidig und schön. Ach, nur für mich empfindest du nichts! Oh, welch Verhängnis!“
Er verbarg sein Gesicht mit den Händen. Das Mädchen hörte ihn weinen. Dies war das erstemal, daß er Tränen vergoß. Stehend und zum Schluchzen erschüttert, war er elender und flehender, als läge er auf den Knien. Eine Zeitlang weinte er, dann fuhr er fort:
„Auf! Nach diesen ersten Tränen finde ich keine Worte mehr. Ich hatte doch überlegt, was ich dir sagen wollte. Jetzt zittere ich und bebe ich; meine Kraft entschwindet im entscheidenden Augenblick. Ich empfinde, wie etwas Gewaltiges uns umschlingt, und ich stammle. Oh, ich werde aufs Pflaster sinken. Hast du kein Mitleid mit dir und mir? Verurteile uns nicht beide! Wüßtest du, wie ich dich liebe! Wie glühend mein Herz! Jede Tugend habe ich von mir gestoßen! Ich verzweifle an mir selbst. Ein Gelehrter, spotte ich der Wissenschaft; ein Edelmann, schände ich meinen Namen, ein Priester, mache ich mein Meßbuch zum Kopfkissen der Wollust, speie meinem Gott ins Gesicht. Und alles nur deinetwegen, Zauberin! Um deiner Hölle würdig zu werden! Und du verschmähst den Verdammten! Und daß ich alles sage! Noch mehr! Noch Furchtbareres!“
Bei diesen letzten Worten schien er wahnsinnig zu werden. Er schwieg einen Augenblick; dann begann er, als ob er mit sich selbst spräche, laut rufend: „Kain, wo ist dein Bruder?“ Nach einer neuen Pause fuhr er fort: „Was ich mit ihm begann, Herr? Ich nahm ihn auf, ernährte, erzog, vergötterte, tötete ihn! Ja, Herr, man zerschmettere ihm an deinem Halse auf dem Stein sein Haupt, wegen meiner Sünde, wegen dieses Weibes, ja, ihretwegen.“
Sein Auge war starr; seine Stimme erlosch, er wiederholte mehrere Male maschinenmäßig, in langen Zeiträumen, wie eine Glocke, die ihre letzte Schwingung verlängert: „Ihretwegen … ihretwegen …“ Dann brachte seine Zunge keinen Laut mehr hervor, aber es regten sich seine Lippen. Plötzlich stürzte er kraftlos gebeugt zusammen und saß auf dem Boden ohne Bewegung, sein Haupt zwischen die Knie drückend.
Das Mädchen zog seinen Fuß unter ihm weg, und diese Berührung brachte ihn wieder zu sich. Langsam strich er mit der Hand über die hohlen Wangen und betrachtete einige Augenblicke betäubt seine nassen Finger. – „Oh!“ murmelte er, „ich habe geweint!“
Dann wandte er sich plötzlich mit unaussprechlicher Angst wieder zu der Zigeunerin.
„Ach, ungerührt hast du mich weinen sehen! Kind, weißt du auch, diese Tränen sind Lavaströme. Ach, es ist nur zu wahr! Mein Unglück vermag dich nicht zu rühren. Ich bin dein Feind! Sähst du mich sterben, du würdest lächeln! Oh, ich will dich nicht sterben sehen! Ein Wort! Ein einziges Wort der Verzeihung! Sag nicht, daß du mich liebst, nur, daß du mir wohlwillst. Dies genügt, ich rette dich. Sonst … Ach, die Stunde entfliegt. Ich beschwöre dich bei allem, was dir heilig ist, warte nicht, bis ich von Stein wie der Galgen werde, der dich erwartet. Denke, daß ich unser beider Geschick in der Hand halte, daß ich wahnsinnig, verzweifelt bin, daß ich dich ins Verderben reißen kann, daß vor uns ein bodenloser Abgrund gähnt, in den ich dich mit hinabziehen würde. Ein Wort der Güte! Ein Wort, nur ein Wort!“
Sie öffnete den Mund, ihm zu antworten. Er sank vor ihr auf die Knie, um ein Wort anbetend zu vernehmen, vielleicht ein Wort des Mitleids, das auf ihren Lippen schwebte. Sie aber sagte: „Ihr seid ein Mörder!“
Der Priester ergriff wütend ihren Arm und ließ ein höllisches Gelächter erschallen! „Ja! Mörder!“ rief er aus, „ich werde dich besitzen! Ich schleppe dich zu dem Zufluchtsort, den ich bereitet habe. Du wirst, du mußt mir folgen oder ich überliefere dich. Wisse, du mußt sterben oder mein sein! Du mußt mir, dem Priester, dem Mörder, dem Abtrünnigen, angehören! Noch heute nacht! Verstehst du? Auf, Mädchen, sei munter! Küsse mich, Törin! Das Grab oder mein Bett!“
Sein Auge funkelte vor Wut und Begierde. Sein lüsterner Mund rötete den Hals des Mädchens. Es rang in seinen Armen; er bedeckte es mit brennenden Küssen.
„Beiß mich nicht! Ungeheuer!“ rief sie aus. „Verhaßter, aussätziger Mönch! Laß mich! Ich reiße dir deine häßlichen grauen Haare aus und werfe sie dir ins Gesicht.“
Er errötete, erblaßte, ließ die Zigeunerin los und beschaute sie mit düsterer Miene. Sie hielt sich für siegreich und fuhr fort: „Ich sage dir, ich gehöre meinem Phoebus, ich liebe Phoebus, und Phoebus ist schön! Du, Priester, bist alt und häßlich! Geh!“
Er stieß einen furchtbaren Schrei aus, wie ein Unglücklicher, den man mit glühendem Eisen brennt. – „Stirb“, sprach er unter Zähneknirschen. Sie sah seinen furchtbaren Blick und wollte fliehen. Er ergriff sie, schüttelte sie, warf sie zu Boden, ging mit schnellen Schritten auf die Ecke der Tour Roland zu und schleppte sie an ihren schönen Händen hinter sich her auf dem Pflaster.
Dort angekommen, wandte er sich zu ihr. „Zum letztenmal! Willst du mein sein?“ Sie erwiderte mit Kraft: „Nein!“ Da rief er laut: „Gudule, Gudule, hier ist die Zigeunerin, räche dich!“
Esmeralda fühlte, wie sie am Ellbogen gepackt ward. Sie sah sich um; ein fleischloser Arm kam aus der Luke hervor und hielt sie mit eiserner Hand.
„Halte sie fest“, sprach der Priester, „es ist die entwischte Zigeunerin. Laß sie nicht los. Ich hole Sergeanten. Du wirst sie am Galgen sehen.“
Ein Lachen aus tiefer Kehle erwiderte aus dem Innern der Mauer auf die blutigen Worte. – „Ha! ha! ha!“ – Die Zigeunerin sah, wie der Priester nach der Brücke Notre-Dame hinlief. Man hörte in dieser Richtung das Stampfen der Pferdehufe. Sie erkannte die boshafte Klausnerin. Vor Schrecken keuchend, suchte sie sich loszureißen, sie krümmte sich, zuckte verzweifelnd wie im Todeskrampfe, allein die Klausnerin hielt sie mit unerhörter Kraft fest. Die knochigen und mageren Finger krümmten sich, drangen in das Fleisch der Zigeunerin und umschlossen rings den Arm. Es war, als ob die Hand an den Arme genietet haftete, fester als eine Kette, Halseisen und eiserner Ring; die Hand war wie eine lebende Zange, die aus der Mauer hervorragte. Erschöpft sank endlich die Zigeunerin an die Mauer. Da erfaßte sie Schauder vor dem Tode. Sie dachte an die Schönheit des Lebens, ihre Jugend, an den Anblick des Himmels und der Natur, an die Liebe, an Phoebus, an alles, was jetzt entfloh, und an alles, was sich näherte: an den Priester, der sie angab, den Henker, der kommen würde, an den Galgen, der vor ihr stand. Die Furcht stieg bis zu den Wurzeln der Haare empor, und sie vernahm das düstere Lachen der Klausnerin, die leise zu ihr sprach: „Ha, ha, ha, du wirst bald am Galgen baumeln!“
Da wandte sie sich halbtot zur Luke und sah die fahle Gestalt der Klausnerin hinter den Eisenstangen. „Was tat ich Euch?“ sprach sie fast entseelt.
Die Klausnerin erwiderte nichts, sondern murmelte nur mit singendem, spöttischem Ton: „Zigeunermädchen! Zigeunermädchen!“ Die unglückliche Esmeralda ließ ihr Haupt unter ihre Haare versinken und sah ein, daß sie vor einem nicht mehr menschlichen Wesen stand. Plötzlich rief die Klausnerin, als ob die Frage der Zigeunerin so viel Zeit bedurft hätte, um zu ihren Gedanken zu gelangen: „Was du mir getan hast, fragst du? Was du mir getan hast, Zigeunerin? Höre! Ich hatte ein Kind – ein Kind – ein schönes Mädchen. Ach, meine Agnes! (Sie rief dies wie wahnsinnig und küßte etwas im Dunkeln.) Ja, Zigeunermädchen, mein Kind ward gestohlen, gefressen! Das hast du mir getan!“
Das Mädchen antwortete sanft wie ein Lamm: „Ach, vielleicht war ich damals noch nicht geboren.“
„Oh ja“, erwiderte die Klausnerin, „du mußtest geboren sein! Sie wäre so alt wie du, fünfzehn Jahre weile ich schon hier, fünfzehn Jahre bete ich, fünfzehn Jahre dulde ich, fünfzehn Jahre stoße ich mein Haupt gegen die Mauern! Zigeuner stahlen es mir und zerfleischten es mit ihren Zähnen! Hast du ein Herz? Denk dir ein Kind, das spielt, saugt, schläft. So unschuldig! Ja, sie stahlen, töteten es! Gott weiß es. Heute ist die Reihe an mir, ich zerfleische die Zigeunerin. Oh, ich wollte dich beißen, wäre das Gitter nicht zu eng. Mein Kopf ist zu dick. Die arme Kleine! Während sie schlief, weckten sie, stahlen sie die Zigeuner! Sie mochte schreien! Umsonst! Oh, ihr Zigeunermütter, ihr fraßt mein Kind! Jetzt seht das eure!“
Sie lachte und knirschte mit den Zähnen. Auf dem wütenden Antlitz konnte man das eine vom andern nicht unterscheiden. Der Tag brach an. Ein halbes Licht erleuchtete die Szene, und der Galgen trat immer deutlicher auf dem Platze hervor. Die arme Verurteilte glaubte Hufgeräusch, das näher kam, zu hören. Sie faltete die Hände, sank außer sich, wahnsinnig vor Furcht, auf die Knie und sprach: „Habt Mitleid! Sie kommen, ich tat Euch nichts! Wollt Ihr mich vor Euern Augen so furchtbaren Todes sterben sehen! Gewiß, Ihr fühlt Mitleid. Wie schrecklich! Laßt mich fliehen! Laßt mich los! Gnade! So – so will ich nicht sterben.“
„Gib mir mein Kind zurück!“ sprach die Klausnerin. – „Gnade! Gnade!“ – „Gib mir mein Kind zurück!“ – „Laßt mich los im Namen Gottes!“ – „Gib mir mein Kind!“ Die Zigeunerin sank erschöpft, gebrochen nieder; ihr Blick war gläsern, als läge sie schon in der Grube. „Ach“, stammelte sie, „Ihr sucht Euer Kind, ich meine Eltern.“
„Gib mir meine Agnes“, fuhr Gudule fort. „Du weißt nicht, wo sie ist? So stirb! Ich war ein Freudenmädchen. Ich hatte ein Kind, Zigeuner stahlen es mir. Du siehst, jetzt mußt du sterben. Kommt deine Mutter, die Zigeunerin, dich zu suchen, dann sag’ ich: ‚Mutter, beschau den Galgen!‘ Gib mir mein Kind, Mädchen! Weißt du, wo es ist? Hier ist sein Schuh. Alles, was mir von ihm blieb. Weißt du, wo der andere ist? Wenn du es weißt, so sag es, und ist es selbst am andern Ende der Erde, will ich ihn auf den Knien suchen!“
Mit den Worten streckte sie auch diesen andern Arm aus der Luke und zeigte der Zigeunerin den kleinen gestickten Schuh. Es war schon so hell, daß Esmeralda Gestalt und Farben erkennen konnte.
„Zeigt ihn mir!“ rief die Zigeunerin bebend aus. „Gott! Gott!“ und zugleich öffnete sie heftig mit ihrer noch freien Hand den kleinen, mit grünem Glase geschmückten Beutel, den sie am Halse trug.
„Hole nur dein Amulett des Teufels hervor“, murmelte die Klausnerin. Plötzlich aber schwieg sie, zitterte an allen Gliedern und rief mit überlauter, furchtbarer Stimme: „Meine Tochter!“
Die Zigeunerin hatte einen kleinen Schuh aus dem Beutel gezogen, der durchaus dem andern gleich war. Daran war ein Pergament gebunden, worauf die Reime standen:
Schnell wie der Blitz verglich die Klausnerin die beiden Schuhe, las die Inschrift des Pergaments, heftete ihr von himmlischer Freude strahlendes Antlitz auf die Eisenstangen und rief: „Meine Tochter! Meine Tochter!“
„Meine Mutter!“ erwiderte die Zigeunerin.
Eine solche Szene vermögen Worte nicht zu schildern.
Beide wurden durch die Mauern und die Eisenstangen voneinander getrennt. „Oh die Mauern!“ rief die Klausnerin aus; „sie zu sehen und nicht umarmen zu können! Deine Hand!“
Das Mädchen streckte den Arm durch die Luke; die Klausnerin stürzte sich wie eine Verschmachtende auf die Hand, preßte ihre Lippen darauf, versank gleichsam in diesem Kuß und gab kein anderes Lebenszeichen als ein Schluchzen, das von Zeit zu Zeit ihre Schultern hob. Sie weinte im Dunkel schweigend in Strömen, wie ein Nachtregen. Die arme Mutter leerte in Fluten auf dieser angebetenen Hand den tiefen Brunnen der Tränen, deren sie in ihrem Schmerz schon fünfzehn Jahre lang so viele vergossen hatte.
Plötzlich erhob sie sich, strich ihr langes graues Haar von der Stirn und riß, ohne ein Wort zu reden, mit beiden Händen und wütend wie eine Löwin am Eisengitter. Die Stangen hielten. Da holte sie aus einem Winkel ihrer Zelle einen großen Stein, der ihr zum Kopfkissen diente, und schleuderte ihn mit solcher Heftigkeit, daß eine Stange, Funken sprühend, zerbrach. Ein zweiter Wurf stieß das eiserne Kreuz, das die Luke verrammelte, gänzlich ein. Da zerbrach und entfernte sie mit beiden Händen die verrosteten Stäbe des Gitters. Die Hände einer Frau besitzen in gewissen Augenblicken übernatürliche Kräfte.
Als so der Durchgang gebahnt war, und dies geschah in weniger als einer Minute, faßte sie das Mädchen mitten um den Leib und zog es in ihre Zelle. „Komm“, sprach sie, „ich will dich aus dem Abgrund retten.“
Als ihre Tochter in ihrer Zelle stand, legte sie sie sanft auf den Boden, nahm sie dann wieder auf, trug sie in ihren Armen, als wäre sie noch die kleine Agnes, und lief in ihrer engen Zelle wie berauscht, schreiend, weinend und lachend, umher.
„Meine Tochter! Meine Tochter!“ sprach sie. „Ich habe meine Tochter! Der liebe Gott gab sie mir zurück! Kommt alle! Wollt ihr sehen, daß ich meine Tochter habe? Herr Jesus, wie schön sie ist! Guter Gott, fünfzehn Jahre ließest du mich warten, um sie mir schöner zurückzugeben. Die Zigeunerinnen haben sie nicht gefressen! Wer hat mir das gesagt? Tochter, kleine Tochter, küsse mich! Die guten Zigeunerinnen! Du bist’s! Ach, darum klopfte mir das Herz, so oft du vorübergingst. Ich hielt es für Haß. Verzeih mir, Agnes, verzeih mir. Du glaubtest, ich sei böse. Wie liebe ich dich! Hast du noch dein Mal am Halse! Ja. Oh wie schön! Von mir hast du die großen Augen. Küsse mich, ich liebe dich. Jetzt mögen die andern Mütter Kinder haben, es gilt mir gleich. Hier ist meines. Sie mögen kommen. Seht seine Augen, seinen Hals, seine Haare. Nichts ist so schön wie das. Oh, in die wird sich mancher verlieben! Ich weinte fünfzehn Jahre lang. Alle meine Schönheit entschwand und ging auf dich über. Küsse mich!“
Sie sprach noch andere trunkene Worte, deren Schönheit im Tone lag, brachte die Kleidung des armen Mädchens in Unordnung, bis dieses errötete, flocht sein Seidenhaar, küßte ihm den Fuß, das Knie, Stirn und Augen, war von allem entzückt. Das junge Mädchen ließ sie gewähren, und wiederholte leise mit unendlicher Sanftmut in Zwischenräumen: „Liebe Mutter!“
„Siehst du, Mädchen“, begann die Klausnerin aufs neue, „ich will dich lieben. Wir gehen von hier und werden glücklich sein. Ich habe ein kleines Gut in Reims, unserer Vaterstadt, geerbt. Du kennst Reims? Ach nein, du kennst es noch nicht. Du warst zu klein. Oh, wüßtest du, wie schön du schon warst, als du erst vier Monate zähltest! Du hattest so schöne Füße, daß man bis von Epernay herkam, sie zu sehen. Wir haben ein Feld und ein Haus. Ich lege dich in mein Bett. Gott! Wer hätte das glauben sollen! Ich habe meine Tochter wieder!“
Esmeralda fand endlich in ihrer Aufregung Kraft, die Worte zu sprechen: „Oh Mutter, die alte Zigeunerin hatte es mir gesagt. Unter uns war eine alte, gute Zigeunerin, die vergangenes Jahr starb und mich immer wie eine Amme wartete. Sie hängte mir den Beutel um den Hals und sagte immer: ‚Kleine, bewahre diesen Edelstein. Es ist ein Schatz, durch ihn findest du deine Mutter wieder. Deine Mutter trägst du am Halse.‘ – Die Zigeunerin hatte es mir vorhergesagt.“
Die Klausnerin umfing aufs neue ihre Tochter mit den Armen. „Komm, daß ich dich küsse!“ sprach sie zärtlich. „Sind wir zu Hause, dann will ich ein Jesuskind mit Schuhen schmücken. Wir sind das der heiligen Jungfrau schuldig. Gott, welche schöne Stimme! Als du mir soeben etwas sagtest, klang das wie Musik. Oh Gott! Herr! Endlich fand ich meine Tochter. Ist es zu glauben? Ich bin unbesiegbar für den Tod, sonst wäre ich vor Freude gestorben.“ Dann klatschte sie wieder vor Freude in die Hände und rief: „Wir werden glücklich sein!“
In dem Augenblick erschallte die Zelle von Waffengeklirr und Pferdegalopp, der von der Brücke Notre-Dame auf dem Kai immer näher zu dringen schien. Ängstlich stürzte sich die Zigeunerin in die Arme der Klausnerin.
„Rette mich! Rette mich! Mutter, sie kommen!“
Die Klausnerin erblaßte. „Oh Himmel, was sagst du? Ich hatte vergessen, daß du verfolgt wirst. Was hast du getan?“
„Ich weiß nicht“, erwiderte das unglückliche Mädchen, „aber ich bin verurteilt, zu sterben.“ – „Zu sterben!“ sprach Gudule und wankte, als sei sie vom Blitz getroffen. „Zu sterben!“ sagte sie wieder und betrachtete ihre Tochter mit starrem Blick.
„Ja, Mutter“, erwiderte das Mädchen außer sich, „sie wollen mich töten, und jetzt kommt man, mich zu greifen. Jener Galgen ist für mich. Rette mich! Rette mich! Sie kommen! Rette mich!“
Die Klausnerin stand einige Augenblicke wie versteinert da, dann schüttelte sie den Kopf, als hege sie Zweifel und stieß plötzlich das furchtbare Gelächter aus, das ihr wiederkehrte: „Ho! ho!“ rief sie, „du erzählst mir da einen Traum! Ich hätte sie fünfzehn Jahre verloren und finde sie wieder auf eine Minute. Man sollte sie mir nehmen, und doch ist sie schön und groß, spricht mit mir, liebt mich, und jetzt sollten sie unter den Augen der Mutter sie zerfleischen. Oh nein, das ist unmöglich. Das erlaubt der liebe Gott nicht!“
Jetzt schien der Reiterschwarm zu halten, und man vernahm eine Stimme in der Ferne: „Hierher, Herr Tristan! Der Priester sagte, wir müßten sie am Rattenloch finden.“ Dann begann wieder das Getöse der Pferdehufe.
Mit dem Schrei der Verzweiflung richtete die Klausnerin sich auf. „Rette dich! Rette dich, Kind, jetzt fällt mir alles wieder ein! Du hast recht! Oh wie furchtbar! Fluch ihnen! Rette dich!“
Sie steckte den Kopf durch die Luke, zog ihn aber schnell zurück. „Bleib“, sprach sie leise, kurz und düster, indem sie die Hand der vor Angst vergehenden Zigeunerin drückte. „Bleib! Atme nicht! Überall stehen Soldaten. Du kannst nicht fort, es ist schon zu hell.“
Ihre Augen waren trocken und brennend, einen Augenblick sprach sie nichts, ging mit großen Schritten in ihrer Zelle umher, blieb dann wieder stehen, riß sich Büschel ihrer grauen Haare vom Haupte und zerriß sie dann mit den Zähnen. Plötzlich sprach sie: „Sie kommen. Ich will mit ihnen sprechen. Verstecke dich dort im Winkel. Sie werden dich nicht sehen. Ich will ihnen sagen, du wärest entschlüpft, und daß ich dich losgelassen habe.“
Dann legte sie ihre Tochter (sie hielt sie in ihren Armen) in einer Ecke der Zelle nieder, die man von außen nicht sehen konnte. Sie ließ sie niederducken, legte sie so zurecht, daß weder ihre Hand noch ihr Fuß aus dem Dunkel hervorragte, band ihr die schwarzen Haare los und breitete diese über das weiße Kleid aus und stellte vor Esmeralda ihren Krug und ihren Pflasterstein, denn sie glaubte, beide würden ihre Tochter verbergen. Dann sank sie beruhigt auf die Knie und betete. Der Tag, der soeben erst angebrochen war, hatte das Rattenloch noch nicht erhellt.
In dem Augenblick erschallte die höllische Stimme des Priesters dicht bei der Zelle: „Hierher Hauptmann Phoebus von Chateaupers!“
Bei diesem Namen bewegte sich Esmeralda, die im Winkel kauerte. „Rühr dich nicht“, sprach Gudule.
Kaum hatte sie diese wenigen Worte gesprochen, als man das Geräusch von Männern, Pferden und Schwertern an der Luke hörte. Die Mutter stand schnell auf und stellte sich vor die Luke, sie zu verstopfen. Sie sah eine große Zahl bewaffneter Männer zu Fuß und zu Pferde, die auf dem Grèveplatz aufgestellt waren. Ihr Führer stieg vom Pferde und ging auf sie zu. „Alte Frau“, sprach dieser Mann mit harten und wilden Zügen, „wir suchen eine Hexe, um sie zu hängen, und man sagte uns, du müßtest sie haben.“
Die arme Mutter nahm, soviel es ihr möglich war, eine gleichgültige Miene an und erwiderte: „Ich verstehe nicht recht, was Ihr wollt.“ Der andere sprach: „Gottes Haupt! Welch ein Lied sang denn der verrückte Archidiakonus? Wo ist er?“ – „Gnädiger Herr“, sprach ein Soldat, „er ist verschwunden.“ – „Altes, verrücktes Weib, lüge nicht“, sprach der Befehlshaber. „Man gab dir eine Hexe zur Bewachung. Wo ist sie geblieben?“
Die Klausnerin wollte, um keinen Verdacht zu erwecken, nicht alles leugnen und erwiderte in mürrischem, aufrichtigem Ton: „Meint Ihr ein großes Mädchen, das man mir soeben in die Hand gab, um es festzuhalten, so sag ich Euch, es hat mich gebissen, und ich ließ es laufen.“
Der Kommandant schnitt das verdrießliche Gesicht getäuschter Erwartung. „Lüge nicht, altes Gespenst“, begann er aufs neue; „ich heiße Tristan l’Hermite und bin Gevatter des Königs.“ Dann fügte er hinzu, indem er auf dem Grèveplatz seinen Blick umherschweifen ließ: „Der Name findet hier Widerhall.“ – „Und wärt Ihr der Satan l’Hermite“, erwiderte Gudule, die wieder Hoffnung faßte, „so könnte ich Euch nichts anderes sagen, als daß ich mich vor Euch nicht fürchte.“
„Gottes Haupt“, sagte Tristan, „du bist mir eine Gevatterin. So! Die Hexe hat sich gerettet; wohin ist sie gelaufen?“
Gudule erwiderte in sorglosem Ton: „Ich glaube, in die Rue du Mouton.“
Tristan wandte den Kopf und gab den Leuten ein Zeichen, sich wieder in Marsch zu setzen. Die Klausnerin atmete freier. „Gnädiger Herr“, sprach plötzlich einer der Häscher, „fragt doch die alte Zauberin, warum die Eisenstangen ihres Gitters zerbrochen sind.“
Die unglückliche Mutter begann aufs neue zu zittern, verlor aber nicht ganz ihre Geistesgegenwart. „Sie sind schon lange so gewesen“, stammelte sie. – „Bah!“ wandte der Häscher ein, „noch gestern war hier ein schönes, schwarzes Kreuz, das Andacht erweckte.“
Tristan warf einen Seitenblick auf die Klausnerin: „Ich glaube, die Gevatterin wird verlegen.“
Die Unglückliche fühlte, alles hinge von ihrer Fassung ab. Den Tod im Herzen, begann sie zu lächeln. Mütter besitzen solche Kraft. „Bah!“ sprach sie, „der Mensch ist betrunken. Jetzt ist es schon länger als ein Jahr, daß ein Wagen voll Steine auf meine Luke fiel und das Gitter zerbrach. Wie schimpfte ich da den Fuhrmann aus!“
„Ja“, sprach ein anderer Häscher, „sie hat recht, ich war dabei.“
Überall finden sich Leute, die alles gesehen haben. Das unverhoffte Zeugnis des Häschers flößte der Klausnerin wieder Mut ein, während sie in diesem Verhöre gleichsam einen Abgrund auf der Schärfe des Schwertes überschritt. Sie war aber zu einem immerwährenden Wechsel von Hoffnung und Unruhe verurteilt.
„Wenn ein Wagen das getan hat“, erwiderte der erste Soldat, „so müßten die Eisenstäbe nach innen gebogen sein. Sie sind es aber nach außen.“
„He! He!“ sprach Tristan zu dem Soldaten, „du hast eine Nase wie ein Untersuchungsrichter im Châtelet. Altes Weib, was kannst du darauf entgegnen?“
„Gott!“ rief sie in der äußersten Verzweiflung, und ihre Stimme bezeugte wider ihren Willen, daß ihr Auge in Tränen schwamm, „ich schwöre es Euch, gnädiger Herr, ein Wagen hat das Gitter zerbrochen. Ihr hört ja, jener Mann hat’s gesehen. Und was hat dies mit Eurer Zigeunerin zu schaffen?“ – „Hm!“ brummte Tristan.
„Teufel!“ begann der Soldat, durch Tristans Lob ermutigt, nochmals, „der Bruch des Eisens ist ganz frisch.“
Tristan erhob sein Haupt. Sie erblaßte. „Wie lange, sagtet Ihr doch, ist’s schon her, daß der Wagen Euer Gitter zerbrach?“ – „Einen Monat, vierzehn Tage, ich weiß es nicht mehr, gnädiger Herr.“ – „Soeben sagte sie noch, es wäre schon ein Jahr“, bemerkte der Soldat. – „Das ist verdächtig“, sprach der Prévot. „Gnädiger Herr“, rief sie aus, noch immer an die Luke sich lehnend und befürchtend, jene möchten aus Argwohn den Kopf hineinstecken, um in die Zelle zu sehen, „gnädiger Herr, ich schwöre Euch, ein Wagen zerbrach das Gitter. Ich schwör’s bei den Engeln des Paradieses. War es nicht ein Wagen, so will ich ewig verdammt sein und leugne Gott!“ – „Du bist ja sehr hitzig in deinem Schwur“, sagte Tristan mit dem Blick eines Inquisitors.
Die Arme fühlte, wie ihre sichere Haltung immer mehr und mehr nachließ. Sie beging Ungeschicklichkeiten und fühlte zu ihrem Entsetzen, daß sie etwas gesagt hatte, was sie nicht hätte sagen sollen.
Jetzt kam ein anderer Soldat mit den Worten hinzu: „Gnädiger Herr! Die alte Zauberin hat gelogen. Die Hexe kann sich nicht in die Straße du Mouton gerettet haben. Die Kette war die ganze Nacht hindurch ausgespannt, und der Kettenwächter hat niemand vorübergehen sehen.“
Tristan, dessen Antlitz immer mehr Unheil verkündete, fuhr die Klausnerin an: „Nun, was hast du jetzt noch zu sagen?“
Sie suchte auch diesem Unfall die Stirne zu bieten: „Was weiß ich, gnädiger Herr, ich konnte mich täuschen. Ich glaube wirklich, daß sie über den Fluß setzte.“
„Das ist ja die entgegengesetzte Seite. Es ist doch aber nicht wahrscheinlich, daß sie in die Altstadt zurückwollte, wo man sie verfolgt. Altes Weib, du lügst!“
„Auch ist keine Fähre an dieser Stelle des Wassers, ebenso wenig wie an der andern“, fügte der erste Soldat hinzu.
„Sie kann durch den Fluß geschwommen sein“, erwiderte die Klausnerin, welche Fuß für Fuß das Terrain verteidigte. – „Können Weiber schwimmen?“ fragte der Soldat.
„Gottes Haupt! Altes Weib, du lügst, du lügst“, begann Tristan aufs neue voll Zorn. „Ich habe große Lust, die Hexe jetzt zu lassen, um dich zu hängen. Eine Viertelstunde auf der Folter zieht dir vielleicht die Wahrheit aus dem Schlund. Komm, du sollst uns folgen!“
Begierig griff sie diese Worte auf. „Wie Ihr wollt, gnädiger Herr; wohlan, die Folter, ich will sie! Führt mich fort. Schnell! Schnell! Gehen wir sogleich!“ – Während der Zeit, dachte sie, wird meine Tochter sich retten können.
„Gottes Tod!“ sprach der Prévot, „welch ein sonderbarer Appetit nach der Folter! Dieses verrückte Weib ist mir unbegreiflich.“
Ein alter, grauköpfiger Sergeant der Wache trat hervor und sagte zum Prévot: „Gnädiger Herr, sie ist wirklich verrückt. Ihre Schuld ist’s nicht, daß die Zigeunerin sich losriß. Fünfzehn Jahre versehe ich schon die Wache und höre, wie sie alle Abende die Zigeunerweiber mit Flüchen ohne Ende verwünscht. Wenn wir die kleine Zigeunerin mit der Ziege verfolgen, wie ich glaube, so verabscheut sie diese vor allen.“
Gudule raffte ihre Kräfte zusammen und sprach: „Ja, die vor allen.“
Das einstimmige Zeugnis aller Sergeanten von der Wache bestätigte diese Worte. Tristan l’Hermite verzweifelte, etwas aus der Klausnerin herauszubringen, und wandte ihr den Rücken. Diese sah unter heftigem Herzklopfen, wie er langsam auf sein Pferd zuging. „Wohlan!“ murmelte er zwischen den Zähnen, „zur Verfolgung! Ich lege mich nicht schlafen, bevor die Zigeunerin gehängt ist.“ Dennoch zögerte er einige Zeit, bis er wieder aufs Pferd stieg. Gudule schwebte zwischen Leben und Tod, wie er auf dem Platze die unruhige Miene eines Jagdhundes umherschweifen ließ, der in seiner Nähe das Lager des Wildes wittert und nur mit Widerstreben sich entfernt. Endlich schüttelte er den Kopf und schwang sich in den Sattel. Das so furchtbar bedrückte Herz der Klausnerin beruhigte sich, und sie sprach leise, mit einem Blick auf ihre Tochter, welche sie bis dahin noch nicht anzuschauen gewagt hatte: „Gerettet!“
Die ganze Zeit über kauerte das arme Mädchen, ohne sich zu rühren und fast ohne zu atmen, im Winkel, stets den Gedanken des Todes vor Augen. Von dem Auftritt zwischen Tristan und der Alten war ihm nichts entgangen, und die Angst der Mutter fand stets bei ihm Widerhall. So hörte Esmeralda das allmähliche Krachen des Fadens, der sie über dem Abgrund noch hielt; zwanzigmal glaubte sie, er zerreiße, und fühlte endlich ihren Fuß auf festem Boden. In dem Augenblick vernahm sie, wie eine Stimme dem Prévot zurief: „Beim Teufel! Herr Prévot, das geht mich nichts an. Ich bin ein Krieger und hänge keine Hexen. Der Pöbel ist niedergehauen, drum mögt Ihr jetzt Eure Sachen allein abmachen und erlauben, daß ich zu meiner Kompanie zurückkehre, denn die ist ohne Hauptmann.“ – Die Stimme war die des Phoebus von Chateaupers. Die Gefühle Esmeraldas waren unbeschreiblich. Dort war ihr Beschützer, ihr Geliebter, ihr Freund, ihre Freistatt, ihr Phoebus! Sie stand auf, und bevor ihre Mutter sie daran hindern konnte, stürzte sie an die Luke und rief: „Phoebus!, mein Phoebus! Komm zu mir!“
Phoebus war verschwunden, denn soeben war er um die Straßenecke galoppiert. Aber Tristan war noch nicht fort.
Mit Gebrüll stürzte die Klausnerin auf ihre Tochter; mit Gewalt riß sie sie zurück, so daß ihre Nägel in deren Nacken drangen. Eine Tigerin, die Mutter ist, sieht so genau nicht zu … Allein es war zu spät; Tristan hatte schon genug gesehen.
„Oh! Oh!“ rief er mit einem Lächeln, das seine Zähne entblößte und seinem Gesicht das Ansehen einer Wolfsschnauze verlieh; „zwei Mäuse im Mauseloch!“
„Das dacht’ ich mir gleich!“ frohlockte der Soldat.
Tristan klopfte ihm auf die Schulter: „Du bist ein guter Kater! – Wohlan! Wo ist Henriet Cousin?“
Ein Mann, der weder das Antlitz noch das Kleid eines Soldaten trug, trat aus ihren Reihen hervor. Sein Kleid war halb braun, halb grau, seine Haare flach anliegend, seine Ärmel von Leder; in der dicken Hand trug er ein Bündel Stricke. Dieser Mann war ein immerwährender Begleiter Tristans, der ein immerwährender Begleiter Ludwigs XI. war.
„Freund“, sprach Tristan zu ihm, „ich glaube, dort ist die Hexe, die wir suchen. Du sollst sie hängen. Hast du deine Leiter bei dir?“ – Jener erwiderte: „Eine Leiter hole ich mir aus dem Schuppen des Pfeilerhauses. Sollen wir auf dem Hochgericht da die Sache abmachen?“ Hierbei zeigte er auf den steinernen Galgen. – „Ja!“ – „So, so!“ sagte jener Mann mit einem noch roheren als Tristans Lachen. „Wir brauchen nicht weit zu gehen.“ – „Schnell! Mache die Sache ab, nachher kannst du lachen.“
Als alle Hoffnung verloren war, da Tristan die Tochter gesehen hatte, sprach die Klausnerin kein Wort. Das halbtote, arme Mädchen legte sie in den Winkel ihrer Höhle, stellte sich an die Luke und stützte beide Hände auf die Ecke des Gesimses wie zwei Klauen. In dieser Stellung ließ sie ihren Blick, der wild und wahnsinnig geworden war, unerschrocken über alle Soldaten schweifen. Als Henriet Cousin sich der Luke näherte, nahm ihr Gesicht einen so wütenden Ausdruck an, daß er zurückfuhr.
„Gnädiger Herr“, sagte er, wieder umkehrend, zum Prévot; „welche soll ich hängen?“ – „Die Junge.“ – „Desto besser. Wie es scheint, wäre es mit der Alten nicht so leicht.“
Henriet Cousin trat auf die Luke zu. Der Blick der Mutter bewirkte, daß er seine Augen niederschlug. Er sagte furchtsam: „Frau …“ Sie unterbrach ihn mit leiser und wütender Stimme: „Was willst du?“ – „Nicht Euch, die andere.“ – „Welche andere?“ – „Die Junge.“
Sie schüttelte den Kopf und rief: „Hier ist niemand! Hier ist niemand! Hier ist niemand!“ – „Ja“, antwortete der Henker, „Ihr wißt das besser als ich. Laßt mich die Junge hängen. Euch will ich nichts zu leide tun.“ Sie sprach mit sonderbarem Grinsen: „Du willst mir nichts zu leide tun?“ – „Überlaß mir die andere. Der Herr Prévot will nur die.“ Sie wiederholte mit dem Ausdruck des Wahnsinns: „Hier ist niemand!“ – „Ich sage Euch, hier ist doch jemand. Wir sahen alle, daß euer zwei waren.“ – „Sieh hinein, steck deinen Kopf durch die Luke.“
Der Henker besah die Nägel der Alten und wagte nicht, ihrer Aufforderung zu folgen.
„Eile!“ schrie Tristan, der unterdes seine Leute im Kreise um das Rattenloch aufgestellt hatte und zu Pferde neben dem Galgen hielt. Henriet kehrte ganz verlegen zu dem Prévot zurück. Seine Stricke legte er auf den Boden und drehte mit linkischer Miene seinen Hut in der Hand. „Gnädiger Herr“, fragte er, „wie soll ich eindringen?“ – „Durch die Tür.“ – „Es ist keine da.“ – „Durchs Fenster.“ – „Es ist zu eng.“ – „Nun, so mach es weiter. Hast du keine Steinhaue?“
Die Mutter sah lauernd im Hintergrunde ihrer Höhle zu. Sie hoffte nichts mehr, wußte nicht, was sie tun sollte, aber wollte sich nicht ihre Tochter nehmen lassen. Henriet holte sein Henkergerät aus dem Schuppen des Pfeilerhauses mit der Doppelleiter, die er sogleich am Galgen aufstellte. Fünf oder sechs Leute der Prévoté bewaffneten sich mit Brecheisen, und Tristan ritt wieder auf die Luke zu.
„Altes Weib“, sprach der Prévot in trockenem Tone, „überliefere uns willig das Mädchen da!“
Sie sah ihn an, als verstände sie ihn nicht.
„Gottes Haupt!“ begann Tristan aufs neue, „warum hinderst du uns, die Hexe da zu hängen, wie es dem König gefällt?“
Die Ärmste verzog ihren Mund zu ihrem wilden Lachen. – „Warum? Sie ist meine Tochter.“
Bei dem Tone, womit dieses Wort gesprochen wurde, bebte sogar Henriet Cousin.
„Es tut mir leid“, sagte der Prévot, „allein es ist der Wille des Königs.“
Sie sprach mit verdoppeltem, furchtbarem Gelächter: „Was kümmert mich der König, dein König? Ich sage dir, sie ist meine Tochter!“
„Durchbrecht die Mauer!“ befahlt Tristan.
Um eine ziemlich breite Öffnung zu bewirken, genügte das Ausbrechen einer Lage von Steinen unter der Luke. Als die Mutter vernahm, wie Brecheisen und Hebel ihre Festung angriffen, stieß sie einen furchtbaren Schrei aus; dann rannte sie wie ein wildes Tier im Käfig mit schrecklicher Geschwindigkeit in ihrer Zelle auf und ab. Sie sprach nichts mehr, aber ihre Augen flammten. Die Soldaten standen wie erstarrt da. Plötzlich ergriff sie ihren Stein, lachte und schleuderte ihn mit beiden Fäusten auf die Arbeiter. Aber ihre Hände zitterten; der Wurf war nicht stark genug; so traf der Block niemanden und blieb unter den Füßen von Tristans Pferd liegen. Sie knirschte mit den Zähnen.
Unterdes war es ganz hell geworden, obgleich die Sonne noch nicht am Himmel stand; ein schöner, rosiger Schein beleuchtete die alten, verfallenen Kamine des Pfeilerhauses. Es war die Stunde, wo die Dachfenster aufgeschlossen werden. Einige Bürger und Fruchtverkäufer auf ihren Eseln, die zu den Hallen gingen, durchzogen den Grèveplatz, hielten einen Augenblick vor der Soldatengruppe am Rattenloch, betrachteten dies mit Erstaunen und gingen weiter. Die Klausnerin setzte sich zu ihrer Tochter, bedeckte sie mit ihrem Körper, blickte starr und hörte, wie das arme Kind, ohne sich zu rühren, murmelte: „Phoebus! Phoebus!“ Je weiter die Soldaten in ihrer Arbeit zu kommen schienen, um so mehr zog sich die Mutter zurück und drückte ihre Tochter an die Mauer. Plötzlich sah die Klausnerin (denn sie stand Schildwache und wandte den Blick nicht ab), wie der Stein wankte, und zugleich vernahm sie die Stimme Tristans, der seine Leute ermutigte. Da raffte sie sich aus der Erstarrung, in die sie seit einigen Augenblicken versunken war, auf und schrie: „Hohoho!“ – Während sie sprach, zerschnitt ihre Stimme das Ohr wie eine Säge oder stammelte, als ob alle Flüche sich an ihre Lippen drängten, um auf einmal auszubrechen: „Schrecklich! Ihr seid Räuber! Wahrhaftig, wollt ihr meine Tochter stehlen! Oh, ihr Feiglinge! Ihr Henkersknechte! Ihr elenden Mörder! Zu Hilfe! Zu Hilfe! Feuer! Sie wollen mir mein Kind stehlen! Gibt es denn keinen Gott?“
Dann wandte sie sich wutschäumend, mit starrem Blick, gesträubtem Haar zu Tristan und streckte ihm die Hände wie Pantherklauen entgegen: „Tritt näher! Verstehst du nicht, was ich sagte? Das Mädchen ist meine Tochter. Weißt du, was es heißt, ein Kind zu besitzen? Wolf, hast du nie bei einer Wölfin gelegen? Hast du nie ein Wölfchen gehabt? Und wenn du Junge hast, und sie heulen, bist du dann so ohne Herz, daß es nicht klopft?“
„Werft den Stein herunter“, sprach Tristan; „er hält nicht mehr.“ Die Hebel rückten die schwere Steinlage in die Höhe. Dieses war, wie wir schon sagten, die letzte Schutzmauer der Mutter. Sie stürzte darüber hin und wollte sie zurückhalten, kratzte in den Stein mit den Nägeln; aber der schwere, von sechs Menschen in Bewegung gesetzte Stein entschlüpfte ihrer Hand und glitt die eisernen Hebel entlang auf den Boden. Als die Mutter den Eingang ausgebrochen sah, stürzte sie sich in die Öffnung der Bresche, rang die Arme, verrammelte die Bresche mit ihrem Leib, stieß mit dem Kopf gegen die Steine des Fußbodens und rief mit einer aus Erschöpfung heiseren Stimme, so daß man sie kaum vernahm: „Zu Hilfe, Feuer, Feuer!“
„Ergreift das Mädchen“, sprach Tristan, noch immer hartherzig. Die Mutter betrachtete die Soldaten auf so furchtbare Weise, daß sie mehr Lust hatten, zurückzuweichen, als vorwärts zu dringen.
„Vorwärts!“ rief der Prévot; „Henriet Cousin, vorwärts!“
Alle standen still. Der Prévot schwur: „Christi Haupt! Meinen Kriegsleuten ist bange vor einem Weibe!“ – „Gnädiger Herr“, sprach Henriet, „die nennt Ihr ein Weib?“ – „Sie hat eine Mähne wie eine Löwin“, sprach ein andrer.
„Vorwärts!“ wiederholte der Prévot, „der Bruch ist breit genug. Marschiert zu dreien in der Front hinein wie in die Bresche von Pontoise. Mahoms Tod! Den ersten, der zurückweicht, haue ich in Stücke.“
Zwischen dem Prévot und der Mutter in der Mitte stehend, schwankten die Soldaten einen Augenblick, dann trafen sie ihre Wahl und drangen vor zum Rattenloch.
Als die Klausnerin dies sah, richtete sie sich plötzlich auf den Knien auf, schlug ihre Haare aus dem Gesicht und ließ ihre mageren, geschundenen Hände über die Hüften hinabsinken. Dicke Tränen entrannen ihren Augen und flossen in einer breiten Runzel, wie ein Strom in seinem Bett, die Wangen hinab. Sie versuchte zu sprechen, aber mit sanfter, unterwürfiger, herzzerreißender Stimme, daß mancher alte Profoß in Tristans Gefolge, der sonst ein Menschenleben für nichts achtet, sich die Augen trocknete.
„Gnädige Herren, Ihr Herren Sergeanten, ein Wort! Ich muß es euch erzählen! Seht, sie ist meine Tochter, mein armes, verlorenes Kind! Hört die Geschichte! Ich kenne die Herren Sergeanten. Sie waren stets gütig gegen mich zu der Zeit, als die Knaben mich mit Steinen warfen, weil ich viel liebte. Oh, ihr laßt mir mein Kind, wenn ihr meine Geschichte kennt. Ich bin ein armes Freudenmädchen. Zigeunerweiber stahlen mir mein Kind. Fünfzehn Jahre lang bewahrte ich seinen Schuh. Seht, da ist er! Welch schöner Fuß! In Reims! Die Chantefleurie! Vielleicht habt ihr davon gehört; ich bin’s. Ach, in der Jugend verbringt man schöne Stunden. Nicht wahr, gnädige Herren, ihr habt Mitleid mit mir! Die Zigeunerweiber haben sie mir gestohlen und versteckten sie fünfzehn Jahre lang, denkt euch, ich hielt sie für tot. Fünfzehn Jahre lebte ich in dieser Höhle ohne Feuer im Winter. Wie hart! Der arme kleine Schuh! Ich wehklagte, bis der liebe Gott mich hörte. In dieser Nacht schenkte er mir mein Kind. Das ist ein Wunder vom lieben Gott. Ihr werdet sie nicht töten; oh gewiß, ihr nehmt sie mir nicht; wenn ihr mich nehmen wolltet, so würde ich nichts sagen; aber ein sechzehnjähriges Mädchen! Laßt ihm Zeit, die Sonne zu schauen. – Was tat sie euch? Nichts. Ich auch nicht. Oh, wüßtet ihr doch, daß ich nur dieses Mädchen habe, wie alt ich bin, und daß die heilige Jungfrau sie mir sendet. Ihr seid ja alle so gut. Ihr wußtet nicht, daß sie meine Tochter war. Jetzt wißt ihr’s. Oh, Herr Prévot, ich hätte lieber ein Loch in meinen Eingeweiden, als eine Schramme an ihrem Finger. Ihr seht so gütig aus. Was ich Euch sage, erweicht Euch. Gnädiger Herr, wenn Ihr eine Mutter habt, so laßt mir mein Kind! Ich bitte Euch auf den Knien, wie man zum Herrn Jesus betet. Ich bitte niemand um etwas. Ich bin von Reims, gnädige Herren. Ich besitze ein kleines Feld von meinem Onkel Mahiet Pradon. Ich bin keine Bettlerin. Ich will nichts als mein Kind. Oh, ich will mein Kind behalten. Gott, der Herr, hat es mir nicht umsonst gegeben. Ihr sagt, der König wolle es so. Ihm wird es gewiß kein Vergnügen machen, daß man meine Tochter tötet! Sie ist mein. Sie gehört dem König nicht. Sie ist nicht Euer. Wir wollen fort. Zwei Frauen, die fortgehen wollen, Mutter und Tochter, läßt man gehen. Laßt uns gehen. Wir sind aus Reims. Oh, ihr Herren Sergeanten, seid so gut! Ich lieb’ euch alle. Ihr nehmt mir meine Kleine nicht. Unmöglich! Nicht wahr, das ist unmöglich. Mein Kind, mein Kind!“
Wir wollen es nicht versuchen, ihre Bewegungen, ihre Stimme, ihre Tränen, die sie redend schluckte, das Ringen ihrer Hände, ihr herzzerreißendes Lachen, ihre schwimmenden Blicke, ihre Seufzer, die erschütternden Laute zu beschreiben, die sie mit ihren wahnsinnigen, abgebrochenen Worten vermischte. Als sie schwieg, runzelte Tristan l’Hermite die Brauen, doch nur, um eine Träne zurückzudrängen, die in sein Tigerauge trat. Aber er überwand seine Schwäche und sprach kurz: „Der König will’s.“
Dann neigte er sich zum Ohre Henriet Cousins und sprach leise: „Mach schnell!“ – Der furchtbare Prévot mochte fühlen, daß ihm der Mut entschwand. Der Henker trat mit den Sergeanten in die Zelle. Die Mutter leistete keinen Widerstand. Sie schleppte sich nur zu ihrer Tochter und stürzte über sie hin. Die Zigeunerin sah, wie die Soldaten herantraten und ward durch Todesfurcht wieder belebt. –„Mutter!“ rief sie mit unaussprechlichen Lauten der Verzweiflung; „sie kommen! Verteidige mich!“ – „Ja, Liebe, ich verteidige dich“, erwiderte die Mutter mit erloschener Stimme, drückte sie eng in ihre Arme und bedeckte sie mit Küssen. Als beide so auf dem Boden lagen, boten sie einen Anblick, der den rohesten Menschen gerührt hätte.
Henriet Cousin umfaßte Esmeralda unter ihren schönen Schultern. Als sie die Hand fühlte, sank sie mit einem Ausruf in Ohnmacht. Der Henker, aus dessen Augen reichliche Tränen auf sie fielen, wollte sie in seinen Armen forttragen. Er versuchte, die Mutter loszureißen, die ihre Arme gleichsam wie einen Gürtel um ihre Tochter geschlungen hatte; allein sie klammerte sich so fest an das Mädchen, daß es unmöglich war. Henriet Cousin schleppte also das Mädchen mit der Mutter aus der Zelle. Auch die Mutter hielt die Augen geschlossen.
In dem Augenblick erhob sich die Sonne am Himmel, auf dem Platze war schon eine ziemliche Volksmenge versammelt, die von fern betrachtete, was man so auf dem Pflaster zum Galgen schleifte. So war Tristans Verfahren bei Hinrichtungen. Er konnte es nicht leiden, daß Neugierige sich herandrängten. An den Fenstern befand sich niemand. Man sah nur von weitem auf dem Turm von Notre-Dame, der den Grèveplatz beherrscht, zwei Männer, als schwarze Punkte auf dem Hintergrunde des klaren Himmels, die zuzusehen schienen.
Henriet Cousin blieb an der verhängnisvollen Leiter stehen; er war so tief gerührt, daß er fast ohne zu atmen den Strick um den schönen Hals des Mädchens schlang. Das unglückliche Kind empfand die furchtbare Berührung des Hanfes. Es schlug die Augen auf und erblickte über seinem Haupte den starren Arm des Galgens. Da schüttelte sich Esmeralda und rief mit lauter, verzweifelter Stimme: „Nein, nein! Ich will nicht!“ Die Mutter, deren Haupt an den Kleidern der Tochter versenkt sich verlor, sprach kein Wort. Man sah allein, wie sie am ganzen Körper bebte, und hörte, wie sie ihre Küsse verdoppelte. Der Henker benutzte diesen Augenblick, um mit Gewalt den Arm der Mutter loszureißen, den sie um ihre Tochter schlang. Aus Erschöpfung oder Verzweiflung ließ sie ihn gewähren; dann nahm er das Mädchen auf die Schulter, von wo sie anmutig sich biegend über seinen Kopf hinabhing. Endlich setzte er den Fuß auf die Leiter, um hinanzusteigen.
In dem Augenblick schlug die auf das Pflaster hingesunkene Mutter die Augen auf. Ohne einen Schrei auszustoßen, richtete sie sich mit furchtbarem Ausdruck in die Höhe; dann stürzte sie, wie ein Tier auf seine Beute, auf die Hand des Henkers und biß hinein. Dies geschah mit der Schnelligkeit eines Blitzes. Der Henker heulte vor Schmerz. Man eilte herbei und befreite mit Mühe seine blutende Hand aus den Zähnen der Mutter. Diese schwieg. Man stieß sie hart zurück und bemerkte, daß ihr Haupt dumpf auf das Pflaster fiel. Man hob sie auf und ließ sie wieder hinfallen. Sie war tot. Der Henker, der das Mädchen nicht losgelassen hatte, stieg die Leiter hinan.
47. La creatura bella bianco vestita*
Als Quasimodo sah, daß die Zelle leer und die Zigeunerin verschwunden und entführt war, während er sie verteidigte, fuhr er mit den Händen in seine Haare und zitterte vor Schmerz und Überraschung. Dann durchrannte er die ganze Kirche, heulte mit gräßlichem Geschrei in allen Ecken der Mauer, streute seine ausgerissenen roten Haare auf den Fußboden. Dies geschah gerade in dem Augenblick, als die Schützen des Königs in die Kirche drangen, die Zigeunerin zu suchen. Quasimodo half ihnen, ohne ihre unheilvolle Absicht (der arme Taube!) zu merken. Er glaubte sogar, die Feinde der Zigeunerin wären die Landstreicher. Er führte selbst Tristan l’Hermite in alle nur möglichen Schlupfwinkel und öffnete ihm die geheimen Türen. Wäre die Unglückliche noch dagewesen, so hätte sie in die Hände der Verfolger fallen müssen. Als Tristan aus Ermüdung sich endlich vom Suchen abschrecken ließ, setzte Quasimodo ganz allein seine Nachforschungen fort. Zwanzig-, hundertmal durchlief er den Turm von oben bis unten, nach der Länge und Breite, stieg auf und nieder, rief, suchte und heulte. Endlich, als es ihm ganz offenbar war, er könne sie nicht mehr auffinden, sie sei ihm gestohlen und verloren, stieg er langsam die Turmtreppe hinan, dieselbe Treppe, die er am Tage ihrer Rettung voll Entzücken und im Triumph hinaufgeeilt war. Er durchschritt wieder dieselben Orte, gesenkten Hauptes, ohne Stimme, ohne Tränen, fast ohne Atem. Die Kirche war wieder verlassen und schweigend. Die Häscher und Soldaten waren fortgegangen, um die Hexe in der Stadt zu suchen. Quasimodo, ganz allein in der ungeheuren Kathedrale, die noch kurz vorher belagert und so voll Lärm war, schritt wieder auf die Zelle zu, wo die Zigeunerin so viele Wochen unter seiner Hut geschlafen hatte. Beim Nähertreten bildete er sich ein: dort müsse er sie finden. Als er im Umwenden bei der Galeriebiegung, die an das Dach stößt, stand, erblickte er das enge Kämmerchen mit dem kleinen Fenster, sein Mut entschwand und er stürzte sich auf einen Pfeiler, um nicht umzusinken. Er bildete sich ein, sie sei vielleicht zurückgekehrt, ein guter Geist habe sie hergeführt. Das Kämmerchen sei zu sicher, zu schön und zu ruhig, als daß sie nicht da sein sollte. Er wagte keinen Schritt zu tun, um seine Täuschung sich nicht zu benehmen. – „Ja“, sprach er zu sich selbst, „vielleicht schläft oder betet sie. Ich will sie nicht stören.“ Endlich nahm er allen Mut zusammen, schritt auf den Zehen vor, sah und trat hinein. Die Zelle war leer. Der unglückliche Taube durchschritt sie langsam, hob das Bett in die Höhe, als wolle er sehen, ob sie zwischen dem Boden und der Matraze versteckt läge. Dann schüttelte er den Kopf und stand wie blödsinnig. Plötzlich zertrat er wütend die Fackel und stürzte, ohne ein Wort zu sprechen, ohne einen Seufzer auszustoßen, in vollem Lauf mit dem Kopfe gegen die Mauer und sank ohnmächtig auf das Steinpflaster.
Als er wieder zu sich kam, warf er sich aufs Bett, wälzte sich umher, küßte wahnsinnig den noch warmen Platz, wo das Mädchen geschlafen hatte, lag einige Minuten unbeweglich, als wolle er dort sterben; dann stand er, von Schweiß triefend, keuchend, rasend, auf, stieß den Kopf gegen die Wand mit dem regelmäßigen Schlage seiner Glocken, als wäre er fest entschlossen, ihn zu zerschmettern. Endlich sank er ganz erschöpft zum zweitenmal nieder. Kroch auf den Knien aus der Zelle, duckte sich in der Stellung des Erstaunens vor der Tür. So lag er länger als eine Stunde ohne Bewegung, die Augen auf die einsame Zelle gerichtet, düsterer und nachsinnender als eine Mutter zwischen einer leeren Wiege und einem gefüllten Sarge. Er sprach kein Wort; nur in Zwischenräumen bewegte ein lautes Schluchzen heftig seinen Körper; doch dies war ein Schluchzen ohne Tränen, wie das Wetterleuchten im Sommer ohne Donner.
Wie es schien, dachte er damals an den Archidiakonus, als er im verzweifelten Nachsinnen überlegte, wer wohl der unerwartete Entführer der Zigeunerin sein könne. Er erinnerte sich. Dom Claude allein besitze den Schlüssel der Treppe, die zur Zelle führte; er gedachte der nächtlichen Angriffe des Archidiakonus auf das junge Mädchen, wie er bei dem einen geholfen, aber den andern verhindert hatte. Tausend besondere Einzelheiten fielen ihm ein, und bald hegte er keinen weiteren Zweifel, der Archidiakonus habe die Zigeunerin entführt. Dennoch hatte seine Achtung vor dem Priester, seine Erkenntlichkeit, seine Liebe und Ergebenheit zu diesem Mann so tiefe Wurzeln geschlagen, daß sie sogar in diesem Augenblick den Krallen der Eifersucht und der Verzweiflung widerstanden.
Als er dachte, der Archidiakonus habe dies getan, verwandelte sich der tödliche, blutige Zorn, den er dadurch gegen jeden andern würde gefühlt haben im Augenblick, wo es sich um Claude Frollo handelte, nur in tieferen Schmerz. Im Augenblick, wo sein Gedanke so auf dem Priester haftete, sah er, als der Morgenschein die Gewölbepfeiler erhellte, wie im oberen Stock von Notre-Dame, an der Biegung des oberen Geländers eine Gestalt einherschritt. Es war der Archidiakonus.
Claude ging ernst und langsam auf den nördlichen Turm zu; er blickte nicht geradeaus, sondern wandte sein Gesicht dem rechten Seineufer zu. Das Haupt trug er aufrecht, als wolle er über die Dächer hinweg etwas suchen. An Quasimodo schritt er vorüber, ohne ihn zu bemerken. Wie versteinert durch diese plötzliche Erscheinung sah der Taube, wie er das Tor der nördlichen Treppe durchschritt, von wo man das Stadthaus erblickt. Quasimodo stand auf, um dem Priester zu folgen. Er stieg die Treppe hinan, um zu erfahren, weshalb der Priester hinaufging. Übrigens wußte der arme Glöckner nicht, was er beginnen sollte. Er war voll Wut und Furcht. Der Archidiakonus und die Zigeunerin erregten in seinem Herzen einen heftigen Kampf.
Als er auf den Gipfel des Turmes gelangte, untersuchte er vorsichtig, bevor er aus dem Dunkel der Treppe hinaustrat, wo der Archidiakonus stand. Der Priester wandte ihm den Rücken. Ein durchbrochenes Geländer umgab die Platte des Kirchturm. Der Priester, dessen Augen über die Stadt schweiften, stützte die Brust auf die Seite der Balustrade, von der aus man die Brücke Notre-Dame überblickte. Quasimodo schlich mit Wolfsschritten näher und sah ebenfalls nach derselben Richtung. Auch war die Aufmerksamkeit des Priesters zu sehr auf eine Punkt gerichtet, als daß er die Schritte Quasimodos hätte hören können.
Auf dem Vorplatz der Kirche machten ein paar Bürgerfrauen, den Milchtopf in der Hand, einander voll Erstaunen aufmerksam auf das sonderbar verfallene Aussehen des Haupttores von Notre-Dame und zwei Bleiströme, die in den Sandsteinrinnen erstarrt waren. Quasimodos Scheiterhaufen zwischen den Türmen war erloschen. Tristan hatte schon den Platz abfegen und abwaschen und die Toten in die Seine werfen lassen. Könige wie Ludwig XI. tragen Sorge, nach einem Gemetzel so schnell wie möglich das Pflaster reinigen zu lassen.
Außerhalb der Balustrade des Turmes und zwar gerade unter der Stelle, wo der Priester stand, war eine phantastisch geschnittene Dachrinne, und in deren Spalte standen zwei hübsche Levkoien, die, vom Hauche des Windes geschüttelt und gleichsam lebendig, sich mutwilligen Gruße zuzunicken schienen. Über den Türmen hörte man fern in der Luft das Geschrei der Vögel. Der Priester aber sah und hörte nichts von dem. Starr blickte er auf den Grèveplatz hinab.
Quasimodo brannte vor Begier, ihn zu fragen, was er mit der Zigeunerin begonnen habe; allein der Archidiakonus schien in dem Augenblick außerhalb der wirklichen Welt sich zu befinden. Offenbar befand er sich in einer der qualvollsten, leidenschaftlichsten Minuten des Lebens, in denen man selbst das Einstürzen der Erde nicht bemerken würde. Schweigend und unbeweglich stand er da, indem er den Blick auf einen bestimmten Ort heftete. Sein Schweigen und seine Unbeweglichkeit hatten etwas so Furchtbares, daß der wilde Glöckner bebte und nicht wagte, daran zu rühren. Nur folgte sein Blick der Augenrichtung des Archidiakonus (dies war ja auch eine Art, ihn zu befragen), und so trafen beider Blicke auf den Grèveplatz.
Er sah, was der Priester betrachtete. Die Leiter war am Galgen aufgerichtet. Einiges Volk und viele Soldaten standen auf dem Platze. Ein Mann schleifte etwas Weißes, woran etwas Schwarzes hing, über das Pflaster. Der Mann hielt am Fuß des Galgens. Dann ereignete sich etwas, was Quasimodo nicht genau sehen konnte. Sein einziges Auge hatte zwar alle Schärfe bewahrt, allein ein dichter Haufen von Soldaten verhinderte ihn, alles zu sehen. Da ging die Sonne auf, und ergoß eine solche Lichtflut über Paris, daß alle Turmspitzen, Schornsteine und Giebel auf einmal im Feuer zu stehen schienen. Der Mann stieg die Leiter hinan. Quasimodo sah ihn deutlich. Auf der Schulter trug er ein junges, weißgekleidetes Mädchen mit einer Schlinge um den Hals. Quasimodo erkannte sie; sie war es. Der Mann gelangte oben auf die Leiter und befestigte den Strick. Um besser sehen zu können, kniete der Priester auf das obere Geländer. Plötzlich stieß der Mann mit dem Fuße die Leiter fort, und Quasimodo, der kaum noch atmete, sah die unglückliche Esmeralda mit dem Mann an ihren Füßen zwei Ellen über dem Pflaster schweben. Der Strick drehte sich mehrere Male um, und Quasimodo sah, wie furchtbare Zuckungen durch den Körper der Zigeunerin liefen. Der Priester betrachtete mit vorgerecktem Halse, mit Augen, die fast aus den Höhlen traten, diese entsetzliche Gruppe des Mannes und des Mädchens, der Spinne und der Fliege.
Im furchtbarsten Augenblicke zeigte sich ein teuflisches Lachen, wozu man nur dann fähig ist, wenn man aufhört, Mensch zu sein, auf dem leichenfarbenen Antlitz des Priesters. Quasimodo konnte es zwar nicht vernehmen, aber er sah es. Der Glöckner sprang einige Schritte hinter den Archidiakonus zurück, stürzte plötzlich wütend auf ihn ein und stieß ihn mit beiden Händen in den Abgrund hinab, über den Dom Claude sich lehnte.
Der Priester rief: „Verdammt!“ und fiel.
Die Rinne unter ihm hielt ihn auf; er klammerte sich verzweifelt mit den Händen an, und als er den Mund öffnete, um einen zweiten Schrei auszustoßen, sah er über seinem Kopfe am Geländer die rächende, furchtbare Gestalt Quasimodos und schwieg. Unter ihm gähnte ein Abgrund von mehr als zweihundert Fuß. In dieser furchtbaren Lage sprach er kein Wort, ließ keinen Seufzer vernehmen, krümmte sich aber an der Rinne mit unerhörter Kraftanstrengung, um wieder aufzusteigen. Allein seine Hände fanden keinen Halt auf dem Granit; seine Füße kratzten in die geschwärzte Mauer, ohne eine Stütze zu gewinnen. Alle, welche die Türme von Notre-Dame bestiegen, wissen, daß unmittelbar unter der Balustrade eine Bauchung des Steines sich befindet. Auf diesem zurücktretenden Winkel erschöpfte der Archidiakonus seine Kräfte; er rang auf einer nicht spitzigen, sondern unter ihm fliehenden Mauer.
Quasimodo hätte, um ihn aus dem Abgrund zu ziehen, ihm nur die Hand zu reichen brauchen; allein er sah nicht einmal hin. Er blickte nur auf den Grèveplatz, auf den Galgen, auf die Zigeunerin. Der Taube stützte sich mit den Ellenbogen auf die Balustrade, auf welcher der Archidiakonus noch kurz zuvor gekniet hatte, und stand, auf den einzigen Gegenstand blickend, den es in dem Augenblick für ihn auf der Welt gab, regungslos wie ein vom Blitz Getroffener. Ein Strom von Tränen entstürzte seinem einzigen Auge.
Der Archidiakonus keuchte. Seine kahle Stirn rieselte von Schweiß, seine Nägel bluteten an dem Stein, seine Knie wurden an der Mauer geschunden. Er hörte, wie sein Priesterkleid, an der Rinne festgehalten, bei jeder Erschütterung krachte und zerriß. Zum Übermaß des Unglücks endete diese Rinne mit einer bleiernen Röhre, die unter der Last seines Körpers sich bog. Der Archidiakonus fühlte, wie sie allmählich wich. Der Unglückliche sah ein, wenn seine Hände, durch die Kraftanstrengung gelähmt, das Blei niedergebogen und sein Kleid zerrissen wäre, müsse er hinabfallen. Furcht quälte sein Herz. Bisweilen blickte er verstört auf eine schmale Fläche zehn Fuß unter sich, die durch einige Skulputen bewirkt war, und dann flehte er mit verzweifelter Seele inbrünstig zum Himmel, auf diesem Raume von zwei Quadratfuß seine Leben beschließen zu dürfen, sollte es auch hundert Jahre währen. Einmal sah er unter sich in den Abgrund, aber sogleich schloß er die Augen, und sein Haar sträubte sich. Das Schweigen beider Männer war furchtbar. Während der Archidiakonus einige Fuß von Quasimodo entfernt so schrecklich mit dem Tode rang, weinte Quasimodo und blickte auf den Grèveplatz.
Als der Archidiakonus einsah, alle Versuche, emporzuklimmen, erschütterten nur die schwache, ihm noch bleibende Stütze, faßte er den Entschluß, sich nicht mehr zu rühren. Er umarmte die Rinne, atmete kaum, regte sich nicht und war ohne alle andere Bewegung als die maschinenmäßige, krampfhafte Zusammenziehung des Magens, bis man in Träumen, wenn man zu fallen wähnt, empfindet. Seine starrenden Augen waren krankhaft und staunend aufgerissen. Allmählich verlor er den letzten Haltpunkt, seine Finger glitten am Blei ab, schwächer wurden seine Arme, schwerer schien ihm sein Körper. Die Bleibiegung, an der er sich klammerte, neigte sich mit jedem Augenblick mehr dem Abgrund zu. Unter sich sah er das Dach von St. Jean-le-Rond klein wie ein Kartenhäuschen. Nacheinander betrachtete er die starren Skulputen des Turmes, die über den Abgrund ebenso ohne Mitleid für ihn hingen, wie er selbst vor ihren Gestalten nicht erschrak. Rings um ihn her war alles von Stein, vor seinen Augen gähnende Ungeheuer, unter ihm das Pflaster des Platzes, über seinem Haupte der weinende Quasimodo.
Auf dem Vorplatze der Kirche standen einige Gruppen Neugieriger, die ruhig zu erraten suchten welcher Narr sich ein so gefährliches Vergnügen machen könne. Der Priester hörte – denn ihre Stimmen gelangten zu ihm hell und scharf – wie sie sagten: „Wahrhaftig, er wird sich noch den Hals brechen!“
Quasimodo weinte.
Endlich sah der Archidiakonus, schäumend vor Wut und Furcht, ein, alles sei vergeblich. Dennoch raffte er alle Kraft zu einer letzten Anstrengung zusammen. Starr erhob er sich auf der Rinne, stemmte beide Knie gegen die Mauer, klammerte sich mit den Händen in eine Steinspalte und klomm vielleicht einen Fuß in die Höhe. Doch bei der Kraftanstrengung bog sich plötzlich der bleierne Schnabel, seine bisherige Stütze, und das Priesterkleid zerriß. Er fühlte, wie alles unter ihm wich, wie allein seine starren und jetzt auch erschöpften Hände noch an etwas sich hielten; da schloß der Unglückliche die Augen, ließ die Rinne los und stürzte hinab.
Quasimodo sah ihn fallen. Der Priester lag zerschmettert auf dem Pflaster. Der Wind spielte in den weißen Gewändern der Zigeunerin, die am Galgen hing. Quasimodo seufzte aus tiefster Brust: „Oh! Alles, was ich liebte!“
48. Des Phoebus Heirat
Als die Gerichtsbeamten des Bischofs am Abend dieses Tages den zerschmetterten Leichnam des Archidiakonus vom Pflaster aufhoben, war Quasimodo aus Notre-Dame verschwunden. Über die Ereignisse wurden mancherlei Gerüchte in Paris verbreitet. Man hegte keinen Zweifel, der Tag sei gekommen, wo Quasimodo, d. h. der Teufel, nach dem Vertrage den Archidiakonus Claude Frollo, d. h. den Hexenmeister, endlich geholt hatte. Man vermutete, er habe den Leib zerbrochen, um die Seele herauszunehmen, wie die Affen zu tun pflegen, wenn sie die Schale zerbrechen, um den Nußkern zu verspeisen. Deshalb ward auch der Priester nicht in geweihter Erde begraben.
Ludwig XI. starb im folgenden Jahre 1483, im Monat August. Peter Gringoire war so glücklich, die Ziege zu retten, und erlangte auch einigen Beifall im Tragödien-Dichten. Nachdem er, wie es scheint, alle Torheiten gekostet hatte, die Astrologie, Alchimie, Philosophie und Architektur, kehrte er zur albernsten Torheit, der Tragödie, zurück; das nannte er: Ein tragisches Ende nehmen.
Auch Phoebus von Chateaupers nahm ein tragisches Ende: Er verheiratete sich.
49. Im Tode vereint
Wie wir sagten, war Quasimodo am Todestage der Zigeunerin und des Archidiakonus aus Notre-Dame verschwunden. Man sah ihn nicht wieder und wußte nicht, was aus ihm geworden war.
In der Nacht, welche auf Esmeraldas Hinrichtung folgte, hatten die Henkersknechte ihre Leiche vom Galgen gebunden und sie, wie es damals Sitte war, in den Keller von Montfaucon getragen.
Etwa zwei Jahre nach den Ereignissen, die diese Geschichte schließen, holte man aus dem Keller von Montfaucon die Leiche von Olivier-le-Daim, der zwei Tage vorher gehängt worden war, und dem Karl VII. die Gnade bewilligte, in besserer Gesellschaft auf dem Kirchhof von St. Laurent beerdigt zu werden. Da fand man unter den scheußlichen Leichen zwei Skelette, wovon das eine das andere eng umschlungen hielt. Das eine der Skelette war ein weibliches, und an ihm hingen noch einige Fetzen eines früher weißen Kleides; am Halse sah man ein Halsband von Zauberfiguren, mit einem seidenen Beutel, der, mit grünem Glas geschmückt, offen und leer war. Diese Gegenstände hatten offenbar so wenig Wert, daß der Henker sie nicht hatte haben wollen. Das andere Skelett, welches das weibliche eng umschlungen hielt, war ein männliches. Man bemerkte, die Rückenmarkssäule sei gedreht, der Kopf stehe zwischen den Schultern, und ein Bein sei kürzer als das andere. Übrigens war im Genick desselben kein Bruch in der Rückenmarkssäule, so daß der Mann, von dem das Skelett stammte, offenbar nicht gehängt war. Er mußte hierher gekommen und dann gestorben sein. Als man es von dem andern Skelett, das es umschlungen hielt, lösen wollte, fiel es in Staub zusammen.
Ende.